Wie möchten die Wähler verarztet werden? Gesundheitspolitische

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Jan Böcken, Bernard Braun, Uwe Repschläger (Hrsg.)
Gesundheitsmonitor 2012
Bürgerorientierung im Gesundheitswesen
Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der BARMER/GEK
Wie möchten die Wähler verarztet werden?
Gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse
im Urteil der Bevölkerung
Nils C. Bandelow, Florian Eckert*, Robin Rüsenberg*
Einleitung
Die Diagnose scheint unstrittig: Gesundheitspolitik gilt als komplex
und intransparent. Entscheidungen werden in diesem Politikfeld
hierzulande in unterschiedlichen formellen und informellen Gremien getroffen. Zu den zentralen Akteuren zählen neben Regierung
und Parlament vor allem die sogenannten Bänke der Gemein­samen
Selbstverwaltung, aber auch andere Interessengruppen und wissenschaftliche Experten. Mit Blick auf die weitreichenden Konsequenzen
für Versicherte und Patienten, aber auch für die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wird die Strukturierung der Entscheidungsprozesse zu einem wesentlichen Konfliktthema in der gesundheitspo­li­tischen Auseinandersetzung. Umstritten ist dabei das Verhältnis
zwischen direkter staatlicher Steuerung, konsensorien­
tierten Verhandlungen und Wettbewerb im Gesundheitswesen auf der einen
und der elementaren Frage auf der anderen Seite, ob und wie bestimmte Akteure – Interessenverbände des Gesundheitswesens, Tarifparteien, Patientenverbände oder (vermeintlich) unabhängige
Fachleute – an den Entscheidungen beteiligt werden sollen (Bandelow, Eckert und Rüsenberg 2012).
Die politischen Entscheidungsträger vertreten nicht nur konkrete
inhaltliche Ziele, sondern auch unterschiedliche Präferenzen mit
Blick auf die Ausgestaltung der gesundheitspolitischen Steuerungselemente. Insbesondere die politischen Parteien stehen für unterschied­
liche Konzepte zur Verteilung von gesundheitspolitischen Kompetenzen (Bandelow 1998). Dabei geht die Einstellungsforschung zugleich
davon aus, dass in etablierten Politikfeldern wie der Gesundheitspoli*Der Beitrag gibt die persönliche Sicht der Autoren wider.
14
tik bei den politischen Eliten relativ zusammenhängende Überzeugungssysteme (belief systems) existieren (Putnam 1976; Peffley und
Hurwitz 1985). Diese belief systems bezeichnen stabile allgemeine
Werte und darauf aufbauende konkrete (z. B. politikfeldbezogene)
Überzeugungen. In Parteiendemokratien suggeriert das Konzept der
belief systems, dass die Anhänger derselben Partei jeweils auch in politikfeldbezogenen Fragen gemeinsame Überzeugungen vertreten.
Einschränkend sei jedoch angemerkt, dass nicht alle parteipolitischen Ziele gleichermaßen von politischen Akteuren und ihren
Wählern geteilt werden: So haben frühere US-amerikanische Studien ergeben, dass zwischen Parteizielen und Wählerpräferenzen
mitunter große Unterschiede existieren (Converse 1964). Auf inhaltlicher Ebene scheint sich dieser Befund zunächst auch für die deutsche Gesundheitspolitik zu bestätigen: So erfahren Modelle der Bürgerversicherung weitaus stärkere Zustimmung zur Finanzierung
des Gesundheitswesens als Prämienmodelle. Dies trifft auch auf die
Anhänger von Parteien zu, die sich bisher entschieden gegen eine
Bürgerversicherung ausgesprochen haben (Marstedt 2008). In der
breiten, parteiübergreifenden Zustimmung der Bevölkerung zur
Bürgerversicherung zeigt sich somit bereits, dass die Präferenzen
von Wählern und Parteien auseinanderfallen können.
