Lehren von Geometrie im Spannungsfeld von

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Lehren von Geometrie im Spannungsfeld von Anschaulichkeit und
Deduktivität
Inhaltsverzeichnis
1 Aspekte von Geometrie
2
1.1
Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.2
Gewinnung geometrischer Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.3
Praxis- und Theorieaspekt von Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2 Genetisches Lernen und anschauliches Vorgehen vs. axiomatischer Aufbau
3
3 Zur Geschichte der Geometrie
4
3.1
Ägypten, Mesopotamien Babylonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
3.1.1
Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
3.2
Mesopotamien, Babylonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
3.3
Griechenland, Entwicklung der Deduktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
3.3.1
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
3.3.2
Ionische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
3.3.3
Athenische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
3.3.4
Hellenistische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
3.3.5
Ausgang der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Zur Weiterentwicklung der Geometrie nach der griechischen Antike bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
3.4.1
Indische und arabische Geometrie nach 500 . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
3.4.2
Europäisches Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
3.4.3
Renaissance
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
3.4.4
Wissenschaftliche Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
3.4.5
18. Jahrhundert
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
3.4.6
19. Jahrhundert
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
3.4
4 Axiomensysteme für die Euklidische Geometrie der Ebene
4.1
Die Grundlagen von Euklid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
14
14
ETH Zürich, HS 2016
4.2
Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
Moderne Axiomensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
4.2.1
Beispiel 1: Das Hilbertsche Axiomensystem . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
4.2.2
Beispiel 2: Axiomensystem nach Kolmogorov . . . . . . . . . . . . . . . .
17
4.2.3
Beweis des Scheitelwinkelsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
5 Lernziele im Geometrieunterricht
19
5.1
Kanon Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
5.2
Allgemeine Lernziele im Geometrieunterricht nach M. Niss . . . . . . . . . . . . .
19
1
Aspekte von Geometrie
1.1
Phänomene
Hans Freudenthal (1905 - 1990) fordert 1963, dass nicht irgendwelche Axiome und Lehrsätze
sondern Phänomene Ausgangspunkt des Geometrieunterrichts bilden sollten ([4], S. 380).
• Wie entsteht ein Schatten?
• Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts?
• Wie weit weg ist die Sonne?
• Warum kann ein Halbmesser sechsmal längs des Kreisumfangs abgetragen werden? Ist es
überhaupt genau sechsmal?
• Wie misst man grosse Abstände auf der Erde, den Erddurchmesser, Abstände von Himmelskörpern?
• Warum kann ein Tisch mit vier Beinen wackeln und wie unterscheidet er sich in dieser
Hinsicht von einem mit drei Beinen?
• Warum lässt sich eine Ebene mit kongruenten Dreiecken pflastern, und warum geht es mit
kongruenten Fünfecken im Allgemeinen nicht?
• Warum ist die Gerade die kürzeste Verbindung zweier Punkte?
• Warum zeigt ein Papierbandknoten ein regelmässiges Fünfeck? Ist es tatsächlich ein regelmässiges Fünfeck?
1.2
Gewinnung geometrischer Erkenntnisse
Geometrische Erkenntnisse lassen sich gewinnen durch
1. visuellen Eindruck
2. Messen
3. deduktive Theorie
2
ETH Zürich, HS 2016
1.3
Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
Praxis- und Theorieaspekt von Geometrie
Von Erich Wittmann ([12]) stammt die folgende Charakterisierung von Geometrie.
Praxisaspekt Einerseits liefert und entwickelt die Geometrie begriffliche Werkzeuge zur Konstruktion geometrischer Modelle räumlicher Situationen und zur Lösung praktischer Probleme.
Theorieaspekt Andererseits entwickelt die Geometrie Theorien möglicher Modelle, in denen begriffliche Zusammenhänge ( Sätze“) und Verfahren ( Konstruktionen“) erforscht und be”
”
gründet werden.
2
Genetisches Lernen und anschauliches Vorgehen vs. axiomatischer Aufbau
Nach Euklids Elementen“ wurde mehr als 2000 Jahre Geometrie gelehrt. Hinter diesem Phänomen
”
steht die Annahme, dass die Lehr-Lern- Organisation“ sich an der Sachlogik orientiere. Eine
”
Ausnahme bildet das Lehrbuch Elémens de Géométrie von A.-C. Clairaut (1713 - 1765). Es bricht
erstmals mit der euklidischen Tradition. Die Lernenden werden nicht mit fertigen Lehrsätzen
konfrontiert, sondern das Ziel ist, Anregungen zum Erfinden und Entdecken zu geben. Aus A.C. Clairaut Elémens de Géométrie (1741) in der deutschen Übersetzung Anfangsgründe der
Geometrie von F.I.Bierling:
Vorbericht des Verfassers
Obgleich die Geometrie an sich selbst abstract ist, so muss man dennoch gestehen, dass die
Schwierigkeiten, so die Anfänger in dieser Wissenschaft finden, mehrentheils von der Lehrart herrühren, nach welcher sie in den gewöhnlichen Anfangsgründen vorgetragen wird. Man
macht allezeit den Anfang mit vielen Erklärungen, Heischesätzen, Grundsätzen, und vorläufigen
Gründen, welche dem Leser nichts als Trockenes zu versprechen scheinen. Und weil die darauffolgenden Sätze den Verstand nicht auf annehmlichere Objekte lenken, auch überdies schwer zu
begreifen sind, so erfolget daraus insgemein dass die Anfänger Muth und Lust verlieren, bevor
sie noch einen deutlichen Begriff von dem was man sie lehren wollte, erlanget haben, . . .
Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 - 1860), der Clairauts Werk nicht kennt, vermisst
bei den Beweisen der Geometrie die Anschaulichkeit und vermag dies besonders prägnant zu
ausdrücken: Oft werden, wie im pythagoräischen Lehrsatz, Linien gezogen, ohne dass man weiss,
warum. Hinterher zeigt es sich, dass es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehen und
den assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muss, was ihm
seinem innern Zusammenhange nach völlig unbegreiflich bleibt etc. (in Die Welt als Wille und
Vorstellung) Und in Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde: . . . Daher
kommt es, dass man nach so einer geometrischen Demonstration zwar die Überzeugung hat, dass
der demonstrierte Satz wahr sei, aber keineswegs einsieht, warum das, was er behauptet so ist,
wie es ist.
Die Axiomatisierung der Euklidischen Geometrie durch Moritz Pasch (1843 - 1930) schliesst
Lücken bei Euklid und bereitet die Arbeit von Hilbert vor. Es muss in der That, wenn anders
die Geometrie wirklich deductiv sein soll, der Prozess des Folgerns überall unabhängig sein vom
Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur die in den
benutzten Sätzen, beziehungsweise Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Begriffen dürfen in Betracht kommen. (M. Pasch: Vorlesungen über neuere Geometrie,
1882) . . . wonach wir in der Geometrie nichts weiter erblicken als einen Teil der Naturwissen-
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Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
schaft. (ebenfalls in M.Pasch: Vorlesungen über neuere Geometrie)
Axiomatisierung der Euklidischen Geometrie durch David Hilbert (Grundlagen der Geometrie,
1899)
In vielen Bereichen der Mathematik im 20.Jahrhundert treten strukturtheoretische Aspekte in
den Vordergrund. David Hilbert in Axiomatisches Denken(1918): Die Untersuchungsmethode
Euklids wurde vorbildlich für die axiomatische Forschung, und seit Euklid ist zugleich die Geometrie das Musterbeispiel für eine axiomatisierte Wissenschaft überhaupt.
Gegenbewegung: Natürliche Geometrie“ (H.Dingler, J.Hjelmslev)
”
Elementarisierung moderner axiomatischer Fassungen der Geometrie (Dieudonné/Choquet, Spiegelungsgeometrie von F.Bachmann)
Der Sputnikschock (Russland startete 1957 den ersten Satelliten Sputnik) trägt weiter dazu bei,
dass die strukturtheoretische Ausrichtung in die Schule getragen wird: New Math“
”
Kritik, Neuorientierung Von Hans Freudenthal kommt 1963 vehemente Kritik. Ausgangspunkt
im Geometrieunterricht sollten Phänomene sein. Er postuliert Stufen des Lernprozesses ([3].
