selbstverletzendes Verhalten

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selbstverletzendes Verhalten
Mit selbstverletzendem Verhalten (SVV) oder autoaggressivem Verhalten beschreibt man eine ganze Reihe von
Verhaltensweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich Verletzungen oder Wunden zufügen.
Normalpsychologische Grundlage für diese Störung ist unter anderem das Konzept des Körperschemas.
Selbstverletzendes Verhalten kann auftreten bei: Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe auch Parasuizid), fetalem
Alkoholsyndrom, Depressionen, Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimie oder Adipositas, Missbrauchserfahrungen,
Deprivationen (Entzug von Zuwendung und „Nestwärme“), Traumatisierungen, während der Pubertät, Kontrollverlust,
Körperschema-Störungen (Body Integrity Identity Disorder), Zwangsstörungen (OCD: Obsessive-Compulsive Disorder),
schweren Zurücksetzungen und Demütigungen, psychotischen oder schizophrenen Schüben und ähnlichen seelischen
Störungen sowie bei geistiger Behinderung und Autismus.
Obgleich Selbstverletzung in der Regel keinen suizidalen Aspekt hat, im Gegenteil sogar durch Spannungs-, Wut- und
Selbsthass-Abfuhr einen Suizid zu vermeiden und aufzuschieben trachtet, können die zu Grunde liegenden Depressionen
, Persönlichkeitsstörungen, Dissoziationsphänomene, unerträglichen Spannungszustände, Nervenschwächen und
Nervenerregungen, todestriebähnlichen Selbstzerstörungswünsche und etwaigen Suchtabhängigkeiten auf die Dauer zu
Suizidalität führen und enden in einigen Fällen letztlich im Suizid.
Arten
Es gibt verschiedene Arten der Selbstverletzung; häufig werden mehrere von einer Person angewandt. Zu den häufigsten
zählen
das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sog. Ritzen) der Haut an den Armen und Beinen mit spitzen und
scharfen Gegenständen wie Rasierklingen, Messern, Scheren oder Scherben; eine Häufung der Narben ist am
nicht-dominanten (Unter-)Arm zu finden, aber auch beide Arme können von Narben übersät sein, wie auch zum
Beispiel Bauch, Beine, Brust, Genitalien oder das Gesicht.
wiederholtes „Kopfschlagen” (entweder mit den eigenen Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf
an Gegenstände)
wiederholtes oder einmaliges Boxen gegen harte Gegenstände bis Hämatome oder Blutungen auftreten.
das Schlagen des Körpers (zum Beispiel Arme und Beine) mit Gegenständen
das Ausreißen von Haaren (Trichotillomanie)
In-die-Augen-Bohren
Mit Nadeln (Sicherheitsnadeln etc.) stechen
Das Beißen in erreichbare Körperpartien, auch Abbeißen von Fingerkuppen und „Zerkauen” der Innenseite von
Wangen oder Lippen
Verbrennungen und Verbrühungen (zum Beispiel Zigarettenausdrücken auf dem eigenen Körper, Hand über eine
Kerze halten)
Einnahme schädlicher Substanzen (wie zum Beispiel Reinigungsmittel)
Intravenöse, subkutane oder intramuskuläre Injektion schädlicher Substanzen
Verätzung des Körpers durch Chemikalien
Wangenkauen (siehe auch Morsicatio buccarum)
Das langanhaltende Aufsprühen von Deodorants oder Körpersprays auf eine Stelle, bis Erfrierungen auftreten.
Fingernägelkauen (Onychophagie), wobei die leichteren, auf Nervosität beruhenden Formen nicht unbedingt zu
den Selbstverletzungen gezählt werden, jedoch schmerzende Nagelverletzungen und Ausreißen der Nägel
Selbstverletzungen darstellen.
Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers Endorphine (Glückshormone) ausgeschüttet werden, die den
Schmerz lindern, wie es bei körperlicher Anstrengung oder auch einer Geburt der Fall ist. Diese werden in Verbindung mit
Adrenalin ausgeschüttet, da der Körper durch die Selbstverletzungen in eine starke Form des Stresses versetzt wird.
Es steht fest, dass eine Gewöhnung stattfindet, die extremere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte,
großflächigere Verbrennungen), um die gesuchte Befriedigung zu erreichen.
