Moral, Religion und Geschichte

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Moral, Religion und Geschichte
Die Untersuchung zum neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff
in Hegels Phänomenologie des Geistes
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der Philosophischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Jeong Hoon Park
aus Seoul
WS 2013/14
Erstgutachter: Prof. Dr. Wilhelm Metz
Zweitgutachterin: Prof. Dr. Lore Hühn
Vorsitzender des Promotionsausschusses
der Gemeinsamen Kommission der
Philologischen, Philosophischen und Wirtschaftsund Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Felix Heinzer
Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 25.07.2014
INHALTSVERZEICHNIS
HINWEISE.............................................................................................................. 6
VORWORT............................................................................................................. 7
EINLEITUNG.......................................................................................................... 9
TEIL I: DIE WISSENSCHAFTLICHKEIT DER PHÄ NOMENOLOGIE DES
GEISTES .............................................................................................................. 21
A. Das Grundkonzept der Phänomenologie des Geistes ............................................................................. 22
1. Die früheren Bewertungen der Phänomenologie des Geistes .................................................................. 22
2. Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System ................................... 25
3. Die Deutungsweisen der Phänomenologie des Geistes ........................................................................... 39
B. Die strukturelle Einheitlichkeit der Phänomenologie des Geistes ......................................................... 45
1. Die Problematik im Bezug auf die Strukturierung der Phänomenologie des Geistes ............................. 45
2. Die „Umkehrung des Bewußtseins“ und die „Kraft des Geistes“ ........................................................... 49
C. Der ganze Aufbau der Phänomenologie des Geistes ............................................................................... 61
1. Vorausblick .............................................................................................................................................. 61
2. Ü berblick ................................................................................................................................................. 67
2.1 „Bewußtsein“: die Dialektik des gegenständlichen Bewusstseins ..................................................... 67
2.2 „Selbstbewußtsein“: der erste Wendepunkt des Geistes .................................................................... 68
2.3 „Vernunft“: die Synthesis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein .................................................. 71
2.4 „Geist“: das Ganze des weltlichen Geistes ........................................................................................ 75
2.5 „Religion“: der absolute Geist in Form der Vorstellung .................................................................... 79
2.6 „Das absolute Wissen“: die Tilgung der Zeit ..................................................................................... 87
3. Rückblick................................................................................................................................................. 92
D. Die geschichtsbezogene Betrachtung der Phänomenologie des Geistes ................................................ 96
1. Begriff und Geschichte ............................................................................................................................ 96
2. Die Geschichte des Bewusstseins und die Geschichte des Geistes ....................................................... 103
3. Die „begriffene Geschichte“ ...................................................................................................................110
4. Der selbstbewusste Geist als der neue Geist .......................................................................................... 120
TEIL II: DIE HAUPTMOMENTE FÜ R DIE SITTLICHKEIT IN DER
NEUZEITLICHEN WELT: MORAL UND RELIGION .......................................... 123
A. Die Moral: das Moment der Versöhnung im Rahmen des weltlichen Geistes – Lektüre des
Abschnitts „VI. C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ ......................................................... 124
1. Hegels Begriff der Moral ....................................................................................................................... 124
2. Die moralische Vor- und Verstellung...................................................................................................... 131
2.1 Die moralische Vorstellung .............................................................................................................. 131
2.2 Kants Lehre der Postulate der praktischen Vernunft ........................................................................ 135
2.3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung ............................................................................... 138
2.4 Die Schranke der moralischen Vorstellung ...................................................................................... 145
2.5 Der vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung: Verstellung ................................................... 147
3. Das moralische Gewissen ...................................................................................................................... 156
3.1 Das Gewissen als die absolute Selbstgewissheit des moralischen Bewusstseins ............................. 156
3.2 Der Gehalt des moralischen Gewissens ........................................................................................... 163
3.2.1 Die Momente für die Dialektik des Gewissens: das Fürsichsein, das Sein für Anderes und das
Anerkanntsein ........................................................................................................................................ 163
3.2.2 Die absolute Selbstgewissheit des aus sich selbst bestimmenden Gewissens ............................... 164
3.2.3 Der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Urteilenden ................................................. 166
3.2.4 Die gegenseitige Anerkennung von Subjekten des Gewissens...................................................... 168
3.2.5 Die dialektische Bewegung des Gewissens ................................................................................... 172
3.2.5.1 Die erste Phase (Einleitung): die schöne Seele .......................................................................... 173
3.2.5.2 Die zweite Phase (Steigerung): das Böse und die Heuchelei ..................................................... 175
3.2.5.3 Die dritte Phase (Höhepunkt): das Eingeständnis versus das harte Herz ................................... 178
3.2.5.4 Die vierte Phase (Umkehr): die Empörung ................................................................................ 179
3.2.5.5 Die letzte Phase (die nochmalige Umkehr und das Finale): die Verzeihung und die Versöhnung
............................................................................................................................................................... 180
B. Die Religion: das Moment der Versöhnung im Rahmen des religiösen Geistes – Lektüre des
Abschnitts „VII. C. Die offenbare Religion“ ............................................................................................. 184
1. Hegels Begriff der Religion ................................................................................................................... 184
2. Der gedankliche Boden für die offenbare Religion ................................................................................ 195
2.1 Die Entäußerung der Substanz ......................................................................................................... 195
2.2 Die Entäußerung des Selbstbewusstseins ......................................................................................... 199
2.3 Die Entstehung der offenbaren Religion .......................................................................................... 204
3. Der Gehalt der offenbaren Religion ....................................................................................................... 209
3.1 Das Selbstbewusstsein des Geistes .................................................................................................. 209
3.2 Die Dialektik des religiösen Geistes und die Entstehung der offenbaren Religion .......................... 211
3.3 Die Offenbarung Gottes ................................................................................................................... 215
3.4 Die Lehre der offenbaren Religion: Gott ist Geist ........................................................................... 227
3.4.1 Die triadische Struktur des christlichen Gottes ............................................................................. 227
3.4.2 Gott im reinen Denken und sein Anderswerden ........................................................................... 229
3.4.3 Die Schöpfung der endlichen Welt ............................................................................................... 231
3.4.4 Geburt, Tod und Auferstehung Christi .......................................................................................... 236
3.4.5 Das Versöhnungsgeschehen des Geistes in der Gemeinde ........................................................... 238
C. Der Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion in der Phänomenologie des Geistes ..... 242
1. Der Ü bergang von der griechischen Sittlichkeit zu dem moralischen Gewissen .................................. 242
2. Die Versöhnung zwischen dem weltlichen und dem religiösen Geist ................................................... 249
TEIL III: DIE SITTLICHKEIT IM VERGLEICH ZU DEM ENZYKLOPÄ DISCHEN
SYSTEM............................................................................................................. 257
A. Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System ....................................................................... 258
1. Geist und Freiheit .................................................................................................................................. 258
2. Die Harmonie von Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System ........................................... 272
2.1 Hegels Kritik an den fehlerhaften Religionsauffassungen ............................................................... 272
2.2 Hegels These über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit dem religiösen Gewissen ................... 278
B. System und Geschichte: die geschichtsbezogene Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes ................. 288
1. Die Geschichte des weltlichen Geistes und die Geschichte des religiösen Geistes ............................... 288
2. Die Bildungsgeschichte des Geistes und die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes .............................. 294
SCHLUSSBETRACHTUNG............................................................................... 299
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................... 306
HINWEISE
1. Zitierweise
1.1 Die Zahl in Klammern hinter zitierten Textpassagen Hegels bezeichnet nacheinander Band und Seite –
z. B. „(W7.385)“, „(GW13.154)“, „(V3.273)“ usw.
