Stehr Nico Karl Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften

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Stehr Nico
Karl Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften, Zeppelin University
GmbH, Friedrichshafen
Die Zusammenfassung
Die jüngsten Mediendiskussionen, um die sogenannte Einweisungsprämie, die
Krankenhäuser zahlen, um Patienten von Praxisärzten einzuwerben, bestätigen
anscheinend einen Trend hin zu markttypischen Eigenschaften in den Beziehungen
zwischen Patienten, Ärzten und medizinischen Einrichtungen.
Der Begriff der Moral hat jedoch keine einzige, universelle oder verbindliche Bedeutung.
Über den genauen Sinn von Moral oder Ethik lässt sich darum keineswegs eine
schnelle Übereinkunft erzielen. Objektiv gesehen gibt es in modernen Gesellschaften
eine Vielfalt nicht aufeinander reduzierbarer Werte. Wir plädieren deshalb für einen
weit gefassten, niemals abschließend festgeschriebenen, sondern historisch variablen
Begriff des Moralischen.
Nico Stehr (* 1942 in Berlin) ist ein deutscher Kulturwissenschaftler und Inhaber des
Karl-Mannheim-Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin University in
Friedrichshafen.
Von 1967 bis 2000 hat er an amerikanischen und kanadischen Universitäten gelehrt und
geforscht, zuletzt als Forschungsprofessor am „Peter Wall Institute for Advanced Study“
der University of British Columbia in Vancouver (Kanada). In dieser Zeit war er
Herausgeber des Canadian Journal of Sociology. Der Titel seines 1986 erschienen
Buchs The Knowledge Society („Die Wissensgesellschaft“) wurde im wissenschaftlichen,
politischen und ökonomischen Kontext zum geflügelten Wort.
Im akademischen Jahr 2002/2003 war er „Paul-Lazarsfeld-Professor“ der human- und
sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Er ist „Senior Research Fellow“
am „Sustainable Development Research Institute“ der University of British Columbia
(Vancouver), „Fellow“ des „Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen“ und der „Royal
Society of Canada“ (Ottawa) sowie Begruender und Herausgeber (bis 2006) des
„Canadian Journal of Sociology“.
Seit 2004 ist Stehr Karl-Mannheim-Professor für Kulturwissenschaften an der privaten
Zeppelin University in Friedrichshafen (Bodensee).
Seit Anfang 2006 leitet er an der Zeppelin University ein dreijähriges, von der EUKommission gefördertes Forschungsprojekt zum gesellschaftspolitischen Umgang mit
den so genannten „Converging Technologies“ (d. h. Biotechnologie, Nanotechnologie,
Informationswissenschaften und Kognitionswissenschaft).
Der Vortrag im Wortlaut:
Medizin zwischen Markt und Moral
Ich beginne mit einem Zitat vom berühmten französischen Soziologen Emile Durkheim,
der da sagt: „Jedes Volk hat seine Moralität die durch seine Lebensbedingung bestimmt
ist“. Ich glaube diese Prämisse ist weiter gültig, denn die gesellschaftliche Moral ändert
sich in der Tat mit dem Wandel des sozialen Milieus oder der sozialen Differenzierung
der Menschen. Anders formuliert: Gesamt gesellschaftlicher Wandel bringt eine
Veränderung der sozialen Moralvorstellung. Die jüngste Mediendiskussion, zumindest in
den Medien Deutschlands, um die sogenannte Einweisungsprämie ist Beleg dafür. Eine
Einweisungsprämie, die Krankenhäuser zahlen um Patienten von Praxis-Ärzten
einzuwerben, bestätigt anscheinend einen Trend hin zu markt-typischen Eigenschaften
in den Beziehungen zwischen Patienten, Ärzten und Medizinischen Einrichtungen.
In diesen Auseinandersetzungen findet man in Folge dessen vorrangig Vokabeln wie
Wettbewerb, Überkapazitäten, Kommerzialisierung der Medizin, Profit-Denken aber auch
Begriffe aus der Ethik wie ethisch fragwürdige Prozesse. Die Ehren Kodices halten nicht
mehr, Vertrauensverlust, Bestechungsgelder etc.
