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Stefan Drees
Miniaturen, Bezugspunkte, «work in progress»
György Kurtág und die Idee des Irrgartens
Definitionsgemäß zeichnet sich ein Irrgarten dadurch aus, dass er aus einem verschlungenen Wegesystem besteht:
aus einem unübersichtlichen Netz von Pfaden, das neben gewöhnlichen Abzweigungen auch Kreuzungen, Sackgassen und Wegeschleifen aufweist und dadurch dem einmal darin Befindlichen die Orientierung erschwert. Einem solchen Irrgarten gleicht auch das Schaffen des 1926 geborenen Komponisten György Kurtág: Der Irrgarten seines
Gesamtwerkes ist durch eine Vielzahl von Wegen durchzogen, die untereinander ein dichtes, kaum durchschaubares
Netzwerk bilden. Einmal betreten, lassen sich von jedem einzelnen Stück aus Verbindungslinien in nahezu alle denkbaren Richtungen finden.
Aufgrund dieser Eigenart kommt Kurtágs Musik ein gewisses Maß an Subversivität zu. Sie liegt quer zum heutigen
Musikbetrieb und dessen Vorliebe für den Eventcharakter von Werken und Aufführungen, da sie ihr Profil vor allem
durch Beharren auf dem oftmals unscheinbaren Detail gewinnt. Kurtág arbeitet meist mit extremer Verkürzung und
konzentriert sich auf die kleinsten, allgemeinsten musikalischen Bausteine – auf wenige Töne oder Intervalle, auf
knappe, gestisch motivierte Melodie- und Bewegungsfiguren oder auf bestimmte Klangsituationen –, die er zu musikalischen Momentaufnahmen verdichtet und auf ihre verborgenen Qualitäten abtastet. Weit stärker als das Komponieren vieler anderer Zeitgenossen speist sich Kurtágs Schaffen dabei auch aus Impulsen der musikalischen Tradition, sodass man seine Arbeit als permanenten produktiven Dialog mit der Vergangenheit auffassen kann. Dem entspricht die große Bandbreite der verwendeten Gestaltungsmittel, die sich vom Hantieren mit gewöhnlichen Dreiklängen über kanonische Techniken bis hin zur Handhabung von Geräuschtexturen unterschiedlichster Beschaffenheit
erstreckt, die Prinzipien wie jenem der variativen Entwicklung oder jenem des Gegensatzes und seiner Auflösung
unterworfen werden, ohne sich jemals von Kurtágs individuellem musikalischen Tonfall zu entfernen.
Ein aufschlussreiches Beispiel für die Authentizität, die ­Kurtágs Arbeitsweise in der Auseinandersetzung mit Tradition gewinnt, ist seine 1990 publizierte Hommage à R. Sch. op. 15d für Klarinette, Viola und Klavier. Angesichts einzelner bis in die 70er Jahre zurückreichender Werkteile verdeutlicht die sechsteilige Komposition, mit welch hohem
Maß an Beharrlichkeit Kurtág an der Musik gefeilt, die Miniaturen ausgearbeitet und sich dabei in ganz besonderer
Weise mit dem Schaffen des von ihm hoch geschätzten Robert Schumann auseinandergesetzt hat. Die zahlreichen
Referenzpunkte hierzu finden sich ebenso in Schumanns frühem Schaffen – etwa in seinen aus kurzen Stücken
zusammengesetzten Klavierzyklen wie den Papillons op. 2 (1830–32) oder in seiner literarischen Tätigkeit –, wie in
dessen Spätwerk, das mit den Märchenerzählungen für Klarinette, Viola und Klavier op. 132 (1854) einen wichtigen
Anknüpfungspunkt enthält.
Die Hommage à R. Sch. beginnt mit einem raschen Satz (1975, revidiert 1977, 1986 und 1990), der den Titel Merkwürdige Pirouetten des Kapellmeisters Johannes Kreisler trägt. Damit erinnert er an die gleichnamige Figur aus E. T. A.