1.2 Auf andere Literatur wird mit dem Namen des Verfassers und dem Erscheinungsjahr Bezug genommen
– z. B. „Rosenkranz (1844), S. 205“ – falls nötig, zusätzlich mit dem Titel und mit der Bandzahl – z. B. „I. Kant,
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werkausgabe, Bd. 11, S. 53-59“.
1.3 Mit Kursivschrift innerhalb von Zitaten – z. B. „der Begriff des Geistes (W3.145)“ – wird die Hervorhebung
des Textverfassers (also hier Hegels) bezeichnet.
1.4 In zitierten Textstellen verwende ich eckige Klammern („[…]“), um Auslassungen, Einfügungen usw.
kenntlich zu machen.
2. Siglen
W: Werke in zwanzig Bänden (Auf der Grundlage der Werke, hg. v. einem Verein von Freunden des
Verewigten, Berlin 1832-45), hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969-71.
GW: Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen (1968-95: Rheinisch-Westfälischen) Akademie
der Wissenschaften, Hamburg.
V: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983-2007.
PHG: Phänomenologie des Geistes (W3).
Logik: Wissenschaft der Logik (W5-6).
Enzyklopädie: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (³1830) (W8-10)
[Enzyklopädie (²1827): GW19 / Heidelberger Enzyklopädie (1817): GW13].
Grundlinien oder Rechtsphilosophie: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und
Staatswissenschaft im Grundrisse (W7).
Religionsphilosophie: Vorlesungen über die Philosophie der Religion (V3-5).
Geschichtsphilosophie: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (W12).
Kunstphilosophie: Vorlesungen über die Ästhetik (W13-15).
VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/14 von der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg als Dissertation angenommen. Ich bedanke mich vor allem bei meinem Doktorvater, Herrn
Prof. Dr. Wilhelm Metz, für seine freundliche Betreuung. Meinen herzlichen Dank möchte ich auch Frau Prof.
Dr. Lore Hühn für das Zweitgutachten sagen. Nicht zuletzt danke ich sowohl der koreanischen Regierung
(„National Institute For International Educationn“) als auch der Stiftung „Kim Hee-Kyung Scholarship Foundation
for European Humanities“ für die großzügige finanzielle Unterstützung.
Freiburg, Dezember 2014
Jeong Hoon Park
EINLEITUNG
Den dritten Teil „Sittlichkeit“ in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in seiner
Berliner Monografie über die praktische Philosophie, fängt Hegel mit dem folgenden Satz
an: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit“ (W7.292); diese Idee bedeutet die wahre
Vereinigung von dem Freiheitsbegriff und dessen Verwirklichung.1 Aus diesem Kontext
heraus denkt Hegel, dass die Idee der Sittlichkeit auch die „Wahrheit des
Freiheitsbegriffes“ (W7.287) ist. Dass ein Gemeinwesen sittlich ist, besagt im Grunde, dass
seine normative Machtausübung dem Mitglied nicht als etwas Zwangsläufiges erscheint; das
Prinzip der Sittlichkeit bedeutet nämlich die Forderung, dass der Freiheitsanspruch jedes
Mitglieds nicht unterdrückt werden soll. Soweit die Freiheit (die den menschlichen Geist
konstituiert) 2 insbesondere die „Freiheit des Willens“ (W7.54) impliziert, soll der freie
Wille des Menschen als eine universale Existenzweise der Freiheitsidee, etwa als die
Gerechtigkeit und das Gute, verwirklicht werden. Im sittlichen Gemeinwesen sieht Hegel
die Harmonie zwischen dem Wollen eines Individuums (d. h. dem einzelnen Willen) und
dem Ziel seines Gemeinwesens (d. h. dem allgemeinen Willen); die Sittlichkeit macht also
das Prinzip des gelungenen Zusammenlebens aus.
Die „sittliche Freiheit“ bewahrheitet sich bei Hegel nicht anders als „im Staat“ (W12.38);
das heißt: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (W7.398). Der hier angeführte
Staat, also der sittliche Staat, setzt den Begriff der „Anerkennung“ bzw. der „Versöhnung“3
voraus. Darüber schreibt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie Folgendes:
Die „Idee“ ist bei Hegel nicht einfach als ein Begriff im vorstellenden Gedanken, sondern im Grunde als „die
absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität“ zu verstehen (W8.367). Dementsprechend schreibt Hegel
auch in seinen Grundlinien wie folgt: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den
Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande“ (W7.29).
2
Hegel ist davon überzeugt, dass das Wesen des menschlichen Geistes im Grunde die Freiheit ist (W10.25 f.;
W12.30). Dieser Begriff der Freiheit ist ihm zufolge durch den menschlichen Willen gekennzeichnet (W7.54 f.).
Diese Einsicht in den Zusammenhang des menschlichen Geistes mit seinem freien Willen lässt sich auch in
folgenden Sätzen seiner letzten Vorlesung über die Rechtsphilosophie kurz vor seinem Tod (1831) feststellen:
„Die Erkenntniß der Gesetze der Freyheit hat ein ganz anderes praktisches Interesse als die Erkenntniß blosser
[sic!] Natur-Gesetze […]; die menschliche Freyheit […] stellt sich dem [Natur-]Gesetz gegenüber, und daß es
ihm Gesetz sey, dazu gehört die Einstimmung des Willens, seine Anerkennung […]. Dieß ist das Innerste des
[m]enschlichen Willens. [… Die] Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, daß der ganze Bau der geistigen
Welt hervorsteigt.“ Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von D. F. Strauß 1831, in: G. W. F.
Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 4, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart 1974, S. 924 f.
3
Zu seiner Darstellung der „Anerkennung“ in den Grundlinien vgl. W7, S. 315 f.; 395; 406; 454; 498. Zum
Begriff der „Versöhnung“ vgl. W7, S. 290; 511 f.
9
1
Als subjektiver Wille in beschränkten Leidenschaften ist er [= der Wille] abhängig, und seine
besonderen Zwecke findet er nur innerhalb dieser Abhängigkeit zu befriedigen. Aber der
subjektive Wille hat auch ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in der er sich im
wesentlichen bewegt und das Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseins hat. Dieses
Wesentliche ist selbst die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens: es ist das
sittliche Ganze - der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum seine Freiheit hat
und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist (W12.55).
