Hansruedi Ambühl: "Messies"

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Hansruedi Ambühl
„Messies“ – Zur Unordnung gezwungen?
Zusammenfassung
So genannte „Messies“ sammeln und horten Dinge, die sie eines Tages wieder benötigen
könnten oder an die bestimmte sentimentale Erinnerungen geknüpft sind. Ihre Wohnräume
quellen über von „Schund“ und „Schätzen“, so dass oft nur noch schmale Gänge begehbar
sind. Das Leiden der Betroffenen dieser Art von Zwangsstörung wird in der Regel dann deutlich, wenn sie von Angehörigen oder Behörden dazu gezwungen werden, sich von Dingen zu
trennen. Dies kann sie in tiefe Verzweiflung stürzen und depressiv oder gar suizidal machen.
Die Wurzeln dieser Störung liegen – wie man bei Zwangsstörungen ganz allgemein vermuten
darf - in gefühlsmässig verunsichernden Problemen und Erfahrungen in der Vergangenheit,
die von den Betroffenen nicht adäquat gelöst werden konnten, sondern mithilfe des Zwangs
auf eine andere Ebene verschoben wurden. Trotzdem führt bei der psychotherapeutischen
Behandlung aufgrund der entstandenen Eigendynamik des Sammelns und Hortens meist kein
Weg an einem störungsspezifischen Vorgehen vorbei, in welchem der Veränderungshebel
direkt bei der Zwangssymptomatik angesetzt wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen
Fallbeispiel
Frau B. ist 58-jährig, alleinstehend und lebt in einer 3-Zimmer-Wohnung. Sie meldet sich zur
Therapie, nachdem sie von der Hausverwaltung ein Ultimatum erhalten hatte, ihre Wohnung
bis Ende des Monats zu ‚entrümpeln‘, andernfalls würde ihr diese gekündigt. Frau B. leidet
unter einem Sammelzwang. Sie sammelt überall Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und hortet
diese in ihrer Wohnung. Die Wohnung ist mittlerweile auf ihrer ganzen Fläche etwa einen
halben Meter hoch damit belegt, was aus Feuerschutzüberlegungen heraus für die Hausverwaltung ein erhebliches Risiko darstellt. Tatsächlich starb der Vater von Frau B. vor einigen
Jahren in seiner Mansarde an einer Rauchvergiftung, wobei sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass diese ebenfalls mit Papier voll gestopft und durch eine brennende Zigarette
in Brand geraten war. Frau B. ist eine sehr intelligente und vielseitig interessierte Frau, die
Dinge in der Absicht sammelt und hortet, sie irgendwann gründlich zu studieren. Und obwohl
sie den Überblick schon längst verloren hat und genau weiß, dass sie niemals die dafür nötige Zeit zur Verfügung haben wird, kann sie sich von den Sachen nicht trennen, sondern gerät beim Gedanken an ein Aufräumen der Wohnung mit Unterstützung ihrer Freunde in größte Verzweiflung.
Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007
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Die meisten Menschen bewahren gewisse Dinge auf, die sie eines Tages wieder benötigen
könnten oder an die bestimmte sentimentale Erinnerungen geknüpft sind. Im Unterschied
dazu heben Betroffene von einem Sammel- und Hortzwang einfach praktisch alles auf, von
alten Zeitungen, über Notizzettel bis zu Fahrscheinen und ins Haus geflatterten Prospekten,
und können sich von praktisch gar nichts mehr trennen. Sie fühlen sich unfähig zu unterscheiden, ob ein Gegenstand nützlich oder völlig überflüssig ist. Die meisten Dinge, die gehortet werden, sind nicht wirklich wertvoll und haben auch keinen besonderen Erinnerungswert. Der Gedanke, dass sie irgendwann vielleicht doch noch einmal von Nutzen sein könnten, hindert jedoch Betroffene daran, Dinge wegzuwerfen. So quellen ihre Räume über von
Dingen, die andere als Abfall entsorgen. Dies kann soweit führen, dass eine Wohnung derart
mit Schund und Schätzen angefüllt ist, dass nur noch schmale Gänge den Weg zum Bett
oder zum WC offen halten („Vermüllungssyndrom“).