Die bisher durchgeführten Befragungen zur Gesundheitspolitik
konzentrieren sich allerdings vornehmlich auf die Beurteilung konkreter inhaltlicher Ziele oder der Gesamtleistung einer Regierung
durch die Bevölkerung in diesem Politikfeld (Forsa 2008; TNS Emnid
2009; IfD Allensbach 2011; Forschungsgruppe Wahlen 2010). Relativ
wenig ist dagegen bisher darüber bekannt, wie die Öffentlichkeit unterschiedliche Entscheidungsformen und Beteiligungen konkreter
Akteure an der gesundheitspolitischen Regulierung beurteilt, weshalb folgende Fragen von Interesse sind:
•• Welche Vorstellungen bestehen in der Bevölkerung darüber, in
welchen Gremien und von welchen Akteuren wesentliche Entscheidungen in der Gesundheitspolitik getroffen werden?
•• Welche Akteure sollen nach Ansicht der Bevölkerung an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, und welches Vertrauen genießen die verschiedenen politischen Entscheidungsgremien?
Besonders interessant ist dabei die Frage, ob und inwiefern in diesen
öffentlich weniger diskutierten – aber gesundheitspolitisch zentralen
15
– Fragen die Wähler Positionen vertreten, die den von ihnen jeweils
präferierten Parteien entsprechen. Die Legitimität der unterschiedlichen Regelungsformen und der Beteiligung konkreter Akteure lässt
sich anhand der Ergebnisse zu folgenden Fragen beantworten:
•• Entspricht die aktuelle Strategie einer Veränderung des traditionellen sektoralen Tauschkorporatismus durch zunehmende Zentralisierung und neue Wettbewerbsformen den Präferenzen der
Bevölkerung?
•• Wie wird die Einbindung der verschiedenen Interessengruppen
im Detail beurteilt, und welche Rolle sollen Wissenschaftler in
diesem Politikfeld spielen?
Die Wahrnehmung und Bewertung gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse dient dabei als Grundlage zur Formulierung konkreter Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse. Diese sollen perspektivisch dazu
beitragen, dem starken Vertrauensverlust der Bevölkerung hinsichtlich der Versprechen und Problemlösungsfähigkeit der Gesundheitspolitik (z. B. IfD Allensbach 2011) entgegenzuwirken.
Methode
Der Gesundheitsmonitor des Jahres 2012 enthält 15 spezifische Fragen zur Gesundheitspolitik. Die Fragen zielen darauf ab, die Einstellungen der Bevölkerung zur gewünschten Rolle verschiedener Akteure und ihrer Regelungsformen zu erheben. Die Antworten wurden
im Hinblick auf mögliche Zusammenhänge mit parteipolitischer
Präferenz (erhoben über die sogenannte Sonntagsfrage am Ende der
Gesamtbefragung) ausgewertet, um auffällige Zusammenhänge anschließend im Hinblick auf ihr jeweiliges Ausmaß zu beurteilen.
Der Zusammenhang zwischen parteipolitischer Präferenz und
gesundheitspolitischer Einstellung operationalisiert ein wesentliches
Element des Modells der belief systems, indem Übereinstimmungen
zwischen Zielen der Parteien und deren Wählern sichtbar werden.
Neben Anhängern der Bundestagsparteien sind in den Kreuztabellen
jeweils auch die potenziellen Wähler der Piratenpartei aufgeführt, die
zum Zeitpunkt der Befragung (Januar und Februar 2012) hohe Umfragewerte hatte. Bei den prozentualen Zustimmungswerten der
16
FDP-Anhänger muss jedoch beachtet werden, dass deren öffentliche
Unterstützung im selben Zeitraum sehr schwach war. Aus diesem
Umstand resultieren teils sehr niedrige Fallzahlen für die Liberalen,
was bei der Auswertung der Aussagen über die FDP-Wähler unbedingt beachtet werden muss.
Auch die konkreten Fragen zur Gesundheitspolitik orientieren
sich am Modell der belief systems, indem sie einerseits allgemeinen
politikfeldbezogenen Elementen und andererseits konkreten Einzelfragen zuzuordnen sind. Dem allgemeinen Kern ist etwa eine Frage
zur präferierten Steuerungsform (Staat, Verhandlung, Wettbewerb,
Technokratie) zuzuordnen. Allgemeine Überzeugungen werden auch
zum gewünschten Einfluss der Akteure auf die Gesundheits­politik
abgefragt. Spezifische Fragen, die das Modell der belief systems dem
Randbereich zuordnet, wurden für einzelne Konfliktthemen wie
etwa die Bestimmung der Arzneimittelpreise erhoben.
Gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse im Urteil der Wähler
Ungeachtet der Komplexität des Politikfeldes sind die Präferenzen der
Bevölkerung im Hinblick auf gewünschte Verantwortungen in der
Gesundheitspolitik überraschend eindeutig: Die traditionelle mesokorporatistische Steuerung, also die Delegation bestimmter hoheitlicher Aufgaben an betroffene Akteure – die Verbände der Krankenkassen (Kostenträger) wie auch der (Zahn-)Ärzte und der Krankenhäuser
(Leistungserbringer) –, die dann für die konkrete Ausgestaltung der
gesetzlichen Rahmenvorgaben Sorge tragen, findet starken Zuspruch
bei den Anhängern aller im Bundestag vertretenen Parteien (Tabelle 1). Mit fast 42 Prozent wünscht sich eine relative Mehrheit Verhandlungen zwischen Krankenkassen, Krankenhäusern und Ärzten
als zentrale Form gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse.
Weitere 28 Prozent vertrauen in erster Linie auf unabhängige Experten (z. B. Wissenschaftler).
Mit fast 26 Prozent belegen allerdings die demokratisch legitimierten Staatsorgane von Bundesregierung und Parlament nur den
dritten Platz. Lediglich die »Kräfte des freien Marktes« werden noch
weniger positiv gesehen: Nur rund fünf Prozent der Befragten sind
der Ansicht, dass das Gesundheitswesen durch Marktkräfte gesteuert
werden sollte. Die Unterschiede zwischen den Anhängern der Bun17
destagsparteien sind hier gering. Auffällig ist aber, dass die potenziellen Wähler der Piratenpartei deutlich geringeres Vertrauen in die
Selbstverwaltung haben als die übrigen Befragten.
Tabelle 1: »Das Gesundheitswesen sollte in erster Linie gesteuert werden durch ...«
in Abhängigkeit von der Parteienpräferenz (»Welche Partei würden Sie
wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?«)
SPD
Gesetze von
Bundesregierung
und Parlament
Verhandlungen
zwischen
Krankenkassen,
Krankenhäusern
und Ärzten
die Kräfte
des freien
Marktes
unabhängige
Experten
35
35
 4
27
CDU/CSU
28
42
 7
23
Bündnis 90/
Die Grünen
22
39
 2
37
FDP
27
40
13
20
Die LINKE
34
41
 1
24
Piraten
33
30
 4
33
Gesamtbevölkerung
26
42
 5
28
n = 1.443
Anteile in Prozent der Befragten, Daten gewichtet
Während also Wettbewerb und Markt in der Bevölkerung auf eher
geringe Akzeptanz stoßen, erfreuen sich gerade die – in der Sozialwissenschaft als einflussreiche Vertreter von Partialinteressen oft kritisch gesehenen (Groser 1992; Webber 1992) – klassischen gesundheitspolitischen Verbände großer Unterstützung. 78 Prozent der
Befragten wünschen einen mindestens »eher« großen Einfluss der
Ärzte und Ärztinnen und ihrer Verbände auf die Gesundheitspolitik
(Abbildung 1). Überraschend groß ist der Anteil der Befürworter einer »sehr« großen Rolle der Ärzteverbände mit 29 Prozent sogar bei
den Wählern der Linkspartei, also einer Partei ohne traditionell enge
Bindungen zur Ärzteschaft. Dieses Ergebnis gibt einen Hinweis da­
rauf, dass gerade Ärzte als Experten im Mikroumfeld der Bevölkerung ein so großes Ansehen genießen, dass auch ihre Interessenvertretung gegenüber der Politik daraus Prestige gewinnt.
