Suchtkranke in der (stationären) - LIGA

Werbung
Fachtag Sozialpsychiatrie und Sucht
Jeder für sich oder wo geht‘s gemeinsam?
Impulsreferat: Suchtkranke in der
(stationären) Psychiatrie.
Realitäten und Konzepte.
Dr. Jörg Breitmaier
Abteilung für Psychiatrie und
Psychotherapie
Krankenhaus Zum Guten Hirten
Ludwigshafen am Rhein
Die Ausgangsprobleme
• Viele unserer Patienten/Klienten haben
Doppeldiagnosen. Deshalb sollen Psychiatrie
und Suchtkrankenhilfe zusammenarbeiten.
• Die beiden Systeme haben einen
Beziehungskonflikt.
?
Die Themen
• Unsere Suchtrealität
• Unser Auftrag und die Voraussetzungen
• Welche Suchtkranken sehen wir?
–
–
–
–
Die Intoxikierten
Die Schwerkranken
Die (mehr oder weniger) Motivierten
Die Doppeldiagnose-Patienten
• Exkurs: Doppeldiagnose - Ausnahme oder
Regel?
• Unsere Angebote für Suchtkranke
• Meine Impulse
Unsere Suchtrealität
Diagnosenverteilung stationäre und teilstationäre
psychiatrische Aufnahmen ZGH
1.11.2011 - 31.10.2012 (n=2237)
Aufnahmen mit Hauptdiagnosen aus der
Gruppe F1 im Jahr 2003 nach Substanzen
(n=513)
Aufnahmen mit Hauptdiagnosen aus der
Gruppe F1 im Jahr 2003 nach Störungen
(n=513)
Aufnahmen mit Diagnosen aus der Gruppe F10
in den Jahren 2003 bis 2012 (n=4445)
nach Aufenthaltsdauern
Konsiliardienst für Psychiatrie und Psychotherapie am
Klinikum der Stadt Ludwigshafen
- Psychiatrische Hauptdiagnosen 2003 / n=1094 -
Unser Auftrag und die
Voraussetzungen
Versorgungsgebietsstatistik Stadt Ludwigshafen
1998 - 2011
(Psychiatrische Aufnahmen stationär und teilstationär Erwachsene
aus dem Versorgungsgebiet)
Belegung Januar - Oktober 2012
Durchschnitt: stationär 102,6 (101,7 %)
teilstationär 75,58 (76,4 %)
Die Voraussetzungen
•
•
•
•
Regionaler Versorgungsauftrag
Multidisziplinäre, ärztlich geleitete Teams
Störungsgemischte Stationen
Multifaktorielles psychiatrisches
Störungsmodell
• Notfallaufnahmen, Niedrigschwelligkeit elektive Aufnahmen mit Wartezeit nur für die
qualifizierte Entzugsbehandlung und in der
Tagesklinik
Welche Suchtkranken sehen
wir?
• Die Intoxikierten
Patienten mit Hauptdiagnosen aus der Gruppe
F10 in den Jahren 2003 - 2012 nach
Aufnahmeanzahl
Welche Suchtkranken sehen
wir?
• Die Intoxikierten
• Die Schwerkranken
Kasuistik ♂A.V. – Die letzten Jahre
Längste Abstinenz:
322 Tage
Aktuelle Abstinenz:
18 Tage
Aufenthalte pro Jahr:
1-7
9. Juni 2005
Dr. Jörg Breitmaier
Kasuistik Herr N.M., 34 J.
• Ältestes von 7 Geschwistern, Trennung der Eltern,
bis 14 Sonderschule, bis 18 Heim,
Berufsgrundbildungsjahr
• Mit 4 Alkohol eingeflößt, st. 10 regelmäßig, in
späteren Jahren auch Drogen
• seit 13 Jahren auf der Straße
• 7 Haftstrafen wegen Einbruch/Diebstahl
Forts.: Kasuistik Herr N.M., 34 J.
