Prävalenz von Frailty und Malnutrition bei Personen über 65 Jahren

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von Johanna Tschinderle, Karin Schindler, Thomas Dorner
Prävalenz von Frailty und Malnutrition bei Personen
über 65 Jahren in Wiener Krankenhäusern
Einleitung
In den kommenden Jahrzehnten wird sich durch den demografischen Wandel das Verhältnis zwischen älteren und
jüngeren Menschen erheblich verschieben. Im Jahr 2009 waren 1,9 Millionen der insgesamt 8,4 Millionen Menschen
Österreichs über 60 Jahre alt; dies entspricht 23% der Gesamtbevölkerung. Nach Schätzungen der Statistik Austria
zufolge sollen im Jahr 2050 bereits 3,2 Millionen (34%) Österreicher dieser Altersgruppe angehören.
Die durch die steigende Lebenserwartung gewonnen Lebensjahre können aber nur dann genossen werden, wenn sie
auch ohne ernsthafte gesundheitliche Einschränkungen erlebt werden können.
Der Prozess des Alterns ist mit physischen und psychischen Veränderungen verbunden die besondere
Aufmerksamkeit, auch seitens der Gesundheits- und Krankenpflege, benötigen. Dadurch stellt die Alterung der
Gesellschaft eine zunehmende, schwierige Herausforderung für das Gesundheitssystem und für alle
Betreuungseinrichtungen älterer Menschen dar.
Alterung selbst ist unaufhaltbar, jedoch kann der Alterungsprozess durch eine bewusste Gestaltung des Lebens mit
ausreichend Bewegung, einer gesunden, abwechslungsreichen Ernährung, geistiger Beschäftigung und sozialen
Kontakten verlangsamt werden. Alle diese Faktoren führen zu einer Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität und
wirken sich dadurch positiv auf das Altern aus. Daher spielt in der sich entwickelnden „Seniorengesellschaft“ die
Ernährungs- und Gesundheitssituation und damit auch die Lebensqualität der älteren Menschen eine immer zentralere
Rolle.
Frailty
Das Syndrom der „Frailty“ gewinnt vermehrt an Bedeutung und gilt als eine der bedeutsamsten Herausforderungen für
unser Gesundheitssystem in den nächsten Jahren. Frailty wird als „a state of high vulnerability for adverse health
outcomes, including disability, dependency, falls, need for long-term care and mortality” beschrieben.
Es ist ein geriatrisches Syndrom, das aus einer Kombination der Faktoren Sarkopenie, Malnutrition (Unter-, oder
Überernährung), chronischer Entzündung, niedrigem Aktivitätslevel und allgemeiner Erschöpfung besteht.
Für die Betroffenen geht die Erkrankung mit einem erhöhten Risiko für den Verlust von Selbständigkeit und Autonomie
einher. Es kommt zu allgemeinen Einbußen der Lebensqualität, erhöhtem Sturzrisiko, vermehrten
Krankenhauseinweisungen und Aufnahmen in Pflegeheimen bis hin zu erhöhter Sterblichkeit.
Da es sich bei Frailty um einen multifaktoriellen Prozess handelt, der nicht einer einzelnen Ursache zuzuschreiben ist,
spielen bei der Entstehung genetische, biologische, physische, psychische, soziale und umweltbezogene Faktoren
eine mögliche Rolle. Oft spricht man vom sogenannten „Frailty circle“ (siehe Abbildung), der einen Teufelskreislauf aus
Mangelernährung, Sarkopenie, Alterungsprozess und Erkrankungen beschreibt.
Bis jetzt hat sich noch keine einheitliche Definition von Frailty durchgesetzt und auch bei den Erhebungsmethoden
herrscht noch Uneinigkeit. Allerdings hat sich weitgehend die Definition nach Fried (Cardiovascular Health Study Frailty
Index) durchgesetzt, nach der Personen als „frail“ identifiziert werden, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien
Bis jetzt hat sich noch keine einheitliche Definition von Frailty durchgesetzt und auch bei den Erhebungsmethoden
herrscht noch Uneinigkeit. Allerdings hat sich weitgehend die Definition nach Fried (Cardiovascular Health Study Frailty
Index) durchgesetzt, nach der Personen als „frail“ identifiziert werden, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien
erfüllt werden: ungewollter Gewichtsverlust, subjektive Erschöpfung, niedrige körperliche Aktivität, langsame
Gehgeschwindigkeit und Schwäche. Bei Zutreffen von ein bis zwei Symptomen wird der Patient/die Patientin als
„pre-frail“ eingestuft, bei keinen Symptomen als „robust“.
Die Hauptkomponenten in der Prävention und Gesundheitsförderung sind gesunde Ernährung, regelmäßige
körperliche und geistige Aktivität, Vermeidung von Über- und Untergewicht, Teilnahme am sozialen Leben, Prävention
von Infektionen, sowie Verzicht auf Tabak und Mäßigung des Alkoholkonsums. Diese Faktoren wirken sich nicht nur
günstig auf Frailty aus, sondern auch auf die allgemeine Gesundheit, das Wohlbefinden, die Lebensqualität und
Selbstständigkeit.