Es handelt sich um moralische Kommunikation, in der vorrangig eine gewisse
Missachtung zum Ausdruck kommt. Ist deshalb diese Diskussion in der Welt der
Medizin, charakteristisch für eine generell um sich greifende Ökonomisierung aller
Lebensbereiche der modernen Gesellschaft und ein ökonomizentriertes
Gesellschaftverständnis oder ist genau das Gegenteil der Fall?
Ich möchte viel mehr fragen; In wieweit sich die Beziehung von Markt, Moral und Medizin
in der modernen Gesellschaft verändert, welche gesellschaftlichen Prozesse dafür
verantwortlich sein mögen, ob deshalb der Verdacht, dass die Befunde für eine
Kommerzialisierung der Lebenswelt stärker werden, in der Tat zutreffend ist oder auch
nicht.
Es geht um eine veränderte Haltung, das heißt eine bestimmte Art und Weise zu
denken, und sich zu verhalten. Es geht um das, was die Griechen Ethos nannten und
den gesellschaftlichen Motor für mögliche Veränderung der gesellschaftlichen
Moralvorstellungen.
Zunächst eine begriffliche Vorbemerkung zum Begriff der Ethik oder dem der Moral. Im
Zentrum steht die Frage nach dem veränderten Stellenwert der Moral in der modernen
Gesellschaft, und dem Substrat der Moral, ganz im Sinne Durkheims. Motor des
Wandels in der Bedeutung der Moral sind gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Ich
verweise auf zwei historisch einmalige Veränderungen die den Stellenwert moralischer
Haltungen entscheidend mitbestimmen.
Der Begriff der Moral oder der Ethik, ist einigermaßen tückisch, hat er doch multiple und
nicht eine einzelne universelle oder verbindliche Bedeutung. Ich lege ihr soziologisches
Verständnis zu Grunde, welches moralisches Handeln als über kulturelles oder Epochen
spezifisches Handeln gemäß umfassend geteilter und erwünschter Werte versteht. Das
impliziert aber keine überzeitliche Wertung des gesellschaftlichen Guten bzw. der
gesellschaftlichen Arten.
Über den Sinn von Moral oder Ethik kann man keine Übereinkunft erzielen, der Begriff
der Moral ist also kein substantieller oder normativer. Er ist als soziologische Größe
niemals abschließend festgeschrieben, sondern historisch variabel.
Objektiv gesehen gibt es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt von nicht aufeinander
reduzierbaren Werten. Ich plädiere deshalb für einen breit gefassten, niemals
abschließend festgeschriebenen sondern historisch variablen Begriff des Moralischen.
Deshalb sind letzte Fragen nach der Moral nicht zu beantworten.
In modernen Gesellschaften gibt es eine Pluralität von Märkten deren Moralisierung auf
ganz unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Werten von Konsumenten und
Produzenten praktiziert wird, obwohl gewisse handlungsbestimmende moralische
Imperative wie beispielsweise Nachhaltigkeit nicht volle Geltung erlangen. Verändern
diese Werte unsere Haltung und das gesellschaftliche Leben. Gerechtigkeit und
Solidarität sind nicht schon deshalb Wahnvorstellung oder Scheinwerte weil sie kaum
jemals vollständig durchgesetzt werden.
Das gesellschaftliche Substrat der Moral und die Schubkraft für eine Moralisierung der
sozialen Beziehung ergeben sich dem Zitat von Durkheim folgend: „Aus den veränderten
Lebensumständen der Menschen“. Zu der Veränderung der Lebenswelt der Menschen in
modernen Gesellschaften gehören in erster Linie zwei gesamtgesellschaftliche Trends:
erstens der Lebensstandard, der sich von den meisten Menschen über Jahrhunderte nur
unwesentlich geändert hat, zweitens der Bildungsstandard.