Martin Wagenschein (1896 - 1988) propagiert sogenanntes Genetisches Lernen. Berühmt ist sein
Musterbeispiel im Artikel [10], in welchem er fragt: Finden Sie das eigentlich nicht merkwürdig,
”
dass der Radius eines Kreises sich innen an der Peripherie gerade sechsmal herumspannen lässt?
Oder stimmt es gar nicht genau?“. Und er hält fest: Dass Seltsames aus Selbstverständlichem
ohne Rest verstanden werden kann. . . , diese griechische Einsicht ist eine Entdeckung. Sie sollte
auch in Schulen, bevor sie euklidisch benutzt wird, als sokratisch geführte Wieder-Entdeckung
auftreten.
Erich Wittmann (*1939), Heinrich Winter (*1928) und andere führen die Arbeit von Freudenthal
und Wagenschein weiter. Anstelle von axiomatischem Vorgehen in der Schule wird sogenanntes
Lokales Ordnen empfohlen.
Es etablieren sich sogenannte Didaktische Prinzipien: Formulierungen von Grundsätzen und
Empfehlungen für didaktisches Handeln, die aus Lerntheorien oder aus praktischen Erfahrungen
(best practice) abgeleitet sind, siehe [1].
3
Zur Geschichte der Geometrie
Aus Wissen um die Entstehung und Entwicklung der Geometrie ergeben sich wertvolle Hinweise
und Ideen für den Unterricht, insbesondere auch für den Umgang mit der Deduktivität.
3.1
3.1.1
Ägypten, Mesopotamien Babylonien
Ägypten
3000 - 2700: Reichsbildung, Erfindung der Hieroglyphen
2700 - 2170: Altes Reich, Bau der Pyramiden
2170 - 2040: Erste Zwischenzeit
2040 - 1793: Mittleres Reich
Aus dieser Zeit sind einige mathematische Texte, sogenannte Papyri, erhalten geblieben, die uns
eine Art Momentaufnahme“ der ägyptischen Mathematik liefern. Über die Vorgeschichte ist
”
nichts, über die Nachfolgegeschichte wenig bekannt. ([13], S. 113). Die wichtigsten Papyri sind
4
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Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
Papyrus Moskau und Papyrus Rhind: Berechnung des Inhalts von Dreiecken und rechtwinklig
begrenzten Flächenstücken, Kreisfläche, Volumina, insbesondere Formel für Pyramidenstumpf,
π ≈ 56
81 ≈ 3.16. Die sogenannten Schreiber sind ausführende Organe der Verwaltung. ”Die
mathematischen Texte kann man als eine Art Nachschlagewerk oder Handwerkszeug der Schreiber verstehen: Probleme der Feldvermessung (Nilüberschwemmungen), Berechnung von Steuern
und Abgaben, Berechnung der Verpflegung für die Heere, Berechnung der Grösse von Vorratsbehältern, Projektierung von Bauwerken - dazu sollte ein erfahrener Schreiber imstande sein.“
([13], S. 114). Die altägyptische Kultur war hoch entwickelt. Die Mathematik hat in den Händen
”
der Schreiber eine Höhe erreicht, die den praktischen Problemen gerecht werden konnte und in
Einzelfällen zu weiteren Fragestellungen führte.“([13], S. 121) Es handelt sich im Allgemeinen
um Rechenanweisungen ohne Begründungen.
1794 - 664: Zweite Zwischenzeit, Neues Reich, Dritte Zwischenzeit
664 - 332: Spätzeit, weitere Papyri, insbesondere Papyrus Kairo von ca. 300, das 40 mathematische Probleme enthält, von denen sich neun mit dem Satz von Pythagoras beschäftigen.
3.2
Mesopotamien, Babylonien
(Zweistromland, Gebiet des heutigen Irak)
3000 - 2700: Sumerische Stadtstaaten, Entstehung der Keilschrift auf Tontafeln
1900 - 1600 Altbabylonisches Reich, Hochblüte der Algebra und der Geometrie. 1936 wurde in
Susa ein altbabylonischer Keilschrifttext gefunden, der die Kenntnis des Satzes von Pythagoras
beweist. Tontafeln mit pythagoreischen Zahlentripeln.
883 - 612 Neuassyrisches Reich. Ein gut erhaltener Keilschrifttext aus dem 7. Jahrhundert enthält
viele praktische Probleme im Zusammenhang mit dem Bauwesen (Berechnung von Dämmen,
Frage nach der Neigung oder Zahl der benötigten Arbeiter, Berechnung von Tempelfundamenten, Kanälen, Flächen von Feldern. . . ), Sehnenrechnungen, π ≈ 3 oder auch π ≈ 3 81 , Rauminhalt von Zylindern und Prismen, (falsche) Berechnung für Volumina von Kegel- und Pyramidenstümpfen. In diesem Text wird auch die Tatsache benutzt, dass der Peripheriewinkel über
einem Durchmesser ein rechter Winkel ist. Der Thaleskreissatz war also schon lange vor Thales
bekannt!
3.3
Griechenland, Entwicklung der Deduktivität
Vorbemerkung Während die griechische Mathematik, wie sie uns mit Euklids Elementen entgegentritt, ein kunstvolles zusammengestelltes Geflecht von Kenntnissen darstellt, enthalten die
altorientalischen Texte nur“ interessante Anweisungen, Rezepte für das Vorgehen und Beispie”
le, wie man eine mathematische Aufgabe zu lösen habe. Nirgends hat sich ein Zeichen dafür
”
gefunden, dass die Babylonier oder gar die Ägypter jemals den Versuch gemacht hätten, alle
mathematischen Sätze streng logisch von ersten Prinzipien abzuleiten.“ ([5]). Von daher gesehen
muss es eigentlich überraschen, dass es in der griechischen Mathematik Euklids Definitionen gibt
und dass Sätze immer bewiesen werden. Wie kam es dazu? Warum kam man auf den Gedanken,
dass alles bewiesen werden muss und wie kam es zur hoch entwickelten Beweistechnik, wie sie
bei Euklid zu finden ist?
Die Entwicklung umfasst den Zeitraum vom 7./6. Jahrhundert v. Christus bis zum 5. Jahrhundert n. Christus, einen Zeitraum also von mehr als einem Jahrtausend. Es lassen sich vier
Perioden unterscheiden, die bei Wussing ([13] Ionische Periode, Athenische Periode, Hellenistische Periode und Ausgang der Antike genannt werden.
5
ETH Zürich, HS 2016
3.3.1
Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
Quellen
Es sind keine Originalschriften von griechischen Mathematikern und von griechischen Schriftstellern erhalten. Vollständige Abschriften der Werke gibt es in der Philosophie erst von Platon
an, in der Mathematik erst von Euklid an. ([6], S. 71) Die ersten handschriftlichen Abschriften
von Platon und Euklid datieren aus dem 9. Jahrhundert nach Christus.
Ausser den Abschriften der mathematischen Texte sind auch Texte von antiken Philosophen,
Historikern, Schriftstellern und Dichtern für unsere Kenntnisse der griechischen Mathematik von
grosser Bedeutung. Historische Angaben finden sich auch in Kommentaren zu mathematischen
Schriften. Besonders wichtig sind der Kommentar von Proklos (450 n. Chr.) zu den Elementen
von Euklid und die Kommentare Eutokios’ zu Archimedes und Apollonios (ca. 500 n. Chr.).
Quellen zur Geometrie von Thales (6.Jh.) sind unter anderen: Platon und Aristoteles (5./4.Jh.),
Eudemos v. Rhodos (um 320, Geschichte der Astronomie), Euklid (um 300), Proklos (Kommentar zu Euklid, ca. 450 n. Chr.), Pamphile (Schriftstellerin zur Zeit Neros)
3.3.2
Ionische Periode
(Ende 7. Jh. - Mitte 5. Jh.)