Ernährung und Frailty
Der Ernährung wird bei der Entstehung, der Prävention und der Therapie von Frailty eine bedeutende Rolle
zugesprochen, da ein Gewichtsverlust eine zentrale Komponente des Frailty- Syndroms darstellt. Vor allem die richtige
Nahrungszusammensetzung, insbesondere der Gehalt an Eiweiß und antioxidativ wirksamen Nährstoffen, spielt eine
bedeutsame Rolle.
Eine unzureichende Aufnahme an Energie und Proteinen ist vor allem im Alter mit der Abnahme der fettfreien
Körpermasse und der damit verbundenen Reduktion der Muskelmasse assoziiert. Mangelernährung und ungewollter
Gewichtsverlust können daher als zentrale Komponenten im Frailty-Kreislauf angesehen werden.
Durch die richtige Auswahl von Lebensmittel kann die Entstehung von Frailty verzögert und ihre Ausprägung und
Auswirkungen möglicherweise verringert werden.
Die nachfolgende Tabelle fasst die wichtigsten Ernährungsempfehlungen zur Prävention und Therapie von Frailty
zusammen.
Tabelle: Ernährungsempfehlungen zur Prävention und Therapie von Frailty (nach Volkert, 2009)
Bedarfsgerechte
Energiezufuhr
Ausreichende
Proteinzufuhr
extremes Übergewicht, Untergewicht und
Gewichtsverluste vermeiden; konstantes
Körpergewicht (BMI 22 - 30 kg/m²)
0,9 - 1,1 g/kg Körpergewicht zur Vermeidung von
Muskelabbau
Hochwertige Proteinquellen: Milchprodukte, Fleisch,
Fisch, Eier
Vitamin-D-Versorgung
regelmäßiger Fischverzehr, täglicher Aufenthalt im
Freien und ggf. Supplementierung
Verzehr
antioxidantienreicher
Lebensmittel
Vielseitige und abwechslungsreiche
Speisenzusammenstellung mit reichlich Obst und
Gemüse, pflanzlichen Ölen und Nüssen,
Vollkornprodukten, Brot, Fleisch, Wurst,
Milch/-produkten und Käse
Aufnahme von
pflanzlichen Öle (Leinöl, Walnussöl, Rapsöl und
Sojaöl)
Aufnahme von
Omega-3-Fettsäuren
pflanzlichen Öle (Leinöl, Walnussöl, Rapsöl und
Sojaöl)
fette Seefische (Hering, Makrele und Lachs)
ca.1,5l pro Tag
Flüssigkeitszufuhr
Regelmäßiges
Ernährungsassessment
Mineralwässer, Kräutertee, Früchtetee, Säfte, Milch,
Suppen, Kaffee, Tee
Ernährungsprobleme (Appetitlosigkeit, geringe
Essmenge, einseitige Ernährungsweisen und
Gewichtsverlust) rechtzeitig erkennen, Ursachen
abklären und beseitigen
Prävalenz von Malnutrition und Frailty in Wiener
Krankenhäusern
In einer Fragebogenerhebung mit nicht invasiv anthropometrischen Messungen wurde von Juni bis Oktober 2011 die
Ernährungssituation, der Frailty-Status und das Interesse an einer Trainings- und Ernährungsintervention von 133
Patient/inn/en im Alter von über 65 Jahren in verschiedenen Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt
Wien und des Kaiser Franz Joseph Spitals erhoben.
Um eine Aussage über den Grad von Frailty bei alten Menschen zu erhalten wurde das standardisierte SHARE Frailty
Instrument (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) verwendet. Der Patientin/dem Patienten wurden
Fragen zu Appetit, Verrichtung von Alltags- und Freizeitaktivitäten und Häufigkeit und eventuellen Schwierigkeiten bei
der Durchführung von körperlichen Aktivitäten gestellt. Das SHARE-FI beinhaltete weiters die Messung der maximalen
Handkraft mittels Dynamometer. Nach diesem Instrument wurden die Patient/inn/en entweder als „frail“, „pre-frail“ oder
„robust“ eingestuft.
Das Mini Nutritional Assesment hat den Zweck, eine bestehende Mangelernährung sowie das Risiko einer
Mangelernährung zu ermitteln, um bei Bedarf frühe Ernährungsintervention zu veranlassen. Nach Soeters (2008)
handelt es sich bei Malnutrition um eine Fehlernährung, die Über- und Unterernährung, sowie inflammatorische
Prozesse umfasst. Anhand von sechs Fragen (Appetitverhalten, Gewichtsverlust in den letzten drei Monaten, Mobilität,
akute Krankheiten/Stress, psychische Situation und anthropometrische Messung (Wadenumfang) erfolgt eine
Klassifizierung der Patient/inn/en in die drei Kategorien „guter Ernährungszustand“, „Risikobereich“ und „schlechter
Ernährungszustand“.