Der Begriff des sittlichen Staats bedeutet die Forderung, dass sich in diesem sittlichen
Ganzen kein einzelnes Mitglied entmachtet fühlen soll.
Der sittliche Staat ist in einen umfassenden geschichtlichen Zusammenhang gebracht
worden; denn Hegel betrachtet die Weltgeschichte streng genommen als die Geschichte der
Staatsbildung.4 Er denkt, dass in jeder Phase der Weltgeschichte die Sittlichkeit auf ihre
jeweilige Weise verkörpert wird und dass sie zumindest seit der altgriechischen Zeit 5 das
Prinzip der verwirklichten Freiheit darstellt. Der Staat fungiert in der jeweiligen Phase der
Weltgeschichte von seinem Mitglied als die höchste Gestalt der wirklichen Geltung, die es
zugleich als ein Produkt seines eigenen Vollzugs anerkennt.
In diesem Zusammenhang soll der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, Hegels
Begriff „Sittlichkeit“, aber vorwiegend anhand der Phänomenologie des Geistes (im
Folgenden: PHG), betrachtet werden. Die PHG als sein erstes Hauptwerk ist zugleich sein
erstes Werk, bei dem es sich um den Sittlichkeitsbegriff insbesondere unter den
Rahmenbedingungen der Geschichtsbezogenheit handelt.
4
6
„Der wahre Geist. Die
W10, S. 350; W12, S. 56.
Hegelscher Geschichtsphilosophie nach ist die Polissittlichkeit im klassischen Griechentum als der
Ausgangspunkt der Sittlichkeit zu verstehen. In der „orientalischen Welt“ erblickt er zwar „die Substantialität
des Sittlichen“; er denkt dennoch, dass sich hier keine reale Geltung des einzelnen Willens bewährt, indem er
voraussetzt, dass die orientalische Staatsform durch und durch despotisch und theokratisch ist. W12, S. 142 ff.
Die Sittlichkeit in der orientalischen Welt ist selbstverständlich eine eigenständige Thematik, aber in der
vorliegenden Arbeit wird die Sittlichkeit nur auf der Ebene der europäischen Geschichte behandelt.
6
Auch in Hegels Frühschriften vor der PHG finden sich vielerlei Überlegungen zu der Thematik „Sittlichkeit“.
Schon seit der Tübinger Zeit betrachtet er sie als ein Gegenmodell zu der ihm zeitgenössischen
rückschrittlichen Situation in Deutschland, wobei er den Blick vor allem auf die altgriechische Sittlichkeit
richtet. Zum Beispiel sollte die „Volksreligion“, mit der der junge Hegel auf die Religion des freien Menschen
hinauswill, alle Bedürfnisse des Individuums mit den „öffentlichen Staatshandlungen“ harmonisieren. W1,
S. 9-103, bes. S. 33. In der frühen Jenaer Zeit wurde die „Idee der absoluten Sittlichkeit“ eingehend behandelt,
sogar im Rahmen des eigenständigen „System[s] der Sittlichkeit“. W2, S. 434-530; GW5, S. 277-361. In der
mittleren Jenaer Zeit, d. h. in der Zeit der „Jenaer Systementwürfe“, wurde die Sittlichkeit in das System der
„Philosophie des Geistes“ eingeordnet. GW6, S. 268-326; GW8, S. 185-287. Die PHG, verfasst in der späten
Jenaer Zeit, handelt vornehmlich von der griechischen Sittlichkeit, in deren Darlegungen sich seine bisherigen
Gesamtüberlegungen dieser Thematik widerspiegeln. Es ist freilich unübersehbar, dass in den Schriften vor
der PHG noch einige umfangreichere Gedankengänge mit Bezug auf das Thema beinhaltet sind. Themen wie
die Arbeit, das Eigentum, die Entfremdung und die Anerkennung wurden bes. in den Jenaer Systementwürfen
10
5
Sittlichkeit“, die im ersten Abschnitt des Kapitels „Geist“ eingehend behandelt wird, prägt
sich als ein idealisiertes Bild des klassischen Griechentums aus. Der „sittliche
Geist“ (W3.338) fungiert als das Prinzip des Zusammenlebens in der antiken Welt, in dem
das Individuum seine Freiheit anschaut. Dadurch, dass „das sittliche Volk in der
unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz lebt“ (W3.513), kann es, in seiner Harmonie mit
der Idee des Zusammenlebens zufrieden, freiwillig seine Aufgabe erledigen; sein
uneingeschränktes Zutrauen zur Substanz resultiert aus seinem Gedanken, dass ihm jene
Substanz nicht entfremdet sei; aus diesem Grunde fühlt sich das Individuum glücklich. In
seiner Kunstphilosophie stellt Hegel das sittliche Leben in der antiken Welt wie folgt dar:
[I]m griechischen sittlichen Leben war das Individuum zwar selbständig und frei in sich, ohne sich
jedoch von den vorhandenen allgemeinen Interessen des wirklichen Staates und der affirmativen
Immanenz der geistigen Freiheit in der zeitlichen Gegenwart loszulösen. Das Allgemeine der
Sittlichkeit und die abstrakte Freiheit der Person [d. h. des Individuums] im Inneren und Äußeren
bleibt dem Prinzip des griechischen Lebens gemäß in ungetrübter Harmonie (W14.25 f.).
Die altgriechische Sittlichkeit gestaltet sich in der PHG dementsprechend im Kapitel
„Religion“ auch als die „Kunstreligion“, die von Hegel als die höchste Kulturform in der
altgriechischen Welt bezeichnet wird.
Fragen wir danach, welches der wirkliche Geist ist, der in der Kunstreligion das Bewußtsein
seines absoluten Wesens hat, so ergibt sich, daß es der sittliche oder wahre Geist ist (W3.512).
Die Kunstreligion ist also dem sittlichen Geist zugeordnet. Die griechische religiöse
Geistigkeit entwickelt sich in der Kunstform, gleichsam „wie in einem schönen Kunstwerke
das Sinnliche das Gepräge und den Ausdruck des Geistigen trägt“ (W12.137). Daraus geht
Folgendes hervor: Die griechische Religion ist die Kunst selbst und die griechische Kunst
ist die Religion selbst. Die Sittlichkeit in der altgriechischen Welt wird demgemäß von Hegel
die „schöne Sittlichkeit“ (W12.138) genannt. Das impliziert, dass in der griechischen Welt
nicht bloß die Religion, sondern auch alle andere Gestaltungen – vom menschlichen
Individuum bis zu seinem Stadtstaat (πόλις) – jeweils als „Kunstwerk“ gerühmt werden.
besprochen. Dazu vgl. Lukács (1967); Siep (1979); Honneth (1992).
11
So bestimmt ist es die schöne Individualität, welche den Mittelpunkt des griechischen Charakters
ausmacht [...]. Alle bilden Kunstwerke; wir können sie als ein dreifaches Gebilde fassen: als das
subjektive Kunstwerk, d. h. als die Bildung des Menschen selbst; als das objektive Kunstwerk,
d. h. als die Gestaltung der Götterwelt; endlich als das politische Kunstwerk, die Weise der
Verfassung und der Individuen in ihr (W12.295).