18
Abbildung 1: » Wie groß sollte Ihrer Meinung nach der Einfluss folgender
Einrichtungen und Verbände auf die Gesundheitspolitik sein?«
Krankenkassen und ihre Verbände
17
Ärzte und ihre Verbände
50
20
Pharmaindustrie und ihre Verbände
8
58
13
Patientenverbände
29
10
Arbeitgeber und ihre Verbände
49
13
38
24
3
33
34
5
19
46
35
Gewerkschaften
4
3
18
48
23
Regierung, Bundestag
20
40
30
10
unabhängige Einrichtungen
(Universitäten, Stiftungen)
20
40
30
10
0
sehr groß
eher groß
10
20
eher gering
30
40
50
60
70
80
90 100
sehr gering
n = 1.429 bis 1.562
Angaben in Prozent der gültigen Antworten, Daten gewichtet
Auch die Krankenkassen und ihre Verbände genießen in der Bevölkerung große Zustimmung: 67 Prozent wünschen sich eine mindestens »eher« große Rolle in der Gesundheitspolitik. Geringer ist die
Unterstützung für die »Pharmaindustrie und ihre Verbände«, der 21
Prozent der Bevölkerung einen mindestens »eher großen« gesundheitspolitischen Einfluss wünschen – ein Befund, der durchgängig
auch für die Anhänger aller Parteien gilt. Die Patientenverbände erzielen wiederum die deutlichsten Zustimmungswerte: Mit 84 Prozent wünscht sich fast die gesamte Bevölkerung mindestens eine
»eher« große Rolle dieser Gruppe von Akteuren. Auch hier wird das
Antwortverhalten wenig von parteipolitischen Präferenzen beeinflusst.
Im Gegensatz zu den Maklern der Patienteninteressen wünschen
sich die Befragten hingegen keine stärkere Rolle der Gewerkschaften.
Im Ergebnis fordert mit 44 Prozent nur eine Minderheit einen mindestens »eher« großen Einfluss. Wesentlich einhelliger ist allerdings
19
die Ablehnung einer Rolle der Arbeitgeber und ihrer Verbände in der
Gesundheitspolitik: Nur rund 29 Prozent der Befragten sehen sie als
»eher« wünschenswerten Akteur. Dies gilt fast identisch für alle Parteien. Überraschend ist hier, dass gerade unter den Unionswählern
ein gesundheitspolitischer Einfluss der Arbeitgeber als sehr kritisch
gesehen wird. Ihre Zustimmungswerte mit mindestens »eher groß«
liegen bei gerade einmal rund 26 Prozent und damit sogar noch hinter jenen der Linkspartei-Anhänger, die sich immerhin mit 33 Prozent einen mindestens »eher großen« Einfluss wünschen.
Zwar soll das Gesundheitswesen nicht primär staatlich gesteuert werden, eine starke Rolle von Regierung und Bundestag wird
dennoch nicht abgelehnt: 60 Prozent der Befragten wünschen sich
einen mindestens »eher großen« Einfluss auf die Gesundheitspolitik. Auch hier gibt es aufseiten der Parteienanhänger kaum nennenswerte Unterschiede. Erneut überraschend: Die Bevölkerung
scheint im Zusammenhang mit Gesundheitspolitik ebenfalls auf
unabhängige Einrichtungen (Universitäten, Stiftungen) zu setzen,
wenn es um die Rolle ausgewählter Akteure in diesem Politikfeld
geht. So wünschen sich 60 Prozent der Befragten einen stärkeren
Einfluss unabhängiger Experten. Die Einbindung dieser Akteure
könnte in der Organisation deliberativer Verfahren – verstanden
als Kommunikation auf Grundlage eines möglichst machtfreien
Austausches von Argumenten – zur Bürgerbeteiligung jenseits der
etablierten Elitennetzwerke liegen. Auch hier ist das Antwortmuster wenig an parteipolitische Präferenzen gebunden, wenngleich
sich die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen größere Anteile als
die anderen wünschen (71 % für mindestens »eher großen« Einfluss).