Hoffmanns Dichtungen, spielt also auf eine von Schumann verehrte literarische Gestalt an, die u. a. die Komposition
der Kreisleriana op. 16 (1838) angeregt hat. Mit dem «merkwürdig figurativen Gestikulieren» (Kurtág) seiner Musik
knüpft Kurtág jedoch auch ganz konkret an das vierte Stück aus den M
­ ärchenerzählungen an und nutzt die dort
sekundären satztechnischen Gestaltungsmittel als Ausgangspunkt: Die bei Schumann zunächst der Viola anvertraute
Sechzehntelfigur wird bei Kurtág zu einer wellenförmig verlaufenden Vorschlagsfigur (der «Pirouette»), die anfänglich in der Klarinette erklingt; und die nachfolgenden, «staccato» vorzutragenden Klavierakkorde gehen auf die «sehr
markiert» zu spielenden Akkorde aus op. 132 Nr. 4 zurück und werden, kontrastierend zur «Pirouette», zu arpeggierten Akkorden umgeformt.
Dieser am frühesten entstandene Satz diente dem Komponisten in der Folge als gedankliche Keimzelle, an die sich
nacheinander die übrigen Teile der Hommage à R. Sch. angelagert haben. Im «molto semplice, piano e legato» (sehr
einfach, leise und gebunden) vorzutragenden zweiten Satz (1986, revidiert 1990) mit dem Titel E.: der begrenzte Kreis
greift Kurtág auf ein Lied (Nr. 6: Der begrenzte Kreis ist rein) aus dem dritten Teil seiner Kafka-Fragmente op. 24 für
Sopran und Violine (1985–87) zurück. Er übernimmt den Originalsatz, wobei er die Singstimme durch die Klarinette
(mit Textunterlegung) und die Violine durch die Viola ersetzt, fügt allerdings eine weitere Stimme im Kanon hinzu,
mit der er die kontrapunktische Struktur des Originalsatzes verdichtet. Gleichzeitig bezieht er sie durch die Abkürzung «E.» auf Eusebius, das schwärmerische und elegische Alter Ego Schumanns, mit dessen Namen dieser vielfach
seine Kritiken unterzeichnete. Der in sich gerundeten Form des zweiten stellt Kurtág mit dem dritten Satz … und
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wieder zuckt es schmerzlich F. um die Lippen (1989/90) eine Miniatur gegenüber, deren Titel die Gestalt des leidenschaftlichen Florestan (abgekürzt «F.»), also Schumanns zweites Alter Ego und den Gegenpol zum Schwärmer Eusebius, einführt. Dem entspricht die als «feroce, agitato» (wild, erregt) charakterisierte Atmosphäre der Musik, die sich
auf das neunte Stück aus Schumanns Davidsbündlertänzen op. 6 (1837) bezieht. Die Sforzati des Originals werden als
musikalisches Element isoliert und in eine ganz andere, unvorhersehbar unregelmäßige Textur integriert, die sich im
mittleren Abschnitt in ein fiebriges Pianissimo aus gedämpften Klängen zurückzieht.
Auch der vierte und fünfte Satz der Hommage à R. Sch. bilden ein Gegensatzpaar, diesmal noch verstärkt durch
den «Attacca»-Übergang zwischen beiden Werkteilen: Der Titel des vierten Satzes (1985/86), Felhö valék, már süt a
nap … (töredék-töredék) – «eine Wolke war ich, jetzt scheint schon die Sonne … (Fragment eines Fragments)» –,
erweist sich als Zitat aus dem Gedicht Dal («Lied») des ungarischen Dichters Attila József (1905–1937), dessen Texte
Kurtág in seinen Attila-József-Fragmenten op. 20 für Sopran solo (1981) vertont hat. Mit seinen kurzen, vom Piano
aus immer leiser werdenden Legatobögen wirkt das Stück wie eine Einleitung zum fünften Satz (1986, revidiert 1990),
dessen geheimnisvoller Pianissomo-Beginn sich im Auf und Ab der Sechzehntelfiguren rasch bis zum Fortissimo steigert, in einer Viola-Kadenz gipfelt und anschließend mit einer zurückhaltenden Klavier-Coda im dreifachen Piano
ausklingt. Musikalisch erinnert dieses mit In der Nacht überschriebene Presto an Stimmungen, die Schumann – etwa
im siebten der Fantasiestücke op. 12 (1837) – als ­«Traumeswirren» charakterisiert hat.
