Psychisches Erleben nach Diagnosestellung und in der Remission

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REVUE MÉDICALE SUISSE
Psychisches Erleben nach
Diagnosestellung und in der Remission
Dr. phil. SANDRA SIEBER a
Rev Med Suisse 2016 ; 12 : 228-9
« Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale
Neuigkeit – und das ist immer die gleiche : der Tod »
Walter Benjamin
Einleitung
Dass Krebs eine somatische Krankheit ist, steht unbestreitbar
fest. Alle Theorien zur Ätiologie psychischer Faktoren gehören
aus wissenschaftlicher Sicht bis heute ins Reich der Spekula­
tionen. Keine Spekulation hingegen ist es, dass eine Krebs­
diagnose den bisherigen Lebensweg eines Menschen radikal
unterbricht und dass sie über den gesamten Krankheitsver­
lauf hinweg über körperliche Probleme hinaus auch Auswir­
kungen auf das psychische Befinden hat. Prävalenzzahlen
psychischer Störungen bei Krebspatienten zeigen klar, dass
zirka ein Drittel der Patientinnen und Patienten emotional
belastet ist oder sogar die Kriterien einer psychischen Stö­
rung erfüllt.1 Es besteht eine hohe Rate an komorbiden de­
pressiven Störungen und Angststörungen, die sich nachteilig
auf den Behandlungs- und Krankheitsverlauf auswirken.2 In
diesem Artikel wird die Situation nach Diagnosestellung sowie
nach Beenden der Therapien (Chemo- / Radiotherapie) und
ohne Nachweis von Metastasen beschrieben.
Diagnoseschock
Die psychischen Reaktionen, die auf eine Krebsdiagnose fol­
gen, sind unterschiedlich. Patienten berichten beispielsweise,
dass sie sich nach der schlechten Nachricht zunächst wie ge­
lähmt fühlen, sich wie in Watte gepackt wahrnehmen oder
eine grosse innerliche Anspannung spüren, eingefroren oder
angetrieben sind. Andere berichten von Trauer oder Wut.
Vielfach wirkt eine Krebsdiagnose wie ein « Sturz aus der nor­
malen Wirklichkeit », wie es der Medizinsoziologe Nikolaus
Gerdes 3 Mitte der 1980er Jahre beschrieben hat. Sie stürzt
viele Betroffene in eine existentielle Krise. Die in der « norma­
len Wirklichkeit » gut funktionierende gesunde Verdrängungs­
leistung in Bezug auf unsere Endlichkeit versagt im Moment
des Erfahrens der Diagnose, Gedanken an den Tod machen
sich breit, ja drängen sich auf.4 Diese werden innerhalb der
Gesellschaft, in der Krebs immer noch häufig mit Tod gleich­
gesetzt wird, zusätzlich unterstützt.
Obwohl die Datenlage nach wie vor nicht gesichert ist, wer­
den Studien zufolge rund ein Drittel der Patienten durch die
a Spitalzentrum / Psychiatriezentrum Oberwallis, Überlandstrasse 14, 3900 Brig
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Diagnose selbst oder die Art der Mitteilung einer möglicher­
weise infausten Erkrankung psychisch traumatisiert.5 Das
heisst, der Patient steckt bei der Diagnosestellung in einer
­Situation, in der er bestimmte (psychische) Bewältigungs­
strategien bräuchte um die Situation gut zu überstehen, diese
aber in der von ihm als lebensbedrohlich erlebten Lage nicht
zur Verfügung hat. Er fühlt sich demzufolge ausgeliefert und
erlebt absolute Hilflosigkeit. Patienten sind in diesen Situa­
tionen sehr sensibel für die Art und Weise, wie ihnen Infor­
mationen vermittelt werden und wie gut sie sich hinsichtlich
­ihrer Sorgen vom Gegenüber verstanden und ernst genommen
fühlen. In dieser Lage ist nicht nur der Patient, sondern auch
der behandelnde Arzt extrem gefordert. Eine angepasste ärzt­
liche Gesprächsführung, also kommunikative Kompetenz, ist
unerlässlich für eine weitere vertrauensvolle Arzt-Patient-­
Beziehung und kann die Krankheitsverarbeitung im Idealfall
positiv beeinflussen.
Remissionsphase : Bin ich nun gesund
oder krank ?