Ionische Naturphilosophie: Im Zentrum steht die über eine Beschreibung hinausgehende Suche
nach natürlichen, nicht göttlichen oder mystischen, Ursachen von Phänomenen, die Suche nach
Urprinzipien.
In Milet (an der Westküste Kleinasiens in der heutigen Türkei gelegen) wirken unter anderen
Thales (ca. 624 - 546) und Anaximandros (ca. 611 - 545). Erstmals tritt der Begriff des
Winkels explizit auf. Fünf Sätze im Zusammenhang mit Winkeln werden Thales zugeschrieben:
• Scheitelwinkel sind gleich. (Proklos: von Thales zuerst entdeckt, des wissenschaftlichen
Beweises aber erst von Euklid für wert erachtet.)
• Der Durchmesser halbiert den Kreis.
• Im gleichschenkligen Dreieck sind die Basiswinkel gleich.
• Kongruenzsatz: Wenn zwei Dreiecke in 2 Winkeln und einer Seite übereinstimmen, dann
sind auch die übrigen Seiten und der übrige Winkel gleich.
• Der Peripheriewinkel im Halbkreis ist immer ein rechter.
Es heisst, Thales habe das Jahr der Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 vorhergesagt, er habe
erkannt, dass die zwei Hälften des Jahres ungleich lang sind und habe zwei Werke über die Sonnenwende und Tag- und Nachtgleiche verfasst. Für das Messen der Höhe einer Pyramide habe
er einen in der Ebene senkrecht aufgestellten Stab benutzt (ähnliche Dreiecke). Einen senkrecht
aufgestellten Stab, den Gnomon ( Schattenanzeiger“), benützen Thales und Anaximandros auch
”
für astronomische Beobachtungen - unter anderem zur Bestimmung der Tag - und Nachtgleichen, wobei der Winkelbegriff eine wichtige Rolle spielt. Thales’ Winkelsätze stehen offenbar
in direktem Zusammenhang mit den astronomischen Forschungen, sind also nicht als Reine
”
Mathematik“ entstanden. Damit beginnt eine Entwicklung der Astronomie, die die Himmelserscheinungen nicht nur beobachtet, sondern geometrische Modelle entwickelt. Die Trigonometrie
(Sehnentafeln) wird durch die Lehre von Sehnen und Bogen“ vorbereitet.
”
Vermutlich findet sich zu dieser Zeit ein erstes Zeigen“, Veranschaulichen“, Sichtbarmachen“
”
”
”
von Sätzen([9]). Die Frage, warum eine Vorschrift richtig ist, wurde in den bisher bekannten
”
6
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Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
Texten nicht gestellt. Das hat wohl Thales zum ersten Mal getan, wenn er, wie Eudemos sagt, die
Messung der Entfernung von Schiffen auf See durch einen Kongruenzsatz gerechtfertigt sah.“ ([6],
S.112) Die Fachdidaktik der Geometrie knüpft mit dem Begriff Anschauung an diese Anfangszeit
der griechischen Geometrie an [11].
Der Geheimorden der Pythagoreer wird vermutlich von Pythagoras um ca. 525 in Kroton
(Süditalien) gegründet und ist ein philosophisch-religiöser Bund mit der Grundidee, dass das
Wesen der Welt in der Harmonie der Zahlen besteht und die Vereinigung mit dem Göttlichen
über die Versenkung in die Gesetze der Zahlen erreicht wird.
Pythagoras soll einen Beweis für den nach ihm benannten Satz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck gefunden haben. Dem Pythagoreer Hippasos von Metapont schreibt man die
Konstruktion des einer Kugel einbeschriebenen Dodekaeders und die Entdeckung der Inkommensurabilität zu. Eine nicht genau bekannte Rolle spielen die Pythagoreer bei der Entwicklung
der Lehre von den drei Mitteln (arithmetisches, geometrisches und harmonisches Mittel). Ferner
sollen sie unter anderem den Satz über die Winkelsumme im Dreieck bewiesen haben. Wahrscheinlich stammen große Teile von Euklids Elementen - sowohl der arithmetischen als auch der
geometrischen Bücher - aus verloren gegangener pythagoreischer Literatur.
In der Zeit der Pythagoreer wird erkannt, dass die grundlegenden geometrischen Figuren sich
aus Gerade und Kreis zusammengesetzt denken lassen und es entsteht allmählich eine geord”
nete Theorie der geometrischen Konstruktionen“ ([6], S. 91), sowie die Auffassung, dass die
”
Geometrie nicht auf willkürlich zusammengesetzten Aussagen aufgebaut werden soll, sondern
dass ihre Grundlagen systematisch bestimmt werden sollen“ ([6], S. 88)
Wichtig für die Entwicklung der deduktiven Methode in der Geometrie ist auch die Auseinandersetzung vorsokratischer Philosophen, der Eleaten und später der Sophisten, mit der Rhetorik
und der Logik. Berühmt wurden insbesondere die Paradoxa des Zenon.
Hippokrates von Chios (um 440) wirkt in Athen als Weisheitslehrer“ und gilt als berühmtester
”
Geometer des 5. Jahrhunderts. Er kennt u.a. den Zusammenhang zwischen Peripheriewinkel und
Bogen, Verallgemeinerungen des Satzes von Pythagoras auf stumpf- und spitzwinklige Dreiecke,
Ähnlichkeit, er kann das regelmässige Sechseck, den Umkreis des Dreiecks u.a.m. konstruieren
und jedes Polygon in eine flächengleiches Quadrat verwandeln. Er führt das Delische Problem,
die Würfelverdopplung ( - es ging wegen eines Orakelspruchs um die Volumenverdoppolung
eines würfelförmigen Altars unter Beibehaltung seiner Form - ), also die konstruktive Lösung
der Gleichung x3 = 2a3 auf das Problem zurück, zwei mittlere Proportionale x und y mit
a : x = x : y = y : 2a zu finden. Berühmt und sehr populär ist in damaliger Zeit seine Entdeckung der Quadrierbarkeit gewisser krummlinig begrenzter Flächen, die er im Zusammenhang
mit Untersuchungen zur Quadratur des Kreises macht, die sog. Möndchen“.
”
Hippokrates schreibt eine Zusammenfassung des damaligen Wissens, die Elemente der Geometrie.
Demokrit (460 - 370): Von seinem Hauptwerk Grosse Weltordnung ist uns das Fragment über
Atomistik bekannt. In seiner Atomlehre postuliert Demokrit unteilbar kleinste Teilchen (diese
Hypothese wurde später von Platon und Aristoteles abgelehnt). Mathematische Abhandlungen:
Über die Berührung von Kreis und Kugel“, Über Geometrie, Über Zahlen“, Über irrationale
”
”
”
Strecken“, Über Ausbreitungen“. Demokrit gibt schon die Volumina von Pyramide und Kegel
”
richtig an. Seine atomistische Denkweise zeigt sich auch in der Mathematik, wie folgende in
einem Fragment überlieferte Überlegung zeigt:
Wenn ein Kegel parallel zur Grundseite von Ebenen geschnitten wird, wie soll man sich die
”
entstehenden Schnittflächen denken, gleich oder ungleich? Sind sie ungleich, dann werden sie
den Kegel unregelmässig machen, da er viele stufenartige Einschnitte und Vorsprünge enthält;
sind sie dagegen gleich, so werden (alle) Schnitte gleich sein, und der Kegel wird die Erscheinung
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Fachdidaktik I
Kristine Barro-Bergflödt
eines Zylinders darbieten.“ ([13], S. 170)
3.3.3
Athenische Periode
(Mitte 5.Jh. - 336)
Platon (427 - 348/7), Schüler von Sokrates, lernt die Mathematik bei dem den Pythagoreern
nahe stehenden Archytas von Tarent kennen. Sie spielt in seiner Philosophie eine überaus wichtige Rolle. Umgekehrt prägt seine Erkenntnistheorie die weitere Entwicklung der Mathematik
und insbesondere der Geometrie entscheidend. Am Eingang der von ihm gegründeten Akademie
in Athen lässt Platon die Inschrift anbringen: Kein der Geometrie Unkundiger trete ein.“
”
Ideenlehre: Gemäss Platon ist die physische Welt ein Abbild, eine unvollkommene Welt des
Wandels. Platons Ideenlehre zufolge sind es Ideen (und nicht die materielle Welt, die wir durch
unsere Sinne wahrnehmen), die die höchste, die grundlegendste Art der Realität darstellen.