Die kulturelle Funktion der altgriechischen Kunstreligion wird insbesondere durch staatlich
organisierte Volksfeste in solchem Maße wirksam, dass die Kunst mit verschiedenen
Kulturgestalten, etwa Religion, Politik und Moral, im Zusammenhang steht, sodass sich das
Polismitglied glücklich fühlt. Der enge Zusammenhang des Privatlebens des griechischen
Polisbürgers mit seinen öffentlichen Angelegenheiten im Staat und die politische Funktion
der Kunst(-Religion) lassen sich folgendermaßen darstellen:
Wie es der griechischen geistigen Kunstgestalt wesentlich war, auch als äußerlich und wirklich
zu erscheinen, so hat sich auch die absolute geistige Bestimmung des Menschen zu einer
erscheinenden realen Wirklichkeit herausgearbeitet, mit deren Substanz und Allgemeinheit in
Einklang zu sein das Individuum die Forderung machte. Dieser höchste Zweck war in
Griechenland das Staatsleben, die Staatsbürgerschaft und deren Sittlichkeit (W14.117).
Dieser Zusammenhang des sittlichen Geistes mit der Kunstreligion zeigt also auf, warum
Hegel in dem klassischen Griechentum „das schöne sittliche Leben“ (W3.326) erblickt.7
7
Die These von der Ü berlegenheit des Griechentums wird vom jungen Hegel hervorgehoben. Hegels Konzept
in seiner frühen Zeit ist alles in allem die Vollendung des Programms der Aufklärung durch die Bildung der
Menschheit in ihrer Totalität. Das „Ideal einer Volkserziehung“ durch die „neue Mythologie“ oder die
„Volksreligion“, durch die „schöne Phantasie“ usw. (W1.9-229; 234-236): Diese Reihe von Entwürfen zeigt
uns – trotz seines noch unreifen Gedankens –, dass Hegel schon früh neben der Harmonie von Intelligenz und
Empfindung in der menschlichen Seele auch die Vereinigung von dem Freiheitsanspruch des Menschen und
dem Zweck des Gemeinwesens erstrebt. Hinsichtlich der Zeitdiagnose des jungen Hegel bzw. seiner
philosophischen Grundidee vgl. Lukács (1967). Und zu dem gedanklichen Zusammenhang mit anderen
Denkern vgl. Bubner (Hg.) (1973); Bubner (1990); Menze (1990).
Die Kritik des jungen Hegel an der „Positivität“ oder besonders an der „Entfremdung“, die auch in der P HG
detailliert dargelegt wird, gilt als sein Unternehmen, Menschen vor der fremden Gewalt bzw. vor der ihr
folgenden Entmachtung zu bewahren. Dieser Sachverhalt erlaubt uns zu folgern, dass seine Akzentuierung des
idealisierten Griechentums intendiert, durch die vollständige Ü berwindung der aus dem neuzeitlichen
Dualismus, also dem unverträglichen Gegensatz zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven überhaupt
(wie zwischen Glauben und Wissen, zwischen Freiheit und Notwendigkeit etc.), aufgetauchten Aporien die
verlorene Einheit wiederherzustellen. Als Musterbeispiele für diese Polarität kann man z. B. das Mentale („res
cogitans“) und das Physische („res extensa“) bei Descartes, der einzelne Wille („volonté particulière“) und der
allgemeine Wille („volonté générale“) bei Rousseau, die „Moralität“ und die „Legalität“ bei Kant usw. nennen.
Die Denkgeschichte im neuzeitlichen Abendland ist in gewissem Sinne die Geschichte der dualistischen
12
Allerdings: Das Prinzip der antiken Sittlichkeit ist kein ewiger Idealtyp, der in der neueren
Zeit einfach nur wiederholt werden könnte und sollte; das liegt an der Welt der
„vergänglichen oder schnell vorübergehenden Blüte“ (W12.137). Der Grund dafür liegt
darin, dass der altgriechische Sittlichkeitsbegriff folgende wesentliche Einschränkung hat:
Dieser frühe Begriff der Sittlichkeit gründet auf der bloßen Sitte des sittlichen Volks, das
die unvoreingenommene Zuversicht hat. Mit anderen Worten: Dieser Begriff der frühen
Sittlichkeit stützt sich noch nicht auf die besonnene Reflexion des Subjekts. „Griechen hatten
kein Gewissen“ 8 (W7.296), weil sie die Tiefe der Subjektivität oder des menschlichen
Geistes nicht erreichen konnten; „[e]in atheniensischer Bürger tat gleichsam aus Instinkt
dasjenige, was ihm zukam“ (W12.57). Dass das Polismitglied keine absolute
Selbstgewissheit oder moralische Gesinnung hatte, besagt gerade, dass sein selbständiger
Entschluss und die von ihm anerkannte und mit ihm versöhnte gesellschaftliche Konstitution
überhaupt noch nicht auf der wahren Ebene basierten. Dieser „Mangel an innerer
Subjektivität“ (W14.110) ist gleichbedeutend mit dem Mangel der griechischen Welt
überhaupt; diese reflexionslose Gesinnung liegt nur „in der unmittelbaren Sitte und
Gewohnheit des Rechten und der Gesetze“, sodass sie „noch nicht zur freien Subjektivität
der Sittlichkeit“ gelangt ist (W12.137 f.). In diesem Weltzustand beruht die sittliche Freiheit
der Griechen auf dem obigen unreflektierten Zutrauen.9
Aufgrund dessen schreibt Hegel seit seiner Heidelberger Zeit seinen Sittlichkeitsbegriff
nicht mehr dem idealisierten Griechentum zu; ab diesem Zeitpunkt wird nämlich die
Sittlichkeit nicht mehr im antiken Rahmen thematisiert, sondern es handelt sich nun um
einen erneuerten Begriff der „Sittlichkeit“, die als die letztgültige Gestalt des objektiven
Geistes in seiner Enzyklopädie10 dargestellt ist.
Problemstellung und zugleich die der Versuche, zwei voneinander unabhängige ursprüngliche Prinzipien zu
vereinigen.
8
Dazu vgl. auch: „[D]ie Alten wußten nichts vom Gewissen“ (W7.302).
9
Im Zusammenhang mit dieser Thematik ist Hegels Ausdruck der „Tragödie im Sittlichen“ in seinem Jenaer
Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ zu erwähnen (W2.495). Diese
literarische Metapher drückt das „tragische Schicksal“ des sittlichen Volkes aus, durch welches das glückliche
Leben und die sittliche Freiheit verloren sind, weil die ehemalige unzertrennliche Einheit des Individuums mit
seinem Gemeinwesen schon verschwunden ist (W3.547). Diese Phase wird von Hegel weltgeschichtlich der
römischen Welt zugerechnet, in der er die Trennung zwischen dem privat-ökonomischen und dem öffentlichpolitischen Lebensfeld sieht; diese Entzweiung bedingt einerseits die rechtliche Bewahrung des persönlichen
Eigentums, aber führt andererseits zu dem „entsittlicht[en]“ Weltzustand, in dem sich eine Spannung zwischen
der inneren Gesinnung und der äußerlichen Institution ergibt, sodass die Idee der Sittlichkeit gescheitert ist
(W12.349).
