Seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter verlangen nach

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Nicht beurteilen,
Seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter verlangen
nach verständigen Gesprächspartnern, die es verstehen
Brücken zwischen Eltern und Kindern zu bauen.
Bindungsstörungen
Kinder brauchen eine sichere Basis. Diese
wird ihnen von einer nahen Bezugsperson,
zumeist von der Mutter, vermittelt. Fehlt
diese Basis, so werden Kinder ängstlichklammernd, oder sie verbergen ihre Gefühle so weit, bis sie sie selbst nicht mehr
wahrnehmen können. Bindungsstörungen
sind relativ leicht zu sehen, aber schwer zu
behandeln.
Sie entstehen beispielsweise wenn Mutter und Kind schlecht zusammenpassen: Da
ist etwa die Mama, die immer füttern will
und ein Kind, das wenig isst. Dieses NichtZusammenpassen ergibt sich oft aus der
Partnerwahl. Das Kind gerät nach dem
Partner, der eben anders ist. Was allerdings
bei diesem als Bereicherung erlebt wird,
kann beim Kind störend sein.
Schwieriger ist es, wenn eine Ablehnung
gegenüber dem Kind vorliegt. Hier therapeutisch einzugreifen, bedeutet Tabuzonen
zu überschreiten. Denn die Annahme, dass
eine Mutter sich auf und über ihr Kind
freut, ist so selbstverständlich, dass ein Abweichen gesellschaftlich nicht erlaubt ist.
Aber es muss erlaubt sein, will man Mutter
und Kind helfen. Direktes Ansprechen und
Wiedergabe des eigenen Eindrucks kann
hier weiterhelfen.
Die Dreimonatskolik ist eine besondere
Bindungsproblematik. Das Kind erfährt,
dass es erstmalig mit den eigenen körperlichen Sensationen zurande kommen muss.
Auf elterlicher Seite merkt man, dass man
dem Kind nicht immer helfen kann, was
beide Lager zur Verzweiflung bringen
kann. Die kinderärztlichen Annahmen
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(Winde, falsche Ernährung der stillenden
Mutter, Lagerung etc.) können oftmals
nicht bestätigt werden. Jedes Placebo, also
auch die Nahrungsumstellung, hilft jedoch,
denn es geht um die erste Vereinzelung des
Kindes und das erste Loslassen vonseiten
der Mutter.
Kinder mit speziellen Bedürfnissen stellen für die Eltern eine besondere Herausforderung dar. Die Anforderungen sind
größer und die Erfolge kleiner. Die wichtigste ärztliche Aufgabe ist es, helfend und
nicht zu fordernd einzugreifen. So wünschen sich die Eltern die möglichst frühe
optimale Förderung. Das Kind hingegen
will, so wie es ist, geliebt werden.
Essstörungen
Ess- und Fütterungsstörungen gehen fast
immer auf ein Ungleichgewicht der Erwartungen und Bedürfnisse zurück. Kinder
nehmen nicht kontinuierlich zu und Mütter
haben nicht jeden Tag entsprechend Milch.
Beide befinden sich in einem labilen Abhängigkeitsverhältnis voneinander. Ärzte sollen
nicht den Vergleich zwischen Kind und einer Percentilenkurve machen, sondern die
Situation der beiden Beteiligten beurteilen.
Besonders wichtig ist es, die Fütterungssituation stressarm zu machen und elterliche
Ängste ebenso zu beruhigen, wie kindliche
Aversionen oder Ekel. Letzteres ist an sich
ja eine wichtige Empfindung, hilft er doch
einerseits, nicht zu essen, was ekelerregend
(also meist ungesund) ist, andererseits wird
über Ekel gesellschaftliche Konvention und
kulturelle Zugehörigkeit vermittelt (in Österreich werden etwa Hund oder Schlange
nicht gegessen; bei Juden und Muslimen ist
das Schwein verboten etc.).
Ekel besteht auch gegenüber den Ausscheidungsstörungen. Die häufigste ist das
nächtliche Einnässen, das zumeist als eine
ADH-Sekretionsstörung mittels Desmopressinanaloga behandelt wird. So wie einst
nicht alle einnässenden Kinder an seelischen Problemen litten, so haben heute
bei weitem nicht alle eine Sekretionsstörung. Da aber die Selbstheilungstendenz
enorm ist, kann jedes Verfahren von sich
behaupten, dass es hilft. Eine Dosissteigerung des Desmopressin bis hin zur Hypernatriämie muss jedenfalls verhindert werden. Bleibt eine Besserung aus, bedarf es
In Kooperation mit der
Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendheilkunde (ÖGKJ)
anderer Therapieansätze, wie etwa Verhaltens- oder Psychotherapie. Die Enkopresis
macht freilich mehr Ekel und Sorgen.
Stuhlverhalten rund um das Sauberwerden
im dritten Lebensjahr ist häufig und verschwindet bei angemessener Beachtung.
