Dr. Nora Bertschi und MLaw Boas Loeb,Schutz vor gefährlichem

Werbung
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
Schutz vor gefährlichem Verhalten?
Zur Bedeutung von Fremdgefährdung im Erwachsenenschutzrecht
Dr. Nora Bertschi und MLaw Boas Loeb, Juristisches Sekretariat, Kindesund Erwachsenenschutzbehörde Basel-Stadt
Stichwörter: Abhängigkeit, Fremdgefährdung, Fürsorge, häusliche Gewalt, Polizeirecht,
Schutzbedürftigkeit, Schwächezustand, Selbstgefährdung, Strafrecht.
Mots-clés: Assistance, Besoin de protection, Dépendance, Droit pénal, Etat de faiblesse,
Mise en danger de soi-même, Mise en danger de tiers, Normes en matière de police, Violence
domestique.
Parole chiave: Dipendenza, Diritto di polizia, Diritto penale, Esposizione volontaria al
pericolo, Necessità di protezione, Pericolo estraneo, Potestà domestica, Stato di debolezza.
Der Beitrag analysiert die Bedeutung von fremdaggressivem Verhalten im Erwachsenenschutzrecht. Die Analyse des Sinn und Zwecks des Rechts sowie der konkreten Voraussetzungen von behördlichen Massnahmen zeigt deutlich, dass der Fokus des Erwachsenenschutzrechts auf dem Schutz vor Selbstgefährdung liegen muss. In Einzelfällen können
jedoch fremdaggressive Verhaltensweisen mit einer Selbstgefährdung korrelieren. Hier gilt
es genauer hinzuschauen und die Möglichkeiten wie Grenzen der Erwachsenenschutzbehörden zu klären.
Protection contre un comportement dangereux?
La signification de la mise en danger de tiers dans le droit de la protection de l’adulte
La contribution analyse la signification d’un comportement agressif vis-à-vis de tiers en
matière de protection de l’adulte. L’examen du sens et du but de la loi ainsi que des conditions d’application des mesures de protection prises par les autorités montre clairement que
l’objectif du droit de la protection de l’adulte doit être la protection de la personne ellemême. Dans des cas particuliers, des comportements agressifs envers des tiers peuvent cependant entrer en corrélation avec une mise en danger de la personne elle-même. Il s’agit ici
d’examiner plus précisément ces questions ainsi que de clarifier les possibilités et limites des
autorités de protection de l’adulte.
Protezione da un comportamento pericoloso?
Del significato dell’esposizione a pericolo nel diritto di protezione degli adulti
Il contributo analizza, riferendosi al diritto di protezione degli adulti, l’importanza dell’esposizione volontaria e temeraria al pericolo. L’analisi del senso e dello scopo del diritto, così
come delle concrete premesse di provvedimenti d’autorità, mostra chiaramente che il fine
del diritto di protezione degli adulti deve essere orientato alla protezione dall’esposizione
volontaria al pericolo. In casi singoli un comportamento a carattere aggressivo può essere
collegato a un’esposizione al pericolo. In questo caso l’attenzione deve essere rivolta all’
identificazione dei limiti da porre all’applicazione del diritto di protezione degli adulti.
263
ZKE 4/2016
1.
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
Einleitung
Nach wie vor werden die Erwachsenenschutzbehörden mit dem Anliegen, vor
fremdaggressivem Verhalten geschützt zu werden, konfrontiert. Angehörige
oder Nachbarn, Familien, Sozialarbeitende oder auch medizinische Fachpersonen, wenden sich bei Gewalt ausübenden oder von Gewalt betroffenen Personen
an die Behörde in der Hoffnung um Unterstützung in diesen schwierigen Situationen. Selbst Institutionen der Strafverfolgung gelangen an die Erwachsenschutzbehörde, wenn sie selber nicht ausreichend Schutz vor fremdaggressivem
Verhalten gewähren können. Dabei stellt sich die Frage, ob im Erwachsenenschutzrecht für die Fremdgefährdung überhaupt Raum besteht und welche
Massnahmen allenfalls ergriffen werden können.
Tatsächlich kann das Erwachsenenschutzrecht in sehr unterschiedlichen Gefährdungssituationen Hand bieten. Gerade deshalb ist die Grenzziehung zwischen erwachsenenschutzrechtlich relevanten und irrelevanten Gefährdungen
ebenso bedeutsam wie schwierig. Nachfolgend soll versucht werden, wesentliche
Kriterien zur Definition von rechtlich massgebenden Gefährdungen aufzuzeigen
und entsprechend zu umschreiben, in welchem Ausmass fremdaggressives Verhalten Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts für Täter oder Opfer rechtfertigen kann. Dazu wird in einem ersten Schritt der Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechts in Abgrenzung zum Strafrecht verdeutlicht. Anhand der
konkreten Voraussetzungen für behördliche Massnahmen wird sodann überlegt,
inwiefern fremdaggressive Verhaltensweisen im Erwachsenenschutzrecht berücksichtigt werden. Dabei wird immer wieder Bezug genommen auf Fallbeispiele aus der Praxis. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich ausschliesslich auf das Erwachsenenschutzrecht. Im Kindesschutzrecht nimmt selbstredend
die Fremdgefährdung einen ganz anderen, sehr viel prominenteren Stellenwert
ein.
2.
Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechts und
die Abgrenzung zum Strafrecht
Aufgabe des Erwachsenenschutzrechts ist es, das Wohl und den Schutz hilfsbedürftiger Personen sicherzustellen.1 Grundvoraussetzung behördlicher Massnahmen ist gemäss dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch entsprechend eine sich
aufgrund eines Schwächezustandes ergebende Schutzbedürftigkeit.2 Damit wird
klargestellt, dass es dem Erwachsenenschutzrecht in erster Linie um den Schutz
einer Person vor sich selber geht. Wenngleich die Organe des Erwachsenenschutzrechtes weitgehend öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrnehmen,3 sind
1
2
3
Vgl. Art. 388 Abs. 2 ZGB.
Vgl. Art. 390 Abs. 1 ZGB für die Beistandschaft sowie Art. 426 Abs. 1 ZGB für die fürsorgerische
Unterbringung.
Vgl. Rosch / Fountoulakis, Kindes- und Erwachsenenschutz als Teil des schweizerischen Sozialrechts, in Rosch / Fountoulakis / Hecks (Hrsg.), Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutzrecht.
Recht und Methodik für Fachleute, Bern 2016, 26 f.
264
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
Drittinteressen bzw. öffentliche Interessen – wozu auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung zählen – gerade nicht entscheidend.4 Dies ist keinesfalls selbstverständlich. Zu denken ist insbesondere an kantonale fürsorgerische Zwangsmassnahmen, die bei bestimmtem, nicht sozial-konformem Verhalten wie
beispielsweise Arbeitsscheu oder Trunksucht bis in die 1980er Jahre angeordnet
wurden mit dem Ziel, die betroffenen Personen wegzusperren.5 Das Erwachsenenschutzrecht wird mittlerweile denn auch als Dienstleistungsrecht oder wirkungsorientiertes Recht verstanden.6 Die Ergebnisse der Massnahmen werden
dabei in den Vordergrund gestellt. Sie haben sich durch den (mutmasslichen)
Willen der betroffenen Personen zu rechtfertigen.