Personen mit Sammel- und Hortzwang - mir persönlich ist diese Bezeichnung lieber als Sandra Feltons Wortschöpfung „Messie“, die in meinen Augen die Schwere der psychischen Störung etwas bagatellisiert. Auch kommt mir bei der Aussage „Ich bin ein Messie“ der Aspekt
etwas zu kurz, dass die meisten von dieser Problematik betroffenen Menschen sehr leiden
und gerne etwas täten, um es zu lösen – haben größte Schwierigkeiten, sich von Dingen
trennen, weil sich von etwas trennen bedeutet es herzugeben. Dadurch stünde es der betroffenen Person nicht mehr zur Verfügung. Indem nichts weggeworfen wird, geht jemand nicht
das Risiko ein, Dinge zu vermissen, die ihm einmal gehört hatten und verliert so scheinbar
auch nicht ein Stück Kontrolle über die Welt um sich herum. Außenstehende sehen keinen
Sinn in diesen Sammlungen, doch die Betroffenen halten ihre gesammelten Objekte für
wertvoll und würden es nie zulassen, dass jemand anders sie als Müll entsorgt. Häufig versuchen sie auch mit scheinbar gewichtigen Argumenten zu unterstreichen, weshalb die Dinge
doch wertvoll sind. In schweren Fällen wird das ganze Haus mit Schund und Schätzen angefüllt und es muss noch zusätzlicher Lagerraum angemietet werden. So betrachtet sind Menschen mit einem Sammel- und Hortzwang tatsächlich zur Unordnung gezwungen, weil sie
sich nicht vorstellen können, sich von Dingen zu trennen.
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Psychotherapie von Patienten mit Sammel- und Hortzwang
Ich gehe davon aus, dass die Entwicklung eines Sammel- und Hortzwangs – genau wie andere Formen der Zwangsstörung auch – zunächst einmal einen mehr oder weniger gelungenen Lösungsversuch von zugrunde liegenden Problemen oder Konflikten darstellt, die eine
Person nicht auf andere Weise lösen konnte.
Bei der Behandlung von Patienten mit Sammel- und Hortzwang stehen wir oft vor dem kuriosen Faktum, dass das Problemverhalten selbst wenig Hinweise auf damit einhergehende psychische Konflikte gibt. Oft ist nicht von Anfang an klar, welche Funktionen die Zwänge im
Erleben und Verhalten des Patienten haben. Wir gehen zwar davon aus, dass auf der intrapersonalen Ebene mit Hilfe der Zwänge versucht wird, negative Emotionen zu vermeiden,
aber wir wissen oft nicht genau, welche Emotionen damit vermieden werden sollen und welche Konflikte den Zwängen zugrunde liegen. Ebenso können wir erst nach eingehender Analyse des Problemverhaltens feststellen, ob die Zwänge auch eine interpersonale Funktionalität erlangen, indem sie z.B. dazu dienen, Beziehungen zu steuern. Je nach Ausprägung hat
das wichtige Implikationen für die Therapie.
