Kinder von psychisch belasteten Eltern

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Psychisch belastete Kinder und Jugendliche
verstehen, sichern, stärken
Kinder von psychisch belasteten Eltern
Qualifizierungsprogramm, Modul 2 – SOS-Kinderdorf e.V.
Gera 16.10.2014
Nils Jenkel
KJPK Basel
Input Trauma
Gliederung
› Zahlen, Fakten, Analysen
› Häufige Folgen für die betroffenen Kinder
› Folgen bei spezifischen Krankheitsbildern
› Film
› Interventionen
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Zahlen
Fakten, Analysen
› Mindestens 500’ 000 bis 600’000 Kinder in Deutschland haben
einen Elternteil mit einer schweren psychischen Erkrankung
(ohne Sucht) (Pretis/ Dimova 2004).
› Ca. 1,8 Millionen Kinder haben einen alkoholkranken Elternteil.
› Zwischen 15 und 30% der Patienten in stationärer psychiatrischer
Behandlung haben Kinder unter 18 Jahren.
› Rund 50% der stationär in der KJPP behandelten Kinder haben
mindestens einen psychisch kranken Elternteil.
› Kaum systematische Untersuchungen mit standardisierten
klinischen Interviews in der Jugendhilfe.
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Kinder psychisch kranker Eltern
eine Hochrisikogruppe?
› Störungsrisiko bei Kindern psychisch kranker Eltern um Faktor 2
- 5 höher als bei Kindern psychisch gesunder Eltern (Downey
und Coyne 1990, Vostanis et al. 2006).
› Bei Abhängigkeitserkrankungen der Eltern ist das Risiko für
psychische Störungen der Kinder um das 8 - 20 fache erhöht
(Überblick bei Lachner & Wittchen 1997).
› Bei psychisch kranken Eltern akkumulieren sich vielfältige
psychosoziale Risikofaktoren (Armut, Vernachlässigung,
ungünstige Erziehungsstile, beengte Wohnverhältnisse,
Misshandlungsrisiko, abweichende Elternsituation/Scheidung).
› Psychische Symptomatik der Kinder besonders ausgeprägt, wenn
beide Elternteile unter einer psychischen Krankheit leiden (Kahn
et al. 2004).
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Psychisch kranke Eltern in der Jugendhilfe
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Psychisch kranke Eltern in der Jugendhilfe
Pflegekinder (N=394)
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Psychisch kranke Eltern in der Jugendhilfe
Infos BezugsbetreuerInnen in MAZ. (N=341)
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Versorgungsprobleme
„und Wünsche
› Kölch & Schmid 2008
› 35% der Eltern sind mit der Versorgung ihrer Kinder während
ihrer stationären psychiatrischen Behandlung unzufrieden.
› Mögliche Hilfsangebote werden aus Angst vor
Bevormundung, Stigmatisierung, Wegnahme nicht
angenommen oder abgebrochen.
› Negative Zuschreibungen an die Jugendhilfe verhindern die
aktive Hilfesuche plus besteht oft ein Informationsmangel.
› 12% wurden nicht nach Kindern gefragt!
› Lenz 2005:
› An erster Stelle werden mit Abstand Aufklärungs- und
Informationsgespräche durch Ärzte/ Therapeuten (48%)
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Kinder
als Kraftquelle
«Also, darüber rede ich schon mit meiner Tochter ein bisschen.
Irgendwo brauche ich sie dann auch. Manchmal, wenn ich traurig
bin, dann ist sie für mich auch noch ein bisschen ein Halt. Auch
wenn ich sehr depressiv bin, ist sie für mich ein Rückhalt, nicht
irgendwelche schlimmen Dinge zu tun. Denn sie braucht mich ja
noch.»
Mutter aus der Studie Wie erleben schizophren erkrankte Mütter
und Väter ihre Elternschaft, Jungbauer et al., 2010
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Teufelskreis
psychisch kranke Eltern – belastete Kinder
Verstärkung
der
psychischen
Erkrankung
ErziehungsProbleme
Kindliche Bedürfnisse
bleiben
unbefriedigt
(Grenzen, Förderung)
Elterlicher Stress
Psychische Belastung/
Symptomatik
der Kinder
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Folgen
für die Kinder
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Also, selbständiger wird man, weil man selbst was in die Hand
nehmen muss und man dafür ja auch sorgen will, wenn man sieht,
dass es der Mutter nicht gut geht und man nicht weiss, wieso, dass
man dann irgendwas macht, zum Beispiel dass man spült oder
kocht. Dass ist dann ganz selbstverständlich, weil man ja alles gut
machen will, weil man denkt, dass es der Mutter dadurch dann
auch wieder besser geht […]. Man denkt auch ganz anders als
andere in diesem Alter, weil man schon so vieles erlebt hat […]. Ich
weiss nicht, aber man wird vernünftiger und ernster, weil man
einfach so einiges in die Hand nehmen muss.