Sofern keine Hinweise auf Metastasierung oder ein Fort­
schreiten der Erkrankung bestehen, scheint alles überstanden
zu sein. Die meisten Patienten sehnen sich während der Chemound / oder Radiotherapie sowie nach der Operation nach dieser
Zeit, in der auch Arzttermine wieder seltener werden. Oft
­beginnt aber Studien zufolge und aus Erfahrung in der Arbeit
mit Krebspatienten erst jetzt – in der Remissionsphase – die
eigentliche Krankheitsverarbeitung. Zweifel und Ängste machen
sich breit, der Patient hat wieder mehr Zeit für sich, und die
während der Behandlungsphase zurückgestellte psychische
Ebene verlangt nach Aufmerksamkeit. Für diese Phase typi­
sche Gedanken sind : « Bin ich nun gesund oder krank ? » « Ich
muss eine positive Einstellung bewahren », « Kommt der
Krebs wieder ? », « Kann ich wieder zur Normalität zurückkeh­
ren ? ». Was aber ist die Normalität ? Ein Leben wie zuvor gibt
es nicht mehr und viele berichten über eine Art Schein-Nor­
malität. Auch Schwierigkeiten, ihre Angehörigen weiterhin
mit der Erkrankung zu belasten, machen sich breit. Für manche
Familienmitglieder ist nun häufig alles vorbei und hat sich
wieder zum Guten gewendet, der Patient selber hingegen
fühlt sich als « Hinterherhinkender ».
Auch wenn die Krankheit vorerst überwunden ist, schwebt
die Rezidivangst wie ein Damoklesschwert über dem Betrof­
fenen. Nun gilt es, einen Umgang mit dieser Unsicherheit zu
finden. Häufig ist das Vertrauen in den Körper, der vielleicht
keinerlei Zeichen vor der Diagnosestellung gesendet hat, ver­
loren. Dieses wieder aufzubauen, sich selbst, seinem Körper
und der Umgebung wieder zu trauen bedarf Zeit und Ausei­
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nandersetzung. Manche Patienten nutzen diese Zeit der Neu­
orientierung, um lange Erwünschtes umzusetzen oder Neues
auszuprobieren. Dies ermöglicht zuweilen, dass Betroffene
der Krankheit – so existentiell, belastend und schwierig sie
auch war – etwas Positives abgewinnen können. Auf der anderen
Seite leidet – je nach Tumorentität – ein Drittel aller Krebspa­
tienten an einer psychischen Störung. Diese Menschen schaf­
fen es nicht, sich in ihrer Rolle neu zu definieren oder Motiva­
tion und Ziele zu finden um ihr Leben wieder erträglich leben
zu können. Wenn nicht schon früher erfolgt, sollte spätestens
in diesen Situationen eine Fachperson mit Ausbildung in Psy­
chotherapie / Psychoonkologie hinzugezogen werden.
Folgerungen für die Praxis
Nach Diagnosestellung und / oder im Verlauf einer Krebser­
krankung weist ein substanzieller Anteil von Patienten (und
häufig auch Angehöriger) psychische Belastungsreaktionen
auf, die sich bis hin zu psychischen Störungen und psychoso­
zialen, existentiellen Krisen entwickeln können. Im Wissen
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darum, dass sich psychische Störungen negativ auf den
­Behandlungs- und Krankheitsverlauf – insbesondere auf die
Lebensqualität – auswirken, sollten diese unbedingt ernst
­genommen werden. Neben ärztlicher Kommunikationskom­
petenz ist eine gute Zusammenarbeit mit Professionellen, die
über eine Ausbildung in Psychoonkologie / Psychotherapie
verfügen, gefordert. Sofern interessierte Hausärzte nicht über
Kontakte mit diesen Fachpersonen verfügen, können die be­
handelnden Onkologen, die kantonalen Krebsligen oder die
Schweizerische Gesellschaft für Psychoonkologie (www.
psychoonkologie.ch) entsprechenden Kontakte vermitteln.
1Mehnert A, Brähler E, Faller H, et al.
Four-week prevalence of mental disorders in patients with cancer across
major tumor entities. J Clin Oncol 2014;
32:3540-6.
2Kapfhammer HP. Depressive und
Angststörungen bei Krebserkrankungen.
In : Der Nervenarzt, 2015;86:291-301.
3Gerdes N. Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach
Sinn. 1985. http://wesentlich-handeln.
de / images / pdf / gerdes_sturz.pdf
4Künzler A, Mamié S, Schürer C.
­Diagnose-Schock : Krebs. Berlin : Springer,
2012.
5 Flatten G, Jünger S, Gunkel S, Singh
J, Petzold ER. Traumatische und psycho­
soziale Belastungen bei Patienten mit
akuter Tumorerkrankung. Psychother
Psychosom Med Psychol 2003;53:191-201.
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