Was auch immer für Gründe zur Entwicklung eines Sammel- und Hortzwangs geführt haben,
nach dessen Entwicklung wird der Zwang durch bestimmte andere Mechanismen am Leben
erhalten und er entwickelt häufig ein Eigenleben, eine Eigendynamik. Deshalb spielen für die
Behandlung nicht nur entwicklungsgeschichtliche Faktoren, sondern die Mechanismen der
Aufrechterhaltung der Störung eine ganz wichtige Rolle. Theoretisch geht man davon aus,
dass bestimmte Funktionszustände der psychischen Aktivität eine Eigendynamik entfalten
können, die das Individuum über längere Zeit in diesem Zustand "gefangen hält". Psychopathologische Zustände wie Zwänge, Depressionen, Suchterkrankungen usw. können den Charakter so genannter semiautonomer Funktionszustände der psychischen Aktivität mit eigenen
Gesetzmäßigkeiten haben. Wenn sich das Individuum erst einmal in einem solchen Zustand
befindet und in seinem Erleben und Verhalten in erheblichem Ausmaß von der Eigendynamik
dieses Zustandes bestimmt wird, dann wird die Durchbrechung dieser Eigendynamik, d.h. die
Beendigung oder Veränderung des Zustandes, selbst zur vorrangigen therapeutischen Aufgabenstellung. Dies bedeutet bei Zwangsstörungen jeder Art, dass bei deren Therapie meistens kein Weg an einer störungsspezifischen Behandlung der Symptomatik vorbeiführt. An
diesem Punkt bieten sich vornehmlich aus der kognitiven Verhaltenstherapie stammende
störungsspezifische Interventionsmethoden an, die den Patienten darin unterstützen sollen,
seine in den Griff zu bekommen und sich davon befreien zu können. Ich benutze dafür gerne
die Metapher eines Schiffes, das auf eine Sandbank aufgelaufen ist. Bevor man der wichtigen
Frage nachgeht, was wohl die Gründe dafür waren, dass das Schiff aufgelaufen ist, es von
der Sandbank zu befreien und wieder flott zu machen. Erst danach erscheint es sinnvoll und
wichtig, die Gründe für das Auflaufen zu erkennen und zu beheben.
Es liegt auf der Hand, dass eine Problemaktualisierung sofort stattfindet, wenn man den Patienten dazu bringen kann, sich von angehäuften Dingen zu trennen. Solche mit dem Patienten im Voraus genau abgesprochenen Interventionen werden in der Regel als massive Störungen erlebt. Die Folge ist das Erleben bisher vermiedener Emotionen, die in der Folge auf
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direktem Weg therapeutisch bearbeitet werden können. Im Gegensatz zu manchen Exponenten einer rein störungsorientierten Verhaltenstherapie nicht der Meinung, dass die Bewältigung der Zwangssymptomatik auch schon die Lösung der zugrunde liegenden Probleme darstelle, etwa nach dem Motto „Get rid of the symptom and you will get rid of the neurosis“.
Vielmehr gehe ich davon aus, dass der Symptomatik zugrunde liegenden Probleme, Konflikte, Traumata, Entwicklungsdefizite und damit verknüpfte vermiedene Emotionen existieren
und dass diese offen zu Tage treten, wenn an der Veränderung der Symptomatik gearbeitet
wird.
Ich betrachte daher die Störungsperspektive und die Konfliktperspektive nicht als ein Entweder-Oder, sondern vielmehr als ein Sowohl-als-auch. Dabei gebe ich bei der Behandlung in
der Regel zunächst den störungsspezifischen Behandlungsmethoden den Vorzug, da diese im
Idealfall zu einer Beseitigung des Zwangsverhaltens führen und gleichzeitig die damit einhergehenden Konflikte und vermiedenen Emotionen auf direktestem Weg aktualisiert werden. Mittels klärungsorientierter therapeutischer Interventionen werden danach diese Konflikte bearbeitet.
Zur störungsspezifischen Behandlung
Für die Behandlung ist hilfreich, folgende Punkte zu beachten (Ambühl & Meier, 2003; Ambühl, 2007):
• Ein erster Behandlungsschritt besteht darin, sich wieder damit vertraut zu machen, bis zu
welchem Grad Sammeln und Horten normal ist. Zu diesem Zweck erscheint es hilfreich,
sich bei anderen zu erkundigen, wie sie es handhaben mit der Aufbewahrung von Dingen.
Was wird aufbewahrt, was wird nach wie langer Zeit wieder weggeworfen? Die Therapeutin kann vor Ort bei der Entscheidung helfen, was alles weggeworfen werden kann.