Geometrische Figuren sind für ihn paradigmatische Beispiele dieser Auffassung:
Im Liniengleichnis in Der Staat schreibt Platon über die, . . . die sich mit Geometrie und Arith”
metik und dergleichen abgeben. . .“. . . . dass sie sich der sichtbaren Dinge bedienen und ihretwe”
gen Untersuchungen anstellen, während sie doch nicht über diese nachdenken, sondern über das,
dem diese gleichen. Nur dem Viereck selbst und seiner Diagonale selbst gilt ihre Untersuchung,
nicht denen, die sie aufzeichnen, und so in allem sonst. Selbst das, was sie bilden und zeichnen,
wovon es auch Schatten und Bilder im Wasser gibt, auch das gebrauchen sie weiter nur als Bild
und suchen dadurch zur Schau dessen zu gelangen, was man nur mit dem Verstand schauen
kann.“
Wie die ionischen Naturphilosophen denkt sich Platon die Materie aus wenigen Grundelementen
aufgebaut. Auch in der Geometrie lassen sich alle Figuren aus den Elementen Gerade und
Kreis zusammengesetzt auffassen. Platon vertritt diesen Standpunkt dezidiert und fordert, dass
geometrische Konstruktionen nur mit Zirkel und Lineal ausgeführt werden sollen. Er postuliert
auch, dass die Planetenbahnen ausschliesslich durch Kreise beschrieben werden können.
Platon betont die Wichtigkeit von Definitionen, Begriffsbestimmungen für die Erkenntnis und
bemüht sich um Regeln zur Aufstellung von Definitionen.
Praktisch orientierte Mathematik achtet Platon gering. Berühmt ist seine Aussage: Die Be”
deutung der Geometrie beruht nicht auf ihrem praktischen Nutzen, sondern darauf, dass sie
ewige und unwandelbare Gegenstände untersucht und danach strebt, die Seele zur Wahrheit zu
erheben.“
Auf Eudoxos (408? - 355?) geht die Lehre von Verhältnissen zurück. Er definiert nicht, was ein
Verhältnis zweier Zahlen ist, sondern wann zwei Verhältnisse gleich sind und kommt dabei einer
Definition von irrationalen Zahlen im Sinne von Dedekindschen Schnitten nahe.
Aristoteles (384 - 322) tritt in die platonische Akademie ein und gehört ihr bis zum Tode
Platons an. Er analysiert die Grundlagen (Prinzipien) einer beweisenden Wissenschaft und unterscheidet Definitionen, Postulate und Axiome.
3.3.4
Hellenistische Periode
(336 v. Chr. - 150 n. Chr.)
336 übernimmt Alexander der Grosse, dessen Erzieher Aristoteles war, die Macht und bringt ein
riesiges Territorium unter seinen Einflussbereich. Er gründete zahlreiche Städte unter anderen
332/331 Alexandria, westlich vom Nildelta gelegen.
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Alexandria wird mit seinem Museion - dem ersten staatlich gegründeten Forschungs- und Lehrzentrum - das wissenschaftliche und kulturelle Zentrum der hellenistischen Welt. (Alexandria
soll zu Beginn unserer Zeitrechnung etwa eine Million Einwohner gehabt haben.)
Euklid (ca. 340 - 270) ist Platoniker, lebt vermutlich zunächst in Athen, wird an das Museion
in Alexandria berufen und begründet dort eine einzigartige mathematische Schule“ (Gericke,
”
S. 234). Er fasst in den 13 Büchern der Elemente fast die gesamte bekannte Mathematik zusammen. Wer auch immer die Elemente niedergeschrieben hat, es ist ein Meisterwerk didaktischer
”
Art und beruht auf Arbeiten von Vorgängern. Auch ist die geistige Verwandtschaft mit Platon
unverkennbar, da kaum auf Anwendungen Bezug genommen wird. Die strenge logische Gliederung und die Gründung des Werks auf Axiome und Postulate dürfte von Aristoteles und seinen
Abhandlungen zur Logik beeinflusst worden sein.“ ([13], S. 191)
(An dieser Stelle sei auch nochmals M. Wagenschein zitiert: Aber der Schüler ist nun reif für
”
die Mitteilung der griechischen Entdeckung, dass und wie Axiomatik in der Geometrie möglich
ist. Das heisst, dass ihre Wahrheiten nicht vereinzelt dastehen, sondern alle aus denselben einfachen Selbstverständlichkeiten ableitbar sind und damit vollständig durchsichtig gemacht werden
können.“ [10])
Aristarch (ca. 310? - ca. 230?) von Samos, Astronom und Mathematiker, hat, wie wir von
Archimedes wissen, ein heliozentrisches Weltbild vertreten. Er hat die Grösse des Mondes sowie
das Verhältnis der Abstände Erde - Sonne und Erde - Mond berechnet. Er soll auch der Erfinder
der Skaphe (Sonnenuhr in Halbkugelschale) sein.
Archimedes (287 - 212) von Syrakus, Mathematiker, Ingenieur, Begründer der mathematischen
Physik, erhält seine Ausbildung in Alexandria und führt die Mathematik zu einem Höhepunkt.
Bestimmung von Umfang und Fläche des Kreises, Oberfläche und Volumen Zylinder, Kegel und
Kugel, Hebelgesetz, Archimedische Körper, Schwerpunkt, Quadratur der Parabel . . . Wie konnte
Archimedes so viele Probleme lösen? In seiner Methodenlehre, die erst 1906 aufgefunden wurde,
beschreibt er in einem Brief an Eratosthenes, wie er vorgeht:
. . . Da ich aber, wie ich schon früher sagte, sehe, dass Du ein tüchtiger Gelehrter bist . . . , so
”
habe ich für gut befunden, dir auseinanderzusetzen und in dieses selbe Buch niederzulegen eine
eigentümliche Methode, wodurch dir die Möglichkeit geboten wird, eine Anleitung herzunehmen,
um einige mathematische Fragen durch die Mechanik zu untersuchen. Und dies ist nach meiner
Überzeugung ebenso nützlich auch um die Lehrsätze selbst zu beweisen; denn manches, was mir
vorher durch die Mechanik klar geworden, wurde nachher bewiesen durch die Geometrie, weil die
Behandlung durch jene Methode noch nicht durch Beweis begründet war; es ist nämlich leichter,
wenn man durch diese Methode vorher eine Vorstellung von den Fragen gewonnen hat, den Beweis herzustellen, als ihn ohne eine vorläufige Herstellung zu erfinden.“ ([11], S. 33)
Durch diesen Lehrsatz, dass eine Kugel viermal so gross ist als der Kegel, dessen Grundfläche
”
der grösste Kreis, die Höhe aber gleich dem Radius der Kugel, ist mir der Gedanke gekommen,
dass die Oberfläche einer Kugel viermal so gross ist, als ihr grösster Kreis, indem ich von der
Vorstellung ausging, dass, wie ein Kreis einem Dreieck gleich ist, dessen Grundlinie die Kreisperipherie, die Höhe aber dem Radius des Kreises gleich, ebenso ist die Kugel einem Kegel gleich,
dessen Grundfläche die Oberfläche der Kugel, die Höhe aber dem Radius der Kugel gleich.“ ([11],
S. 45)
Eratosthenes (ca. 276 - ca. 194) wirkt in Alexandria und ist ausser für sein Verfahren zur
Ermittlung von Primzahlen berühmt wegen seiner Berechnung des Erdumfangs.
Apollonios (ca. 262 - ca. 190), Mathematiker und Astronom, der in Alexandria studiert hat,
gibt eine einheitliche Herleitung der schon im 4. Jh. bekannten Kegelschnitte und muss dabei
ohne Koordinaten und ohne Formelschreibweise auskommen.