Die Auswertung der allgemeinen gesundheitspolitischen Fragen
zeigt, dass in der Bevölkerung parteibezogene belief systems vorhanden sind, diese aber eher geringe Bedeutung haben. Wesentlich auffälliger ist die große Übereinstimmung auch über parteipolitische
Lager hinweg. Dies bestätigt sich auch, wenn das Antwortverhalten
zu Einzelfragen der Gesundheitspolitik betrachtet wird. Tabelle 1 hat
bereits verdeutlicht, dass grundsätzlich Konzepte eines – vor allem
korporatistisch – regulierten Marktes die breiteste Unterstützung finden. Wird nach den einzelnen Wettbewerbsmärkten gefragt, wünscht
sich eine – wenn auch recht starke – Minderheit der Gesamtbevöl­
kerung von 40 Prozent, dass der Vertragswettbewerb zwischen den
20
Leistungserbringern (Ärzten und Krankenhäusern) »stark« oder
»sehr stark« ausgebaut werden soll.
Beim Krankenkassenwettbewerb ist die Zustimmung etwas geringer: Rund 36 Prozent der Befragten wünschen sich hier eine
deutliche Stärkung. Überraschend sind die doch eher geringen Unterschiede zwischen den Anhängern der Parteien. Selbst bei den
Anhängern der Linkspartei ist der Anteil der Befürworter von deutlich mehr Wettbewerb nicht geringer als in der Gesamtbevölkerung.
Auch die tatsächlichen Differenzen in den Strategien der Parteien
bezüglich einzelner Wettbewerbsmärkte finden sich kaum in der
Wählerschaft: Während die SPD insgesamt eher zu einer Stärkung
des Vertragswettbewerbs neigt und die Union hingegen für verstärkten Krankenkassenwettbewerb steht (Grunenberg 2010: 54),
spiegelt sich dies in der Wählerschaft kaum wider (Abbildungen 2
und 3).
Abbildung 2: D
er Wettbewerb zwischen den einzelnen Krankenkassen um
Versicherte sollte verstärkt werden
SPD
9
CDU/CSU
26
15
Bündnis 90/Die Grünen
37
25
13
31
27
FDP
14
Piraten
Gesamtbevölkerung
0
stark
20
12
46
26
24
10
24
18
20
12
28
18
22
22
30
33
47
Die LINKE
sehr stark
28
33
29
30
ein wenig
40
50
35
60
70
80
90
100
gar nicht
n = 1.403
Angaben in Prozent der Befragten, Daten gewichtet
21
Abbildung 3: Der Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern (z. B. Ärzten,
Krankenhäusern) um Verträge mit den Krankenkassen sollte
verstärkt werden
SPD
8
34
CDU/CSU
12
Bündnis 90/Die Grünen
12
33
13
Piraten
Gesamtbevölkerung
0
stark
30
10
20
30
ein wenig
13
21
24
10
28
25
28
17
24
32
37
Die LINKE
28
31
28
FDP
sehr stark
30
40
50
25
38
33
26
32
28
60
70
80
90
100
gar nicht
n = 1.276
Angaben in Prozent der Befragten, Daten gewichtet
Auch das Beispiel der Festlegung von Arzneimittelpreisen bestätigt
die Ergebnisse der allgemeinen Fragen zur gewünschten Form gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse. Hier spiegelt sich insbesondere die Forderung nach technokratischen Entscheidungen. So
wünschen sich 46 Prozent der Bevölkerung eine Festlegung von Arzneimittelpreisen durch unabhängige Experten und Wissenschaftler
(Abbildung 4). Neben den Anhängern der FDP stützen hier vor allem
Grünen- und Piraten-Anhänger überproportional eine unabhängige
Preisvorgabe. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen den parteipolitischen Lagern jedoch auch hier geringer, als es zunächst in einem derart parteipolitisch kontroversen Bereich wie der Gesundheitspolitik hätte erwartet werden können.
22
Abbildung 4: Wer sollte die Preise für Medikamente in Deutschland bestimmen?