Ergebnisse
Diese Grafik zeigt, dass die Prävalenz von Frailty bei Personen über 65 Jahren in Wiener Krankenhäusern mit 54,1%
sehr hoch ist, zusätzliche 21,8% wurden als „pre-frail“ und weitere 24,1% als „robust“ eingestuft.
Die Ergebnisse zeigen, dass Frailty ein ernstzunehmendes Problem ist, wobei vor allem die Gesundheitsförderung,
Prävention und Früherkennung eine besondere Rolle spielen. Da sowohl in der Entstehung als auch Therapie und
Prävention von Frailty der Ernährungsfaktor eine zentrale Rolle einnimmt, wurde im Zuge der Erhebung der
Ernährungsstatus der Patient/inn/en erhoben.
Die Ergebnisse zeigen, dass von den 133 Befragten 25,6% mangelernährt waren und weitere 51,1% ein Risiko dafür
hatten. Somit wiesen mehr als 2/3 der Befragten einen nicht wünschenswerten Ernährungstand auf.
Zwischen Malnutrition und Frailty besteht ein Zusammenhang. Von den 72 Frailty- Patient/inn/en waren 36,1%
mangelernährt und 56,9% wiesen ein Mangelernährungsrisiko auf. Somit hatten nur 6,9% dieser Gruppe einen
wünschenswerten Ernährungszustand vorzuweisen. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in der Pre-Frailty-Gruppe
wo die Prävalenz der Malnutrition mit 20,7% bzw. des Mangelernährungsrisikos mit 48,3% erwartungsgemäß hoch
war.
Durch ein strukturiertes Trainingsprogramm in Kombination mit Ernährungsintervention können viele negative Folgen
von Frailty und auch Malnutrition verhindert, die Lebensqualität und die Autonomie erhalten oder sogar verbessert
werden. Das Interesse an solch einem Projekt ist im Wiener Kollektiv mit 64,7% sehr groß, daher wäre die
Durchführung ein Schritt in Richtung optimaler Versorgung, um einerseits der drohenden Pflegekatastrophe
entgegenzuwirken und andererseits auf individueller Ebene, jedem Menschen ein würdevolles Altern zu ermöglichen.
Da 88,2% der Unterernährten und 75,0% der Frailty- Patient/inn/en an einer Intervention Interesse hatten, wäre vor
allem für diese Personen die Teilnahme an einer Ernährungs- und Trainingsintervention aus gesundheitlicher Sicht von
Nutzen.
Zusammenfassung
Die Prävalenz von Frailty und Malnutrition im stationären Bereich bei Personen ab 65 Jahren ist sehr hoch und
zusätzlich sind viele Personen davon bedroht. Sowohl die Prävalenzzahlen von Frailty als auch Malnutrition
verdeutlichen die enorme Notwendigkeit diesen Entwicklungen mit präventiven und gesundheitsförderlichen
Maßnahmen entgegenzuwirken. Die Erhebung der unterschiedlichen Stadien von Frailty und Malnutrition ermöglicht
nicht nur die Behandlung bereits akut Betroffener, sondern auch die frühzeitige Erkennung von Personen, die unter
Risiko stehen ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu verlieren und bietet ihnen die Möglichkeit, durch
rechtzeitige Interventionen Pflegebedürftigkeit und Institutionalisierung zu verhindern oder hinauszuzögern.
Um auch im Alter ein selbständiges, beschwerdefreies Leben führen zu können, sind regelmäßige körperliche
Bewegung bzw. Training und eine bedarfsgerechte Ernährung wesentliche Faktoren, die den Alterungsprozess günstig
beeinflussen können. Das Älterwerden kann dadurch zwar nicht aufgehalten werden, jedoch kann das Risiko an
Malnutrition und / oder Frailty zu erkranken vermindert werden. Indem die letzten Lebensjahre in möglichst guter
Gesundheit erlebt werden, wird einerseits eine mögliche Pflegebedürftigkeit verhindert oder hinausgezögert und
andererseits der drohenden Pflegekatastrophe entgegengewirkt.
Literatur
Böck M, Rieder A, Dorner TE. Frailty. Definition, Erkennung und Bedeutung in der Gesundheitsförderung und
Böck M, Rieder A, Dorner TE. Frailty. Definition, Erkennung und Bedeutung in der Gesundheitsförderung und
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www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_prognosen/bevoelkerungsprognosen/index.html
, (Zugriff am 11. April 2011).
Tschinderle J. Frailty, Ernährungsstatus und Bereitschaft zu einer Trainings- und Ernährungsintervention bei älteren
und hochbetagten Personen über 65 Jahre in Wiener Krankenhäusern. Masterarbeit. Universität Wien. WS 20111/12.
Volkert D. Die Rolle der Ernährung zur Prävention von Sarkopenie und Frailty. Schweizer Zeitschrift für
Ernährungsmedizin, 2009; 4: 25-30.
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