10
Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817, ²1827 und ³1830) enthält die drei Hauptteile
in sich: die „Logik“, die „Philosophie der Natur“ und die „Philosophie des Geistes“. Sie handelt dabei von dem
reinen Logos der Sache, der Naturphänomene, der Beschaffenheit der menschlichen Seele, dem Prinzip des
freien Handelns bzw. des Zusammenlebens und von den höchsten geistigen Kulturerben der Menschheit.
13
Von dieser Tatsache ausgehend könnte man behaupten, dass es überflüssig sei, anhand der
PHG Hegels Sittlichkeitsbegriff zu erörtern; dieses Urteil beruht auf der Annahme, dass die
antike Sittlichkeit in der PHG für den reifen Hegel unhaltbar sei. Daraus ergibt sich eine
grundlegende Problematik, wenn man die PHG bewertet; da in diesem Werk die Sittlichkeit
explizit nur auf die antike Polis bezogen wird, könnte uns ein Zweifel kommen, „ob die
Phänomenologie so etwas wie ein gelungenes Buch, ein ausgereiftes Werk sei“.11 Dieses
Faktum, dass an keiner Stelle in der PHG irgendeine explizite Angabe über die neuzeitliche
Sittlichkeit gemacht worden ist, liefert uns einen der Gründe dafür, dass Hegels Abgrenzung
von der PHG unabdingbar scheint. Es erhebt sich dementsprechend die folgende Frage: Sind
weitere Behandlungen der Sittlichkeit anhand der PHG nicht mehr nötig? Auf diese Frage
kann man m. E. folgendermaßen antworten:
Die vorliegende Dissertation unterscheidet sich von den bisherigen Studien dadurch, dass
sie Hegels Sittlichkeitsbegriff anhand der PHG thematisiert. Im Zentrum der Studien
hinsichtlich dieses Themas stehen die Darlegungen anhand der Rechtsphilosophie 12 aus
Hegels enzyklopädischem System; somit tendieren die bisherigen Untersuchungen im
Hinblick auf Hegels Sittlichkeitsbegriff dazu, sich mit Ausführungen der Rechtsphilosophie
auseinanderzusetzen. Das Hauptziel dieser Untersuchung liegt hingegen darin, weder auf
Hegels konkrete Staatstheorie anhand der Rechtsphilosophie noch auf seine Ausführung der
griechischen Sittlichkeit anhand der PHG einzugehen; es handelt sich vielmehr darum, den
entstehungsgeschichtlichen Hintergrund für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff zu
ergründen. Was die Sittlichkeit bedeutet, wird in der PHG implizit als „der Begriff des
Geistes“ (der besagt: „Ich, das Wir [ist], und Wir, das Ich ist“) ausgedrückt (W3.145); die
Wirklichkeit der sittlichen Freiheit besteht für Hegel nämlich in der gegenseitigen
Anerkennung von Subjekten oder in der Versöhnung des einzelnen Bewusstseins mit seinen
Anderen bzw. mit dem allgemeinen Bewusstsein. Hegels Darstellung über die Versöhnung
der Individualität mit der Allgemeinheit macht den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff
Pöggeler (1973) formuliert außerdem: „Hat Hegel es in der Phänomenologie überhaupt vermocht, seine
Gedanken in einer gültigen Weise zusammenzufassen, alle Motive seines Denkens sich auswirken zu lassen?
Die Weise z. B., wie er die Sittlichkeit als die schöne Sittlichkeit der Griechen nimmt und sie sich dann
geschichtlich auflösen läßt, spiegelt durchaus nicht Hegels Bemühen wider, die Sittlichkeit auf dem Boden der
Moderne neu zu begründen“. S. 332 f.
12
Mit seinem Hauptwerk hinsichtlich des objektiven Geistes, d. h. den Grundlinien, bezweckt Hegel, seinen
Zuhörern einen „Leitfaden“ zu den Vorlesungen über die Rechts- oder Staatsphilosophie zu geben; dieses Werk
wurde als „Lehrbuch“ oder „Grundriß“ (W7.11) der philosophischen Rechtswissenschaft konzipiert, damit der
Begriff des Rechts nachvollziehbar sein könnte. Die Grundlinien sind aber zugleich detaillierte Ausführungen
über den objektiven Geist in seinem enzyklopädischen System; seine praktische Philosophie erhält
dementsprechend bereits in seinem System ihren endgültigen Ort.
14
11
nachvollziehbar, welche Darstellung zudem aufzeigt, wie das Prinzip des Gemeinwesens
von dem Subjekt aufgenommen wird.
Während für Hegel der antiken Sittlichkeit das Moment der subjektiven Reflexion fehlt,
liegt das Symptom des epochalen Bewusstseinswandels in der Neuzeit darin, dass „die
Menschen wenig mehr durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezogen werden,
sondern mit ihrem eigenen Verstande, selbständiger Ü berzeugung und Dafürhalten den
Anteil ihrer Tätigkeit einer Sache widmen wollen“ (W12.37). Aus diesem Grunde lässt sich
die Freiheit des Subjekts in der Neuzeit folgendermaßen ausdrücken:
[D]as Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des
Altertums und der modernen Zeit [aus]“ (W7.233).
Dieses Recht bedeutet zunächst das „Prinzip der Besonderheit“, m. a. W. das Prinzip der
umfassenden Säkularisierung (wie „der ewigen Seligkeit des Individuums“), das besagt, dass
der Mensch in der neuzeitlichen Welt bemüht ist, „sich befriedigt zu finden“ (W7.233). Das
Grundprinzip des neuzeitlichen Denkens ist aber genau genommen durch die absolute
„Reflexion in sich“ des Selbstbewusstseins, d. h. durch „die Richtung, nach innen in sich
suchen und aus sich zu wissen“, die bis auf Sokrates zurückzuführen ist, gekennzeichnet
(W7.259). Dieser wesentliche Charakter des neuzeitlichen Gedankens spiegelt sich für Hegel
insbesondere in zwei Faktoren wider: in der Moralität, die auf dem „Recht der subjektiven
Freiheit“ oder der Selbst-Gewissheit des neuzeitlichen Subjekts beruht, und in der Religion,
die auf der neuzeitlichen Ebene reformiert ist.