Hipparch (ca. 190 - ca. 120), Astronom und Mathematiker, führt äusserst genaue astronomische
9
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Beobachtungen durch, für die er auch Instrumente erfindet. Auf diesen teilt er als erster den
Kreis in 360◦ . Mit seiner Sehnentafel (Schrittweite vermutlich 7 12 ◦ ), legt er den Grundstein zur
Trigonometrie.
Ptolemaios (ca. 100 - 170 n. Chr.) gelingt es, trotz der einengenden Doktrin von ausschliesslicher Verwendung von Kreisbewegungen, ein tragfähiges Modell der Planetenbewegungen auszuarbeiten. Er vertritt, anders als Aristarch ein geozentrisches Weltbild. Sein Hauptwerk, der
Almagest, enthält ausser umfangreichem astronomischen Material auch eine mit Kreissehnen
formulierte recht gut durchgebildete ebene und sphärische Trigonometrie“ ([13], S. 204).
”
Heron (um 60 n. Chr.), Ingenieur in Alexandria, betreibt eine praktische Mathematik. Seine
Schriften bilden ein Gegenstück zu Euklids Elementen und werden ein Standardwerk der praktischen Mathematik. In seinen mathematischen Schriften finden sich auch die Heronsche Formel
zur Berechnung des Flächeninhalts eines Dreiecks aus seinen Seiten oder neue Methoden zur
approximativen Berechnung von Wurzeln ([13], S. 207).
3.3.5
Ausgang der Antike
(150 n. Chr. - 5. Jh.)
Pappos (um 320) von Alexandria, der letzte herausragende Mathematiker der Antike, ist auch
als Geograph und Astronom tätig. In seinem Hauptwerk, der Collectio, referiert Pappos mathematische Werke, die verloren gegangen sind und stellt auch eigene Ergebnisse dar, wie zum
Beispiel den berühmten Satz des Pappos.
Hypatia (ca. 370 - 415) ist die erste bekannte Mathematikerin. Sie schreibt Kommentare zu
Diophant, Apollonios und Ptolemaios, die allerdings verloren gegangen sind. Ihre Ermordung
durch christliche Fanatiker markiert auch das Ende der alexandrinischen mathematischen Schule.
Proklos (ca. 410 - 485) studiert in Alexandria und Athen und übernimmt schliesslich die
Führung der platonischen Akademie, die unter ihm nochmals Bedeutung erlangt. Wichtig sind
die von Proklos überlieferten Kommentare insbesondere zum Buch I von Euklid. Von ihm stammt
auch ein sogenanntes Mathematikerverzeichnis.
3.4
3.4.1
Zur Weiterentwicklung der Geometrie nach der griechischen Antike bis
zum Ende des 19. Jahrhunderts
Indische und arabische Geometrie nach 500
Die indischen mathematischen Schriften sind in Merkversen abgefasst. Ein grosses Interesse an
der Astronomie führt zu einer intensiven Beschäftigung mit der Trigonometrie. Die Sehnengeometrie der Griechen wird durch die Einführung von Sinus und Kosinus umgestaltet. Es werden
Verfahren zur Berechnung von Sinustabellen angegeben und solche Tabellen auch erstellt.
Den arabischen Mathematikern ist die Überlieferung der griechischen Mathematik zu verdanken.
Sie übersetzen griechische Schriften ins Arabische und arbeiten die griechischen Ansätze weiter
aus. Die meisten von ihnen setzen sich intensiv mit Euklid auseinander und stellen insbesondere
Untersuchungen zum Parallelenpostulat an. Die Trigonometrie als Verbindung von Mathematik,
Astronomie, Kalenderwesen und der Lehre von der Sonnenuhr nimmt einen grossen Raum ein.
Ausgangspunkt ist die Übersetzung von indischen Arbeiten durch al-Fazari 733 in Bagdad. Es
werden die Verhältnisse Tangens und Kotangens eingeführt. Die Eigenschaften der trigonometrischen Verhältnisse und die Möglichkeiten von Berechnungen ebener und sphärischer Dreiecke
werden erforscht und die trigonometrischen Tafeln verfeinert. Im 10. Jh. wird der Sinussatz gefunden, im 13. Jh. ist auch der Kosinussatz bekannt. Die Trigonometrie entwickelt sich zu einer
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selbständigen Disziplin.
3.4.2
Europäisches Mittelalter
Die Völkerwanderung, der Zusammenbruch des weströmischen Reiches und Machtkämpfe in
”
Europa behinderten die Entwicklung der Wissenschaften in den Jahrhunderten des frühen ( fin”
steren“) Mittelalters. Das Erbe der klassischen Antike war weitgehend verschüttet, lebte allenfalls fort in den Dom- und Klosterschulen des sich ausbreitenden Christentums.“ (([13], S. 296).
Aus dem 9. Jh. ist immerhin eine Schrift über Vermessungsgeometrie erhalten.
Einen Aufschwung nimmt die Mathematik, als die christliche Welt im 11. Jh. vor allem in Spanien
und in Sizilien mit der arabischen Wissenschaft in Berührung kommt. Bei der Wiedereroberung
Spaniens fallen den Christen grosse arabische Bibliotheken in die Hände, am berühmtesten
diejenige von Toledo, wo in der Folge eine grosse Übersetzungsschule entsteht. Adelard von
Bath (geboren 1070/1080) übersetzt unter anderem als erster den vollständigen Text von Euklid
vom Arabischen ins Lateinische. Die Tradierung geht oft über das Übersetzen hinaus, und es
entstehen selbständige Aufarbeitungen (z. B. Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci (ca. 1170 nach 1240))
3.4.3
Renaissance
(Mitte des 15. Jh. bis Anfang 17. Jh.)
Es ist eine unruhige Zeit grosser gesellschaftlicher Umwälzungen und kultureller Neuorientierung.
Die Antike wird Vorbild der höfischen Gesellschaft und des neu entstehenden Städtebürgertums.
Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 durch J. Gutenberg ermöglicht eine viel raschere und
weitere Verbreitung neuen Gedankenguts. So erscheinen allein im 16. Jh. 110 Euklid-Ausgaben.
Es findet ein eigentlicher Aufbruch der Wissenschaften statt. Die neuen Entwicklungen in
• Schifffahrt und Schiffbau
• Geschützwesen
• Astronomie
• Baukunst
• Bildende Kunst, Perspektive
• Kartographie
• Fassmessung
führen auch zu neuen Anforderungen an die Mathematik und insbesondere an die Geometrie.
Trigonometrie, Astronomie
Aufbauend auf den Kenntnissen der Antike, der Inder und der Araber entwickelt im 15. Jh.
eine Gruppe um Regiomontanus (1436 - 1476) in Wien die Astronomie und die ebene und die
sphärische Trigonometrie weiter.
Um 1514 liegen von Nicolaus Copernicus die Grundideen der heliozentrischen Astronomie in
einem Entwurf vor. 1543 veröffentlicht Nicolaus Copernicus: De revolutionibus, die Arbeit über
das heliozentrische Weltsystem.
11
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Perspektive, geometrische Konstruktionen
Im 15. Jh. Erfindung der Durchschnittsmethode für perspektivische Darstellungen (Brunelleschi,
Alberti)
Leonardo da Vinci (Zeichnungen der regelmässigen Körper, Entwürfe von Maschinen, Geräten
und Gewölben)
Um 1525 erscheinen Arbeiten von Albrecht Dürer (Proportionenlehre, praktische Geometrie,
insbesondere Perspektive, Mehrtafelverfahren, Kurven, Parkettierung, regelmässige Polyeder)
Kartographie
1569 Gerardus Mercator: Erste Weltkarte in Mercatorprojektion“
”
Fassmessung
Vor allem in Süddeutschland bekommt die Fassmessung wegen des Weinhandels grosse Bedeutung. Der Inhalt eines Fasses konnte damals nicht genau bestimmt werden und es werden
verschiedene Näherungsmöglichkeiten gesucht.