Durch diesen klaren Fokus auf die Selbstgefährdung grenzt sich das Erwachsenenschutzrecht vom Polizei- und Strafrecht ab. Letztere ergreifen Massnahmen
unabhängig vom Individualinteresse der betroffenen Person und dienen vorwiegend dem Schutz der Öffentlichkeit vor delinquentem bzw. die öffentliche Sicherheit und Ordnung störendem Verhalten. Das Erwachsenenschutzrecht ist
dagegen auf die Bedürfnisse des betroffenen Einzelnen ausgerichtet. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint eine klare Differenzierung der beiden Rechtsgebiete wichtig. Im anderen Fall läuft das Erwachsenenschutzrecht Gefahr, zweckentfremdet zu werden und zu einem niederschwelligen Strafrecht zu verkommen.
Schliesslich erscheint für das Verständnis des Erwachsenenschutzrechts wichtig, dass es sich um ein äusserst invasives Rechtsgebiet handelt, welches Menschen in ihren grundlegenden verfassungsmässigen Rechten einschränkt. Entsprechend zurückhaltend haben Behörden des Erwachsenenschutzes tätig zu
werden. Massnahmen sind subsidiär anzuordnen, das heisst nur, sofern keine
andere Möglichkeit, etwa eine private Lösung, besteht, um ausreichend Schutz
zu gewährleisten. Die subsidiäre Zuständigkeit steht aber teilweise im Widerspruch zu den Erwartungen der betroffenen Person oder des Umfeldes. Häufig
handelt es sich um emotional aufgeladene Situationen, zumal gerade psychische
Erkrankungen für das familiäre Umfeld sehr belastend sein können. Entsprechend stehen Behörden teilweise unter beachtlichem Druck, endlich tätig zu
werden, wobei der Verweis auf andere Unterstützungsangebote oder das Strafrecht auf wenig Verständnis trifft.
4
5
6
Hier ergibt sich eine gewisse Ambivalenz des Erwachsenenschutzrechts. Die Organe des Erwachsenenschutzrechts nehmen zwar eine öffentlich-rechtliche Aufgabe und in vielerlei Hinsicht auch
öffentliche Interessen wahr. Ausschlaggebend sind jedoch in erster Linie die Interessen der betroffenen Person und nicht jene des Gemeinwesens, vgl. Berner Kommentar zum Vormundschaftsrecht-Schnyder / Murer, Bern 1984, Art. 360 ZGB N 21.
Vgl. EJPD, Erläuternder Bericht zum Entwurf des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG), http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/pdf/gegenvorschlag/vn-ber-d.pdf (20.06.2016), 4. Auch wenn
seit diesen Ereignissen mittlerweile 30 Jahre vergangen sind, muss davon ausgegangen werden,
dass ein entsprechendes Selbstverständnis bei den Behörden noch immer nachwirken kann. Umso
wichtiger erscheint eine aktive und kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Vgl. dazu Ruflin / Miani / Dvorak, Wirkungsorientierung im Kindes- und Erwachsenenschutz,
ZKE 2013, 4 ff.
265
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
3.
Fokus des Erwachsenenschutzrechts auf selbstgefährdende
Verhaltensweisen
a.
Der Begriff der Selbstgefährdung im Erwachsenenschutzrecht
Wenngleich der Fokus des Erwachsenenschutzrechts auf der Selbstgefährdung
liegt, findet sich dieser Begriff im Gesetz nicht als eigenständige Voraussetzung
für eine Massnahme der Erwachsenenschutzbehörde.7 Er wird vielmehr durch
die Grundvoraussetzungen der Massnahmen – eine sich aufgrund eines Schwächezustandes ergebende Schutzbedürftigkeit – umschrieben. Wichtig ist dabei
die kausale Verbindung zwischen dem Schwächezustand und der Schutzbedürftigkeit. Die Voraussetzungen des Schwächezustandes und der Schutzbedürftigkeit stehen in einem inneren Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig.8
Dabei bleibt die Frage, wann eine Gefährdungssituation erwachsenenschutzrechtlich relevant ist, eine Ermessensfrage. In der Literatur findet sich wenig
dazu. In der Praxis wird aufgrund des ermittelten Sachverhaltes (insbesondere
des Schwächezustandes und der Schutzbedürftigkeit)9 eine Prognose erstellt.10
Die Prognose klärt die Frage, was geschehen würde, wenn keine staatliche Hilfe
angeordnet würde und konkretisiert damit die Gefährdungssituation. Gleichzeitig können aus der Gefährdungssituation und Prognose auch der Zweck und die
Zielsetzung für eine allfällige behördliche Massnahme abgeleitet werden.11
b.
Konkrete Situationen der Selbstgefährdung im
Erwachsenenschutzrecht
Als klassische Gefährdungssituation wird zumeist der Suizid oder eine sonstige drohende physische Selbstverletzung verstanden. Ein rein physisches Verständnis von Gefährdungen ist jedoch klar zu eng. Insbesondere das psychische
und soziale Wohlergehen12 gilt es ebenfalls zu berücksichtigen. Daneben ist im
Rahmen der Beistandschaft aber auch eine finanzielle Schädigung relevant.13
Schliesslich kann auch ein mit der Menschenwürde schlicht nicht zu vereinbarender Zustand der Verwahrlosung eine Gefährdung beinhalten, welche behördli-
7
8
9
10
11
12
13
Der Begriff wird jedoch in der Botschaft aufgegriffen, vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7091.
Vgl. Rosch, in: Rosch / Büchler / Jakob: Das neue Erwachsenenschutzrecht. Einführung und Kommentar, Art. 426 – 439 ZGB N 6.
Vgl. Hierzu nachfolgend 3.c. Schwächezustand und 3.d. Schutzbedürftigkeit.
Vgl. dazu auch BGE 120 II 384 E. 4d. Der Entscheid bezieht sich zwar auf ein Kindesschutzverfahren, ist aber analog auf erwachsenenschutzrechtliche Verfahren anwendbar.
Vgl. Fountulakis / Rosch, Kindes- und Erwachsenenschutz als Teil des Eingriffssozialrechts, in:
Rosch / Fountoulakis / Heck (Hrsg.), Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, Recht und Methodik für Fachleute, Bern 2016, 22, 32.
Dies in Anlehnung an die Entwicklung in der Humanmedizin, weg von einem materialistisch-reduktionistischen Verständnis der Medizin zu einem biopsychosozialen Verständnis. Dieses Verständnis findet sich auch in grundlegenden Definitionen von Gesundheit, vgl. bspw. die Präambel
der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation, SR 0.801.1.