Den historischen Hintergrund dieser Entwicklung bilden langfristige soziale und
ökonomische Prozesse. Betrachtet man grundlegende volkswirtschaftliche Parameter
über den Zeitraum der letzten hundert Jahre so wird, die fundamentale Umwälzung zu
der Lebenssituation deutlich. Anstelle von 80 Prozent- gibt ein durchschnittlicher OECD
Haushalt heute nur noch 30 Prozent seines Einkommens für Grundbedürfnisse aus:
Nahrung, Kleidung und Unterkunft etc.
Die realen Einkommen der Menschen insgesamt stiegen im selben Zeitraum um das
Vier- bis Fünffache. Eric Hobsbawm hat die relevante Zeitspanne der wirtschaftlichen
Entwicklungen in der Nachkriegszeit in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften
in seiner Studie „ The age of extrems- Die goldenen Jahre des Kapitalismus“ genannt.
Hobsbawm fügt hinzu, dass es vielen Beobachtern der modernen Gesellschaften bis auf
den heutigen Tag schwer fällt den außergewöhnlichen Triumph eines Systems zu
akzeptieren; ein System das bis dato scheinbar vor dem Kollaps stand.
Die anscheinend paradigmatische Interpretation dieser Jahre der Goldenen Jahre findet
sich in den einflussreichen Beobachtungen von John Kenneth Gilbert. Für Gilbert wird
die historische einmalige Wohlstandsmehrung in den westlichen Gesellschaften eher zu
einem Instrument der nachhaltigen Unterdrückung und Manipulation, sowie zum
Management der Patienten und Konsumenten. Unsere wichtigsten Ideen von den
Eigenschaften des Marktes und dem angeblich typischen Marktverhalten entstammen
einer Welt , die weder allgemeinen Wohlstand noch ein adäquates Bildungssystem
kannten, sondern nur ausgesprochene Armut, umfassende Machtlosigkeit, verbreiteten
Hunger und Analphabetismus.
Die Armut der Lohnabhängigen verstand man als Voraussetzung der Expansion der
Produktion. Der Reichtum eines Landes wurde als Funktion der Armut ihrer arbeitenden
Bevölkerung betrachtet. Armut so die verbreitete Meinung, diszipliniere die
Lohnabhängigen und leiste dadurch einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt des
gesellschaftlichen Status quo.
Seit dem 18.Jahrhundert. ist die Behauptung, Wohlstand demoralisiere, zu einem
Gemeinplatz geworden. Es ist augenscheinlich, dass diese Theorie und die Konzeption
einer Ökonomie, vor einem gänzlich anderen gesellschaftlichen Hintergrund entstanden,
einer Revision bedarf.
Prosperität verändert das Verständnis von Wohlstand, obwohl Reichtum und Arbeit und
Bildung nicht gleich verteilt sind, sind beide weiterverbreiteter als jemals zuvor in der
Geschichte der Menschheit.
Die Frage, welche nachhaltige Spur zu weit verbreiteter Wohlstand und ein
weitverbreiteter Wissensstand in der modernen Gesellschaft hinterlassen, ist zu stellen.
Haben sich deshalb die Haltungen und das Verhalten der Menschen in bemerkenswerter
Weise verändert? Sofern man beispielsweise von einer Moralisierung der Märkte in einer
modernen Gesellschaft sprechen kann und nicht wie manche befürchten von einer
Verdrängung ethischer Maxime durch den Markt, kommen wirkungsvolle und nachhaltige
soziale Normen zum Einsatz, die ein vom egoistischen Maximierungsgehabe oder vom
Geltungskonsum abweisendes Verhalten vorschreiben.
Zu diesen an Bedeutung gewinnenden Normen gehören Fairness, Nachhaltigkeit,
Gesundheit, Ausgleich, Solidarität, Mitgefühl und viele andere moralische Maxime.
Diese normative Aufladung der Haltung moderner Akteure, bezieht sich nicht allein auf
Produkte und Dienstleistungen, sondern auch auf die soziale Beziehung zwischen dort
agierenden Akteuren.