Symbolische Algebra
Mit der symbolischen Algebra von François Viète (1540 - 1603) holt die Algebra, die bis jetzt
gegenüber der Geometrie im Hintertreffen war, auf. Sie bildet eine Voraussetzung für die spätere
Herausbildung der Analytischen Geometrie.
3.4.4
Wissenschaftliche Revolution
(ausgehendes 16. Jh. bis Beginn 18. Jh.)
1596 - 1619: Johannes Kepler veröffentlicht seine Arbeiten zur Astronomie und zur Fassregel
1619: René Descartes entdeckt den Descartes-Eulerschen Polyedersatz
1638 erscheinen die Discorsi von Galileo Galilei
Die Kegelschnitte werden für die Naturwissenschaften bedeutsam.
Erste Hälfte 16. Jh.: Anfänge der Analytischen Geometrie. Es erscheint Discours de la méthode“
”
von René Descartes (entscheidend ist die Darstellung eines Produkts als Strecke, und damit die
Lösung vom Paradigma der Übereinstimmung der Dimensionen); Pierre Fermat geht in Arbeiten
zu Kegelschnitten von geometrischen Beziehungen aus, übersetzt sie aber sofort in algebraische
Aussagen.
Girard Desargues (1591 - 1661), französischer Ingenieur und Architekt, verbindet die perspektivischen Methoden der Renaissance mit der Kegelschnittlehre und begründet die projektive
Geometrie, Blaise Pascal führt seine Ideen weiter und veröffentlicht 1640 als 17-Jähriger einen
berühmten Essay, der eine projektive Behandlung der Kegelschnitte enthält. 1657 erscheinen
seine Elemente der Geometrie.
Herausbildung infinitesimaler Methoden (Galilei, Cavalieri, Torricelli, Kepler, Guldin, Huygens,
Fermat, Wallis, Barrow, Newton, Leibniz)
3.4.5
18. Jahrhundert
Erneute Versuche, das Parallelenpostulat zu beweisen, unter anderem von Saccheri, Lambert
und Legendre.
Leonhard Euler (1707 - 1783), führt den Funktionsbegriff in der Algebra ein, verwendet jedoch
keine geometrischen Abbildungen in unserem Sinn, sondern nur Abbildungen, deren Definitions und Wertebereich eine gegebene Figur ist.
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Immanuel Kant (1724 - 1804) hält Vorlesungen u.a. über Mathematik, Physik, Philosophie. In
seiner Kritik der Reinen Vernunft“ spricht er von der Reinen Anschauung a priori von Zeit
”
”
und Raum“.
Carl Friedrich Gauss (1777 - 1855) gelangt Ende des 18. Jh. zur Einsicht, dass auch eine Geometrie denkbar ist, in der das Parallelenpostulat nicht gilt, veröffentlicht seine Arbeiten aber
nicht.
Gaspard Monge (1746 - 1818) , 2. Hälfte des 18. Jh.: Systematischer Aufbau der Darstellenden
Geometrie
3.4.6
19. Jahrhundert
Intensive Beschäftigung mit den Grundlagen der Analysis, den komplexen und reellen Zahlen,
Funktionentheorie
Weiterentwicklung der projektiven Geometrie (Poncelet, Möbius, Steiner, v. Staudt, Klein)
August Möbius (1790 - 1868) definiert 1827 Kollineationen als geometrische Abbildungen, die
die gesamte Ebene als Definitions- und Wertebereich besitzen und nicht nur einzelne Figuren
abbilden.
Die Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie erkennen auch Niklaus Lobatschewski (1793 1856) und Janos Bolay (1802 - 1860) und im Gegensatz zu Gauss veröffentlichen sie ihre Arbeiten.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts werden dann erstmals geometrische Modelle einer Geometrie, in der das Parallelenpostulat nicht gilt, konstruiert. (Eugenio Beltrami: Geometrie auf
der Pseudosphäre, Henri Poincaré, Felix Klein)
Bernhard Riemann setzt sich auf ganz neue Weise mit dem Begriff des Raumes auseinander und
schafft den Begriff der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit.
Riemann beginnt seinen berühmten Habilitationsvortrag Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854) folgendermassen:
Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als die ersten Grundbegriffe
”
für die Constructionen in Raume als etwas Gegebenes voraus. Sie giebt von ihnen nur Nominaldefinitionen, während die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten. Das
Verhältniss dieser Voraussetzungen bleibt dabei in Dunkeln; man sieht weder ein, ob und in wieweit ihre Verbindung nothwendig, noch a priori, ob sie möglich ist.
Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis auf Legendre, um den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen, weder von den Mathematikern, noch von den Philosophen,
welche sich damit beschäftigten, gehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl darin, dass der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehnter Grössen, unter welchem die Raumgrössen enthalten sind,
ganz unbearbeitet blieb. Ich habe mir daher zunächst die Aufgabe gestellt, den Begriff einer
mehrfach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössenbegriffen zu construiren. Es wird daraus
hervorgehen, dass eine mehrfach ausgedehnte Grösse verschiedener Massverhältnisse fähig ist
und der Raum also nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon aber ist eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen
Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der
Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können. Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten Thatsachen
aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes bestimmen lassen - eine Aufgabe,
die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme
einfacher Thatsachen angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Raumes hinreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von Euklid zu Grunde gelegte. Diese
Thatsachen sind wie alle Thatsachen nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit,
13
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sie sind Hypothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der Grenzen der
Beobachtung allerdings sehr gross ist, untersuchen und hienach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen,
als nach der Seite des Unmessbarkleinen urtheilen.“
Erlanger Programm von Felix Klein (1872 Antrittsvorlesung in Erlangen): Klein betrachtet
Gruppen von Abbildungen der Ebene resp. des Raumes auf sich. Die Sätze über Eigenschaften,
die bei einer solchen Gruppe von Abbildungen ungeändert bleiben, bilden die Geometrie, die
dieser Gruppe von Abbildungen zugeordnet ist.
Axiomatisierung der Euklidischen Geometrie durch Moritz Pasch. Es muss in der That, wenn
”
anders die Geometrie wirklich deductiv sein soll, der Prozess des Folgerns überall unabhängig
sein vom Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur
die in den benutzten Sätzen, beziehungsweise Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen
den geometrischen Begriffen dürfen in Betracht kommen.“(M.Pasch: Vorlesungen über neuere
Geometrie, 1882).
Pasch steht aber immer noch auf dem Standpunkt . . . wonach wir in der Geometrie nichts
”
weiter erblicken als einen Teil der Naturwissenschaft.“
Axiomatisierung der Euklidischen Geometrie durch David Hilbert (Grundlagen der Geometrie,
1899)
4
Axiomensysteme für die Euklidische Geometrie der Ebene
4.1
Die Grundlagen von Euklid
Euklid teilte in den Elementen die Grundlagen seiner Geometrie in drei Kategorien ein: Die
Erklärungen der auftretenden Begriffe - Euklid nennt sie Definitionen“- , die Axiome (allgemeine
”
Grundaussagen) und die Postulate (Grundaussagen, die sich speziell auf die Geometrie beziehen).
Im folgenden sind die Definitionen teilweise und die Axiome und Postulate vollständig aufgeführt
(nach [2], S. 54).
Definitionen
1. Was keine Teile hat, ist ein Punkt.
2. Eine Länge ohne Breite ist eine Linie.
3. Die Enden einer Linie sind Punkte.
4. Eine Linie ist gerade, wenn sie gegen die in ihr befindlichen Punkte auf einerlei Art gelegen
ist.
5. Was nur Länge und Breite hat, ist eine Fläche.
Axiome
1. Dinge, die demselben Dinge gleich sind, sind einander gleich.
2. Fügt man zu Gleichem Gleiches hinzu, so sind die Summen gleich.
3. Nimmt man von Gleichem Gleiches hinweg, so sind die Reste gleich.
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4. Was zur Deckung miteinander gebracht werden kann, ist einander gleich.
5. Das Ganze ist grösser als sein Teil.
Postulate
1. Es soll gefordert werden, daß sich von jedem Punkte nach jedem Punkte eine gerade Linie
ziehen lasse.