Vgl. Art. 390 Abs. 1 ZGB.
266
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
che Massnahmen rechtfertigt.14 Damit eröffnet sich für das Erwachsenenschutzrecht ein schwer zu umgrenzender Anwendungsspielraum.
Abzugrenzen sind die Interessen der betroffenen Person auch von denjenigen
des Umfeldes. Handlungen wie der Suizid oder die Selbstverstümmelung können
als klassische Beispiele der Selbstgefährdung genannt werden. Gewalttätige Angriffe auf andere Personen tangieren dagegen hauptsächlich das Wohlergehen
Dritter. In der Praxis fällt jedoch die Abgrenzung zwischen dem Schutz einer
Person vor sich selber bzw. dem Schutz Dritter, mit anderen Worten die Abgrenzung zwischen selbst- und fremdgefährdendem Verhalten, nicht immer einfach.
Zu denken ist etwa an Konstellationen, in denen sich selbst- und fremdgefährdende Verhaltensweisen überlappen. So zum Beispiel bei einer an Schizophrenie
erkrankten Person, die ihre Familie in psychotischen Phasen mit unzähligen
Briefen belästigt. Grundsätzlich kann das Interesse des Umfeldes, solche Briefe
nicht mehr zu erhalten, für sich allein die Errichtung einer behördlichen Massnahme nicht rechtfertigen. Soweit es sich bei den Belästigten jedoch um das unmittelbare soziale Umfeld der betroffenen Person handelt und die Beziehung zu
ihnen aufgrund der Briefflut bedroht wird, ist auch das soziale Wohlergehen der
betroffenen Person tangiert.15
c.
Schwächezustand
Zunächst wird bei behördlichen Massnahmen das Vorliegen eines Schwächezustandes vorausgesetzt. Als mögliche Schwächezustände werden im Zivilgesetzbuch die psychische Störung, geistige Behinderung oder die schwere Verwahrlosung bzw. der ähnliche in der Person liegende Schwächezustand genannt.16
Bei gewaltausübenden oder von Gewalt betroffenen Personen kommt vorwiegend die psychische Störung in Frage. Hierunter fallen «die anerkannten Krankheitsbilder der Psychiatrie»,17 wobei die gängigen Klassifikationen gesellschaftlichem Wandel unterliegen.18 Es gibt verschiedene Ansätze, fremdaggressives
Verhalten im Rahmen von psychischen Störungen zu verstehen. Gewalt gegenüber Dritten stellt für sich genommen jedoch keine psychische Störung im Sinne
des Gesetzes dar. Die Grenze zur Pathologie wird nach unserem medizinischem
Massstab bei fremdaggressivem Verhalten nicht ohne Weiteres überschritten.
Dies zeigt sich auch anhand der Praxis im Strafrecht: Nur ausnahmsweise wird
bei Tätern von Gewaltdelikten eine psychische Erkrankung und allenfalls in14
15
16
17
18
Vgl. BaslerKomm-Geiser / Etzensberger, Art. 426 ZGB N 20, m.w.N.
Im entsprechenden Fall war ebenfalls zu berücksichtigen, dass sich die betroffene Person mit den
teilweise sehr intimen Schreiben in ihrer eigenen Persönlichkeit zu verletzen drohte und, ohne
genügende Behandlung und Betreuung, ihre psychische Gesundheit gefährdete.
Vgl. Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 bzw. Art. 426 Abs. 1 ZGB.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7043.
Vgl. dazu Riedo, Gefährlich = schutzbedürftig? – Auf dem Weg zur fürsorgerischen Verwahrung.
Anmerkungen zu BGE 138 III 593, in: Rumo-Jungo / Pichonnaz / Hürlimann-Kaup / Fountoulakis (Hrsg.), Mélanges en l’honneur de Paul-Henri Steinauer, Bern 2013, 243, 247, der darauf hinweist, dass Homosexualität gemäss den Klassifikationen der WHO, den International Classification of Disturbances (ICD), bis in die 1990er Jahre hinein unter eine psychische Störung fiel.
267
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
folge dieser auch Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit angenommen. Im Einzelfall kann aber gewalttätigem Verhalten eine psychische Störung
zugrunde liegen. In der Praxis zeigt sich, dass insbesondere Persönlichkeitsstörungen oder die Abhängigkeit von Substanzen, die zu fehlender Impulskontrolle
führen (bspw. übermässiger Alkoholkonsum), gehäuft mit fremdaggressivem
Verhalten korrelieren. Auch bei Tätern häuslicher Gewalt kann eine psychische
Störung vorliegen.19 Von gewalttätigem Verhalten automatisch auf eine psychische Erkrankung zu schliessen wäre aber sicherlich falsch. Vor einer entsprechenden «Medikalisierung von Gewalt» wird deshalb auch gewarnt.20
Auch der «ähnliche in der Person liegende Schwächezustand»21 im Falle der
Beistandschaft oder die «schwere Verwahrlosung»22 im Falle der fürsorgerischen
Unterbringung – beides ohnehin umstrittene, da unbestimmte Voraussetzungen
– haben nicht fremdaggressive Verhaltensweisen im Fokus. Gemäss herrschender Lehre sind diese Auffangbestimmungen restriktiv anzuwenden und dürfen
insbesondere nicht zur sozialen Besserung von Betroffenen herangezogen werden.23 Auch sollen damit nur gleichartige Defizite wie bei Menschen mit einer
geistigen Behinderung oder psychischen Störung aufgefangen werden können.24
Im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung kann allein ein «Zustand, bei
dessen Vorliegen es der Menschenwürde der hilfsbedürftigen Person schlechthin
widersprechen würde, ihr nicht die nötige Fürsorge in einer Einrichtung zukommen zu lassen» für eine Einweisung genügen.25 Verhaltensweisen, mit denen eine
betroffene Person Dritte gefährdet, ohne selber auch das eigene Wohlergehen zu
vernachlässigen, sind damit nicht erfasst.
Vergleichbar zeigt sich die Situation bei von Gewalt betroffenen Personen,
etwa bei Opfern häuslicher Gewalt. Diese finden sich häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter und sind auf externe Unterstützung angewiesen. Entsprechende Abhängigkeiten können im Rahmen der Beistandschaft allenfalls
unter den Auffangtatbestand des «ähnlichen in der Person liegenden Schwäche-
19
20
21
22
23
24
25
So wurden bspw. im Kanton Bern im 2014 aufgrund einer psychischen Störung bei ca. 25 der 669
der Fälle häuslicher Gewalt eine fürsorgerische Unterbringung verfügt, dies grossmehrheitlich
gegen gewaltausübende Personen, vgl. Häusliche Gewalt im Kanton Bern, Jahresstatistik 2014, 12,
http://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.assetref/dam/documents/
portal/Medienmitteilungen/de/2015/07/2015-07-06-statistik-hG-2014.pdf (20.06.2015). Hepp / Borst
beobachten bei häuslicher Gewalt besonders häufig Persönlichkeitsstörungen, vgl. Hepp / Borst,
Häusliche Gewalt, Praxis 2015, 83. Die kausale Beziehung zwischen Suchtmittelkonsum und
Gewalt wird jedoch kritisch hinterfragt. Der Alkoholkonsum werde häufig lediglich als Entschuldigung und Entlastung für das gewalttätige Verhalten angegeben, vgl. Egger / Schar Moser, Ursachen und Risikofaktoren von Gewalt in Paarbeziehungen, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann 2012, 4.
