8. Vorlesung: Zur Gerechtigkeit staatlicher Strafe

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Dietmar von der Pfordten
Einführung in die Rechts- und Sozialphilosophie
8. Vorlesung: Zur Gerechtigkeit staatlicher Strafe
Von allen Maßnahmen, mit denen der Staat in das Leben seiner Bürger eingreift, stellt
die Strafe die intensivste und folgenreichste dar.1 Die Gesamtzahl staatlicher Strafurteile
hat darüber hinaus in den letzten Jahrzehnten parallel zum Anstieg der Kriminalität
selbst in einem relativ befriedeten demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik
stetig zugenommen.2 Die Frage nach der normativ-ethischen Rechtfertigung staatlichen Strafens stellt sich deshalb mit unverminderter Dringlichkeit.
Nachfolgend werden zunächst die drei wesentlichen Theorien einer ethischen Rechtfertigung staatlicher Strafe erläutert (I.). Darauf folgt eine Diskussion dieser Theorien. Es
werden Einwände geltend gemacht, die jede einzelne Theorie als ausschließliche Rechtfertigung unbrauchbar erscheinen lassen (II.). Schließlich wird mit Hilfe von Differenzierungen und Erweiterungen eine komplexere Lösungsstrategie vorgeschlagen (III.).
I. Die wesentlichen Theorien einer ethischen Rechtfertigung staatlicher Strafe
Schon Platon erwähnt in seiner Schrift „Nomoi“ die zwei wesentlichen Alternativen zur
Rechtfertigung staatlicher Strafe:3 die retrospektive Vergeltung, weil der Täter eine Straftat
begangen hat („absolute Straftheorien“) und die prospektive Prävention zukünftiger Straftaten („relative Straftheorien“). Innerhalb der Gruppe der prospektiven Präventionstheorien lassen sich wiederum die Prävention gegenüber allen Bürgern, die Generalprävention,
und die Prävention gegenüber dem Straftäter selbst, die Spezialprävention, unterscheiden. Die
Generalprävention kann als negative Generalprävention entweder vor Straftaten abschrecken oder als positive Generalprävention die Rechtstreue der Bürger stärken. Die Spezialprävention kann den Täter abschrecken, vor ihm sichern oder ihn rehabilitieren.
Die beiden Alternativen Vergeltung versus Prävention lassen sich grob den beiden
grundsätzlichen ethischen Theoriealternativen4 einer deontologischen Theorie, so bei
1
Wenn man einmal den Wehrdienst außer Betracht läßt.
Die Zahl der Verurteilten nahm nach der Aufstellung des Statistischen Bundesamtes, Strafverfolgung 1996, Wiesbaden 1997, von 699 339 im Jahre 1976 auf 759 989 im Jahre 1995 (nunmehr einschließlich Berlin-Ost) zu. Vgl. auch die
Darstellung der Kriminalitätsentwicklung bei Günther Kaiser, Kriminologie, Heidelberg 101997, S. 181: Danach hat die
Gesamtzahl der bei der Polizei angezeigten Straftaten ohne Verkehrsdelikte in den alten Bundesländern von 1953 bis
1995 von 1 260 000 auf 5 232 363 zugenommen. Dies entspricht einer relativen Zunahme pro 100 000 der Wohnbevölkerung von 2 456 auf 7 774 Fälle. Allerdings verteilt sich die Zunahmerate höchst unterschiedlich auf die verschiedenen Deliktsarten. Während z. B. Vergewaltigungen mit 7,9 pro 100 000 gegenüber 8,5 sogar leicht zurückgegangen
sind (man wird aber wohl eine hohe Dunkelziffer berücksichtigen müssen) und Mord und Totschlag unterproportional
von 1,6 auf 4,6 ansteigen, liegt das Schwergewicht des relativen wie absoluten Anstiegs bei den Delikten
Raub/räuberischer Erpressung, Diebstahl, Sachbeschädigung und Rauschgiftverwendung. Die Gesamtanzahl der Delikte stagniert allerdings seit Ende der Achtziger Jahre und geht seit Anfang der Neunziger Jahre sogar leicht zurück.