Nicht immer allerdings werden Endorphine oder Adrenalin ausgeschüttet; bei „Beißern” tritt nicht die Form des Stresses
auf, sondern genau das Gegenteil: Der Betroffene steht unter Druck. Besonders durch das Beißen im Mundinneren wird
Stress, enormer Druck, abgebaut. Wie bei anderen Verletzungen auch werden die Wunden immer größer bzw. tiefer, um
den (wiederum durch das Beißen provozierten und gesteigerten) Druck abbauen zu können. Überdies ist therapeutisch
nicht eindeutig erwiesen, ob es sich bei autoaggressivem Verhalten um eine Art Selbstbelohnungs- oder
Selbstbestrafungstrieb handelt.
Bei einer Multiple-Choice-Studie auf einer Homepage, die sich mit dem Thema befasst, wurde festgestellt, dass sich viele
Menschen mit selbstverletzendem Verhalten nicht auf eine Art der Selbstverletzung beschränken, sondern auch diverse
Methoden kombinieren:
Schneiden (Ritzen) wurde mit einer Häufigkeit von 72 % angegeben, 35 % verbrannten sich, 30 % schlugen sich selbst,
22 % verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22 % kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln
auf, 10 % gaben an, sich die Haare auszureißen und 8 % brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.
Zahlen und Daten
Folgende statistische Angaben sind unter Vorbehalt zu betrachten, da sie teils nur Schätzungen sind und/oder sich auf
spezifische Gruppen beziehen und daher keine statistisch abgesicherten Ergebnisse liefern. Jedoch geben sie
ausgeprägte und deutliche Tendenzen wieder.
Die Häufigkeit in Deutschland wird mit 0,7 % bis 1,5 % angegeben, was einer Anzahl von rund 600.000 bis 1,2 Millionen
Menschen entspricht. Überwiegend weibliche Personen sind von SVV betroffen, die Angaben schwanken hier jedoch
stark und werden mit 3:1 (Frauen:Männer) bis 9:1 (Frauen:Männer) angegeben.
Altersstruktur
Mehrheitlich liegt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr, das am häufigsten genannte
Alter ist 13. In der Zeit der Pubertät ist also meistens der Auslöser zu suchen, das Verhalten tritt meist während der
ohnehin emotional in der Regel sehr angespannten Phase der Pubertät (verlorene Liebe, Aggression gegen Eltern, etc.)
auf. Die Ursachen bzw. Gründe werden meistens dagegen davor in der Kindheit gesucht. Demnach würden Konflikte, die
dort nicht ausgetragen werden konnten, nun hervorbrechen und würden demzufolge zum Auftreten des
Selbstverletzenden Verhaltens führen.
Ein anderer Aspekt ist die Frage, ab welchem Alter aktiv nach autodidaktischer, ärztlicher und/oder psychologischer Hilfe
gesucht wird. Aus fortlaufender Erhebung auf der Internetseite „Rote Tränen“ ergibt sich etwa folgende Struktur direkt
oder indirekt Betroffener, die die Bewältigung versuchen oder sich mit Alternativen beschäftigen:
ab ca. 11 bis 16 Jahre: 34 %
16 bis 18 Jahre: 29 %
18 bis 20 Jahre: 17 %
20 bis 24 Jahre: 13 %
über 24 Jahre: 7 %
Häufigkeit
1 mal: 2 %
25 bis 50 mal: 23 %
öfter als 50 mal: 75 %
Angaben zum Aufschneiden der Haut entfiel zu 85 % Prozent auf Extremitäten und 15 % auf den Rumpf.
Umgang mit Betroffenen
Selbstverletzendes Verhalten bedarf keiner objektiv „schlimmen“ Situation, sondern kann von psychischen Erkrankungen
ausgelöst werden, die unabhängig von den objektiven Zuständen vorkommen können. Eine häufig spontane, zynische
Reaktion - „Anderen geht es noch viel schlimmer“ - verkennt gerade den Krankheitswert dieser Störung, und geht implizit
von der irrational anmutenden Konsequenz aus, dass Menschen in schlimmen Umständen zur Selbstverletzung neigten.
Während nur Fachpersonal die zugrundeliegenden Störungen kompetent therapieren kann, kann das familiäre und
soziale Umfeld durch Vermeidung der Distanzierung und durch Sozialisierung in Krisensituationen zur Besserung der
Symptomatik beitragen. Alle Versuche, die Symptomatik zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, sind aufgrund des
Krankheitswerts kontraproduktiv.