Vgl. Hepp / Borst, Häusliche Gewalt, Praxis 2015, 83, 85.
Vgl. Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB.
Vgl. Art. 426 Abs. 1 ZGB.
Vgl. BaslerKomm/Geiser / Etzensberger, Art. 426 ZGB N 20, FamKomm/Meier, Art. 390 ZGB
N 17, Famkomm/Guillod, Art. 426 ZGB N 41 sowie Michel, Von der administrativen Versorgung
zur fürsorgerischen Unterbringung. Alles in Ordnung im neuen Recht?, FamPra 2015, 797, 810 ff.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7043 sowie BaslerKomm/Henkel, Art. 390 ZGB N 13.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7062.
268
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
zustandes» fallen.26 Das Bundesgericht hat dies entsprechend in einem Fall der
Abhängigkeit von einer anderen Person aufgrund von Angst bejaht.27 Es hielt
jedoch fest, der Auffangtatbestand sei restriktiv anzuwenden und müsse im Hinblick auf die Hilfsbedürftigkeit einer Person mit einer geistigen Behinderung
oder einer psychischen Störung vergleichbar sein.28 In vorliegendem Sachverhalt
kam zudem eine deutlich eingeschränkte Mobilität der betroffenen Person hinzu.
Auch im Falle häuslicher Gewalt muss beim Opfer also eine spezifische Abhängigkeit vom gewaltausübenden Partner vorliegen, die nicht allein in der Beziehung zum Täter, sondern auch in Eigenschaften des Opfers selbst begründet ist.
Zu denken ist beispielsweise an Sachverhalte, in denen die von der Gewalt betroffene Person sozial komplett abgeschottet ist und die Landessprache nicht
beherrscht. Grundsätzlich steht jedoch im Falle häuslicher Gewalt nicht eine
Selbstgefährdung des Opfers, sondern die Fremdgefährdung des Täters im Vordergrund, womit Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts nicht in Betracht
fallen.
d.
Schutzbedürftigkeit
Sollte in einem konkreten Einzelfall bei einer fremdaggressiven oder von
Fremdagression betroffenen Person ein Schwächezustand im Sinne des Gesetzes
bejaht werden können, stellt sich die Frage, inwiefern diese Person aufgrund ihres Schwächezustandes auch schutzbedürftig erscheint. Das Zivilgesetzbuch
setzt im Falle einer Beistandschaft die Unfähigkeit, eigene Angelegenheiten zu
besorgen29 bzw. im Falle einer fürsorgerischen Unterbringung einen Behandlungs- oder Betreuungsbedarf30 voraus.
Bei einer Beistandschaft ist entsprechend zu prüfen, ob die betroffene Person
infolge ihres Schwächezustandes nur eingeschränkt in der Lage ist, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen und relevante eigene Angelegenheiten adäquat zu besorgen.31 Bei gewalttätigen Personen stellt sich die Frage, ob allenfalls
auch der Schutz einer Person vor ihren fremdaggressiven Ausbrüchen als relevantes eigenes Interesse verstanden werden kann. Soweit es dabei in erster Linie
um die Interessen Dritter geht, ist dies abzulehnen. Dies ergibt sich deutlich aus
der Bestimmung von Art. 390 Abs. 2 ZGB, wonach die Belastung und der Schutz
von Angehörigen lediglich zu berücksichtigen ist. Die Botschaft zum Erwachsenenschutzrecht hält präzisierend fest, Art. 390 Abs. 2 ZGB könne «für sich allein
die Errichtung einer Beistandschaft nicht rechtfertigen».32 Auch darf nicht mittels Errichtung einer Beistandschaft sozial missbilligtes Verhalten angegangen
26
27
28
29
30
31
32
Vgl. Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB.
Vgl. BGer, 05.03.2014, 5A_773/2013, E. 4.1.
Vgl. BGer, 05.03.2014, 5A_773/2013, E. 4.1.
Vgl. Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB.
Vgl. Art. 426 Abs. 1 ZGB.
Vgl. BaslerKomm/Henkel, Art. 390 ZGB N 17 und 19. Es kann sich bei den fraglichen Angelegenheiten um wirtschaftliche wie persönliche Interessen handeln, vgl. FamKomm/Meier, Art. 390
ZGB N 19.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz,7043.
269
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
werden. Im Zentrum stehen wie erwähnt die Bedürfnisse der betroffenen Personen.
Es sind jedoch Fälle denkbar, in denen Personen aufgrund fehlender Unterstützung vermehrt zu fremdaggressiven Verhaltensweisen neigen. In der Praxis
zeigt sich, dass bestimmte Umstände, wie beispielsweise finanzielle Notsituationen oder Überforderung mit der Erledigung wichtiger Angelegenheiten, Betroffene übermässig belasten und gewalttätige Ausbrüche begünstigen können.33
Hier kann unter Umständen die Entlastung durch eine Beistandschaft zugleich
auch zu einer allgemeinen Beruhigung im Verhalten gegenüber Dritten führen.
Zudem leiden fremdaggressiv auftretende Personen teilweise auch selber massiv
unter ihrem Verhalten. Ein entsprechender Leidensdruck eines Täters häuslicher
Gewalt etwa kann eine Schutzbedürftigkeit im Sinne des Gesetzes darstellen.
Sind solche Personen aufgrund eines Schwächezustandes zugleich nicht in der
Lage, sich Unterstützung in Bezug auf den Umgang mit ihrem problematischen
Verhalten zu organisieren, kann eine Beistandschaft angezeigt sein.
Auch bei der behördlichen Unterbringung steht der Fürsorgegedanke im Vordergrund. Die Belastung und den Schutz von Angehörigen gilt es gemäss dem
Zivilgesetzbuch allein zu «berücksichtigen».34 Damit sind insbesondere Fälle gemeint, in denen dem sozialen Umfeld die Betreuung wegen Überforderung oder
Aggressivität des Betroffenen unzumutbar ist.35 Die betroffene Person soll vor
einer Versorgungslücke wegen Überforderung ihres Umfeldes geschützt werden.