14jähriges Mädchen
aus der Studie Kinder psychischer kranker Eltern, Lenz 2005
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Destruktive Parentifizierung
“Der Geist der Geometrie“
René Magritte, 1936/37
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Destruktive Parentifizierung
Jurkovic 1997
› Eltern geben Elternfunktion auf, um eigene Bedürfnisse zu
stillen.
› Dabei weisen sie dem Kind eine Rolle zu, welche die
Generationengrenzen überschreitet.
› Bedürfnisse des Kindes werden dabei vernachlässigt.
› Das Kind akzeptiert die delegierte Rolle auf Kosten der
eigenen Bedürfnisse und des Autonomiebestrebens.
› Das Kind wird für die ihm zugewiesene Rolle nicht adäquat
anerkannt und verstärkt (mangelnde Reziprozität).
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Kinder
wahre Anpassungskünstler!
› sie
› verzichten auf eigene kindgerechte Aktivitäten
› übernehmen Verantwortung für den Haushalt
› sorgen für jüngere Geschwister
› wahren nach aussen den Schein (Schweigegelübde)
› retten Leben, leisten erste Hilfe, organisieren Arztbesuche
und überwachen die Medikation
› schlichten Partnerkonflikte oder dienen als Partnerersatz
› verwirklichen evt. auch die Träume der Eltern
Die an das Kind herangetragenen Aufgaben
überfordern den Entwicklungsstand eines
Kindes!
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Folgen für die Kinder
Verlust von Beziehung
› Das Kind kann dann mit einer Bezugsperson konfrontiert sein,
die mehr oder weniger plötzlich
› emotional erstarrt oder für das Kind nicht nachvollziehbar
ausfahrend wird,
› weitgehend mit sich selbst beschäftigt ist und sich nicht mehr
um die Belange des Kindes kümmern kann,
› nicht mehr am Leben und Erleben des teilnehmen kann,
› die Bezüge zur Realität verliert,
› eine unverständliche Sprache spricht,
› dem Kind ängstigende Äusserungen macht (z.B.
Suiziddrohungen)
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Folgen für die Kinder
Konflikte
› Verunsicherung, Desorientierung, Ratlosigkeit,
Hilflosigkeit
› „gefrorene Wut“ & Scham
› Schuld, Verantwortung für die Erkrankung,
› Angst vor Vererbung oder Ansteckung
› Soziale Isolation, weniger Anschluss an Peers, evt. Mobbing
› oft Beziehungsabbrüche der Erwachsenen
› Angst vor Gewalt oder Selbstmord des Elternteils
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Folgen für die Kinder
nach Entwicklungsalter
Säugling
Unterernährung, Unterversorgung
Vernachlässigung
Mangelnde kognitive Stimulation
Bindungsstörungen/ Emotionsregulationsprobleme
Kleinkind
Bindungsstörungen
Teilhabe
Emotionsregulationsprobleme – mangelnde Validierung
Soziale Kompetenzen
Schulkind
Parentifizierung
Soziale Defizite - mangelnde Validierung
Schuld, Stigma
Teilhabe
Unzureichende Förderung
Jugendalter
Stigma, Scham
Autonomie – Abhängigkeitskonflikte
Scheinautonomie – plötzliche heftige Distanzierung
Identitätskrisen
Ängste selber zu erkranken
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Folgen
bei spezifischen Krankheitsbildern
Mit welchen psychischen Erkrankungen der Eltern waren und
sind die Kinder konfrontiert, die Ihr betreut?
Mit welchen psychischen Erkrankungen seht Ihr Euch in der
Elternarbeit konfrontiert?
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0.6% – 1%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit einer Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis
› Negativsymptome und Antriebsminderung etc. erschweren
Erziehungsaufgaben.
› Irritierendes, für die Kinder nicht einzuschätzendes Verhalten,
dem Kinder ausgesetzt bleiben müssen.
› Völliges Ausblenden des Kindes im Wahn und in der Akutphase.
› Hohe Anspannung überträgt sich auf Kinder – Angst.
› Folie à deux (= induzierte wahnhafte Störung).
› Kind kann in Wahnsystem eingebunden und dann sehr gefährdet
sein (ist aber eher selten).