Enkopresis entwickelt sich durch fortwährendes Stuhlverhalten aus psychosozialen
Gründen. Die Intervention darf sich nicht
auf Klysmen reduzieren, sondern muss psychosozial ausgerichtet sein.
Lernverweigerung
Im Schulalter können Lernprobleme und
Lernverweigerung anstehen. Intelligenz
und Verhalten spielen hier eine große Rolle.
Da niemand dumm sein will und das mitteleuropäische Schulsystem bei Intelligenzminderung ausschließend ist, wird diese
sehr kränkend erlebt. Daher ist mit solchen
Befunden sehr vorsichtig umzugehen. Die
häufigste Störung ist die Schulphobie, bei
der Kinder ihre Eltern nicht verlassen können, weil sie sich (zumeist berechtigte) Sorärztemagazin 18/2011
Fotos: carlos 101 – Fotolia.com, Privat
P
sychiatrische Krankheiten im Kindesund Jugendalter sind selten – deutlich
öfter sind psychosomatische Störungen, bei denen Kinder und Jugendliche über körperliche Symptome ihr Unwohlsein ausdrücken. Meist werden die Störungen zu „Krankheiten“ erklärt, wobei das
unsinnige Wort „psychogen“ verwendet
wird. „Psychogen“ gibt es allerdings nicht
(Von wo soll etwas ausgehen?). „Organogen“
wäre hingegen denkbar: Bei Lebererkrankungen kann man etwa ein Durchgangssyndrom erleiden, oder bei Hyperbilirubinämie
müde werden. Dies vorausgesetzt, werden
folgende Störungen vorgestellt.
sondern ­verstehen
gen machen. Es sind dies Eltern, die beispielsweise an psychiatrischen Krankheiten
leiden, suchtkrank oder gar körperlich
schwer behindert sind, so dass das Kind
Sorge trägt. Hier werden oft viele Fehler
gemacht: Statt das Kind zu bewundern und
ihm allenfalls zu helfen, wird verstärkt
Druck ausgeübt und gefährdete soziale Systeme belastet.
Pubertät
„Die Pubertät ist jene Zeit, in der die Kinder wachsen und die Eltern schwierig werden.“ Dieser oft zitierte Satz unbekannter
Autorenschaft beschreibt die Interaktionsprobleme dieses Lebensabschnitts treffend.
Das Gehirn stellt von Kreativität und Vielfalt auf Struktur und Ordnung um – alles in
den Heranwachsenden wehrt sich dagegen.
Sie wollen nicht kulturell domestiziert werden, daher die Ausbruchsversuche. Zugleich verlangt die westliche Kultur, dass
die Menschen sich selbst entdecken und
definieren. Dazu müssen sie sich unterscheiden, neu erfinden und im Gegensatz
zu dem Vorgefundenen bestimmen. So
kommt es, vor allem, wenn die Eltern selbst
eine unsichere Identität haben, zu Auseinandersetzungen. Diese können lebensbestimmend sein, insbesondere, wenn Alkohol, Drogen oder Selbstmordgedanken
hinzutreten.
Die Selbstmordankündigung eines Jugendlichen ist immer ernst zu nehmen und un-
ärztemagazin 18/2011
verblümt zu diskutieren. Es ist die Frage der
dynamischen Einengung nach Erwin Ringel anzusprechen: Ist es der Selbstmord, der
mir alle Last abnehmen kann? Zieht er
mich an? Will ich nicht mehr sein? Sind
diese Fragen mit „Ja!“ zu beantworten, so
hilft man den Betroffenen durch eine Behandlung ohne eigenes Verlangen nach Unterbringungsgesetz. Scheu und Angst vor
der Kinder- und Jugendpsychiatrie müssen
in diesen Krisenfällen hintangestellt werden. Sobald der Selbstmordkandidat die
akute Lebenskrise überwunden hat, versteht er selbst oft am wenigsten, warum er
einst sterben wollte. Lebenskrisen äußern
sich auch im Umgang mit den Pflichten des
Alltags, mit der Einstellung zu der Welt der
Erwachsenen, die manche so nicht annehmen wollen. Ärzte sind oft gute Ansprechpartner, weil sie nicht zu beurteilen haben,
sondern zu verstehen. Wie der Autor Franz
Grillparzer seine Antigone sagen lässt:
„Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich
da!“ Dieser Wahlspruch eignet sich für fast
jedes Gespräch mit einem Jungendlichen in
Not und ist auch ausreichend für das Gespräch mit den beunruhigten und in ihrer
Sorge bisweilen ungerechten Eltern.
Univ.-Prof. Dr. Peter Scheer, Leiter der AG
­ sychosomatik der ÖGKJ und der
P
­Psychosomatik & Psychotherapie, Klin.
Abt. f. allg. Pädiatrie, Univ.-Klinik f.
Kinder- und Jugendheilkunde, Graz
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