Möglichkeiten der Therapie
Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer Psychotherapie. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto
größer sind die Chancen einer Heilung.
Zur Behandlung stehen unterschiedliche Therapiekonzepte zur Verfügung. Sowohl tiefenpsychologischpsychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische.
Die Transference-Focused-Psychotherapy (TFP) nach Otto F. Kernberg konzentriert sich hierbei auf die Übertragung und
Gegenübertragung, wobei hier aber ein besonderes Augenmerk auf die aktuelle Situation und die aktuellen Konflikte eines
Patienten gelegt wird. Auch ist die TFP in Abgrenzung zu anderen Formen der psychoanalytisch begründeten
https://www.suchtundselbsthilfe.de/forum/lexicon/index.php/Entry/390-selbstverletzendes-Verhalten/?s=feef3bb426bddaf560ee6ba2019b7bc1efd3e8a6
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Psychotherapie etwa der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie nicht ausschließlich auf stützende Techniken
angewiesen, auch wenn diese je nach psychosozialer Situation und Verfassung des Patienten auch eingesetzt werden.
Ein Therapiekonzept, welches sich u.a. mit Leidensdruck und dem daraus resultierenden Problemverhalten (also auch
Selbstverletzung) beschäftigt, ist die Dialektisch-behaviorale- Therapie nach Marsha M. Linehan. Diese auf das
Krankheitsbild der Boerderline-Persönlichkeitsstörung ausgerichtete Therapie unterscheidet zwischen
Bewältigungsstrategien bei Leidensdruck (zum Beispiel durch Ablenkung oder bewusster Wahrnehmung) und Alternativen
zu körperschädigendem Verhalten, so genannten Skills. Beispiele für Skills sind das Festhalten von Eiswürfeln, Kauen
von Chilischoten oder Barfußlaufen im Schnee. Im klinischen Umfeld wird das Auftragen einer speziellen stark reizenden
Salbe auf die Unterarme des Patienten als Reaktion auf einen akut auftretenden hohen Selbstverletzungsdruck praktiziert.
Rezeption
Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch immer wieder rezipiert worden, zum Beispiel vom
österreichischen Aktionskünstler Günter Brus.
Eine zentrale Rolle spielt selbstverletzendes Verhalten auch in Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“. Als Motiv
kommt es in André Gides Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatikans) vor.
Weiterhin wurde das Thema auch von der Band Subway to Sally in ihrem Lied „Narben“ aufgenommen, ebenso von der
Band Goethes Erben im Lied „Rote Tränen“ und auch die Band Papa Roach thematisiert in ihrem Lied „Last Resort“
autoaggressives Verhalten. In seinem Lied „Stan“ rappt Eminem: „Sometimes I cut myself to see how much it bleeds“.
Auch wird selbstverletzendes Verhalten in „Scherenschnitt“ von Samsas Traum, „Du willst es doch auch“ von Oomph! und
„Alive“ von Claas P. Jambor beschrieben, auch in „Part of me“ von Linkin Park, und in dem Lied „Rasierklingenliebe“ des
Rappers Casper wird das Thema dargestellt. Die Band Böhse Onkelz thematisiert es unter anderem in Ihrem Lied
„Narben“, sowie die Band Eisbrecher, die dieses Thema in dem Lied „Leider“ anspricht. Mit dem Lied „Blutrot“ thematisiert
die Band L’Âme Immortelle das Thema künstlerisch.
Auch in Filmen wird selbstverletzendes Verhalten thematisiert beziehungsweise kommt autoaggressives oder
selbstverletzendes Verhalten vor: Zum Beispiel in „Dreizehn“, „Secretary“ und „Two days with Juliet“ verletzen sich die
Hauptcharaktere selbst. In „Durchgeknallt“ und „28 Tage“ wird dieses Verhalten an einem Nebencharakter gezeigt. Die
Fernsehserie „Lindenstraße“ zeigt anhand der Rolle der Nastya ein Beispiel des sogenannten Ritzens bei subjektiv
empfundener emotionalier Isolierung kombiniert mit äußerem Stress.
Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Selbstverletzendes Verhalten aus der freien Enzyklopädie Wikipedia
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