• Exposition heißt im Falle von Sammel- und Hortzwängen, dass der Patient Dinge wegwirft,
die er bisher aufgehoben hat. Zum Reaktionsmanagement gehört, den Patienten darin zu
unterstützen, dem Drang zu widerstehen, bereits Weggeworfenes wieder aus dem Mülleimer zu holen. Das Ziel besteht nicht darin, die Wohnung aufzuräumen und wieder zu putzen (das könnte auch jemand anderes tun), sondern darin, sich wieder daran zu gewöhnen, wertvolle Dinge von unnützen zu unterscheiden und letztere dann wegzuwerfen
(Baer, 2001a).
• Visualisierungstechniken können eingesetzt werden, um dem Patienten das sich trennen
von Dingen zu erleichtern (z.B. die Vorstellung, wie die Wohnung aussehen wird, wenn sie
zwei weitere Jahre mit wertlosem Krempel voll gestopft wird). Solche Vorstellungen können die Motivation zur Veränderung des jetzigen Zustandes erhöhen und dem Patienten
eine Vision vermitteln, wie sein Leben nach dem Wegwerfen des ganzen Mülls aussehen
könnte (z.B. eine helle Wohnung, in der die Luft frisch ist und viel Platz vorhanden ist).
• Es ist sehr wichtig, dass PatientInnen mit Sammel- und Hortzwängen von einem Helfer
(z.B. TherapeutIn, nahe Bezugsperson) beim Wegwerfen unterstützt werden. Der Patient
muss sich dabei total darauf verlassen können, dass er selbst bestimmen kann, was weggeworfen werden kann, und dass niemand hinter seinem Rücken Dinge wegwirft.
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• Oft erweist es sich als hilfreich, Listen von Dingen zu erstellen, die weggeworfen werden
können und dabei graduiert vorzugehen (d.h. mit den Gegenständen beginnen, von denen
sich der Patient am leichtesten trennen kann). Da PatientInnen die Schwierigkeit haben,
sich zwischen etwas aufbewahren und etwas wegwerfen zu entscheiden, kann man drei
Kategorien vorgeben: Dinge, die weggeworfen werden können, Dinge, die aufbewahrt
werden und Dinge, über deren Schicksal im Moment noch nicht endgültig entschieden
werden kann, wobei über die letzte Kategorie noch am selben Tag definitiv entschieden
werden soll.
• Man soll den Patienten auch darüber informieren, dass seine Angst vor dem Wegwerfen
viel größer sei als beim Wegwerfen selbst. Sobald er es geschafft habe, ein paar Dinge auf
den Müll zu werfen, sei das Schlimmste schon vorbei.
Zur Bearbeitung der dem Zwang zugrunde liegenden Probleme
Das Hauptziel klärungsorientierter Therapie besteht darin, dass die Therapeutin dem Patienten hilft, sich selbst, sein eigenes Erleben und Verhalten besser zu verstehen. Es geht darum,
dass sich der Patient über sich selbst klarer wird, sich besser verstehen lernt, um sich besser
annehmen und/oder sich bewusst anders als bisher verhalten zu können.