Einigkeit besteht damit darin, dass eine Fremdgefährdung allein für die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung nicht genügt.36 Massnahmen aus dem
straf- und polizeilichen Bereich sowie andere zivilrechtliche Massnahmen sollen
hier vorgehen.37
Umstritten ist jedoch, inwiefern allenfalls das Abhalten vor der Begehung
schwerer Straftaten zum Schutz der Betroffenen vor sich selber zulässig sein soll,
mithin in gewissen Fällen von einer Fremd- auf eine Selbstgefährdung geschlossen werden kann. Der Wille des Gesetzgebers erscheint diesbezüglich nicht ein33
34
35
36
37
Vgl. Hepp / Borst, Häusliche Gewalt, Praxis 2015, 83, 86.
Vgl. Art. 426 Abs.2 ZGB. Vgl. auch Famkomm/Guillod, Art. 426 ZGB 5 sowie Michel, Von der
administrativen Versorgung zur fürsorgerischen Unterbringung. Alles in Ordnung im neuen
Recht?, FamPra 2015, 797, 805 f.
Vgl. dazu etwa Famkomm/Guillod, Art. 426 ZGB N 62 f.
So bereits in der Botschaft von 1977, Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fürsorgerische Freiheitsentziehung) und den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 5
der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, vgl. BBl 1977 III 27. Entsprechend auch das Bundesgericht in BGer 6B_786/2008, E. 2.2, BGer 5A_257, E. 2 sowie BGE
138 III 593, E. 3. Die Lehre äussert sich ebenfalls dahingehend, vgl. etwa BaslerKomm/Geiser / Etzensberger, Art. 426 ZGB N 41, Bernhart, Handbuch der fürsorgerischen Unterbringung, Basel
2011, 137 und 151, Dumitrescu, Die Präventivhaft nach Art. 221 Abs. 2 StPO, AJP 2015, 447, 455
sowie Famkomm/Guillod, Art. 426 ZGB N 62.
Zur Begründung wird in der Lehre das im Erwachsenenschutz geltende Subsidiaritäts- und Verhältnismässigkeitsprinzip vorgebracht, vgl. Bernhart, Handbuch der fürsorgerischen Unterbringung, Basel 2011, 151 sowie Fassbind, Erwachsenenschutz, Zürich 2012, 319. Zu berücksichtigen
gilt es daneben auch den Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzes in Abgrenzung zu den anderen Rechtsgebieten, etwa zum Strafrecht, vgl. dazu die Ausführungen unter 2. Sinn und Zweck des
Erwachsenenschutzrechts und die Abgrenzung zum Strafrecht.
270
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
deutig. So heisst es in der Botschaft zum neuen Erwachsenenschutzrecht, der
Schutz Dritter dürfe nicht ausschlaggebend sein. Gleichzeitig gehöre es «letztlich
ebenfalls zum Schutzauftrag, etwa eine kranke, verwirrte Person davon abzuhalten, eine schwere Straftat zu begehen.»38 Das Bundesgericht stützte sich in einem
viel diskutierten Entscheid auf diesen zweiten Satz. Ein 17-jähriger Mann hatte
sich mehrmals an einer Prostituierten vergangen und diese getötet, worauf er
vom zuständigen Jugendgericht in einer geschlossenen Anstalt untergebracht
wurde. Nach Ablauf der strafrechtlichen Massnahmen bestand nach Einschätzung der involvierten Fachpersonen eine erhebliche Rückfallgefahr. Das Bundesgericht hielt zwar fest, das Gesetz sehe keine Unterbringung allein wegen
Fremdgefährdung vor. Es kam jedoch in vorliegendem Fall zum Schluss, «wer die
Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig» und stützte die von
der Vorinstanz angeordnete fürsorgerische Freiheitsentziehung, heutige fürsorgerische Unterbringung.39
An dem Urteil übte die Lehre heftige Kritik und es wurde gar von der Zeitschrift Plädoyer zum Fehlurteil 2012 gekürt.40 Abgelehnt werden unter anderem
die mit dem Urteil verbundene Zweckentfremdung der fürsorgerischen Unterbringung und die Möglichkeit, jemanden ohne Manifestation der Gefährlichkeit
zu verwahren.41 Auch erschien der Lehre unklar, welche drohenden Straftaten
gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Anordnung einer behördlichen
Unterbringung rechtfertigen können und welche Wahrscheinlichkeit der weiteren Begehung dabei in Zukunft vorausgesetzt wird.42 Den vorgebrachten Argumenten ist zuzustimmen. Sicherlich waren im konkreten Fall Massnahmen zum
Schutz Dritter angezeigt und es erschien höchst unbefriedigend, dass das Straf38
39
40
41
42
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7062 f. Riedo verweist auf die parlamentarische Debatte rund
um die Entstehung der altrechtlichen fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE), welche ebenfalls
von widersprüchlichen Voten geprägt ist, vgl. Riedo, Gefährlich = schutzbedürftig? – Auf dem Weg
zur fürsorgerischen Verwahrung. Anmerkungen zu BGE 138 III 593, in: Rumo-Jungo / Pichonnaz / Hürlimann-Kaup / Fountoulakis (Hrsg.), Mélanges en l’honneur de Paul-Henri Steinauer,
Bern 2013, 243, 252 f.
Vgl. BGE 138 III 593, E. 3. und 5.2. Der Entscheid wurde durch BGer 5A_614/2013, E. 3 und BGer
5A_765, E. 4.2. bestätigt. Im letztgenannten Urteil führte das Bundesgericht aus, es könne nicht im
Interesse einer psychisch kranken Person liegen, «sie der Gefahr einer schweren Straftat gegen
Dritte auszusetzen, womit sie im Ergebnis nicht nur Dritte, sondern letztlich in gewisser Weise
auch sich selbst gefährdet». Zur Begründung wies es ganz allgemein auf die strafrechtlichen Folgen
einer schweren Straftat und deren finanzielle Konsequenzen hin, versäumte es jedoch konkret
darzulegen, inwiefern sich die betroffene Person in vorliegendem Fall durch ihr Vorgehen selbst
gefährdete.
Vgl. Müller Brunner, Fehlurteil 2012: «Juristisch falsche Begründung mit fatalen Auswirkungen», Plädoyer 1/2013, 82. Anders dagegen etwa Häberli / Meier, Übersicht über die Rechtsprechung im Kindes- und Vormundschaftsrecht (Juli bis Oktober 2012), ZKE 2012, 486, 513 sowie
Wolf / Thut / Schmuki, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2012: Ehe
und Vormundschaftsrecht, ZBJV 2013, 649, 674 f., welche dem Urteil angesichts des konkret festgestellten Sachverhaltes im Ergebnis zustimmen.
Vgl. Meyer Löhrer, «Im Ergebnis eine rein polizeilich motivierte Fürsorge», Plädoyer 6/2012, 20,
21 sowie Rütsche, Verwahrung aus Fürsorge, SZK 1/2013, 30, 32.