› Plötzliche dramatische Krankenhauseinweisungen möglich
(Polizeieinsatz ,etc.).
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16% - 20%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit einer depressiven Erkrankung
› Eltern fällt es schwer, Energie für Haushalt und
Erziehungsaufgaben zu mobilisieren. Häufig müssen die Kinder
den Haushalt schmeissen.
› Normale Bedürfnisse des Kindes steigern die Überforderung.
› Traurigkeit, Weinen, Lebensunlust der Eltern belastet die Kinder.
› Negativere Sicht auf das Kind, weniger Lob, weniger
Blickkontakt, weniger emotional bezogene Gespräche.
› Keine Freude mit den Kindern.
› Kinder müssen viel tun, um Aufmerksamkeit der Eltern zu
erreichen.
› Mögliche Suizidversuche des kranken Elternteils (existentielle
Gefährdung im Raum).
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5.6% - 28.7%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit einer Angsterkrankung
› Kinder werden in ihrer Autonomieentwicklung beeinträchtigt.
› Ängste der Eltern übertragen sich auf die Kinder.
› Vermeidungsverhalten wird von den Kindern übernommen.
› Kinder werden angstreduzierende Erfahrungen vorenthalten.
Problem in der Beratung: Grenze zwischen Elternarbeit und
Therapie der Eltern
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6.2% / 0.9%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit einer Suchterkrankung
› Teilhabe und Erziehungsfähigkeit sind stark beeinträchtigt.
› Kindliche Bedürfnisse treten hinter eigenen Bedürfnissen oder
Suchtverhalten zurück.
› Elterliche Rolle nach aussen kann nicht vertreten werden
(Scham).
› Elterliche Konflikte – Häusliche Gewalt – massiv erhöhtes
Misshandlungs- und Vernachlässigungsrisiko.
› Substanzen sind verfügbar – Intoxikationsgefahr.
› Kinder lernen Substanzkonsum als „Lösungsmittel“ kennen.
› „Co-Abhängigkeit“ – suchtförderndes Verhalten.
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2.5%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit einer Zwangserkrankung
› Kinder
› dürfen nicht im Dreck spielen.
› müssen überordentlich sein.
› werden zwanghaft gereinigt werden.
› werden nicht berührt oder liebkost.
› werden in Zwangsrituale einbezogen.
› Etc.
›
›
›
›
Anspannung und Atmosphäre überträgt sich auf die Kinder.
Sterilität – sensomotorische Entwicklung.
Soziale Kontakte werden oft sehr reduziert.
Kinder können Zwangshandlung und Rational dahinter nicht
verstehen
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2%-5%
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Typische Folgen für die Kinder
bei Eltern mit komplexen Traumatisierungen
› Eltern reagieren unberechenbar für ein Kind.
› Eltern dissoziieren unter Stress.
› in Stresssituationen keine Mimik woran sich das Kind
orientieren kann.
› Transgenerationale Traumatisierung.
› Emotionales und körperliches Misshandlungsrisiko.
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2.7%
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7:41 – 11:37
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Interventionen
auf Kinderebene
Es kommt im Leben nicht immer darauf an gute Karten zu haben,
sondern auch mit einem schlechten Blatt gut zu spielen.
Robert Louis Stevenson
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Bewältigung & Resilienz
Familienzentrierte Faktoren
› Eine emotional sichere und stabile Beziehung zu mindestens
einem Elternteil oder anderen Bezugsperson.
› Eine emotional positive, zugewandte und akzeptierende sowie
zugleich normorientierte, angemessen fordernde und
kontrollierende Erziehung.
› Eine gute Paarbeziehung der Eltern, in der Konflikte offen und
produktiv ausgetragen werden.
› Familiäre Beziehungsstrukturen, die sich durch emotionale
Bindung der Familienmitglieder und Anpassungsvermögen an
Veränderungen bzw. Entwicklungen auszeichnen.
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Bewältigung & Resilienz
Soziale Schutzfaktoren
› Soziale Unterstützung und sozialer Rückhalt durch Personen
ausserhalb der Familie.
› Einbindung in ein Peer-Netzwerk.
› Soziale Integration in Gemeinde, Vereine, Kirche etc.
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Bewältigung & Resilienz
Kindzentrierte Faktoren
› Temperamentsmerkmale wie Flexibilität, Anpassungsvermögen
an Veränderungen, Soziabilität und eine überwiegend positive
Stimmungslage.