Die moralische Weltansicht des Subjekts impliziert einen großen Schritt zur Aneignung
der menschlichen Freiheit. Die absolute Selbstgewissheit des moralischen Subjekts bildet
den Standpunkt des Gewissens im Rahmen der Moral; „das [moralische] Gewissen weiß
sich selbst als Denken“ (W7.254), weshalb sich das Subjekt durch sein Denken absolut frei
fühlt. Diese Souveränität des menschlichen Denkens bezeichnet sich auch als „der Eigensinn,
der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht
durch den Gedanken gerechtfertigt ist“ (W7.27); was der Mensch als allgemeingültig
anerkennt, das kann als das Gute angesehen werden. Dieser geistige „Eigensinn“ des
neuzeitlichen Subjekts lässt sich laut Hegel im Zusammenhang mit der Religion als „das
eigentümliche Prinzip des Protestantismus“ (W7.27) erkennen. Dieses Prinzip basiert auf
dem religiösen Gewissen des Menschen, aus dem sich die obige „Reflexion in sich“ des
15
neuzeitlichen Subjekts ergibt; die Reformation wird von Hegel als eine der epochalen
Errungenschaften in der europäischen Geistesgeschichte gewürdigt, weil sie ihm zufolge das
Grundmotiv zu weltgeschichtlichen Umschwüngen in der Neuzeit ist, das Folgendes
impliziert: „[D]er Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein (W12.497).13
In dieser Arbeit wird also der Geltungsbereich des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG nicht
nur auf den ersten Abschnitt im Kapitel „VI. Der Geist“, d. h. „A. Der wahre Geist. Die
Sittlichkeit“, beschränkt. Als die vergangene, aber erste bedeutsame Existenz der
Sittlichkeit 14 legt Hegel zunächst die griechische Sittlichkeit anhand der ersten zwei
Teilstücke („a. Die Sittliche Welt“ und „b. Die sittliche Handlung“) im Abschnitt
„Sittlichkeit“ dar. Im Gegensatz dazu kann man den konkreten Inhalt der neuzeitlichen
Sittlichkeit, von der Hegels Rechtsphilosophie handelt, zwar nicht in der PHG finden, aber
die vorliegende Arbeit zielt darauf, die Moral und die Religion anhand der PHG im Hinblick
auf Hegels Lehre der neuzeitlichen Sittlichkeit darzustellen. In dem letzten Abschnitt des
Kapitels „Geist“, also „C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“, lässt sich die
Reihe der Bemühungen, sich die subjektive Freiheit anzueignen, erblicken; das
abschließende Teilstück in diesem Abschnitt, „c. Das Gewissen“, stellt den Augenblick der
gegenseitigen
Anerkennung
von
Subjekten
dar.
Der
Entwicklungsgang
des
Sittlichkeitsbegriffs reicht aber bis zum Kapitel „VII. Die Religion“, in dem man
vornehmlich mit dem letzten Abschnitt „C. Die offenbare Religion“ die andere Phase der
Versöhnung der Individualität mit der Allgemeinheit ins Auge fassen kann. Jede dieser
beiden Phasen hat Hegel zufolge ihre eigene Form der Versöhnung; die Versöhnung im
moralischen Geist besteht in der „Form des Fürsichseins“, während die Versöhnung im
religiösen Geist in der „Form des Ansichseins“ besteht (W3.441; 579). Die beiden Formen
werden auf der letzten Bewusstseinsgestalt in der PHG, d. h. im Kapitel „Das absolute
Wissen“, ineinander integriert; das absolute Wissen, das die letzte Stufe des Bildungsprozess
Dazu vgl.: „Luther hat diese Autorität [der Kirche] verworfen und an ihre Stelle die Bibel und das Zeugnis
des menschlichen Geistes gesetzt. Daß nun die Bibel selbst die Grundlage der christlichen Kirche geworden
ist, ist von der größten Wichtigkeit: jeder soll sich nun selbst daraus belehren, jeder sein Gewissen daraus
bestimmen können. Dies ist die ungeheure Veränderung im Prinzip“. W12. S. 497 f. „Die neue Zeit“, die bei
Hegel sowohl die letzte Periode der germanischen Welt als auch die letzte Periode der Weltgeschichte
überhaupt ist, ist von der Reformation ausgegangen.
14
Wenn der reife Hegel die unschuldige Gesinnung der griechischen Sittlichkeit auch nicht mehr als sein
Hauptthema betrachtet, so musealisiert er den sittlichen Geist im altgriechischen Rahmen doch mitnichten
einfach als eine vergangene Episode; denn der „wahre Geist“ wird weltgeschichtlich einer geschichtlichen
Existenz des sittlichen Lebens zugeordnet. Der „wahre Geist“ ist zwar nicht direkt auf der Ebene der Neuzeit
haltbar, jedoch gibt er uns einen Anlass zum philosophischen Nachdenken darüber, wie der Sittlichkeitsbegriff
auf der Ebene der neueren Welt erneut umzubauen ist, d. i. wie der Kernpunkt der antikgriechischen Sittlichkeit
wiederherzustellen ist.
Zur Thematik des Zusammenhangs zwischen dem Geist der antiken Sittlichkeit und dem moralischen Prinzip
der Neuzeit bzw. dem Geist der neuzeitlichen Sittlichkeit vgl. Amengual (2002); Siep (2012), S. 215 ff. u. 230 f.
16
13
des Bewusstseins zur philosophischen Wissenschaft ist, ergibt sich nämlich aus der
erneuerten Versöhnung zwischen jenen beiden Versöhnungsformen. Daran lässt sich der
Gedanke der Verschränkung von Moralität (Gewissen) und Religion (Christlichkeit) in der
neuzeitlichen Welt ablesen. Diese Interpretation erlaubt es uns, die neuzeitliche Sittlichkeit
aus dem enzyklopädischen System noch umfänglicher zu verstehen.
Es ist gleichwohl unleugbar, dass es einige grundlegende Probleme gibt, wenn man anhand
der PHG den Sittlichkeitsbegriff betrachtet. Deswegen werden bestimmte Problematiken
bedacht. Was unsere Thematik angeht, sind die drei folgenden Punkte zu bemerken: 1)
Hegels Bewertung der Moralität ist in der PHG ist anders gelagert als sein Urteil über die
„Moralität“ in der Enzyklopädie, vor allem, was die Bedeutsamkeit des moralischen
Gewissens anbelangt. 2) In der PHG wird das Prinzip der neuzeitlichen Christlichkeit nicht
explizit dargestellt; hier kann man Hegels direkte Schilderungen der neuzeitlichen
Glaubenserneuerung, aus der sich die Christlichkeit im Umfeld des neuzeitlichen Gedankens
ergibt, nicht beobachten. 3) Im Gegensatz zu dem enzyklopädischen System wird das Prinzip
des neuzeitlichen Staats in der PHG nicht eigens thematisiert, denn hier wird nur die
Polissittlichkeit des klassischen Griechentums dargelegt.