•
•
•
•
•
•
77 Aufnahmen von 10/99 bis 5/04, insgesamt 792 Tage
Aufnahmen immer intoxikiert (>3->4‰), oft agitiert, aggressiv,
gelegentlich komatös, meist mit Messer bewaffnet
Zeitweises Bemühen um Veränderung, 3 Heimaufnahmen, aber
immer wieder Entscheidung für Sucht, für Straße
1 Jahr untergebracht, auch danach wieder auf die Straße
Partnerin in der Abt. kennengelernt
Starb hier im Rahmen einer unklaren Intoxikation
Kasuistik Frau T.X., 41 J.
• Büro-Fachberuf, seit 97 geschieden, keine
Kinder, seit 98 EU-Rente
• 81 Erstdiagnose paranoide Schizophrenie,
seit 10 Jahren alkoholabhängig
• 34 Aufnahmen 2/00 bis 4/04, jeweils schwer
alkoholisiert, meist nach Ausnüchterung bzw.
körperlicher Entgiftung abgebrochen. Lange
Zeit keine Bereitschaft zur Veränderung
• Seit Anfang 04 Teilnahme am ALITAProgramm, seitdem abstinent, positive
Entwicklung (Praktikum etc.)
Die 20 Patienten mit der höchsten Aufnahmeanzahl
(10/99-9/04, n=2660)
Initialen
♀♂
Alter
Diagnosen
Aufnahmen
mittl. VD
N.M.
T.X.
N.D.
I.E.
K.I.
W.E.
X.Q.
I.N.
B.S.
I.F.
T.X.
G.X.
N.X.
F.I.
O.C.
S.E.
B.N.
K.C.
B.W.
O.L.
♂
♀
♂
♂
♀
♂
♂
♂
♀
♂
♀
♂
♀
♂
♂
♂
♀
♀
♂
♀
34
41
37
22
28
41
59
64
47
35
29
58
40
22
44
30
38
41
51
22
Polytoxikomanie, Amnest.-S., Pers.St.
Alkohol-Abhängigkeit, Schizophrenie (?)
Paranoide Schizophrenie
Paranoide Schizophrenie
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Paranoide Schizophrenie
Alkohol-Abhängigkeit
Alkohol-Abhängigkeit, beg. Amnest. S.
Alk.- und Med.-Abh., Angst-St., Pers.St.
Par. Schizophrenie, Med.-Abhängigkeit
Par. Schiz., Alk.-Missbrauch
Alkohol-Abhängigkeit, beg. Amnest. S.
Alkohol-Abhängigkeit
Par. Schizophrenie, Alk.- u. Dr.-Missbr.
Par. Schizophrenie (?), Polytoxikomanie
Par. Schiz., Polytox., V.a. dissoz. Pers.
Par. Schiz.(DD:wahnh.D./BL-Persst.)
Paranoide Schizophrenie, Alk.-Abh.
Alk.-Abh.,Med.Abh.
Borderl.-Pers.-Störung, Alk.-Abh.
77
34
30
29
27
25
25
25
25
18
18
18
17
17
17
17
16
16
16
15
10
17
33
13
24
16
3
6
38
27
2
5
9
32
9
21
23
16
6
5
Die „Cluster“ der heavy user
Schizophrenie
♂
Missbrauch/
Abhängigkeit
Delinquenz/
Gewalt
chronifizierte,
wahnhafte
Depression
Fehlende
Krankheitseinsicht/
Compliance
Wohnungsprobleme/
ofW
♂>♀
schwere BPS
Minderbegabung
mit aggressiven
VerhaltensStörungen
langjährige, schwere
Alkoholabhängigkeit,
hohe Rückfallgefahr
(beg.)
Komorbidität
amnestisches
Syndrom
Welche Suchtkranken sehen
wir?
• Die Intoxikierten
• Die Schwerkranken
• Die (mehr oder weniger) Motivierten
Welche Suchtkranken sehen
wir?
•
•
•
•
Die Intoxikierten
Die Schwerkranken
Die (mehr oder weniger) Motivierten
Die Doppeldiagnose-Patienten
Fallbeispiel1
•
•
•
•
•
Herr U. X., 25 J.