Patienten mit einem Sammel- und Hortzwang berichten oft über traumatische Erfahrungen
(z.B. Verlusterlebnisse, Prügel), die der Entwicklung von Zwangssymptomen vorausgegangen
sind. Auffällig ist an solchen Berichten, dass sie nüchtern daherkommen und nicht mit den
dazugehörenden Emotionen verbunden sind. Über dieses Phänomen klagen vor allem Psychoanalytiker, wenn sie über wenig ermutigende Behandlungsversuche sprechen: „Der
Zwangsneurotiker hat Schwierigkeiten, frei zu assoziieren und verwechselt meist freie Assoziation mit theoretischer Diskussion. Deshalb neigt er zu rationalen Erklärungen. Mit den bevorzugten Abwehrmechanismen Intellektualisierung, Rationalisierung und Isolierung boykottiert er den therapeutischen Prozess. Aufgrund seiner basalen Autonomieproblematik hält er
sich peinlich genau und penibel an die formalen Grundregeln. Trotzdem unterläuft er den
therapeutischen Prozess, indem er Einsicht verhindert, Gefühle versteckt und durch Haarspalterei lebendigen Regungen aus dem Weg geht oder sie zerstört“ (Quint, zitiert nach Csef,
2005, S. 158). Patienten mit einer Zwangsstörung haben oft die phänomenale Fähigkeit, die
den Zwängen zugrunde liegenden Affekte zu isolieren und abzuspalten. Eine eigentliche
Problemaktualisierung findet über die therapeutischen Interventionen zur Bewusstseinsbildung meistens nicht statt. Im Gegenteil birgt eine jahrelange, nicht symptomorientierte psychoanalytische Behandlung die hohe Gefahr einer zwanghaften Hyperreflexion des eigenen
Denkens und Handelns.
Die Bearbeitung traumatischer Erlebnisse, die zeitlich gesehen am Anfang der Entwicklung
einer Zwangsstörung standen, ist ein wichtiges Element der Behandlung. Es spricht jedoch
einiges dafür, auf diesen Wagen erst aufzuspringen, wenn sich der Zug bereits in Bewegung
gesetzt hat’, d.h. abzuwarten, bis im Rahmen der störungsspezifischen Behandlung bisher
vermiedene Emotionen zum Vorschein kommen.
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Die therapeutische Arbeit an Entwicklungsdefiziten bietet sich primär dann an, wenn die
Zwangsstörung vor allem dazu dient, solche Defizite zu kompensieren. So führen z.B. Unsicherheiten in der Kindheit häufig zu nur wenig ausgeprägter Selbstbehauptung und Selbstsicherheit. Die Betroffenen haben keine angemessenen Verhaltensweisen erworben, wie sie
sich sozial kompetent für ihre Bedürfnisse und ihre Interessen einsetzen können. Mangelnde
Fähigkeiten der sozialen Kompetenz und die daraus folgenden erlebten Außenseiterpositionen und Demütigungen durch andere werden pseudo - kompensiert durch Zwangsverhalten.
Deshalb kann es sehr angezeigt sein, dass PatientInnen in einem Training sozialer Kompetenzen andere Copingstrategien für soziale Situationen erlernen (z.B. im Gruppentraining
sozialer Kompetenzen).
Die Arbeit an Entwicklungsdefiziten ist auch sinnvoll zur Ergänzung der störungsspezifischen
Therapie, weil solche Defizite häufige Folgeerscheinungen der Entwicklung einer Zwangsstörung und des Regimes des Zwangs sind. Wenn man davon ausgeht, dass Zwänge eine Regulierung von innerer Unsicherheit durch Verlagerung nach außen darstellen, dann ist es für die
Betroffenen auch wesentlich, einen anderen Umgang mit Verunsicherungen erwerben zu
können.
Die Vermittlung von Problemlösefertigkeiten im Allgemeinen sowie einem Entscheidungstraining (Hoffmann, 2002) im Besonderen erachte ich ebenfalls als sinnvolle Ergänzung der störungsspezifischen Therapie, mit dem Ziel, den Patienten besser für den Umgang mit neuen
Anforderungen zu rüsten. Damit kann auch der bei Patienten mit Sammel- und Hortzwang
festgestellten Lähmung der Handlungsfähigkeit begegnet werden.
Zusammenarbeit mit dem relevanten Bezugsystem des Betroffenen
Weil Zwangsstörungen und insbesondere Sammel- und Hortzwänge oft nicht nur ein individuelles Problem der davon Betroffenen darstellen, sondern auch eine starke Belastung der
Beziehung zu nahen Angehörigen mit sich bringen, stellt sich die Frage, ob dieses Bezugsystem auch in die Therapie mit einbezogen werden soll und wenn ja, wie?. Ein solcher Einbezug von Angehörigen kann verschiedene nützliche Funktionen für das Gelingen der Therapie
haben.