Vgl. Riedo, Gefährlich = schutzbedürftig? – Auf dem Weg zur fürsorgerischen Verwahrung. Anmerkungen zu BGE 138 III 593, in: Rumo-Jungo / Pichonnaz / Hürlimann-Kaup / Fountoulakis
(Hrsg.), Mélanges en l’honneur de Paul-Henri Steinauer, Bern 2013, 243, 255 f.
271
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
recht hier (fast) keine Hand bot.43 Zur Schliessung dieser Lücke aber das Erwachsenenschutzrecht sozusagen als milderes Strafrecht heranzuziehen erscheint
falsch. Das Erwachsenenschutzrecht wurde für ganz andere Fälle entworfen und
kann wichtige Voraussetzungen, wie die für eine Massnahme notwendige Gefährlichkeit nicht definieren.44
Etwas Anderes muss dagegen gelten, wenn das fremdaggressive Verhalten
beim Täter einen derart grossen Leidensdruck auslöst, dass dieser selbst schutzbedürftig erscheint. Zu fordern ist dann jedoch, dass sich der Leidensdruck in
einer Vernachlässigung der eigenen Fürsorge, beispielsweise der Ernährung oder
dem Abbruch sämtlicher sozialer Kontakte, manifestiert und sich daraus ein Behandlungs- oder Betreuungsbedarf ergibt. Auch in den sich aktuell häufenden
Vorfällen von Selbstmordattentaten und Amokläufern, in denen der Täter sein
eigenes Leben unmittelbar in Gefahr bringt, wäre etwa eine entsprechende
Selbstgefährdung und Schutzbedürftigkeit ohne Weiteres gegeben. Zu begründen ist aber die fürsorgerische Unterbringung jeweils mit der Selbstgefährdung
der betroffenen Person – ausgelöst durch ihre aggressive Verhaltensweise.
Nach der Analyse der Situation beim Täter soll nun noch die Opferseite betrachtet werden. Gefragt wird also danach, ob für ein Opfer von fremdgefährdendem Verhalten Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts angeordnet werden können. Diese bedürfen häufig der Unterstützung und entsprechend gross
mag das Anliegen sein, daraus auf eine Schutzbedürftigkeit im Sinne des Gesetzes zu schliessen. Die Schutzbedürftigkeit des Opfers wird in aller Regel aber
nicht in einem kausalen Zusammenhang zu dessen eigenem Schwächezustand
stehen. Ansonsten würde der Grund für das Betroffensein von gewalttätigem
Verhalten des Täters vorwiegend beim Opfer angesiedelt, was nicht richtig sein
kann. Selbstverständlich sind aber Fälle denkbar, in denen von Gewalt betroffene Personen aufgrund eines eigenen Schwächezustandes schutzbedürftig sind.
e.
Verhältnismässigkeit
Schliesslich stellt sich die Frage, inwiefern eine Beistandschaft oder fürsorgerische Unterbringung verhältnismässig – das heisst geeignet, erforderlich und
zumutbar – sein kann, um betroffene Personen zu schützen. Steht in einem Fall
fremdaggressives Verhalten im Vordergrund, das auch selbstgefährdende Komponenten hat, wird zumeist die Erforderlichkeit einer erwachsenenschutzrechtlichen Massnahme abzulehnen sein. Denn wie dargelegt, stehen hier polizeiliche und strafrechtliche, aber auch andere zivilrechtliche Schutzmassnahmen
(Art. 28b ZGB) zur Verfügung.
43
44
Derzeit enden Massnahmen des Jugendstrafrechts mit Vollendung des 22. Altersjahres, eine strafrechtliche Verwahrung ist deshalb nicht vorgesehen, vgl. Art. 19 Abs. 2 JStG. Ab 1. Juli 2016 wird
die Altersgrenze 25 Jahre betragen. Vgl. zudem die Motion Caroni, 16.3142, Sicherheitslücke im
Jugendstrafrecht schliessen, wonach eine Massnahme des Jugendstrafrechts in eine Massnahme
des Erwachsenenstrafrechts überführt werden können soll.
Dies wurde entsprechend auch in einem Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde
Basel-Stadt vom 21.05.2013 so vertreten.
272
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
Zu diskutieren ist darüber hinaus auch, inwiefern erwachsenenschutzrechtliche Massnahmen bei vorwiegend fremdaggressiven Verhaltensweisen geeignet
erscheinen. Die Eignung der Massnahme ist dabei in Bezug auf den Schutz vor
Selbst- und nicht vor Fremdgefährdung zu beurteilen. Zu verdeutlichen gilt es
aber, dass erwachsenenschutzrechtliche Massnahmen ohnehin wenig geeignet
wären, um fremdaggressivem Verhalten zu begegnen. Für die gewaltausübende
Person könnte eine Beistandsperson allenfalls therapeutische Unterstützung
vermitteln, sofern erstere dazu nicht selber in der Lage ist. Die entsprechenden
Therapiesitzungen müsste die verbeiständete Person aber auch tatsächlich wahrnehmen, damit es zu einem Behandlungserfolg kommen kann. Eine Beistandsperson kann darauf kaum Einfluss nehmen. Auch die fürsorgerische Unterbringung von gewaltausübenden Personen kann in der Regel den Schutz Dritter
nicht über eine längere Zeit hinweg gewährleisten. Nur in absoluten Ausnahmefällen dürfte es zumutbar sein, eine Person für längere Zeit auf einer geschlossenen, allenfalls forensischen Abteilung unterzubringen. In der Praxis wären die
meisten psychiatrischen Kliniken zudem überfordert mit der Behandlung und
Betreuung stark gewalttätiger Personen und würden damit keine geeignete Einrichtung i.S.v. Art. 426 Abs. 1 ZGB darstellen.
Bei der von Gewalt betroffenen Person wäre denkbar, dass eine Beistandsperson Unterstützungsangebote installiert, welche sich diese aufgrund ihres Schwächezustandes nicht selber organisieren kann. Eine zwangsweise Unterbringung
durch die Erwachsenenschutzbehörde in einer psychiatrischen Klinik, die allgemein zugänglich ist, könnte dagegen nicht ausreichend Schutz gewähren. Auch
eine fürsorgerische Unterbringung an einem sicheren Ort wie dem Frauenhaus,
erscheint nicht geeignet. Diese haben oft ein Interesse daran, ihren Standort geheim zu halten. Bei einer zwangsweisen Unterbringung in einem Frauenhaus
liegt die Vermutung nahe, dass die betroffene Person sich nicht an die Regeln der
Institution hält und damit auch deren Standort preisgibt. Zudem sind Frauenhäuser nicht auf die Betreuung von psychisch kranken Personen ausgelegt.
Bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer behördlichen Massnahme werden
schliesslich Drittinteressen relevant. Wie erwähnt sind ihm Rahmen einer Beistandschaft wie auch der fürsorgerischen Unterbringung die Belastung und der
Schutz von Angehörigen wie Dritten mitzuberücksichtigen.45
4.
