Einleitung: Ziele dieses Buches

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Einleitung: Ziele dieses Buches
Das Buch »Integrierte Palliativmedizin« ist aus der Ringvorlesung »Palliativmedizin: Paradigmenwandel in der Medizin?« entstanden, die im Wintersemester
2011/12 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster für Hörer aller Fakultäten angeboten wurde. Um es vorwegzunehmen: Im Verlauf der Vorlesung
ist es uns gelungen, diese Frage auch in den Diskussionen mit dem Publikum zu
beantworten: Palliativmedizin ist eine Wiederbesinnung, kein Paradigmenwechsel (Einzelheiten s. Kap. 1, S. 11).
Die Hörer der Vorlesung hatten nach Texten gefragt, beispielsweise zur Definition und Geschichte der Palliativmedizin (s. Kap. 1, S. 5), zur Motivation
des ärztlichen und Pflegepersonals (s. Kap. 2, S. 17), dem Umgang mit Patientenverfügungen (s. Kap. 6, S. 43) und ganz praxisnah dazu, was auf einer Palliativstation geschieht (s. Kap. 7, S. 59), wer und unter welchen Bedingungen in
einem Hospiz gepflegt wird und unter welchen Bedingungen ein Palliativkranker
zu Hause bleiben darf. Ausführlich diskutiert wurden menschliche, religiöse,
ethische und rechtliche Aspekte und Unterschiede der Sterbebegleitung. Hier ist
insbesondere der Beitrag von Professor van der Meiden aus den Niederlanden zu
nennen, der vorsichtig bejahend aus theologischer Sicht die Praxis der Tötung
auf Verlangen in den Niederlanden bei Palliativkranken, nicht jedoch, wie zurzeit
geplant, bei Jedermann mit nachlassendem Lebenswillen beschreibt (s. Kap. 10,
S. 95). Die öffentliche Meinung in Deutschland und in den meisten Ländern der
Welt weicht von der niederländischen Position ab, in noch breitem Konsens lehnen
wir die Tötung auf Verlangen (in den Niederlanden als Euthanasie, bei uns als
aktive Sterbehilfe wenig glücklich bezeichnet) ab und sie ist unter Strafe gestellt.
Aus dem erkennbaren Spannungsbogen zwischen der unterschiedlichen niederländischen und deutschen Sicht zur Sterbebegleitung wird klar, dass für uns
in unserer europäischen lokalen Grenzsituation weiterer Diskussionsbedarf zu
diesem Thema besteht. Eine Annäherung der Standpunkte halten wir für möglich,
wenn die terminale Sedierung Palliativkranker, die auch in Deutschland erlaubt
ist, in Zukunft bevorzugt würde. Die Leiden der Kranken würden gelindert,
gleichzeitig bliebe aber das Tötungsverbot als Basismoral erhalten. Das Recht hat
uns hier mit dem Begriff indirekte Sterbehilfe den gesetzlichen Rahmen vorgegeben: Die Leidensminderung steht im Vordergrund, z. B. durch Morphin und
Sedativa, ein möglicher früherer Tod darf in Kauf genommen werden, was in der
Praxis wohl nur sehr selten der Fall ist. Der Unterschied zur Tötung ist das Ziel
der Leidensminderung und die deutlich geringere Medikamentendosis. Auch in
den Niederlanden ist die Tötung nicht erlaubt, wird aber bei niederländischen
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14. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 1
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Staatsbürgern nicht als Strafdelikt verfolgt, sofern sie unter strengen Auflagen
und der Aufsicht eines zweiten Arztes erfolgt.
Gerade diese Diskussion um die Sterbehilfe wirft die wichtige Frage auf: Was
wünschen wir uns als Allgemeinheit für unser Lebensende? Wir haben deshalb
zusätzlich zwei Krankenhausseelsorger und ein Senioren-Ehepaar gebeten, ihre
Positionen in den Kapiteln 11 und 12 darzustellen.