Ich bin der Meinung dass im Rahmen der Abklärung der PatientInnen mit einem Sammelund Hortzwang die relevanten Angehörigen unbedingt einbezogen werden sollen. Dieser
Einbezug ermöglicht eine objektivere Einschätzung der vorhandenen aktuellen Probleme und
der daraus resultierenden interaktionellen Konflikte, eine bessere Beurteilung der interaktionellen Funktionalitäten der Zwänge, eine Einschätzung der emotionalen Beziehungsqualität
zwischen den einzelnen Angehörigen und dem Patienten sowie eine Antwort auf die Frage,
ob Angehörige auch als wichtige Ressourcen Funktionen in der störungsspezifischen Behandlung übernehmen könnten. Ich bin auch der Meinung, dass bei Patienten mit Sammel- und
Hortzwang im Rahmen der Abklärung immer eine Verhaltensbeobachtung vor Ort, d.h. beim
Patienten zuhause erfolgen soll. Meistens vermittelt ein Augenschein vor Ort ein plastischeres, oft auch dramatischeres Bild der Situation als tausend Worte.
In der Abklärungsphase sollte den Angehörigen verständlich gemacht werden, weshalb der
Patient dermaßen viele Dinge sammelt und hortet, worunter nicht nur die Angehörigen, sonGesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007
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dern auch er selbst leidet. Auch das Problem der beidseitigen „Verhaltensautonomie“ (Hand,
2002), soll erörtert werden. Während der Patient für sich beansprucht, seine Zwänge so lange und so anhaltend wie ihm nötig scheint zu praktizieren, sehen sich Angehörige in ihren
Autonomieansprüchen zunehmend beeinträchtigt, was in der Regel zu aggressiven Interaktionen führt. Das Erreichen eines gemeinsamen therapeutischen Bündnisses mit gleichgerichteter Veränderungsmotivation ist oft schwierig und setzt eine gemeinsame Kooperation aller
Beteiligten voraus. Hierbei gerät der Therapeut leicht unter den Vorwurf der Parteilichkeit –
sei es, dass der Patient eine Koalition von Therapeut und Angehörigen gegen ihn selbst wittert, oder dass Angehörige eine Koalition von Patient und Therapeut zur gemeinsamen
Schuldzuweisung befürchten. Wenn es dem Therapeuten gelingt, von beiden Seiten als Vermittler akzeptiert zu werden, schafft dies optimale Therapievoraussetzungen.
Was die Rolle der Angehörigen als Co-Therapeuten betrifft, erscheint mir sehr wichtig, nur
solche Personen dafür in Betracht zu ziehen, zu denen der Patient großes Vertrauen hat und
sich voll darauf verlassen kann, dass diese nicht hinter seinem Rücken Dinge entsorgen, von
denen er sich nicht trennen möchte.
Fazit
Von einem Sammel- und Hortzwang betroffene Menschen leiden sehr unter dieser Störung,
sie schämen sich auch dafür, da sie durchaus in der Lage sind zu erkennen, dass ihr Hortverhalten übertrieben ist. Manche dieser Menschen leben in ständiger Angst vor den möglichen Konsequenzen, wenn außen stehende Personen auf ihre Situation in der Wohnung
aufmerksam würden. Auch aus diesem Grund leben solche Menschen zurückgezogen und
sind oft sozial isoliert.
Wie bei anderen Zwangsstörungen auch kann man davon ausgehen, dass sich die Zwangssymptomatik nicht einfach aus heiterem Himmel entwickelt hat, sondern ausgelöst wurde
durch massive gefühlsmäßige Verunsicherungen aufgrund ihrer Sozialisation bzw. aufgrund
traumatischer Erfahrungen. So gesehen stellt der Sammel- und Hortzwang für die Betroffenen zunächst ein Lösungsversuch für Probleme dar, die nicht auf andere Art gelöst werden
konnten.