› Soziale Empathie und Ausdrucksfähigkeit (Wahrnehmung
eigener Gefühle und sozialer Signale, Verbalisierung und
Modulation eigener Gefühle, Wahrnehmung und Verstehen
sozialer Regeln, Handlungsausrichtung nach sozialen Regeln,
konstruktiver Umgang mit Konflikten)
› Effektive Problemlösefähigkeit und realistische Einschätzung
persönlicher Ziele.
› Gute bzw. überdurchschnittliche Intelligenz und positive
Schulleistungen.
› Positive Selbstwertkonzepte, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und internale Kontrollüberzeugungen.
› Ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl.
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«Sense of Coherence»
Kohärenzgefühl
› Gefühl von Verstehbarkeit („sense of comprehensibility“).
› Gefühl von Bedeutsamkeit („sense of meaningfulness“) von
erlebten Situationen.
› Gefühl der Handhabbarkeit („sense of manageability“)
› schwierigen Situationen nicht ausgeliefert zu sein und diese
meistern zu können.
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Interventionen
Am Anfang war die Psychoedukation
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Interventionen
mit den Kindern reden
› Kinder wünschen sich v.a. Informationen und leiden unter dem
Schweigen des Umfeldes (Lenz 2005, Sollberger 2007).
› Kinder beziehen die psychischen Symptome ihrer Eltern häufig
auf sich und ihr Fehlverhalten. (Hätte ich…, wäre..)
› Sie müssen daher andere Erklärungen für das Verhalten ihrer
Eltern von einem neutralen Experten bekommen.
› Die Eltern sind damit überfordert und wünschen sich
Unterstützung für Gespräche über ihre Krankheit.
› Und auch wir benötigen Informationen von den Kindern
und über die Interaktion mit den Eltern, um deren
Wahrnehmung und deren Unterstützungsbedarf
abschätzen zu können.
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Form & Ziele
der Psychoedukation
› Die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten.
Ingeborg Bachmann
› Psychoedukation
› eng an den Symptomen der Eltern (keine Fachausdrücke
verwenden)
› Viele haben eine solche Krankheit, viele Kinder haben Eltern
mit dieser Krankheit (Universalität des Leids)
› Emotional validieren
› Hoffnung vermitteln
› Beziehung anbieten, konkrete Hilfen einleiten.
› Behandlungsziele für die Eltern beschreiben
› Förderung der Fähigkeit eigene Bedürfnisse wahrzunehmen.
› Kinder haben ein Recht darauf, es sich trotz der
elterlichen Erkrankung gut gehen zu lassen.
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weitere Interventionen
mit den Kindern
› Wenig Intervention kann viel Gutes bewirken.
› Das Kind muss auf mehreren Ebenen erfahren, dass es nicht
allein ist.
› Soziale Netzwerke knüpfen.
› Erlaubnis für eigene Bedürfnisse geben.
› Ärger gegen die Krankheit des Elternteils aussprechen lassen.
› Sicherheits- & Notfallpläne mit Mitsprache des Kindes
erarbeiten.
› An wen kann ich mich in Krisensituationen wenden?
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Interventionen – Elternebene
Balanceakt
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Fazit
eine Herkulesaufgabe
› Diese Aufgabe ist nicht alleine zu tragen!
› Bestmögliche Vernetzung der involvierten
Unterstützungssystemen (und unterschiedlichen Kostenträgern
erforderlich:
Sozialamt
Kinderheim
Therapeut des
Kindes
Polizei
Hausarzt
Jugendamt
Weiteren
Angehörigen
(Großeltern,
anderer
Elternteil,
etc.)
Beratungsstelle
Therapeut des
Elternteils
Schule
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Forderungen
für die Versorgung
› Aufklärung und Partizipation der Kinder und Jugendlichen an
der Behandlung ihrer Eltern (Gespräche, Besuchsmöglichkeiten).
› Ressourcen für die Schnittstelle zwischen der KJH & KJPP in der
Erwachsenenpsychiatrie – Familienzentrierte
Behandlungskonzepte gemeinsame
Sprechstunden/entwicklungspsychopathologische Perspektive.
› Sprechstunde der Jugendämter in der Erwachsenenpsychiatrie,
Werbung mit konkreten Angeboten, mehr Ressourcen für die
nachgehende Betreuung dieser Familien.
› Gruppenangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern.
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Danke
für die Aufmerksamkeit
› Literatur
› Kinder psychisch kranker Eltern (Lenz)
› Sonnige Traurigtage (Homeier)
› Fufu und der grüne Mantel (Eggermann & Janggen)
› Mit Kindern redet ja keiner (Boie)
› Internet
› www.netz-und-boden.de
› www.kinder-psychisch-kranker.de
› www.opminet.au
› www.kipsy.net
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