Allein dieser Befund hindert nicht an der vorgeschlagenen Betrachtung der PHG in dieser
Arbeit. Anhand dieses Werkes kann man den konkreten Inhalt der neuzeitlichen Sittlichkeit
zwar nicht betrachten; aber Hegels Darstellungen des moralischen Standpunkts und der
christlichen
Gottesvorstellung
ermöglichen
es,
seine
Lehre
des
neuzeitlichen
Sittlichkeitsbegriffs in seiner Rechtsphilosophie genauer zu verstehen. Als Grund dafür lässt
sich Folgendes anführen:
1) In der PHG beobachtet Hegel den Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von
moralischen Subjekten (obgleich dieser Moment nur am Schlusspunkt des Gewissens, d. h.
in der Ü bergangsphase zur Religion, auftritt), während er in seiner Rechtsphilosophie, die
dem objektiven Geist aus dem enzyklopädischen System entspricht, die Schranke des
Gewissens betont; es handelt sich bei dem Abschnitt „Moralität“ in der PHG um Hegels
Kritik an dem ihm zeitgenössischen Gedanken, während er in der Enzyklopädie die Schranke
des moralischen Standpunkts überhaupt und die Notwendigkeit des Ü bergangs zur
Sittlichkeit zu verdeutlichen versucht. Die Darstellung des Gewissens in der PHG besteht
darin, den Gegensatz zwischen dem Anspruch auf die subjektive Freiheit und dem Prinzip
des gelungenen Zusammenlebens aufzulösen, ohne dass der Standpunkt der subjektiven
Selbstgewissheit einfach abhandengekommen ist.
17
2) In der PHG geht Hegel zwar nicht auf das Prinzip der neuzeitlichen Christlichkeit, d. h.
des Protestantismus, ein. Aber die christliche Religion, die Hegel in der PHG als die
letztendliche Gestalt des religiösen Wissens darstellt, macht den wahren Begriff der
Christlichkeit aus. Der Geist des Christentums in der PHG impliziert nicht bloß seine
geschichtliche Existenzweise; Hegels Darstellung der Christlichkeit in der PHG betrifft nicht
einfach einen bestimmten Charakter des faktischen Glaubensbekenntnisses. Man sollte
deshalb Hegels Lehre der neuzeitlichen Christlichkeit beispielsweise nicht als das
lutherische Bekenntnis des christlichen Glaubens ansehen; die Christlichkeit, die man der
Darstellung in der PHG entnehmen kann, folgt vielmehr aus Hegels philosophischer Einsicht
in den wahren Begriff des Christentums. Hegels Begriff der Christlichkeit ist also (obgleich
er in der PHG den Protestantismus nicht expliziert) bereits über die neuzeitliche
Glaubenserneuerung hinausgegangen. Was Luther als Glauben angesehen hatte, das
religiöse Gewissen in der Neuzeit, hat „der weiterhin gereifte Geist“ nun „im
Begriffe“ begründet (W7.27); „der neu[e] Geist[]“ (W3.19), der sich aus dem ganzen
Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft ergibt, entsteht durch Hegels Betrachtung
über die neuzeitliche Denkgeschichte, die von der Reformation bis zur Philosophie des
deutschen Idealismus reicht. Hegels Darstellung der christlichen Religion in der PHG ist also
nichts anderes als die philosophische Betrachtung über den wahren Begriff der Religion und
diese begreifende Betrachtung über die religiöse Wahrheit wird erst auf der letzten Stufe des
Bildungsprozess des Bewusstseins in der PHG, d. h. in der Phase der obigen engen
Verschränkung von dem moralischen und dem religiösen Geist, möglich.
3) In der Einführung zum dritten Teil „Sittlichkeit“ in seinen Grundlinien (W7.292-305)
führt Hegel die Elemente des Sittlichkeitsbegriffs aus: das objektive und das subjektive
Moment. Die sittliche Substanz, wie Familie und Staat, fungiert als die Seite des objektiven
Sittlichen (wie Gesetze und Institutionen), das für das Subjekt als die Autorität der sittlichen
Mächte gilt; aber diese sittliche Normativität bringt das denkende Subjekt zur Einsicht, dass
es ein festes Zutrauen zu ihr hat, nicht einfach durch die unbefragte Ü berzeugung eines
Individuums, sondern durch die vernünftige Reflexion des Subjekts, die sich aus
vernünftigen Ü berlegungen über das Wesen des Geistes ergibt. Die sittliche Subjektivität
macht nun die Wirklichkeit der sittlichen Substanzialität aus. Im Gegensatz dazu gibt es eine
Schwierigkeit, wenn man den Sittlichkeitsbegriff in der PHG behandelt; denn hier ist nicht
der neuzeitliche Staatsbegriff als solcher thematisiert, sondern nur die altgriechische
Polissittlichkeit ist dargestellt. Dieser Mangel an einem objektiven Moment scheint zur Folge
zu haben, dass der Sittlichkeitsbegriff in der PHG dem Hauptgedanken in der
18
Rechtsphilosophie nicht entsprechen würde; weil in der PHG die Objektivierungsform des
Willens, das rechtlich-politisch-staatliche System, nicht explizit dargestellt wird, ist der
Zusammenhang zwischen der PHG und der Enzyklopädie, was die Sittlichkeit betrifft, nicht
auf den ersten Blick offensichtlich. Es gibt zwar keinen expliziten Punkt in der PHG, in dem
man Ausführungen zum objektiven Sittlichen, insbesondere zum (auf der neuzeitlichen
Ebene erneuerten) Prinzip des Gemeinwesens, finden kann. Allerdings ist es m. E. sinnvoll,
die Sittlichkeit anhand der PHG zu untersuchen; wenn man nämlich den Sittlichkeitsbegriff
unter dem geschichtlichen Blickwinkel betrachtet, lässt sich erkennen, dass Hegel auch in
der PHG Austragungsorte des sittlichen Prinzips, m. a. W. der interpersonalen Anerkennung
darlegt, die man als Hauptmomente für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff auffassen kann.
In der PHG wird die Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes dargestellt, sodass diese
geschichtliche Gedankenlinie nachvollziehbar ist; in diesem Werk kann man die Genese der
behandelten Sache herausfinden. Das Wesen des Geistes (vom Standpunkt der
philosophischen Wissenschaft aus) ist erst dadurch erwiesen worden, dass sich (anhand der
PHG) aus dem Bildungsgang des Bewusstseins zum wahren Begriff des Wissens ergibt.
Indem
das
philosophische Subjekt die Notwendigkeit
dieses
Ü bergangs
zum
wissenschaftlichen Standpunkt erkennt, wird die Wahrheit nicht mehr als bloß
denkunabhängige Substanz betrachtet. Von der Warte des Bewusstseins aus muss sich die
Wahrheit nicht anders als in ihrem eigenen Entwicklungsverlauf manifestieren. Das
momentan irregeführte Bewusstsein kann, weil es aber potenziell wissenschaftsfähig ist,
nicht direkt den begreifenden Gedanken erreichen; nur der vollständige Vollzug verschafft
dem Subjekt die Möglichkeit, die Dynamik des wissenschaftlichen Systems tiefgründig zu
betrachten. Also lässt sich feststellen, dass sich die PHG und Hegels System der
philosophischen Wissenschaft gegenseitig garantieren; während das System dem
Bewusstsein den Grund für den wissenschaftlichen Standpunkt gibt, wird die substantielle
Wahrheit durch den Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG sichergestellt.