Erfreut hat uns der rege Besuch von Studierenden der Medizin, ihre Wünsche
an die Ausbildung sind in Kapitel 3 dargestellt (s. S. 23). Sie hatten uns nach
einer Basisinformation für die jetzt beginnende Pflichtvorlesung Palliativmedizin
gefragt. In einer Vorlesungsreihe berücksichtigt man nicht immer alle Aspekte, so
gab es keine Vorlesung über die Rolle des Hausarztes in der Palliativmedizin. Für
die Gesellschaft und angehende Ärztinnen und Ärzte1 ist aber die hausärztliche
Tätigkeit von elementarer Bedeutung, werden doch die allermeisten Palliativkranken zu Hause betreut. Wir freuen uns daher, dass wir Herrn Professor Peter Maisel,
Arzt für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin, gewinnen konnten, ein Kapitel
zu diesem Buch beizutragen. In seiner Praxis sieht er regelmäßig palliativ erkrankte
Patienten, zudem vertritt er das Fach Allgemeinmedizin an der Universität Münster.
Das von ihm verfasste Kapitel ist so aufgebaut, dass hier auch eine Basisinformation
für Studierende über die Linderung der bei Palliativkranken häufigen Leiden (Symptomkontrolle), wie z. B. Unruhe, Angst und Atemnot erfolgt (s. Kap. 8, S. 69).
Ein eigenes Kapitel ist der Schmerztherapie gewidmet (Kap. 5, S. 37). Schmerzen
sind die am wenigsten aushaltbaren Beschwerden des Palliativkranken. Kapitel 4
(s. S. 29) widmet sich ebenfalls dem Thema der Symptomkontrolle, allerdings
unter einer anderen Fragestellung. Beispiele aus der Gastroenterologie lassen die
auftretenden Probleme invasiv tätiger Ärztinnen und Ärzte erkennen. Die Frage
ist häufig nicht, ob ein endoskopischer Eingriff technisch machbar ist, sondern ob
dem Palliativpatienten damit gedient ist oder der Eingriff sinnlos ist (engl. futility)
und welche Wünsche der Patient selbst hat. Deutlich wird dies an der Möglichkeit
der endoskopischen Stillung einer Blutung im Verdauungstrakt, die technisch fast
immer machbar ist. In der hochpalliativen Krankheitsphase ist, wenn der Patient
keine invasiven Eingriffe wünscht, diesem Wunsch nicht nur rechtlich zu folgen,
das Verblutenlassen ist auch eine sanfte Todesart. Bisher wurde diese Handlungsweise als passive Sterbehilfe bezeichnet. Besser ist die Bezeichnung Ȁnderung
des Behandlungsziels«, wenig glücklich die neue juristische Formulierung »Therapieabbruch«, denn es wird ja weiterbehandelt, häufig sogar intensiver (z. B. neben
der Symptomkontrolle spirituelle Begleitung und Sorge um die Angehörigen). Die
Palliativmedizin stellt die Behandler oft vor ethische Entscheidungen. Aus diesem
Grund beginnt Kapitel 4 mit der Schilderung des Schicksals von Terri Schiavo.
Der Fall erregte vor einigen Jahren internationales Aufsehen: Die junge Frau lag
1 Um den Lesefluss nicht zu stören, wird häufig nur die männliche Geschlechtsbezeichnung gewählt, gemeint sind Frauen und Männer mit ihren Tätigkeiten und Meinungen.
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im Wachkoma und ihre Angehörigen stritten darüber, ob ihr eine Magensonde
eingesetzt werden solle.
Dieses Buch verfolgt also mehrere Zwecke: Neben den palliativmedizinisch
tätigen ärztlichen Kollegen möchten wir vor allem auch Studierende ansprechen
und ihnen eine Basisinformation zu unserem Fachbereich an die Hand geben. Im
Anhang des Buches findet sich deshalb auch ein Katalog des im Studium zu erwerbenden Wissens (s. S. 126). Freundlicherweise hat uns die Bundesärztekammer
den Abdruck der aktuellen Richtlinien zur Sterbebegleitung gestattet, ein Text,
der Ärztinnen und Ärzten den rechtlichen, vor allem aber den ethischen Rahmen
ihres Handelns vorgibt (s. Anhang, S. 128). Damit auch an der Palliativmedizin
interessierte medizinische Laien dieses Buch mit Gewinn lesen können, enthält
der Anhang außerdem ein Glossar der verwendeten medizinischen Fachbegriffe
(s. S. 123).
