Partizipation und Biopolitik: Thesenpapier

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Partizipation und Biopolitik –
Eine Analyse des Referendums zum
Schweizer Stammzellenforschungsgesetz
THESENPAPIER ZUM REFERAT AM FORUM
BIOETHIK IN BERLIN AM 18. MAI 2005
Von Claude Longchamp,
Politikwissenschafter und Institutsleiter gfs.bern
Bern, den 17. Mai 2005
Copyright1by gfs.bern
Stammzellenforschung als politisches Thema
Die Wissenschaft betrachtet die Forschung an embryonalen Stammzellen als wichtiges
Gebiet. Man erhofft sich durch die Forschung umfassende Erkenntnisse betreffend der
Therapie von beispielsweise Parkinson und Multiple Sklerose.
Der Stammzellenforschung begegnet man weltweit jedoch mit Bedenken. Die Frage ist
gestellt: Reicht die Motivation, Therapien gegen unheilbare Krankheiten zu finden, aus,
um aufkommendes Leben zu zerstören? Die weltumspannende Ethikdiskussion über
Stammzellenforschung erhielt aus skeptischer Sicht Auftrieb, als in den USA die Forschung an embryonalen Stammzellen zum Wahlkampfthema avancierte.
In diesem Prozess hat die Schweiz 2003 einen parlamentarischen Entscheid für ein
neues Stammzellenforschungsgesetz auf liberaler Grundlage gefällt. Dieses unterlag
2004 einer Referendumsabstimmung. Das Ergebnis war zugunsten der Vorlage, was die
Möglichkeit eröffnet darüber nachzudenken, wie die Bevölkerung in moralisch-ethischen Grenzfragen entscheidet.
Für und wider direktdemokratische Entscheidungen
Bedenken gegen direktdemokratische Entscheidungen setzen in der Regel bei den unvollständigen Informationen der Bürgerschaft an, denn gehen von einer generellen
Überforderung der EntscheiderInnen aus. Sie bemängeln auch, dass die Entscheidungen
nicht durch alle getroffen werden, sondern nur durch die Bürger und Bürgerinnen, die
sich an Volksentscheidungen beteiligen. Auf der Systemebene wird die Schwächung
von politischen Parteien kritisiert, und es wird eine Abwertung von Wahlen beklagt.
Die politische Philosophie des politischen Systems der Schweiz stellt dem eine Reihe
von Gegenargumenten gegenüber: Das Kollektiv fällt als Ganzes in der Regel weise
Entscheidungen, die, weil sie aus Volksabstimmungen hervorgehen, auch breiter akzeptiert werden als umstrittene parlamentarische Entscheidungen. Die Relativierung des
Parteienstaates fördert den pluralistischen Diskurs, der von Interessengruppen getragen
wird. Diese können sich direkter an die Bürgerschaft wenden. Der Sachdiskurs wird
zudem potenziell erweitert und erleichtert, wenn die Parteien kein Interpretationsmonopol mehr haben.
Die Schweiz kennt zwei wesentliche Instrumente der direkten Demokratie: die Volksinitiative und das Referendum. Die Volksinitiative beinhaltet die Möglichkeiten, dass
Stimmberechtigte einen verbindlichen Rechtsvorschlag einbringen, wobei es ein parlamentarischer Entscheid ist, ob der Vorschlag auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe geregelt werden soll. Der Vorschlag ist angenommen, wenn er in einer Volksabstimmung
eine Mehrheit hat. Das Referendum wiederum ist eine Nachkontrolle parlamentarischer
Entscheidungen, die auf Verfassungs- oder Gesetzesebene erfolgen kann. Für Gesetzesänderungen braucht es nur eine Zustimmung durch die Mehrheit der stimmenden Bürger und Bürgerinnen.
Die Politikwissenschaft hebt eine wesentliche Konsequenz der direkten Demokratie
hervor: die höhere Responsivität parlamentarischer Entscheidungen gegenüber gesellschaftlichen Strömungen. Massgeblich hierfür sind Vetogruppen, die eine parlamentari2
sche Entscheidung in der Volksentscheidung zu Fall bringen können; sie können mit
der Drohung des Referendums Parlamentsentscheidungen stärker beeinflussen als es
ihre parlamentarische Macht ausdrückt. Das hat zur Folge, dass Parlamentsentscheidungen stärker als in Regierungs-/Oppositionssystemen gegen Einwände von Vetogruppen abgesichert werden.