3
Im Frühdialog Protagoras, 324a, läßt Platon noch den Sophisten Protagoras den Gegensatz darstellen und sich für die
Prävention entscheiden. In dem Spätdialog Nomoi, 933e-934a, spricht sich Platon selbst für eine Präventionstheorie
aus. Vgl. auch die Formulierung des Gegensatzes bei Seneca, De Ira, liber I, cap. XIX, 7.
4
Vgl. zu ihnen: William K. Frankena, Analytische Ethik, 5. Aufl., München 1994; Franz v. Kutschera, Grundlagen der
Ethik, 2. Aufl., Berlin 1999.
2
2
Kant5 und Hegel,6 und einer teleologischen Theoriealternative, so bei Bentham7 und v.
Liszt8 zuordnen. Aber diese Zuordnung ist, von der Zweifelhaftigkeit dieser dichotomischen Unterscheidung einmal abgesehen,10 weder historisch noch sachlich eindeutig oder
zwingend. So hat etwas Cesare Beccaria auf der Grundlage eines Gesellschaftsvertragsmodells eine Präventionstheorie vertreten11 und Feuerbach auf der Grundlage einer kantianischen Position die Lehre von der Generalprävention entwickelt.12
Nach einer Hochphase der Vergeltungstheorien durch Kant und Hegel und der Generalprävention durch Feuerbach hat die Spezialprävention seit Franz v. Liszts berühmtem
Aufsatz “Der Zweckgedanke im Strafrecht“ von 188213 immer mehr Anhänger gefunden und bis Anfang der Siebziger Jahre auch die Gesetzgebung und Rechtsprechung
zunehmend beeinflußt. Seitdem festgestellt wurde, daß sich die großen Erwartungen in
Rehabilitationsmaßnahmen nicht erfüllt haben, ist dagegen eine gewisse Ernüchterung
eingetreten. Durch Theoretiker wie z. B. Andrew von Hirsch14 und Richard G. Singer15
in den USA und Günther Jacobs16 und Norbert Hoerster17 in Deutschland sind die Theorien der Vergeltung und der Spezialprävention wieder im Vormarsch. Gleichzeitig
nimmt aber als längerfristiger und stabilerer Trend schon seit Jahrzehnten die Anzahl der
Vereinigungstheorien zu.18
5
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 1797, Neuaugabe von Bernd Ludwig, Hamburg 1986, Anmerkung E, S. 154ff.
6
Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 97-103, S. 185ff.
7
Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1781, New York 1988, Kap. 12
XXXVI, 13 und 14, S. 168ff.
8
Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht. Marburger Universitätsprogramm. 1882, in: ders., Vorträge und
Aufsätze, 1. Band, Berlin 1905, Nachdruck 1970, S. 126-179.
10
Vgl. Dietmar von der Pfordten, Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien, Analyomen 2. Proceedings
of the 2nd Conference, Vol. III, hg. von Georg Meggle, Berlin 1997, S. 306-315.
11
Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, 1764, Frankfurt a. M. 1998, S. 55, 61 (Gesellschaftsvertrag als
Grundlage), S. 84 (Prävention als Strafzweck).
12
Paul Johann Anselm v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1800, Giessen 71820, § 8, 16.
13
Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht. Marburger Universitätsprogramm. 1882, in: ders., Vorträge und
Aufsätze, 1. Band, Berlin 1905, Nachdruck 1970, S. 126-179.
14
Andrew von Hirsch, Doing Justice, The Choice of Punishments, Report of the Committee for the Study of Incarceration, New York 1976.
15
Richard G. Singer, Just Deserts. Sentencing Based on Equality and Desert, Cambridge 1979.