Ausnahmsweise Gewichtung fremdgefährdender Verhaltensweisen
im Erwachsenenschutzrecht
a.
Im Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde
Das erwachsenenschutzrechtliche Verfahren ist wie die materiellen Voraussetzungen der Massnahmen auf den Schutz der betroffenen Person vor sich selber
ausgerichtet. Dennoch finden sich einzelne Bestimmungen, die vorwiegend den
Schutz Dritter bezwecken. So sieht das Zivilgesetzbuch bei ernsthafter Gefahr
45
Vgl. dazu die Ausführungen unter 3.d. Schutzbedürftigkeit.
273
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
der Selbst- und Fremdschädigung die Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen Erwachsenenschutzbehörde, betroffenen Stellen und Polizei vor.46 In diesen Fällen
sind Berufs- und Amtsgeheimnisträger von ihrer Geheimhaltungspflicht befreit.47 Damit reicht eine drohende Fremdgefährdung allein für einen berechtigten Informationsaustausch aus. Mit der Bestimmung sollte eine Koordination
zwischen den involvierten Behörden ermöglicht werden, um auch im Sinne der
betroffenen Person widersprüchliche Massnahmen zu verhindern.48 Die ausnahmsweise Berücksichtigung der Fremdgefährdung erscheint in diesem Zusammenhang angezeigt. Um Unmut bei Hilfesuchenden zu verhindern und die
weitere Beanspruchung von Unterstützung durch Fachpersonen nicht zu gefährden, erscheint es wichtig, dass sich die Erwachsenenschutzbehörde auch bei gewaltausübenden Personen nicht lediglich für unzuständig erklärt und den Fall
damit für sich bewenden lässt. Es muss vielmehr ihre Aufgabe sein, betroffene
Personen bei den zuständigen Stellen zu melden. Beispielsweise wäre es gestützt
auf Art. 453 ZGB möglich, gewaltausübende oder von Gewalt betroffene Personen an ein Täterprogramm, ambulante psychiatrische Fachpersonen, Frauenhäuser oder Spitäler zu vermitteln.
Im Weiteren gilt es auf die Bestimmung zum Recht auf Akteneinsicht hinzuweisen, wonach dieses aufgrund sog. überwiegender öffentlicher Interessen beschränkt werden kann.49 Hierunter fallen neben privaten Geheimhaltungsinteressen oder dem Schutz der betroffenen Person auch öffentliche Interessen.50
Entsprechend kann es bei einer sich fremdgefährdend verhaltenden Person angezeigt sein, dieser Einsicht in Dokumente zu verwehren, welche Informationen
zu laufenden polizeilichen bzw. strafrechtlichen Verfahren oder Kontaktdaten
von Personen enthalten, gegen die sich die Gewalt in der Vergangenheit richtete.
b.
Als eigenständige Voraussetzung für eine Massnahme
des Erwachsenenschutzrechts
Abweichend von den vorhergenannten Grundsätzen kann bei freiwilligem
Eintritt in eine psychiatrische Klinik eine psychisch kranke Person allein wegen
Fremdgefährdung für höchstens drei Tage zurückbehalten werden, sollte sie
diese verlassen wollen.51 Dabei wird eine ernsthafte Gefährdung der körperlichen Integrität Dritter vorausgesetzt, wobei die ernsthafte Gefahr relativ harmloser tätlicher Angriffe auf Dritte genügen soll.52 Auch wenn es sich hierbei nur
um eine relativ kurze Zeitspanne von drei Tagen handelt, ist der selbständige
46
47
48
49
50
51
52
Vgl. Art. 453 Abs. 1 ZGB. Die Bestimmung ist in Zusammenhang mit Art. 451 ZGB, der behördlichen Schweigepflicht, zu sehen. Von dieser kann abgewichen werden, soweit überwiegende Interessen entgegenstehen. Art. 453 Abs. 1 ZGB nennt entsprechende überwiegende Interessen, welche zu einer Offenbarung der geschützten Informationen berechtigen.
Vgl. Art. 453 Abs. 1 ZGB.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7091.
Vgl. Art. 449b Abs. 1 ZGB.
Vgl. Botschaft Erwachsenenschutz, 7082.
Vgl. Art. 427 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB.
Vgl. BaslerKomm/Geiser / Etzensberger, Art. 427 ZGB N 10.
274
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
Zurückbehaltungsgrund der Fremdgefährdung kritisch zu beurteilen.53 Geht es
in einem konkreten Fall darum, die Unterbrechung einer Unterbringung in einer
Klinik zu verhindern und den längerfristigen Schutz Dritter zu gewährleisten,
kann dies ohnehin nur bei gleichzeitig vorliegendem, selbstgefährdendem Verhalten gelingen, setzt doch die – spätestens nach drei Tagen anzuordnende – fürsorgerische Unterbringung eine Selbstgefährdung voraus.54 Entsprechend wird
man sich häufig in Fällen, in denen die Durchsetzung polizeilicher oder strafrechtlicher Massnahmen gewährleistet werden soll, auf den Zurückbehaltungsgrund der Fremdgefährdung berufen. Hier das Erwachsenenschutzrecht für
Lücken im Strafrecht heranzuziehen, erscheint, wie bereits diskutiert, problematisch.55
Im Rahmen einer bereits bestehenden fürsorgerischen Unterbringung in einer
psychiatrischen Klinik kann die Chefärztin bzw. der Chefarzt der Klinik eine Behandlung ohne Zustimmung der betroffenen Person unter anderem dann anordnen, wenn die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet ist.56 Damit
reicht für eine Behandlung ohne Zustimmung eine Fremdgefährdung allein aus.
Begründet wurde die besondere Bestimmung im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses damit, «dass psychisch kranke Personen im Fall ernsthafter Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität Dritter […] unter Umständen
dauerhaft […] fürsorgerisch untergebracht würden, wenn sie […] nicht in der
Lage sind, einer Behandlung zuzustimmen.» Diese Argumentation vermag nicht
zu überzeugen. Die Fremdgefährdung allein reicht für die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung nicht aus. Entsprechend liegt bei zwangsweise untergebrachten Personen ohnehin selbstgefährdendes Verhalten vor und die allenfalls notwendige Behandlung ohne Zustimmung kann auch damit begründet
werden. Sollte in einem konkreten Fall der Schweregrad der Selbstgefährdung
für eine Zwangsmedikation nicht ausreichen, wird nicht ersichtlich, weshalb die
Berufung auf eine zusätzlich vorliegende Fremdgefährdung zulässig sein soll.
Gerade bei der einschneidendsten Massnahme vom Gedanken der Fürsorge abzuweichen und eine Möglichkeit zur Besserung von Personen vorzusehen, widerspricht dem Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechts.57 Stossend erscheint
dies umso mehr, als die Zulässigkeit von Zwangsmassnahmen im Straf- und
Massnahmevollzug selbst umstritten ist.58
Im Weiteren ist es Wohn- und Pflegeeinrichtungen erlaubt, die Bewegungsfreiheit urteilsunfähiger Bewohnerinnen oder Bewohner einzuschränken, um eine
ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität Dritter abzu53
54
55
56
57
58
Kritisch dazu auch Famkomm/Guillod, Art. 427 ZGB N 4 und 11.