0
SPD
43
CDU/CSU
29
36
19
38
Bündnis 90/Die Grünen
14
55
FDP
21
35
25
57
gesamt
10
20
15
27
30
unabhängige Experten und Wissenschaftler
Bundesregierung oder staatliche Einrichtungen
Hersteller von Medikamenten alleine
4 3
8
22
40
50
60
7
9
11
46
0
3
27
17
Piraten
6
12
67
Die LINKE
6
70
9
11
14
6
80
90
4
4 2
5 2
100
Krankenkassen und Pharmaindustrie
Krankenkassen alleine
Apotheken
n = 1.337
Angaben in Prozent der Befragten, Daten gewichtet
Fazit: Experten stärken, Parteienkonkurrenz besser vermitteln
Ausgangspunkt der Bevölkerungsbefragung zur Beurteilung gesundheitspolitischer Prozesse war die Frage nach der Existenz zusammenhängender belief systems, bei denen sich idealerweise in der
Wählerschaft die Sichtweisen der jeweiligen Parteien spiegeln. Die
Ergebnisse bestätigen weitgehend frühere Befunde, dass in der Bevölkerung nur eine geringe gesundheitspolitische Parteiprägung vorliegt (Marstedt 2008). Parteipolitisch geprägte belief systems, die in der
Gesundheitspolitik oft zu langjährigen Erstarrungen kontroverser
Fronten beigetragen haben, finden sich in der Bevölkerung kaum. Es
lässt sich vielmehr ein (je nach Parteineigung unterschiedlich stark
ausgeprägtes) Auseinanderfallen der Überzeugungen von Politik­
eliten und Wahlbevölkerung feststellen. Machtpolitisch scheint dies
in der Vergangenheit bislang keinen größeren Nachteil mit sich gebracht zu haben.
23
Allerdings zeigen etwa die jüngsten Wahlerfolge der Piraten, dass
partizipatorische Elemente bei der Erstellung von Parteiprogrammen
und der inhaltlichen Positionierung stärker gefragt zu sein scheinen.
Zugleich ermöglichen und erleichtern soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter diesen Paradigmenwechsel. Daher empfiehlt es sich
aus Sicht der Parteien, künftig ihre Kommunikation mit (potenziellen) Anhängern zu verbessern, um Inhalte, Strategien und handelnde
Personen früher mit den Wünschen der Wähler zu verzahnen, sie
besser zu vermitteln und die so erarbeiteten Ergebnisse stärker zu
berücksichtigen oder argumentativ zu entkräften.
Darüber hinaus gibt es parteiübergreifend verbreitete Beurteilungen von Entscheidungsformen und einzelnen Akteuren, die durchaus einen Anstoß zum Nachdenken geben sollten: Auf der einen Seite
genießt das deutsche Modell der Gemeinsamen Selbstverwaltung offenbar in der Bevölkerung größeres Vertrauen als politische Entscheidungsträger. In der Gesundheitspolitik sind die Vertrauenswerte in
die demokratisch legitimierten Institutionen des Staates und in die
staatliche Steuerungskompetenz augenscheinlich ambivalent. Doch
auch der Wettbewerb genießt als Steuerungsinstrument nur eingeschränktes Vertrauen – wesentliche Reformstrategien der letzten
Jahre stehen damit im Widerspruch zu den Wünschen der Bevölkerung: Politisch wurde eine Strategie der Wettbewerbsstärkung bei
gleichzeitiger Zentralisierung und staatlicher Kompetenzerweiterung verfolgt (Bandelow, Eckert und Rüsenberg 2010; Gerlinger, Mosebach und Schmucker 2008). Genannt werden können exemplarisch
die Festlegung des Beitragssatzes in der Gesetzlichen Krankenver­
sicherung durch die Bundesregierung, die steigenden Steuerzuschüsse oder jüngst die Einführung von Vetomöglichkeiten des Bundestagsausschusses für Gesundheit bei der Personalauswahl der
unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses.