Ein Moralisieren der Märkte bedeutet für die Medizinwelt, dass die Beziehung Arzt –
Patient, zunehmend unter diesem Vorbehalt gestellt ist.
Die Aufregung um die Einweisungsprämie ist deshalb nicht der Beweis für die
Ökonomiesierung der Medizin, sondern für eine verstärkte Moralisierung. Zu den
wesentlichen Rahmenbedingungen dieser Veränderung zählen weitere Faktoren: ein
transnationaler- soziokultureller Wandel, der sich unter anderem an veränderten
öffentlichen Meinungsmustern historisch neuartiger Risikokonzeption menschlichen
Tugend und Reaktion auf zivilisatorischen Katastrophen und Gefahren, festmachen
lässt.
Und eine öffentlich stattfindende Demystifizierung von Experten und Wissensbasierten,
einschließlich von Ärzten.
Die Demystifizierung von Experten ist ein gutes Beispiel für einen Wandel in der
Beziehung zwischen den wissensbasierten Berufenen und der Klienten, Konsumenten,
Patienten, Studenten, Auszubildenden, Kunden usw.
Sie ist auch Beleg für eine tiefgreifende Transformation des Öffentlichkeit Bildes von
wissenschaftlichem Wissen.
Es ergibt sich eine größere Zahl und Bandbreite von Individuen, die in einer solchen
Beziehung als Ratsuchende nicht länger in der traditionellen Untergebenen-Rolle
verbleiben, und die auch nicht jeden Zweifel a priori ausgeschlossen haben will.
Zu aller erst ist die steigende Anzahl wissensbasierter Berufe zu nennen, die eine strikte
Kontrolle und Einhaltung der Grenzen und der Art und Weise des Kurses erschwert und
die Fragmentierung von Expertenbereiche erhöht haben. Diese Fragmentierung wird
publik.
Eine öffentlich eindeutig erkennbare wissenschaftliche Deszenz ist mystisch
mitbestimmend für nachhaltige Besorgnisse in der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit
entwickelt auf Grund ihrer gewachsenen Knowledgeability und den verbesserten Zugang
zu Erkenntnissen erheblich mehr Scharfsinn und sie verfügt über höhere mehr kognitive
Fähigkeiten.
Es lassen sich gesamtgesellschaftliche, soziostrukturelle, von großer Entwicklung und
Tragweite Strukturen identifizieren, die sich notwendig auf alle Institutionen der
Gesellschaft auswirken.
Erstens führen persönlicher Wohlstand und materielle Sicherheit in den
zeitgenössischen entwickelten Gesellschaften zu einem Rückgang materieller Zwänge
zu Gunsten individueller Wahlfreiheit.
Dieser Trend ist mit dem Verweis auf nach wie vor bestehende Relative selbst in den
entwickelten Gesellschaften eindeutig. Wir haben es mit einer historisch einmaligen
Begebenheit zu tun.
Die Landschaften materieller Not lichten sich immer mehr von breiten
Bevölkerungsschichten. Die Lebenserwartung steigt ebenso wie der Lebensstandard. In
Deutschland verdreifachte sich zwischen 1950 und 1973 das pro Kopf-Realeinkommen
um ein Mehrfaches. Versteht man unter Wohlstand nicht nur geldähnliche
Vermögenswerte, sondern rechnet auch Humankapital, Wissen und Fähigkeiten dazu,
dann fällt der Anstieg noch bemerkenswerter aus.
Nicht die Moralisierung der Lebenswelt oder der Medizin ist neu, sondern auf Grund
gesamtgesellschaftlicher Veränderungen hat sich der Stellenwert der Moral verändert,
sodass es insgesamt zu einem verstärkten Trend zu moralisch aufgeladenem Verhalten
kommt.
Davon wird auch die Medizin betroffen sein. Es wird zu einer Demokratisierung in der
Welt der Medizin kommen.
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