Nachdem sich die Zwangssymptomatik einmal entwickelt hatte, wird sie durch verschiedene
Faktoren am Leben erhalten und entwickelt eine starke Eigendynamik. Hauptsächlich aus
diesem Grund spricht für die Planung einer psychotherapeutischen Behandlung einiges dafür,
den Behandlungshebel zunächst bei der Ablaufdynamik der Störung selbst anzusetzen, indem man in Zusammenarbeit mit dem Patienten versucht, eine gewisse Normalität zu erreichen, was das Sammeln und Horten von Dingen betrifft. In der Regel werden dadurch bei
den Betroffenen starke Gefühle ausgelöst, die bis anhin vom Erleben abgespalten waren.
Dies ermöglicht in der Folge einen unmittelbaren therapeutischen Zugang zu solchen vermiedenen Gefühlen und erlaubt deren Bearbeitung durch klärungsorientierte Vorgehensweisen. Auch vorhandene Verhaltensdefizite der Betroffenen können über den störungsspezifischen Zugang an die Oberfläche treten und mit bewältigungsorientierten Interventionen behoben werden.
Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007
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Ich plädiere daher für die Behandlung von Patienten mit Sammel- und Hortzwang eine
mehrdimensionale Behandlungsstrategie mit störungsspezifischen und klärungsorientierten
Ansätzen. Ein solches therapeutisches Vorgehen ist dann nicht – wie wir dies in der Vergangenheit oft erlebt haben – ein Entweder-Oder von Behandlung der Symptomatik oder Behandlung der zugrunde liegenden Problematik, sondern vielmehr ein Sowohl - als Auch.
Literatur:
• Ambühl, H. (2007). Wege aus dem Zwang. Wie Sie Zwangsrituale verstehen und überwinden. Düsseldorf: Patmos-Verlag.
• Ambühl & Meier (2003). Zwang verstehen und behandeln. Ein kognitivverhaltenstherapeutischer Zugang. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.
• Csef, H. (2005). Gruppentherapie bei Zwangsstörungen. In: Ambühl, H. Psychotherapie
der Zwangsstörungen. Stuttgart: Thieme: 155-167.
• Hand, I. (2002). Systemische Aspekte in der Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen. In
Ecker W. (Hrsg.) Die Behandlung von Zwängen. Bern: Huber: 81-100.
• Hoffmann, N. (2002). Wenn Zwänge das Leben einengen. Mannheim: PAL.
Ambühl, Hansruedi
Teilhabe und Empowerment durch Selbsthilfe/Betroffenenansatz, SA 9.00
geboren 1949
Dr.phil.
Psychotherapeut, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, kognitiver Verhaltenstherapeut
SGVT
1980-2001 Wissenschaftlicher Beamter an der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Bern (Leiter Prof. Dr. Klaus Grawe), seit 2001in freier Praxis in Bern tätig als Psychotherapeut, Ausbilder und Supervisor in verschiedenen psychotherapeutischen Institutionen
Publikationen zum Thema Zwang:
• Ambühl, H., Meier B. (2003) Zwang verstehen und behandeln. Ein kognitivverhaltenstherapeutischer Zugang. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta
• Ambühl, H. (2005) Psychotherapie der Zwangsstörungen (2. überarb. und erweit. Auflage). Stuttgart: Georg Thieme Verlag
• Ambühl, H. (2007) Wege aus dem Zwang. Wie Sie Zwangsrituale verstehen und überwinden. Düsseldorf: Patmos Verlag
Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007
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Kontakt:
Psychotherapeutische Praxis, Aarbergergasse 46, 3011 Bern, Schweiz
Webpage: www.zwangsstörung.ch
E-Mail: [email protected]
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