Diese Politik war mit einem grundlegenden Umbau der Selbstverwaltung verbunden, die unter anderem auf Konflikten zwischen verbandlichen und staatlichen Akteuren fußte. Strategien der Entmachtung traditioneller Organisationen der Selbstverwaltung scheinen
jedoch in der Bevölkerung nur schwer vermittelbar zu sein. Hier bieten die Befragungsergebnisse aber auch eine mögliche Lösung. Offenbar lässt sich eine Kompetenzverlagerung zulasten etablierter Verhandlungsgremien vor allem dann rechtfertigen, wenn damit eine
stärkere Rolle unabhängiger Experten verbunden ist, da so die Ent24
scheidungsträger die wissenschaftliche Legitimation ihrer Entscheidungen verbessern: Mit den Enquetekommissionen gibt es im
­par­lamentarischen Prozess ein erprobtes Instrument für die institu­
tionalisierte Verknüpfung von parteipolitischen Akteuren mit wissenschaftlichem externem Sachverstand, welches in gesundheits­
politischen Fragen zuletzt Ende der 80er Jahre – erfolgreich – genutzt
wurde (Reiners 2010).
Eine solche Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten und externen Sachverständigen zur systematischen wissenschaftlichen Fundierung von Positionen könnte auch künftig langfristig dazu bei­
tragen, Kompetenzen im Parlament zu stärken, zugleich einer
dauerhaften übergreifenden Netzwerkbildung dienen und damit den
Wissenstransfer zwischen Experten und Praktikern (z. B. Vertretern
der Krankenkassen oder Patientenvertretern) sowie den Abgeordneten auch über ideologische Grenzen hinweg fördern. Es käme so zu
einem Austausch zwischen den politischen Entscheidungsträgern,
Akteuren der Selbstverwaltung und unabhängigen Experten, der Entscheidungen von Anfang an auf eine breitere Grundlage stellen und
so auch deren Legitimation nach außen wie innen vergrößern könnte.
Die Macht- und formelle Kompetenzverteilung im (gesundheits-)politischen System bliebe hiervon im Übrigen unberührt, was die Umsetzbarkeit des Vorschlags erleichtern würde (Bandelow, Eckert und
Rüsenberg 2012).
Der grundlegende Befund eines Auseinanderfallens von öffent­
lichen Positionen zur Gesundheitspolitik und parteipolitischen Konfliktlinien wirft darüber hinaus die Frage auf, wie gesundheitspoli­
tische Entscheidungsprozesse näher an die Bürger gebracht werden
können. Denn wie auch in anderen Politikfeldern reicht offenbar die
diffuse Legitimität traditioneller politischer Institutionen (Regierung,
Parlament und Parteien) nicht aus, um die besonders in ­K risenzeiten
angestrebten inhaltlich unpopulären Entscheidungen zu rechtfertigen. Diese Erkenntnis entspricht auch anderen Studienergebnissen,
die in der Gesundheitspolitik die Notwendigkeit frühzeitiger Einbindungen der Bürger jenseits der Medien­öffentlichkeit betonen (Stollen
2011). Hier sind also die Entscheidungsträger gefordert, direkte Partizipationsmöglichkeiten zu stärken. Bürgerforen und Zukunftswerkstätten könnten beispielsweise die Legitimation der Entscheidungsprozesse verbessern (Bandelow, Eckert und Rüsenberg 2012). Mit
Blick auf die unterschiedlichen Präferenzen stellt sich bei all dem
25
letztlich dann jedoch die Frage, wie viel Partizipation von Politik und
Bevölkerung gewünscht ist – und in welchem Maße diese vor dem
Hintergrund der Besonderheiten des Politikfeldes sinnvoll ist.
Literatur
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Bandelow, N. C., F. Eckert und R. Rüsenberg. »Wie funktioniert Gesundheitspolitik?« Masterplan Gesundheitswesen 2020. Hrsg. B. Klein
und M. Weller. Baden-Baden 2012. 37–62.
Bandelow, N. C., F. Eckert und R. Rüsenberg. »Reform(un)möglichkeiten in der Gesundheitspolitik«. Aus Politik und Zeitgeschichte (60)
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Forschungsgruppe Wahlen. »KBV-Versichertenbefragung«. August
2010. www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Archiv__weitere_Um
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Gerlinger, T., K. Mosebach und R. Schmucker. »Mehr Staat, mehr
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Groser, M. Gemeinwohl und Ärzteinteressen – die Politik des Hartmannbundes. Gütersloh 1992.
Grunenberg, M. »Wettbewerb im deutschen Gesundheitswesen.
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26
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27
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