16
Günther Jacobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin 21991, 1 II A 1ff., S. 6f.
17
Norbert Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens, in Goldtdammers Archiv, 1970, S. 272281.
18
Die Vereinigung von Generalprävention und Spezialprävention befürworten: Günther Patzig, Moral und Recht, in:
ders., Ethik ohne Metaphysik, 1971, 21983, S. 29f.; Claus Roxin u. a., Strafrecht. Allgemeiner Teil, Heidelberg 1983, §
3 5, S. 54ff. Für eine Vereinigung von Vergeltung und Generalprävention plädieren: Andrew von Hirsch, Doing Justice,
The Choice of Punishments, Report of the Committee for the Study of Incarceration, New York 1976, S. 33ff., v. a. S.
55. Neuerdings wird eine Vereinigungstheorie auch vor einem kommunitaristischen Hintergrund vertreten. Vgl. John
Braithwaite/Philip Pettit, Not Just Deserts, A Republican Theory of Criminal Justice, Oxford 1990, 21998.
3
Die Rechtfertigung staatlicher Strafe
retrospektive Theorien
= Vergeltungstheorien
prospektive Theorien
= Präventionstheorien
= „absolute“ Theorien
- „Punitur, quia peccatum est“
- „... weil ein Verbrechen begangen
wurde“
= „relative“ Theorien
• Kant 1797
• Hegel 1821
• von Hirsch 1976
„Proportionalismus“
- Verdienst (desert)
- Fairneß
- „Punitur, ne peccetur“
- „... damit kein Verbrechen
begangen
wird“
Beccaria 1764; Bentham 1781
Generalprävention
• negativ:
Feuerbach 1801
Hoerster 1970
• positiv:
Jacobs 1970
Spezialprävention
v. Liszt 1882:
• Abschrckung
• Sicherung
• Rehabilitation
2
Man kann die historischen Konjunkturen der einzelnen Theorien wie folgt veranschaulichen:
Vergeltungstheorie
Generalprävention
Spezialprävention
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
1760
1780
1800
1820
1840
1860
1880
1900
1920
1940
1960
1980
2000
II. Diskussion der einzelnen Rechtfertigungstheorien
1. Vergeltungstheorie
Im Rahmen der Vergeltungstheorie sind verschiedene Varianten und Begründungen entwickelt worden:
a) Strafe als Reaktion auf das Verbrechen: Nach der Grundversion der Vergeltungstheorie soll die Strafe als Vergeltung des Verbrechens gerechtfertigt sein.19 Dabei wird teilweise stärker auf den äußeren Aspekt der begangenen Tat, teilweise stärker auf den inneren Aspekt der mit der Begehung dieser Tat aufgeladenen Schuld Bezug genommen. Es
kann nun wohl kaum ein motivationaler und ein begrifflich-terminologischer Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe geleugnet werden, der als Vergeltung zutreffend beschrieben wird. Die Strafe wird häufig durch das Verbrechen sozialpsychisch
motiviert werden und der Terminus „Strafe“ wird regelmäßig als Übelszufügung in Reaktion auf ein Verbrechen verstanden. Diese psychische und sprachliche Verbindung
impliziert aber keine ethische Rechtfertigung. Das Verbrechen als deskriptiv beschreibbares Faktum kann keine normativ-ethische Rechtfertigung der Strafe als Handlung liefern.