Ab 2. Klasse Sonderschule L, dann Hauptschule, 7.-8.Klasse
„Schule für Schwererziehbare“, kein HS-Abschluss, Lehre
abgebrochen nach zweimaligem Durchfallen, arbeitslos
2000-2006 versch. illegale Drogen und Alkohol,
Beschaffungskriminalität
1. Aufenthalt 2006 zur Entgiftung, während dieses Aufenthalts
erstmalig akustische Halluzinationen und wahnhaftes Erleben,
anschließend stationäre Entwöhnung
2. (tagesklinischer) Aufenthalt seit 11/06: Angst in Räumen, vor
lauten Geräuschen und vor Menschen, Suchtdruck, Rückzug,
Leistungsschwächee
mittlerweile: Praktikum Haustechnik, geplante RPK-Maßnahme
Fallbeispiel 2
•
•
•
•
•
•
Herr K. L., 45 J.
Abitur, zwei abgebrochene Studien, ledig, allein lebend, keine
Arbeit, rechtliche Betreuung
Seit ca. 1980 par. Schizophrenie mit zahlreichen stationären
Aufenthalten, seit 1999 7mal in unserer Abteilung
Regelmäßiger Cannabis-Gebrauch, den der Patient bis vor etwa
zwei Jahren sehr streitbar vertreten hat und Alkoholmissbrauch
Verlust von Partnerschaft, mehreren Wohnungen, selbst
beklagte Einsamkeit, ständige Einmischung der Eltern…
Nach bisher letztem stationärem Aufenthalt 2005
Abstinenzmotivation, 1 Jahr PIA, Depot-Neuroleptikum, bis zur
Abgabe aus der PIA stabil…
Exkurs
Doppeldiagnose - Ausnahme oder Regel?
E.Bleuler: Dementia Praecox oder die Gruppe der
Schizophrenien. Leipzig…, 1911
„Komorbidität“ 1
• Definition: Das Vorhandensein von mehr als
einer Störung bei einer Person in einem
definierten Zeitraum (z.B.: life-timecomorbidity).
• auch: Doppeldiagnose, -erkrankung,
Mehrfacherkrankung, Dual Diagnosis
• Weithin anerkanntes Konzept seit DSM III
bzw. ICD 10.
„Komorbidität“ 2
• Aber:
– Krankheitseinheiten sind, zumal in der
Psychiatrie, keine klar vorgegebenen
Entitäten, sondern umstritten und im Fluss
– Die Krankheitslehre der klassischen
Psychiatrie (z.B. Jaspers) verlangt die
Subsummierung aller vorhandenen
Störungen unter eine Diagnose nach der
„Schichtenregel“.
Häufigkeit 1
• ECA-Studie (Regier et al. 1993): Einjahres-Prävalenz
DD: 3,3% (Schizophrenie 1,1%, bipolare St. 1,2%,
Sucht 9,5%)
• Lebenszeitprävalenz psych. St. 22,5%, davon 1/3 mit
Sucht-Komorbidität, bei Alkoholabh. 45% DD, bei
Drogenabh. 72% DD, bei Schizophrenen 47% LZP
für Drogenmissbrauch (Regier et al. 1990)
• Drei Arbeiten aus den USA fanden 13% (Cohen und
Klein, 1970), 36% (Barbee et al., 1989) und 42%
(Mueser, 1990) Cannabisgebrauch bei
Schizophrenen.
Häufigkeit 2
Das Beispiel Ludwigshafen (Aufnahmen 2002-2006)
•
•
•
•
Bei 20,1% der insgesamt 2059 aufgenommenen Patienten mit
Schizophrenie lagen zugleich ein Missbrauch oder eine
Abhängigkeit vor; am häufigsten von mehreren Substanzen
(10,6%), bei 7,2% von Alkohol und bei 1,5% von Cannabis.
Bei der Gruppe der Patienten mit neurotischen und reaktiven
Störungen war in 19,6% der Fälle Missbrauch oder
Abhängigkeit im Spiel; mit 13,4% am häufigsten von Alkohol.
Auch bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen fanden sich
„Substanzprobleme“ in 19,5% der Fälle; auch hier war die
stärkste Gruppe die mit Alkohol (13,4%).
Bei Patienten, bei denen wir Missbrauch/Abhängigkeit als
Hauptproblem angesehen haben, fand sich in 17,2% der Fälle
eine andere psychiatrische Nebendiagnose. Am häufigsten
waren Persönlichkeitsstörungen (4,3%), Schizophrenie und
Depression (je 3,7%).