Ein besonderes Anliegen ist es uns, darzustellen, dass die Palliativmedizin kein
reines Spezialistenfach ist, sondern in die Hand eines jeden Arztes oder Ärztin
gehört. Darauf hat der vormalige Präsident der Bundesärztekammer, Professor
Jörg-Dietrich Hoppe, fast wörtlich hingewiesen. Die meisten palliativmedizinischen Entscheidungen fallen in den Hausarztpraxen und in den Allgemeinen
Krankenhausabteilungen. Differenzierter wird zu dem von uns eingeführten
Begriff Integrierte Palliativmedizin in Kapitel 1 Stellung genommen (s. S. 14).
Dies schmälert nicht die besondere Bedeutung hauptamtlicher Palliativmediziner
auf Palliativstationen, im Konsiliardienst und der SAPV (ambulante spezialisierte
Palliativversorgung). Alle Beteiligten müssen sich nicht auf ein Entweder-oder
sondern ein Sowohl-als-auch einrichten.
Palliativmedizin ist in Bewegung und im Wandel. Ein Beispiel: Die Behandlung von lebensgefährlichen Störungen des Herzrhythmus (Kammerflimmern)
durch einen Herzschrittmacher mit Defibrillation rettet manchem Patienten das
Leben. Nachteil sind die als sehr unangenehm erlebten Stromstöße aus diesem
implantierten Gerät. Diese nehmen mit fortschreitender Erkrankung zu. Ab einem gewissen Zeitpunkt, der wie häufig in der Medizin nicht exakt festzulegen
ist, erfährt der Patient keine Hilfe mehr durch den Herzschrittmacher. Einige
Patienten gehen in eine weiter fortschreitende Herzschwäche und damit in ein
palliativmedizinisches Krankheitsstadium über. Ab wann und wie wird in dieser
Krankheitsphase das Gerät abgeschaltet, um den Patienten nicht unnötig leiden
zu lassen? Es gibt bereits Grundzüge einer palliativmedizinischen Kardiologie,
andere Fachrichtungen der Medizin, wie z. B. die Pulmonologie, folgen. Auch
dies sind Hinweise auf die Notwendigkeit einer Integration der Palliativmedizin.
Ein weiteres Beispiel für den Wandel: Mit der zunehmenden Praxis der Patientenverfügungen hat man erkannt, dass vielfach zusätzliche Vorsorgevollmachten
notwendig sind, um bei sich weiter differenzierender Medizin die Selbstbestimmung und die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des Kranken, angepasst an
die jeweilige aktuelle Krankheitssituation, gewährleisten zu können. Dass die Autonomie des Kranken nicht absolut sein kann und begrenzt ist, darauf wird auch
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im Kapitel 6 über Patientenverfügungen hingewiesen. Und da in den allermeisten
Ländern die Tötung auf Verlangen verboten ist, ist auch rechtlich erkennbar eine
Einschränkung der Autonomie gegeben.
Ganz aktuell zeichnen sich Konturen eines weiteren Wandels ab, wie in der
Oktober-Ausgabe des »Niedersächsischen Ärzteblatts« zu lesen ist (10/2012, Sonderheft Palliativmedizin, S. 7 ff.): Kostenträger verweigerten Zahlungen für eine
über 80-jährige Palliativkranke mit Luftnot durch ein Herzleiden aufgrund späterer Begutachtungen und nach Aktenlage, weil sie zum Sterben ins Krankenhaus
gekommen sei. In dem dazu geführten Rechtsstreit wird Ärzten im Krankenhaus
bei der Aufnahme von Kranken abgesprochen, zu beurteilen, ob eine Palliativbehandlung notwendig ist. In einem Zeitschriftenbeitrag fällt der Begriff ethische
Insolvenz für dieses Verhalten. Einzelheiten und auch ein Kommentar des Justiziars der Niedersächsischen Ärztekammer sind im oben genannten Sonderheft
des »Niedersächsischen Ärzteblatts« nachzulesen. Auch hier erkennt man wieder
die Notwendigkeit, Institutionen auf ihre ethischen Fähigkeiten zu prüfen; ein
aktueller Zweig der medizinischen Ethik ist die in Konturen bereits erkennbare
Institutionenethik.
Wir bedanken uns bei den Autoren, dass sie neben ihrer Alltagsarbeit Zeit für
ihre Kapitel fanden und bei den Zuhörern unserer Ringvorlesung für die vielen
Anregungen, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre.
Münster, im April 2013
Gerhard Pott
Dirk Dogmagk
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