19
Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten 1797, Hamburg 1986, Anmerkung E, S. 155: „Richterliche Strafe ....
kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wieder ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie
bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden ...“ Es ist sicherlich zutreffend, daß die staatliche Strafe den Verbrecher nicht ausschließlich als Zweck ansieht,
sondern auch als Mittel. Aber dies tut jede staatliche Herrschaft. Eine derartige partielle Instrumentalisierung ist auch
nach Kants eigener Definition nicht unzulässig, sofern der Verbrecher nicht ausschließlich als Mittel gebraucht wird,
also auch im Rahmen der staatlichen Strafe seine Menschenrechte geachtet werden
3
Auch die einleuchtende Forderung, daß das Verbrechen eine notwendige Bedingung der
Strafe sein muß, impliziert nicht, daß die Strafe deshalb durch das Verbrechen normativethisch gerechtfertigt wird. Man muß strikt zwischen einem Faktum als der Voraussetzung einer ethisch gerechtfertigten Handlung und der ethischen Rechtfertigung dieser
Handlung unterscheiden. Ein Angriff ist etwa eine notwendige Bedingung der Notwehrhandlung. Trotzdem ergibt sich die ethische Rechtfertigung der Notwehr nicht aus dem
Angriff, sondern aus der Berechtigung des Angegriffenen, sich zu schützen.
b) Vorteilsrestitution: Einer veränderten Version der Vergeltungstheorie soll es nicht auf
das Verbrechen als äußere Tat oder die damit verbundene innere Schuld ankommen,
sondern auf den durch das Verbrechen erreichten Vorteil, also die Freiheit, die sich der
Verbrecher genommen hat, aber auch die materiellen Vorteile, die er mit Hilfe des
Verbrechens erzielt hat. Es kann kein Zweifel bestehen, daß tatsächliche durch das
Verbrechen erlangte Vorteile wieder zurückerstattet werden müssen. Dies gebietet aber
schon das zivilrechtliche Institut der unerlaubten Handlung, soweit eine tatsächliche Restitution zu Gunsten des Opfers überhaupt möglich ist. Die staatliche Strafe geht über
eine derartige Vorteilsrestitution dagegen weit hinaus. Die Freiheitsstrafe läßt sich kaum
mehr als Restitution der Freiheit, die sich ein Räuber genommen hat, erklären.
c) Sühnetheorie: Nach der Sühnetheorie20 dient die Strafe der Versöhnung des Verbrechers mit sich selbst, der verletzten Ordnung und der Gemeinschaft. Der sühnende
Verbrecher löst sich von seiner Schuld und gelangt wieder in den Vollbesitz seiner personalen Würde. Sühne impliziert die Einsicht und freiwillige Reue des Verbrechers. Es
kann nun tatsächlich vorkommen, daß der Verbrecher diese Reue zeigt. Aber die staatliche Strafe setzt sie regelmäßig nicht voraus und kann sie auch nicht voraussetzen, denn
sie ist als echte innere Umkehr vom Staat nicht erzwingbar. Aber selbst wenn sie vom
Staat erzwingbar wäre, dann dürfte der Staat wohl nicht in diesen innersten Kreis der
menschlichen Existenz vordringen.
d) Proportion zwischen Strafe und Schuld: Als großen Vorteil der Vergeltungstheorie
führen ihre Vertreter immer wieder die Bestimmung eines klaren Strafmaßes an. Die
Strafe kann sich an der Sozialschädlichkeit des Verbrechens bzw. dem Maß der Schuld
orientieren. Dabei muß die Proportionalität nicht auf das Talionsrecht einer exakten
Vergeltung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verengt werden. Eine derartige tatsächliche Wiedervergeltung ist häufig ausgeschlossen. Soll etwa der Geldfälscher echte Geldscheine drucken? Die Proportionalität fordert vielmehr nur eine ordinale (= rangordnungstreue) Vergleichbarkeit von Verbrechen und Strafe. D. h. ein schweres Verbrechen
fordert eine schwere Strafe, ein mittleres eine mittlere und ein leichtes eine leichte Strafe.