2. Ferner, dass sich eine begrenzte Gerade stetig in gerader Linie verlängern lasse.
3. Ferner, dass sich mit jedem Mittelpunkt und Halbmesser ein Kreis beschreiben lasse.
4. Ferner, dass alle rechten Winkel einander gleich seien.
5. Endlich, wenn eine Gerade zwei Geraden trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere
Winkel bildet, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte, so sollen die beiden Geraden,
ins Unendliche verlängert, schliesslich auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel
liegen, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte.
4.2
Moderne Axiomensysteme
Es sind im Laufe der Zeit viele Axiomensysteme für die Euklidische Geometrie entwickelt worden.
Bei einem axiomatischen Zugang geht es darum, nur die Sprache der Mengenlehre zu benutzen.
Aufbauend auf undefinierten Grundbegriffen und Axiomen (unbewiesenen Aussagen) lassen sich
weitere Begriffe definieren und weitere Aussagen (Sätze) beweisen.
Im folgenden werden die Axiome zweier Axiomensysteme aufgelistet (nach [2] und [7]).
4.2.1
Beispiel 1: Das Hilbertsche Axiomensystem
Undefinierte Grundbegriffe: Punkt, Gerade, Inzidenz, liegt zwischen, Kongruenz
Inzidenzaxiome
I1 Zu zwei Punkten existiert genau eine Gerade, die mit diesen beiden Punkten inzidiert.
I2 Mit jeder Geraden inzidieren mindestens zwei Punkte.
I3 Es existieren drei Punkte, die nicht mit einer Geraden inzidieren.
Anordnungsaxiome
Es sei Z eine dreistellige Relation auf der Menge der Punkte mit folgenden Eigenschaften:
A1 Wenn (A, B, C) ∈ Z, so sind A, B und C kollinear und es gilt auch (C, B, A) ∈ Z.
Sprechweise: Für ”(A, B, C) ∈ Zßagen wir ”B liegt zwischen A und C”.
A2 Zu je zwei verschiedenen Punkten A und B existiert stets ein Punkt C mit (A, B, C) ∈ Z.
A3 Von drei kollienaren Punkten liegt genau ein Punkt zwischen den beiden anderen.
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A4 (Pasch-Axiom)
Seien A, B und C drei nichtkollineare Punkte und sei g eine Gerade, die durch keinen der
drei Punkte geht. Falls g einen Punkt D enthält, der zwischen A und B liegt, dann enthält
g entweder einen Punkt, der zwischen A und C liegt oder einen Punkt, der zwischen B
und C liegt.
Definition Sind A und B verschiedene Punkte, dann ist die Strecke [AB] die Menge, die aus
den Punkten A und B und allen Punkten zwischen A und B besteht.
In naheliegender Weise lässt sich nun auch auch der Begriff Dreieck definieren.
Mit einigem Aufwand lässt sich zeigen, dass jede Gerade die Ebene in 2 Halbebenen und jeder
Punkt auf einer Gerade diese in zwei Halbgeraden (Strahlen) zerlegt. Damit lässt sich schliesslich
der Begriff des Winkels definieren:
Definition Ein Winkel ist die Vereinigung zweier Halbgeraden, die am selben Punkt beginnen
und nicht auf derselben Geraden liegen. Die Halbgeraden heissen auch Schenkel des Winkels.
( ∠(g, h) bezeichne den Winkel mit den Schenkeln g und h und ∠BAC den Winkel mit den
Schenkeln [AB und [AC.)
Kongruenzaxiome
Für die Beziehung der Kongruenz zweier Strecken oder zweier Winkel - wir schreiben ∼
= - gelten
folgende Eigenschaften:
K1 Für jede Strecke [AB] existiert auf jeder Halbgeraden [P Q genau ein Punkt R mit
[AB] ∼
= [P R] .
K2 Die Streckenkongruenz ist transitiv. Jede Strecke ist zu sich selbst kongruent.
K3 (Addition von Strecken) Es seien A, B, C und D, E, F Punkte, für die (A, B, C) ∈ Z und
(D, E, F ) ∈ Z gilt. Falls die Kongruenzrelationen [AB] ∼
= [DE] und [BC] ∼
= [EF ] erfüllt
∼
sind, gilt auch [AC] = [DF ].
K4 Zu einem Winkel ∠BAC und einer Halbgeraden [DF existiert auf einer gegebenen Seite
der Geraden DF eine eindeutige Halbgerade [DE, so dass ∠BAC ∼
= ∠EDF .
K5 Die Winkelkongruenz ist transitiv. Jeder Winkel ist zu sich selbst kongruent.
K6 (SWS) Wenn für zwei Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 gilt
[AB] ∼
= [A0 B 0 ], [AC] ∼
= [A0 C 0 ], ∠(BAC) ∼
= ∠(B 0 A0 C 0 ),
dann sind die Dreiecke kongruent, das heisst es gilt auch
[BC] ∼
= [B 0 C 0 ], ∠(ACB) ∼
= ∠(A0 C 0 B 0 ), ∠(ABC) ∼
= ∠(A0 B 0 C 0 ).
Es gilt: Die Kongruenz ist eine Äquvalenzrelation auf der Menge der Strecken. Wir schreiben
l([AB]) für die Äquivalenzklasse aller zu [AB] kongruenten Strecken. In naheliegender Weise
lässt sich auf den Äquivalenzklassen kongruenter Strecken eine Ordnungsrelation < einführen.
(Die Strecke AB heisst kleiner als die Strecke CD, geschrieben [AB] < [CD], wenn ein Punkt E
zwischen C und D existiert, so dass [AB] ∼
= [CE]. Es lässt sich zeigen, dass sich diese Definition
auf die Kongruenzklassen von Strecken übertragen lässt.)
Bemerkung zu K6: Hilbert verwendet ein etwas schwächeres Axiom, indem er nicht die Kongruenz der Dreiecke sondern nur die Kongruenz der Winkel bei B und B 0 sowie bei C und C 0
fordert und damit die Kongruenz [BC] ∼
= [B 0 C 0 ] beweist ([8]). Die vorliegende Fassung ist [7]
entnommen.
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Stetigkeitsaxiome
Um die Schreibweise nicht zu kompliziert werden zu lassen, werden im folgenden im Zusammenhang mit Punkten und Strecken die Zeichen ∈ und ⊂ verwendet, die in naheliegender Weise zu
interpretieren sind.
S1 (Archimedes-Axiom)
Es seien [AB] und [CD] beliebige Strecken. Dann existieren eine natürliche Zahl n und
Punkte A1 , A2 , ...An auf der Halbgeraden [AB derart, dass
a) [AA1 ] ∼
= [A2 A1 ] ∼
= ... ∼
= [An−1 An ] ∼
= [CD] und b) B ∈ [AAn ] gilt.
S2 (Cantor-Axiom)
Auf einer beliebigen Geraden g sei eine unendliche Folge von Strecken [Ai Bi ] gegeben mit
[Ai+1 Bi+1 ] ⊂ [Ai Bi ] für alle i ∈ N, und es gebe zu jeder Strecke [CD] eine natürliche Zahl
n mit l([An Bn ]) < l([CD]). Dann existiert auf g ein Punkt P , mit P zwischen Ai und Bi
für alle i ∈ N.
Bemerkung zu S2: Anstelle von S2 kann auch das Dedekind-Axiom verwendet werden: Ist
eine Gerade g eine disjunkte Vereinigung zweier Mengen Σ1 und Σ2 , sodass kein Punkt von Σ1
zwischen zwei Punkten von Σ2 liegt, und umgekehrt, dann gibt es genau einen Punkt P , sodass
für alle Punkte Q ∈ Σ1 , R ∈ Σ2 , die von P verschieden sind, der Punkt P zwischen Q und R
liegt.
Parallelenaxiom
P Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P existiert höchstens eine
Gerade, die zu g parallel ist und durch P geht.
4.2.2
Beispiel 2: Axiomensystem nach Kolmogorov
Quelle: [2]
Undefinierte Grundbegriffe: Punkt, Gerade, Abstand; zusätzlich werden die reellen Zahlen vorausgesetzt.