Vgl. dazu die Ausführungen unter 3.d. Schutzbedürftigkeit.
Vgl. dazu die Ausführungen unter 2. Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechts und die Abgrenzung zum Strafrecht.
Vgl. Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB. Daneben muss die behandelnde Person in Bezug auf ihre Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig sein und die Behandlung muss verhältnismässig sein (Art. 434
Abs. 1 Ziff. 2 und 3 ZGB).
Vgl. dazu 2. Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechts und die Abgrenzung zum Strafrecht.
Kritisch dazu auch Famkomm/Guillod, Art. 434 ZGB N 14 f.
Vgl. BaslerKomm/Heer, Art. 59 StGB N 83 ff. m.w.N.
275
ZKE 4/2016
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
wenden oder eine schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens zu beseitigen.59 Diese Gewichtung der fremdaggressiven Verhaltensweisen lässt sich im
Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Wohn- und Pflegeeinrichtungen rechtfertigen. Die betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner halten sich – jedenfalls
nach ihrem hypothetischen Willen – freiwillig in der Institution auf. Die Institution kann auf aussergewöhnliche Situationen reagieren, die vor allem im Interesse der betroffenen Person selber ein weiteres Zusammenleben ermöglichen.
Dies bedingt jedoch, dass die Bestimmung nur sehr zurückhaltend angewandt
und eine behördliche Unterbringung bei in irgend einer Art geäussertem Widerstand der betroffenen Person tatsächlich geprüft wird. Während einer fürsorgerischen Unterbringung – hier kommen die Bestimmungen zur Einschränkung der
Bewegungsfreiheit sinngemäss zur Anwendung60 – sind die genannten Zwangsmassnahmen dagegen kritisch zu betrachten.
Hinzuweisen gilt es schliesslich auf einzelne bundesrechtswidrige kantonale
Vorschriften, welche öffentliche Interessen in Zusammenhang mit erwachsenenschutzrechtlichen Massnahmen bringen.61
5.
Fazit
Sinn und Zweck des Erwachsenenschutzrechtes ist es, betroffene Personen
durch geeignete Massnahmen zu unterstützen. Der Fürsorgegedanke und der
Schutz einer Person vor sich selber stehen damit klar im Vordergrund. Die Interessen Dritter bzw. der Öffentlichkeit vermögen demgegenüber – abgesehen von
einigen Ausnahmen – für sich allein keine Massnahme zu rechtfertigen. Durch
diesen Fokus auf die Selbstgefährdung grenzt sich das Erwachsenenschutzrecht
vom Strafrecht ab. Bei der Berücksichtigung von Drittinteressen ist stets Vorsicht und Zurückhaltung angebracht, ansonsten das Erwachsenenschutzrecht
Gefahr läuft, zu einem niederschwelligen Strafrecht zu verkommen.
Behördliche Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts setzen bei der betroffenen Person eine sich aufgrund eines Schwächezustandes ergebende Schutzbedürftigkeit voraus. Bei fremdaggressivem Verhalten kann weder bei Tätern noch
Opfern automatisch auf einen entsprechenden Schwächezustand, insbesondere
eine psychische Störung, geschlossen werden. Gewalttätiges Verhalten soll weder
auf Opfer- noch Täterseite pathologisiert werden. Vielmehr wird Gewalt in unserer Rechtsordnung als selbstverantwortetes Handeln verstanden und Täter
haben sich diesbezüglich strafrechtlich zu verantworten. Ebenfalls nur sehr
zurückhaltend kann fremdaggressives Verhalten im Rahmen der Prüfung der
Schutzbedürftigkeit einer Person berücksichtigt werden. Gewaltopfer erschei-
59
60
61
Vgl. Art. 383 Abs. 1 ZGB.
Vgl. Art. 438 ZGB.
So nennt etwa das baselstädtische Psychiatriegesetz schwere und unmittelbare Bedrohung der öffentlichen Sicherheit als eigenständige Voraussetzung für eine behördliche Einweisung, vgl. § 6
Abs. 2 Gesetz über Behandlung und Einweisung psychisch kranker Personen (Psychiatriegesetz)
Basel-Stadt vom 18.09.1996.
276
Bertschi/Loeb, Schutz vor gefährlichem Verhalten?
ZKE 4/2016
nen aufgrund des nicht zu tolerierenden Verhaltens des Täters und nur in seltenen Fällen vorwiegend aufgrund eigener Defizite schutzbedürftig.
Mit fremdaggressivem Verhalten können jedoch relevante Selbstgefährdungen
einhergehen. In diesen Fällen muss die Anwendung von Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts geprüft werden. Auch liegen in der Praxis dem fremdaggressiven Verhalten teilweise soziale, wirtschaftliche oder persönliche Schwierigkeiten zugrunde, welche durchaus für das Erwachsenenschutzrecht relevant
sein können. Aufgabe der Erwachsenenschutzbehörden ist es entsprechend,
hinter einer Fremdgefährdung eine allenfalls vorliegende, oftmals aber weit weniger offensichtliche Selbstgefährdung festzustellen und darauf zu reagieren.
Zu dem genannten Grundsatz – Fokus des Erwachsenenschutzrechts auf die
Selbstgefährdung – finden sich im Zivilgesetzbuch verschiedentlich Widersprüche. So kann eine Behandlung gegen den Willen einer Person während einer
fürsorgerischen Unterbringung auch allein aufgrund einer Fremdgefährdung
angeordnet werden. Diese Ausnahmen sind kritisch zu betrachten. Die Berufung
auf Fremdgefährdung zur alleinigen Rechtfertigung einer behördlichen Massnahme hat gemäss der hier vertretenen Auffassung im Erwachsenenschutzrecht
keinen Platz. Dennoch ist zu vermeiden, dass diese strikte Trennung zwischen
Selbst- und Fremdgefährdung in der Praxis wirksame Massnahmen verhindert,
weil weder das Straf- noch das Erwachsenenschutzrecht sich für zuständig sehen.
Geiser verweist diesbezüglich auf tragische Fälle, bei denen nicht oder nicht
rechtzeitig eingegriffen wurde.62 Eine gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen, mit dem Schutz von Dritt- und Eigeninteressen betrauten Behörden
ist hier deshalb umso wichtiger. Auch erscheint für eine effiziente Zuständigkeitsklärung und allenfalls Weitervermittlung an andere Institutionen das Wissen um die eigene Zuständigkeit und den eigenen Auftrag unumgänglich.
62
Vgl. BaslerKomm-Geiser, Art. 453 ZGB N 1.
277
Herunterladen