Man kann nun wohl kaum bestreiten, daß der Bezug auf das Faktum der Schwere des
Verbrechens den einzigen einigermaßen zuverlässigen Standard für die Höhe der Bestrafung abgeben kann und daß die Vergeltungstheorie, wenn sie das Verbrechen als Recht20
Die Sühnetheorie wird verschiedentlich von der Vergeltungstheorie unterschieden. Vgl. Heiko Lesch, Zur Einführung
in das Strafrecht: Über den Sinn und Zweck staatlichen Strafens, in: JA 1994, S. 513. Dies ist sicher zutreffend, sofern
man „Vergeltungstheorie“ in einem engeren Sinn versteht, nicht jedoch sofern man jede Rechtfertigung der Strafe als
Reaktion auf die vorangegangene Tat darunter faßt.
4
fertigung der Strafe ansieht, sich auf eben dieses Faktum bezieht. Aber diese Bezugnahme ist keine notwendige. Man kann die Rechtfertigung staatlicher Strafe aus anderen
Quellen gewinnen und sich trotzdem im Rahmen der Strafzumessung auf die Schwere
des Verbrechens beziehen. Die Vergeltungstheorie kann kein Monopol einer derartigen
Bezugnahme beanspruchen. Und es gibt keinen guten Grund anzunehmen, daß die Bezugnahme auf die Schwere des Verbrechens bei der Strafzumessung es notwendig
macht, die Vergeltungstheorie als eine oder sogar einzige ethische Rechtfertigungstheorie
staatlicher Strafe zu akzeptieren.
e) Negation der Negation/Verletzung der Verletzung: Nach Hegel soll die staatliche
Strafe als Verletzung der Verletzung bzw. als Negation der Negation durch den Verbrecher gerechtfertigt sein. Hegel beschreibt damit zutreffend, daß die Strafe eine Handlung, welche die gesetzliche Verpflichtung negiert, wiederum negiert. In diesem logischen Urteilsverhältnis liegt aber keine ethische Rechtfertigung.
2) Generalprävention
Sowohl die negative als auch die positive Generalprävention instrumentalisieren den Täter im Rahmen seiner Verurteilung, um das Verhalten anderer Bürger zu beeinflussen.
Es ist aber nicht einzusehen, warum der einzelne zum Zwecke der Beeinflussung anderer instrumentalisiert werden dürfte. Dies wäre nur im Rahmen einer kollektivistischen,
antiindividualistischen Rechtfertigung zulässig. Akzeptiert man eine normativindividualistische Ethik, so darf die Verurteilung den einzelnen Straftäter nicht instrumentalisieren, um andere abzuschrecken.
3) Spezialprävention
Die Spezialprävention stellt dagegen anders als die Generalprävention eine Art Notwehr
dar. Um sich vor dem Verbrecher zu schützen, wird er bestraft. Eine derartige Notwehr
ist vor dem Tribunal einer normativ-individualistischen Ethik prinzipiell zulässig. Allerdings gibt es auch hier Einschränkungen. Man darf sich vor weiteren verbrecherischen
Taten schützen. Aber man darf deshalb die Persönlichkeit des Verbrechers nicht gegen
seinen Willen beeinflussen. Das bedeutet, daß gerade die Rehabilitation nur soweit gerechtfertigt sein kann, als sie freiwillig erfolgt.
Die Spezialprävention wäre also grundsätzlich ein zulässiger Zweck staatlicher Strafe.
Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, daß die Erwartungen in
Rehabilitationsmaßnahmen übertrieben waren. Das Rehabilitationsziel kann also kaum
als taugliches Ziel der staatlichen Strafe angesehen werden. Damit verbleiben aber immerhin individuelle Abschreckung und Sicherung vor dem Täter als Rechtfertigungen.
Diese Ziele können nun aber einige tatsächliche Strafmaßnahmen nicht rechtfertigen. Sie
rechtfertigen keine Bestrafung von Tätern in hohem Alter nachdem die Tatbegehung
Jahrzehnte zurückliegt. Und sie rechtfertigen keine Bestrafung von Tätern, die ihre Taten nur im Rahmen eines bestimmten Amtes oder der Führung einer Organisation be-
5
gehen konnten, wenn nicht angenommen werden kann, daß sie je wieder ein ähnliches
Amt einnehmen oder eine ähnliche Organisation führen werden. Nicht gerechtfertigt
wäre also z. B. die Bestrafung von NS-Tätern. Für deren Bestrafung bedarf man einer
zusätzlichen Rechtfertigung.