Auf den Prozess der Gesetzgebung hat dies verschiedene Konsequenzen:
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Erstens, partizipative Elemente werden schon in der Vorbereitungsphase integriert;
zweitens, die parlamentarische Entscheidung wird durch verstärkte Konsenssuche geprägt, und
drittens besteht ein erhöhter Erklärungsbedarf von Parlamentsentscheidungen
durch Behörden, Parteien und Interessengruppen.
Dies wirkt sich vorteilhaft auf den Gesetzgebungsprozess aus.
Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich Regierung und Parlament in Referendumsabstimmungen durchsetzen. Neuralgische Themen sind vor allem die Aussenpolitik, während in der Innenpolitik politisch eingemittete Projekte, die Bevölkerungsprobleme regeln in der Regel eine Mehrheit finden.
Die Entscheidung über das Stammzellenforschungsgesetz in der Schweiz
Am 28. November 2004 wurde das neue Gesetz zur Stammzellenforschung mit 66,4
Prozent der Stimmenden angenommen. Der Entscheid war alles andere als ein Zufallsentscheid. Er steht in einer Reihe von fünf Volksabstimmungen zu ähnlichen Themen,
die seit 1992 stattgefunden haben und alle im Sinne liberaler Regelungen ausgegangen
sind.
Die Abstimmung 2004 kam zustande, weil drei Komitees zusammen die nötigen Unterschriften gesammelt hatten. Die drei Komitees stammten aus dem religiös-fundamentalistischen, aus dem wertkonservativen und dem feministischen Lager. Befürwortet
wurde das neue Gesetz von allen Regierungsparteien.
Das neue Gesetz zur Stammzellenforschung erlaubt die Verwendung überzähliger Embryonen für die Forschung mit therapeutischem Ziel. Verboten bleiben jedoch das therapeutische Klonen, die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken und die
Kommerzialisierung von Embryonen oder Stammzellen. Man kann es als liberales Forschungsgesetz kennzeichnen, welche den wissenschaftlichen Fortschritt geregelt zulassen will.
Die Analyse der Werthaltungen, der Botschaften und des Konfliktmusters
Eine erste Analyse der Werte, die zu diesem Ergebnis führten, zeigt, dass nicht nur ein
Sach-, sondern auch ein Wertentscheid gefällt worden ist: Unterstützt wurde eine offene, moderne Schweiz, welche marktwirtschaftliche und materialistische Werte bejaht.
Die Kritik nährte sich aus gegenteiligen Werthaltungen: der Präferenz für postmaterialis3
tische Werte, für staatswirtschaftliche Kontrolle, für eine traditionelle und nach aussen
abgeschlossene Schweiz. Die Kombination der befürwortenden Werte legt nahe, dass
es nur geringe regionale Gegensätze gab, was einer Zustimmung förderlich ist.
Der parteipolitische Konflikt blieb in diesem Fall augenfällig beschränkt. Die Anhängerschaften der liberalen und linken Parteien votierten klar mehrheitlich für das Stammzellenforschungsgesetz. Die Anhängerschaften der konservativen Parteien waren gespaltener; nur bei der (mehrheitlich katholischen) christlich-demokratische Volkspartei resultiert an der Basis schliesslich eine mehrheitliche Verwerfung des Gesetzes. Bei der
(mehrheitlich protestantischen) Schweizerischen Volkspartei wirkte sich dies jedoch
nicht gleich stark aus.
Wenn sich hier, aber nur hier, ein Elite/Basis-Gegensatz eröffnete, hat dies mit konfessionell belegten Argumenten zu tun. Sie wirkten auf Personen katholischen Glaubens vor
allem dann, wenn diese in einem geschlossen konservativen und katholischen Milieu
leben. Unter dieser Bedingung blieb die Akzeptanz des neuen Gesetzes gering. Schon
bei Katholiken in konfessionell gemischten Milieus bauten sich entsprechende Bedenken jedoch ab, und waren für Protestanten ganz untypisch. Weitere Elite/Basis-Konflikte, etwa auf linker Seite, bleiben dagegen weitgehend aus.
Die Ja-Seite konnte sich in ihrer Kommunikation auf verschiedene Botschaften stützen,
die verstanden und mehrheitlich akzeptiert wurden: Es sind dies die Hoffnung auf neue
Lösungen für unheilbare Krankheiten, der Bejahung des medizinischen Fortschrittes
generell und die Angst vor wirtschaftlichen Schäden für den Forschungsplatz Schweiz.