Von seiner Dauer her bildet der ausgedehnte sechste Satz, überschrieben mit Abschied (Meister Raro entdeckt
Guillaume de Machaut) (1978/79, revidiert 1990) das Gegengewicht zu den übrigen Werkteilen; im Hinblick auf seine
kompositorische Strenge markiert er zugleich den strukturellen Höhepunkt der gesamten Komposition. Der Titel
bezieht sich auf Meister Raro, die dritte und ausgleichende Gestalt aus Schumanns Schriften, benennt damit also den
Gedanken der Vermittlung von Divergenzen. In der Musik geschieht dies durch die Verbindung von aktuellem Komponieren mit historischen Techniken zu einer neuen Einheit: So verweist der Name Machauts auf die besonderen
Eigenheiten der elaborierten Miniatur, die sich auf das Variationsmodell einer Passacaglia über einer durchgehenden
Basstextur im tiefen Klavierregister gründet. Gerade die auf Machaut zurückgehenden isorhythmischen Modelle,
aber auch die in den Bassnoten des Klaviers verborgene B-A-C-H-Tonfolge als Hommage an Johann Sebastian Bach
legen Zeugnis ab für die Bedeutung, die der Tradition im Komponieren Kurtágs zukommt. Darüber hinaus schwingt
in der ruhig schreitenden Musik jedoch auch der Gedanke eines Trauermarsches mit, der sich nach einer mächtigen
Steigerung am Ende förmlich im Nichts verliert, wenn der Klarinettist sein eigenes Instrument zur Seite legt und das
Stück mit einem Schlag auf die Große Trommel beendet, der leise in den verhallenden Schlussakkord des Klaviers
hineinklingt.
Neben dem Kurtágs Komponieren innewohnenden Hang zur Reduktion ist für seine Arbeit eine prinzipielle
Unabgeschlossen­heit charakteristisch. Sie äußert sich darin, dass einzelne Miniaturen immer wieder als Keimzellen
anderer Werke benutzt werden und dass die Sammlungen, in die Kurtágs Stücke eingegliedert sind, oft in einem über
Jahre hinweg fortschreitenden «work in progress» entstehen. Teilweise dienen diese Kompositionen wiederum als
Anstoß zur Weiterverarbeitung, als Anlass zur Herstellung anderer Versionen in geänderter oder erweiterterter Besetzung, gegebenenfalls auch als Kristallisationspunkt für größere Werke. Wie die Einzelteile von Kurtágs Hommage à
R. Sch. bilden auch die Materialien dieser «work in progress»-Reihen ein filigranes Netzwerk aus Rückbezügen, Verweisen und Reminiszenzen, das zusätzlich durch die Bestimmung einzelner Stücke als «In memoriam»- oder
«Hommage»-Kompositionen unterstrichen wird. Der Aspekt des Irrgartens tritt hier noch offensichtlicher zutage und
erscheint unter charakteristischen Stichworten, die auch in der Namensgebung der Sammlungen eine zentrale Rolle
spielen und auf jeweils eigene Art zur Etablierung eines kommunikativen Verhältnisses mit dem Hörer beitragen:
denen des Spiels, des Zeichens und der Botschaft.
Kollektionen dieser Art sind die seit 1973 entstandenen und mittlerweile auf acht Bände angewachsenen Játékok
(Spiele) für Klavier, die Games and Messages (1984ff.) für Blasinstrumente und die Signs, Games and Messages
(1989ff.) für Streichinstrumente, in denen jeweils unterschiedliche Besetzungen vom Soloinstrument über Duos und
Trios bis zum Quartett und Sextett vereinigt sind, sowie die New Messages op. 34 (1991ff.) für Orchester. Nicht nur
stellt jedes einzelne Stück dieser Sammlungen auf jeweils individuelle Weise, vermittelt über Titel, Vortragsanweisungen, Widmungen oder Kompositionstechniken, ein eigenes System an Bezügen dar; hinzu kommt, dass sich durch
die von Kurtág vorgesehene Möglichkeit der Auswahl und freien Kombination während der Aufführung weitere
Zusammenhänge ergeben – eine Idee, die der Komponist selbst in den 90er Jahren vielfach durch sogenannte «komponierte Programme» verfolgte.