Häufigkeit 3 – Die Substanzen
Verteilung der Substanzen bei
Komorbidität (aus: Lambert et al.,
1997)
Ursachen
Artefakt
Zufälliges Zusammentreffen
Diagnostische Konventionen
Selektionsprozesse
Suchtmittelkonsum
Psychose
Dritter Faktor
Psychose
Suchtmittelkonsum
Trigger-Modell
Gesteigerte Vulnerabilität
„Drogen-Induzierung“
Drift-Hypothese
Selbstbehandlung
Gesuchte Psychose
Genetische Koinzidenz
Genetische Kausalität
Gemeinsame Grunderkrankung
Eigene Entität
Gründe für Selbstmedikation
Gründe für Selbstmedikation
Folgen
• Schlechterer Verlauf, schlechtere Prognose:
– Höhere Rückfallrate (4fach, Silver und Abboud, 1994), mehr
Hospitalisationen, mehr Delinquenz, schlechtere Integration,
mehr EPMS…
• „Heimatlos in der psychiatrischen Versorgung“
(Riebe, 2000)
– Zwei Systeme (Suchthilfe, Psychiatrie)
– Zwei Haltungen:
• Sucht: konfrontativ, gruppenorientiert, abstinenzfördernd,
realitätsorientiert
• Psychose: stützend-fürsorglich, Schutz vor Überforderung,
individuelles Vorgehen, medikamentöse Behandlung
Strategien – Behandlungsziele
(nach: Riebe 2000)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Diagnostische Klarheit
Differenzierung – Individualisierung
Kontinuierliche Behandlungsbeziehung
Medikamentöse Behandlung
Reduktion des Suchtmittelkonsums
Lebenspraktische Fähigkeiten
Selbstversorgung, Gesundheitsverhalten
Alltagsgestaltung und Tätigkeiten
Bewältigungsstrategien für psychische und soziale
Konflikte
Unsere Angebote für
Suchtkranke
Der „Königsweg“ der
Alkoholismusbehandlung
Kontaktphase
Entgiftungsphase
Suchtberatungsstelle
Allgemeinkrankenhaus
Entwöhnungsphase Fachklinik
Nachsorgephase
Suchtberatungsstelle
Selbsthilfegruppe
NotfallAufnahme
Stationäre
Entgiftung
bis 1 Woche
i.d.R. Distraneurin
evt. „D-Gruppe“
Stationärer
Qualifizierter Entzug
bis drei Wochen
„D-Gruppe“
Voraussetzung:
Lebenslauf/Motivationsbericht
Behandlung
von Komorbidität
Psychiatrische
Institutsambulanz:
Gesprächsgruppe
Einzeltermine
Intensive amb.
Behandlung
Stationäre
Detoxikation
bis 1 Tag
Warteliste
Plus:
Diagnostik, Therapie–
Vorschläge und
Mitbehandlung durch
die Konsiliardienste
Kein Ausgang
Amb. Notfallkontakt
Krankenhaus Zum Guten Hirten
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
Angebote für Patienten mit Alkoholabhängigkeit
Die Hierarchie der Therapieziele
(nach Schwoon, 1992)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Sicherung des Überlebens
Verhinderung von schweren körperlichen Folgeschäden
Sicherung der sozialen Umgebung gegen Beeinträchtigungen
Verhinderung sozialer Desintegration
Ermöglichung längerer Abstinenzphasen
Einsicht in die Grunderkrankung
Akzeptanz des eigenen Behandlungs- bzw. Hilfebedarfs
Akzeptanz des Abstinenzzieles
Konstruktive Bearbeitung von Rückfällen
Individuelle therapeutische Grenzziehung („Selbsthilfe“)
Wer sieht wie viele
Alkoholabhängige?
(nach: Mann 2002)
Meine Impulse
• Suchtkranke brauchen, je nach Motivation,
Wünschen und Situation ganz
unterschiedliche Hilfsangebote.
• Nur wenn sich die Systeme verständigen und
zusammenarbeiten, werden wir mehr
Suchtkranke mit dem je angemessenen
Angebot erreichen.
• Wir brauchen ein gemeinsames (multidimensionales) Modell: Sucht ist eine seelische
Störung.
Herunterladen