Unsicher war die Bevölkerung jedoch, ob die vom Parlament getroffenen rechtlichen
Auflagen genügend seien; davon musste die Mehrheit im Abstimmungskampf zuerst
überzeugt werden. Gegen die Vorlagen sprachen die erwarteten Kosten für das Gesundheitswesen; erwartet wurde auch, dass ein starker Schutz für überzählige Embryonen entwickelt werde. Hinzu kamen Klagen, das Gesetz öffne dem Klonen Tür und Tor.
Im Einzelfall musste jedoch auch hier eine Mehrheit davon überzeugt werden, dass die
Annahmen nicht stimmen.
Die Nachanalyse der Wirkungen zeigte, dass die Hoffnungen, für unheilbare Krankheiten neue Wege zu finden, am meisten zur Volksentscheidung beitrugen. Zweitens
wirkte die Angst über Nachteile für den Forschungsplatz Schweiz. Für die Gegnerschaft
wirkte namentlich der Wunsch nach einem absoluten Schutz von Embryonen. Beschränkt wirksam waren die Ängste vor Klonen und Kosten. Die Wirkung der Auflagen,
die das Parlament gemacht hatte, blieb in der Volksabstimmung deutlich zurück.
Die Meinungsbildung war nicht von Beginn weg eindeutig Pro. Vor dem Abstimmungskampf war nur eine relative Mehrheit für die Zulassung der Stammzellenforschung in
der Schweiz. Dank offensiver Kommunikation des befürwortenden Lagers des Themas
gelang es jedoch, unschlüssige Menschen von den Pro Argumenten zu überzeugen und
Bedenken zu zerstreuen. Wiederum waren es die kommunizierten medizinischen Argumente, die hierfür den Entscheid gaben. Am Abstimmungstag befürwortete eine
knappe absolute Mehrheit die Stammzellenforschung in der Schweiz ausdrücklich.
Entsprechend nahmen die positiven Stimmabsichten vor allem in der ersten Phase des
Abstimmungskampfes zu; 3 Wochen vor der Entscheidung war eine Mehrheit dafür,
und die Unschlüssigen verteilten sich schliesslich auf beide Seiten.
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Die Entscheidung fiel am Schluss sogar verstärkt positiv aus, weil sich nicht alle Stimmberechtigten beteiligten. Die relativ tiefe Stimmbeteiligung begünstigte die Zustimmung.
Die Teilnehmenden sahen die persönliche Bedeutung der Entscheidung über dem Mittel für gegeben an. Sie bekundeten in mittlerem Masse Entscheidungsschwierigkeiten.
Unter diesen Bedingungen ist Kommunikation vor einer Abstimmung sinnvoll, aber
auch nötig.
Kurze Bilanz
Die systematische Analyse von Volksentscheidungen zeigt, dass Ergebnisse von Volksabstimmungen nicht ein für alle Mal feststehen. Vielmehr sind sie das Produkt aus der
Vorlage, dem Konfliktmuster in der meinungsbildenden Elite, der politischen Kultur,
dem politischen Klima, den thematischen Prädispositionen und dem Abstimmungskampf.
Die persönliche Betroffenheit durch das Thema war bei den Entscheiden mehrheitlich
gegeben; die Entscheidungsschwierigkeiten waren jedoch eher überdurchschnittlich. Es
war zuerst eine symbolische Entscheidung über Werte, dann eine über die Vorlage.
Man kann die These vertreten, dass die Schweizer Stimmberechtigten vor allem wegen
den medizinischen Erwartungen für die Stammzellenforschung gestimmt haben. Sie
haben diesen Aspekt der Debatte höher bewertet als alle Bedenken gegenüber der
Stammzellenforschung. Was der Menschheit einen Nutzen bringen kann, darf erforscht
werden. Darin liegt auch die ethische Begründung der politischen Entscheidung. Gestärkt wurde sie durch ökonomische Ängste resp. durch eine positive Grundhaltung
zum Forschungsplatz Schweiz.
Der zentrale Vorteil, der durch Partizipation erreicht wird, ist die Involvierung der
Bevölkerung in Fragen der modernen Wissensgesellschaft. Die Kluft wird dadurch nicht
vergrössert, sondern verkleinert. Es ist durchaus möglich, komplexe Sachverhalte verständlich zu kommunizieren. Dies wird erleichtert, wenn diese in Beziehung zu generellen Werthaltungen gesetzt werden.
Mehr noch: der partizipative Stil in der vor- und nachparlamentarischen Phase hat die
Entscheidung nicht verhindert, sondern befördert. Die Glaubwürdigkeit der Kommunikation ist ebenso gestärkt, wenn ein Teil der Opposition vorweg genommen wird. Die
Legitimation der Entscheidung ist höher als in parlamentarischen Demokratien.
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