Auch an ausgewählten Miniaturen aus den Games and Messages und den Signs, Games and Messages lassen sich
demnach die intertextuellen Aspekte von Kurtágs Arbeitsweise verdeutlichen. Insbesondere in den solistischen Stücken rückt dabei eine weitere Besonderheit in den Vordergrund: die starke ideelle Bindung der Musik an die gesprochene Sprache. In nomine – all’ongherese für Bassklarinette (2001), von dem der Komponist auch alternative Fassungen für andere Instrumente wie Englischhorn, Violine oder Viola angefertigt hat, wird dieser Zusammenhang
bereits durch die Vortragsanweisung «Parlando-rubato, con slancio» (wie gesprochen, frei, mit Schwung) deutlich:
Das Soloinstrument trägt in deklamierendem Spiel einen nuancenreichen Monolog vor, die taktstrichlose Notation
ermöglicht einen freien Vortrag, der durch flexible Tempogebung («poco stringendo», «quasi cadenza»), durch Tonhöhen ohne konkrete Notenwerte sowie durch zahlreiche Fermaten- und Zäsurzeichen unterstrichen wird. So entsteht
der Eindruck einer in Musik transformierten Rede, genauer: einer Klage, deren Lamento-Charakter durch Spielanweisungen wie «dis­perato» (verzweifelt) oder «doloroso» (schmerzlich) unter­strichen wird.
Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Hommage à Elliott Carter für Englischhorn (1998) um eine zweiteilige
Komposition, deren Grundprinzip im Ausgleich von Gegensätzen besteht: Der erste Abschnitt ist ein von Pausen und
Sprüngen in gleichsam federnden Achtelfiguren durchzogenes Capriccio, das durch vielfältig abgestufte Spielanweisungen wie «grazioso» (graziös), «suono distorto» (verzerrter Klang), «senza colore» (farblose) oder «dolce, cantabile»
(süß, gesanglich) bestimmt ist. Der zweite Teil setzt diesem kapriziösen Abwechslungsreichtum ein «calmo, sereno,
semplice» (ruhig, heiter, einfach) vorzutragendes Arioso in weit gespannten Legatobögen entgegen, in dem allein die
kurzen Vorschlagsfiguren noch auf die Sprünge des Capriccio zurückweisen. Unter Verzicht auf die Kontraste zwischen beiden Werkabschnitten hat Kurtág diesen zweiten Teil zur Grundlage der Hommage à Elliott Carter für Englischhorn und Kontrabassklarinette (1998/2000) gemacht. Hier setzt er der aus der Soloversion übernommenen Oberstimme «come ombra» (wie ein Schatten) eine leise Bassstimme entgegen und färbt dadurch die Melodietöne harmonisch immer anders ein.
Dieses Beispiel zeigt, dass Kurtág auch in seinen unabgeschlossenen Sammlungen dem Prinzip treu bleibt, eigene Stücke erneut aufzugreifen. Dies gilt gleichfalls für die Hommage à Tristan – für Judith Horváth für Englischhorn
und Bassklarinette (1991), die alternativ in einer Version für Viola und Violoncello (1994) existiert: Mit der in
Anführungszeichen gesetzten Spielanweisung «Langsam und schmachtend» um­reißt der Komponist gleich zu
Beginn den – allerdings fragmentarischen – Zitatcharakter, der sich auf Richard Wagners Tristan-Vorspiel bezieht.
