Vincent van Gogh und der Expressionismus

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Vincent van Gogh und der Expressionismus
Jill Lloyd
Van Gogh war uns allen ein Vater!
Mit diesem Satz über van Gogh spricht der
deutsche Expressionist Max Pechstein für eine ganze Künstlergeneration.1 Nicht nur in
Deutschland und Österreich, in vielen Ländern Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts
sind Künstler, die sich vorgenommen haben, die Kunst ihrer Zeit neu zu erfinden, von van
Goghs eindringlichen Bildern fasziniert. Nach dem Tod des Malers 1890 dauert es rund
zehn Jahre, bis seine Bilder aus der Versenkung auftauchen. Bildende Künstler und Literaten der Expressionistengeneration reagieren in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts
unmittelbar auf die leuchtenden Farben und die lebhafte Strichführung in seinem Werk.
Die emotionale Intensität seiner Malerei und seine Bereitschaft, sich von einer sklavischen
Naturnachahmung zu lösen, weist ihnen den Weg, wie sie die Realismusfesseln des
19. Jahrhunderts abschütteln können. »Was lag in der Luft?«, fragt der expressionistische
Dichter Ernst Blass. »In der Luft lagen vor allem Van Gogh, Nietzsche, auch Freud und
Wedekind […]. Van Gogh: Das war der Ausdruck und das Erlebnis, dem Impressionismus
und Naturalismus entgegengesetzt als flammende Konzentration, als Jünglingsechtheit,
Unmittelbarkeit, Subjektstiefe, als Exhibition und Halluzination. Das Wort ›Expressionismus‹ wurde von anderen gebacken; aber in unsren Kreisen segelte man schon lange
auf expressionistischen Wellen. Van Gogh: Das war (für uns) der Mut zum eigenen
Ausdruck.«2
Mit seinen Bildern trifft van Gogh den Nerv deutscher und österreichischer Maler. In
diesen Ländern kommt der Expressionismus zur höchsten Entfaltung; ursprünglich wird
der Begriff um 1910 von deutschen Kunstkritikern eingeführt, um anti-impressionistische
Strömungen in der deutschen und französischen Kunst zu beschreiben. Künstler, die sich
von der Darstellung ihrer Naturempfindungen abwenden, um stattdessen ihr innerstes
Seelenleben auszuschütten, wählen ausgerechnet van Gogh zu ihrem Wegbereiter, der
mit bewusst übersteigerten Linien und Konturen zwar seine leidenschaftliche Reaktion
auf die Welt zum Ausdruck gebracht, dabei aber immer nach der Natur gemalt und
sich als realistischer Maler verstanden hat. Eine Interpretation seines Werks, wie die Expressionisten sie vornehmen, hatte van Gogh nie beabsichtigt – etwa als Lizenz, sich von
der Natur zu entfernen und das Ausdruckspotenzial reiner Farbe und Form zu untersuchen.
In Frankreich reagieren die Fauves Henri Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck
auf die revolutionären Aspekte von van Goghs Malstil. In Deutschland und Österreich,
wo sich der Expressionismus wie ein Buschfeuer in Kunst, Literatur und Theater (später
auch in Architektur und Film) ausbreitet, geht die Unzufriedenheit mit einer Kunst, die
lediglich die äußere Erscheinung nachahmt, tiefer. Der deutsche Expressionismus mit
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