Inzidenzaxiome
In1 Jede Gerade ist ein Punktmenge.
In2 Zu zwei beliebigen, voneinander verschiedenen Punkten existiert genau eine Gerade, welche
diese beiden Punkte enthält.
In3 Jede Gerade enthält mindestens einen Punkt.
In4 Es existieren (mindestens) drei Punkte, die nicht einer Geraden angehören.
Abstandsaxiome
Ab1 Zu zwei beliebigen Punkten A und B gibt es eine nichtnegative reelle Zahl d mit
d = 0 ⇒ A = B.
Diese Zahl wird als Abstand |AB| der Punkte A und B bezeichnet.
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Ab2 Für zwei beliebige PunkteA und B gilt |AB| = |BA|.
Ab3 Für drei beliebige PunkteA, B und C gilt
|AB| + |BA| ≥ |AC|.
Falls A, B und C auf einer Geraden liegen, so gilt eine der Ungleichungen
|AB| + |BA| = |AC|,
|AB| + |CB| = |AB|,
|BA| + |AC| = |BC|.
Ist umgekehrt eine dieser drei Gleichungen erfüllt, so liegen A, B und C auf einer Geraden.
Anordnungsaxiome
An1 Zu jeder nichtnegativen reellen Zahl a und jedem Punkt O der Ebene existiert auf jedem
Strahl mit Anfangspunkt O genau ein Punkt A mit |OA| = a.
An2 Eine beliebige Gerade g teilt die Menge der ihr nicht angehörenden Punkte der Ebene in
zwei nichtleere disjunkte Mengen derart, dass
(a) die Verbindungsstrecke zweier beliebiger Punkte, die verschiedenen Mengen angehören,
die Gerade g schneidet und
(b) die Verbindungsstrecke zweier beliebiger Punkte, die derselben Menge angehören, die
Gerade g nicht schneidet.
Definition Als Bewegungen werden Abbildungen der Ebene auf sich bezeichnet, die Abstände
beliebiger Punktepaare unverändert lassen.
Bewegungsaxiom
B Wenn der Abstand zweier Punkte A und B positiv und gleich dem Abstand zweier Punkte
C und D ist, dann gibt es genau zwei Bewegungen, die A auf C und B auf D abbilden.
Eine Halbebene bezüglich der Geraden AB wird bei jeder dieser beiden Bewegungen auf
eine andere Halbebene bezüglich CD abgebildet.
Definition Zwei Punktmengen M1 und M2 heißen zueinander kongruent, falls eine Bewegung
existiert, die M1 auf M2 abbildet.
Parallelenaxiom
P Zu jeder Geraden g und zu jedem nicht auf g liegenden Punkt P existiert höchstens eine
Gerade, die zu g parallel ist und durch P geht.
4.2.3
Beweis des Scheitelwinkelsatzes
Zur Illustration des axiomatischen Vorgehens soll hier der Scheitelwinkelsatz auf der Grundlage
der Hilbertschen Axiome bewiesen werden (siehe [7]).
Definition Ist ∠BAC ein Winkel und D ein Punkt auf AB auf der andern Seite von A als B
und E ein Punkt auf AC der andern Seite von A als C, dann heisst der ∠DAE Scheitelwinkel
zum Winkel ∠BAC.
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Definition Ist ∠BAC ein Winkel und D ein Punkt auf AB auf der andern Seite von A als B,
dann heissen die Winkel ∠BAC und ∠CAD supplementär.
Lemma Sind ∠BAC und ∠CAD supplementäre Winkel und sind auch ∠B 0 A0 C 0 und ∠C 0 A0 D0
supplementär und gilt ∠BAC ∼
= ∠B 0 A0 C 0 , dann gilt auch ∠CAD ∼
= ∠C 0 A0 D0 .
Beweis Wegen K1 kann angenommen werden, dass die Strecken AB und A0 B 0 kongruent sind,
ebenso die Strecken AC und A0 C 0 , sowie die Strecken AD und A0 D0 .
Wegen K6 sind die Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 kongruent. Es folgt insbesondere, dass die Strecken
BC und B 0 C 0 kongruent sind, ebenso die Winkel ∠CBA) und ∠C 0 B 0 A0 ).
Mit K3 folgt, dass die Strecken BD und B 0 D0 kongruent sind.
Wiederum mit K6 kann man nun folgern, dass die Dreiecke BCD und B 0 C 0 D0 kongruent sind,
und insbesondere die Strecken CD und C 0 D0 , sowie die Winkel ∠CDA und ∠C 0 D0 A0 .
Mit einer nochmaligen Anwendung von K6 folgt die Kongruenz der Dreiecke CDA und C 0 D0 A0
und insbesondere die Kongruenz von ∠CAD und ∠C 0 A0 D0 .
Satz Scheitelwinkel sind kongruent.
Beweis Die beiden Scheitelwinkel sind je supplementär zum selben Winkel.
5
Lernziele im Geometrieunterricht
5.1
Kanon Mathematik
Die Deutschschweizerische Mathematik-Kommission (DMK) hat in Zusammenarbeit mit Hochschulvertretern einen Katalog erarbeitet, der die Fertigkeiten und das Fachwissen in Mathematik
darstellt, das von Studienanfängern erwartet wird: http://www.math.ch/kanon/
5.2
Allgemeine Lernziele im Geometrieunterricht nach M. Niss
Der dänische Mathematik-Didaktiker Mogens Niss (Universität Roskilde, Dänemark) teilt die
Lernziele in drei Kategorien ein.
Die erste Kategorie betrifft die “Innensicht“ der Geometrie. Es geht hier um die Erlangung
von Wissen, Einsicht und Fertigkeiten direkt auf den geometrischen Gegenstand im betrachteten
Gebiet (zum Beispiel synthetische Euklidische Geometrie, analytische Geometrie, Topologie,
Sphärische Geometrie) bezogen:
• Kenntnis von Notationen, Konzepten, Definitionen, Methoden, Theoremen und die Fähigkeit
zum Umgang mit diesen
• Grundlagen und Aufbau des Gebietes
• Einsicht in die Verbindungen zu anderen Gebieten der Geometrie und der Mathematik
• Wissen über die historische Genese und Entwicklung
• Ev. auch Kenntnis von philosophischen Problemen
In der zweiten Kategorie geht um Ziele, die die Doppelrolle der Geometrie als mathematische
Disziplin (“reine Mathematik“) einerseits und Naturwissenschaft (Verstehen des physikalischen
Raumes) und Design-Wissenschaft (Architektur, Technik, Kunst) andererseits betreffen.
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• Verstehen und Aktivieren dieser Doppelrolle
• Analysieren, Benützen und Erstellen von geometrischen Modellen
Die dritte Kategorie schliesslich umfasst Ziele, die auch allgemeine Ziele von Mathematikunterricht sind. Für die Geometrie besonders relevant sind
• Natur und Rolle von Definitionen, Sätzen und Beweisen; Beziehung zwischen allgemeinen
Aussagen und Spezialfällen; Reichweite von und Beispiele zu Konzepten und Sätzen
• Wissen und Beherrschen von mathematischen Techniken, wie Umgehen mit symbolischen
Darstellungen und Ausdrücken; Regeln der logischen Deduktion, Beweistechniken kennen
• Fähigkeit, Probleme aufzustellen, zu analysieren und zu lösen, Kenntnis von heuristischen
Strategien
• Wertschätzung der Mathematik, Wissen um ihre kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung
Literatur
[1] Barro, K.: Didaktische Prinzipien.
[2] Filler, A.: Euklidische und nichteuklidische Geometrie. Mathematische Texte. Mannheim,
Leipzig, Wien, Zürich: BI-Wissenschaftsverlag, 1993.
[3] Freudenthal, H.: Was ist Axiomatik, und welchen Bildungswert kann sie haben? Der Mathematikunterricht, 4:5–29, 1963.
[4] Freudenthal, H.: Mathematik als pädagogische Aufgabe, Band I. Studienbücher Mathematik.
Klett, 1974.
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