Das Englischhorn beginnt mit einer fünftönigen Phrase («dolce, espressivo»), die dem Beginn von Wagners Komposition nachgebildet ist, die Bassklarinette antwortet nach einer Fermate mit einer siebentönigen Phrase. Erst nach
der zweiten und längeren Fermate, also beim dritten Anheben, vereinigen sich beide Instrumente in einer nun viertönigen Phrase in melodischer Gegenbewegung zum Duo. Hier zeigt sich auch Kurtágs Verfahren des mehrmaligen
­Weiterdenkens eigener Stücke, denn der kurze Satz, der im Zusammenhang mit einer unpublizierten Folge von
Streichquartett-Studien mit dem Titel Játékok a Tristan körül («Spiele um den Tristan», 1992) steht, basiert auf dem
dritten Stück aus der Omaggio à Luigi Nono op. 16 für Stimmen und Instrumente (1979), dessen Tonsatz der Komponist hier unverändert wiederverwendet.
Ein solcher Verweis auf die eigene Arbeit ist auch die … summaia a B. P. mondasinac (… Summary of the Sayings­
of P. B.) für Oboe und Kontrabassklarinette (1998, alternativ 1992 für Viola und Kontrabass), bei der es sich um das
dritte Stück aus dem vierten Teil von Kurtágs Bornemisza Péter mondásai op. 7 (Sprüche des Péter Bornemisza) für
Sopran und Klavier (1963–68) handelt. Bereits dort ist das Stück aus Ausschnitten zusammengefügt, sodass es – als
Augenblick der Rückbesinnung – vorangegangene Stationen des Liederzyklus vorbeiziehen lässt. Indem Kurtág
dieses Mosaik nun außerhalb des ursprünglichen Werkzusammenhangs aufgreift, holt er – neu instrumentiert –
einen wichtigen Schritt seiner eigenen kompositorischen Entwicklung zurück in die Gegenwart. Ähnliches gilt auch
für das Streichtrio Virág Zsigmondy Dénesnek («Eine Blume für Dénes Zsigmondy») – In memoriam Anneliese NissenZsigmondy, das auf das gleichnamige Solostück für Viola (1994) zurückgeht. Die ursprüngliche, aus lang gehaltenen
Doppelgriffen bestehende Stimme ist nun alternierend auf die drei Instrumente verteilt und an einigen wenigen Stellen durch zusätzliche Tonhöhen ergänzt. Die resultierenden Klänge, aufgrund des Einsatzes von sogenannten «Hoteldämpfern» dynamisch auf ein Minimum reduziert, werden durch lange Fermaten voneinander getrennt, wodurch sie
sich dem «In memoriam»-Charakter entsprechend wie eine Erinnerung oder – in den Worten von Kurtágs Vortragsanweisung – «wie ein Stöhnen» aus der Stille lösen und wieder in ihr aufgehen.
All diese Kompositionen, so unterschiedlich sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, sind ein Spiegelbild von Kurtágs Arbeitsweise, in der die Möglichkeiten einer Fragmentierung lose gefügter Werkzusammenhänge in separate,
aber dennoch aufeinander bezogene Miniaturen oder die Kompilation entsprechender Miniaturen zu einem flexibel
handhabbaren Gesamtwerk ausdrücklich einbegriffen sind. Die Vorstellung eines festgelegten, in sich abgeschlossenen Werkes, des «opus perfectum et absolutum», die seit der frühen Neuzeit die abendländischen Musikgeschichte
dominiert hat, wird angesichts solcher konsequent beibehaltener und variabel einsetzbarer Musikstücke regelrecht
ad absurdum geführt. An die Stelle eines unveränderlichen Werkbegriffs tritt unübersehbar der Gedanke der Unabgeschlossenheit, des unablässigen Weiterdenkens einmal formulierter Klangskizzen, das von einem Netz unterschwelliger Bezüge durchzogen wird. Und gerade dieser Gedanke lässt die Idee des Irrgartens für Kurtágs Komponieren so treffend erscheinen.
Stefan Drees: Miniaturen, Bezugspunkte, «work in progress». György Kurtág und die Idee des
Irrgartens, in: Katalog Wien Modern 2006, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer,
Saarbrücken: Pfau 2006, S. 75-78.
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