III. Vorschlag einer komplexen Lösung
Nachdem sich jede der drei großen Theorien zur Rechtfertigung staatlicher Strafe allein
als nicht überzeugend erwiesen hat, wird hier eine komplexe Lösung vorgestellt, die wesentliche Gesichtspunkte der einzelnen Theorien integriert. Man darf die Strafverhängung durch den Richter nicht isoliert bewerten, sondern muß sie im Zusammenhang
folgender fünffachen Abfolge beurteilen:
(1) Institutionalisierung staatlicher Zwangsgewalt
(2) gesetzliche Strafdrohung
(3) richterliche Strafverhängung
(4) richterliche Strafzumessung
(5) Strafvollzug durch die Justiz
Die Stufe (1) der Institutionalisierung staatlicher Zwangsgewalt ist durch den normativen
Individualismus gerechtfertigt. Zur Aufrechterhaltung der staatlichen Institutionen und
zum Schutz der Bürger ist dann auf der Stufe (2) die gesetzliche Strafdrohung der Strafgesetze gerechtfertigt. Diese dient aber notwendig der Generalprävention, weil ja beliebige mögliche Täter von der Begehung der Tat zurückgehalten werden sollen. Um die
Wirksamkeit dieser gerechtfertigten gesetzlichen Generalprävention zu erweisen, ist dann
auf Stufe (3) als Reaktion auf den Normbruch die richterliche Strafverhängung zulässig.
Das bedeutet: Der Akt der Bestrafung im Einzelfall ist nicht selbst aus Gründen der
Spezial- oder Generalprävention oder Vergeltung erlaubt, sondern ist quasi nur gerechtfertigt zur Vergeltung der Mißachtung der vorherigen gesetzlichen Strafdrohung. Derivativ kommt als Ausfluß der gesetzlichen Generalprävention auch die unmittelbare Generalprävention als Gesichtspunkt des richterlichen Urteils schwach ins Spiel und die Spezialprävention kann schwach dazukommen. Auf der Stufe (4) der richterlichen Strafzumessung tritt der Verurteilte als Individuum mit seinen Interessen stärker in den Blick.
Das bedeutet: Die Gesichtspunkte der Reaktion auf den Normbruch und der Generalprävention werden schwächer und die Spezialprävention wird stärker. Die Stufe (5) des
Strafvollzugs ist in seiner Ausgestaltung dann noch stärker von der Spezialprävention
beherrscht, weil nunmehr der konkrete Strafgefangene intensiver zu berücksichtigen ist.
Die folgende Skizze zeigt die Abfolgestruktur der Rechtfertigung:
6
Die Rechtfertigung staatlicher Strafe
1) Institutionalisierung staatlicher
Zwangsgewalt
2) gesetzliche
Strafdrohung
3) richterliche Straf- 4) richterliche
verhängung
Strafzumessung
5) Strafvollzug
durch die Justiz
negative und posi- Reaktion auf den
tive Generalprä- Normbruch zur Aufvention
rechterhaltung der
Æ Zustimmung, InWirksamkeit der
Strafandrohung
teressenberück(= „Vergeltung“)
sichtigung
schwächer: Reaktion - noch stärker:
auf den Normbruch Spezialprävenzur Aufrechterhaltung tion
der Wirksamkeit der
Strafandrohung
Æ Gleichbehandlungsprinzip
schwach: Generalprävention
schwächer:
Generalprävention
Æ nulla poena sine
lege
-schwach: Spezialprävention
- stärker: Spezialprävention
normativer
Indivdualismus
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