Um den Sittlichkeitsbegriff in der PHG zu betrachten, wird die vorliegende Arbeit
folgendermaßen eingeteilt.
In ihrem „Teil I: Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des Geistes“ wird die
Vielfalt der allgemeinen Ü berlegungen über die PHG dargestellt. Hier finden sich vor allem
ihre geschichtsbezogenen Betrachtungen in Bezug auf deren Konzeption und Aufbau; damit
19
wird man ihres Zusammenhangs mit Hegels Darstellung in seinem enzyklopädischen
System ansichtig.
Der „Teil II: Die Hauptmomente für die Sittlichkeit in der neuzeitlichen Welt: Moral und
Religion“ behandelt Hegels konkrete Darstellungen der Moralität und der Christlichkeit in
der PHG. Hier betrachtet er die beiden zwar als Gestalten des Bewusstseins, also als
Ü bergangsphasen zum Begriff der philosophischen Wissenschaft; aber das moralische
Gewissen und die offenbare Religion werden in dieser Arbeit als geistige Grundlagen für die
neuzeitliche Sittlichkeit, insbesondere die sittliche Gesinnung in der neuzeitlichen Welt,
aufgefasst, womit die zentrale These dieser Arbeit in Angriff genommen werden kann.
Der „Teil III: Die Sittlichkeit im Vergleich zu dem enzyklopädischen System“ zielt darauf
ab, den Zusammenhang des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG mit Hegels „Philosophie des
Geistes“ aus dem enzyklopädischen System zu herauszustellen. Dadurch soll der
Zusammenhang dieser Betrachtung Hegels mit seiner Lehre der neuzeitlichen Sittlichkeit
anhand des wissenschaftlichen Systems aufgezeigt werden.
20
TEIL I: Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des
Geistes
Die Vollstä ndigkeit der Form des nicht realen Bewußtseins
wird sich durch die Notwendigkeit
des Fortganges und Zusammenhanges selbst ergeben.
- Hegel, Phä nomenologie des Geistes
21
A. Das Grundkonzept der Phänomenologie des Geistes
1. Die früheren Bewertungen der Phänomenologie des Geistes
In Hegels Phänomenologie des Geistes (PHG), die im Jahr 1807 als sein erstes Meisterwerk
erschien, schlagen sich seine Bemühungen um eine eigenständige philosophische Methodik
bzw. Systematik nieder; dadurch hat diese Schrift einen eigentümlichen Rang, was Hegels
System der philosophischen Wissenschaft betrifft. Aber es ist auch unleugbar, dass seit der
Publikation der PHG bis jetzt viele Debatten über das Grundkonzept der PHG noch im Gang
sind. Um diese schon lange gefragten, aber – trotz aller seitherigen Anstrengungen – noch
unentschlüsselten Diskussionsthemen zu behandeln, geht es zu Beginn um die
Rezeptionsgeschichte der PHG.
Die PHG wurde in erster Linie von einigen frühen Interpreten als eine unerlässliche
Introduktion, um die philosophische Wissenschaft herzuleiten, aufgenommen; damit
artikulierte sie sich teils als ein Bericht über die Kavalierstour des menschlichen Geistes,
teils als eine genetische Vorstufe zum System der Wissenschaft, zu dem sie jedoch noch
nicht herangereift ist.15 Daran zeigen sich zwei entgegengesetzte Annahmen: 1) In der PHG
könne man zweifelsohne Hegels ernsthaft-geniale Bestrebungen entdecken, alle Bereiche
des menschlichen Wissens abzudecken, sodass die PHG ein originelles und produktives
Werk sei,16 und 2) die PHG basiere, trotz ihrer inhaltlichen Genialität, noch nicht auf der
wissenschaftlichen
Methodik,
sodass
sie
wegen
dieser
wissenschaftlichen
Unvollkommenheit eigentlich nicht dem System entspreche. 17 Diese divergierenden
Deutungstendenzen tauchten schon auf, als die sog. Hegelsche Schule in Teile zerfiel, sodass
die beiden Stellungen im Grunde miteinander unverträglich waren.18 Dennoch gibt es einen
Zu den Ausführungen des Charakters der P HG als der „Entdeckungsreisen“ und der „Propädeutik“ vgl.
Pöggeler (1993), S. 172-178.
16
Beispielsweise ist für Strauß die PHG „das A und O der Hegelschen Werke“, davon ausgehend behauptet er,
dass man darin „Hegels Genius“ finden könne. D. Fr. Strauß, Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 224.
17
Die Skepsis, ob die PHG die Wissenschaft ist, wird z. B. von Rosenkranzes Aussage der
„phänomenologische[n] Krisis des Systems bis 1807“ ausdrücklich indiziert. Rosenkranz (1844), S. 201.
Rosenkranz ist der Ansicht, dass Hegels Versuch, die PHG in sein System einzuordnen, misslungen sei,
obschon er zumindest seit der mittleren Jenenser Zeit darauf hinziele, seine philosophische Gesamteinsicht in
ein System zu bringen.
18
Hegels Philosophie wurde bekanntlich nach seinem Tod von seinen wissenschaftlichen Genossen oder
Anhängern, die sich größtenteils zu dem „Verein von Freunden des Verewigten“ vereinigten, und von seinen
Schülern – seien sie für Hegel oder gegen ihn – aufmerksam wahrgenommen. In diesem Rezeptionsvorgang
kann man die verschiedenen Flügel der Hegelschen Schule, grob gesagt, entweder in eine konservative, eine
reformistische und sogar eine revolutionäre Richtung einteilen oder in den „Linkshegelianismus“, den
„Rechtshegelianismus“ und die mittlere Position zwischen beiden. Zu der umfangreichen Klassifizierung der
22
15
Faktor, über den sich die beiden Richtungen inhaltlich miteinander in Verbindung bringen
lassen; sie beruhen nämlich auf der gemeinsamen Supposition, dass sich die PHG auf jeden
Fall nicht als eine Wissenschaft qualifiziere.19 Die meisten Interpretationen der PHG gehen
gewissermaßen von einer Annahme aus, auf die sich eine solche Supposition stützt. Als
Bespiele dafür kann man Folgendes anführen: Einige Leser sind der Meinung, dass Hegel
versucht habe, in der PHG zwei unverträgliche Konzepte, eine Epistemologie (als die
theoretische Philosophie) und eine Sozial- bzw. Geschichtsphilosophie (als die praktische
Philosophie) miteinander zu verschmelzen. Die Bewertung von Haym, dass die PHG
unverwechselbar als ein „Palimpsest“
20
erwiesen werde, ist überdies eine kaum
überbietbare Kennzeichnung für diesen Zusammenhang. Nachdem die PHG als ein
„Palimpsest“ etikettiert wurde, zeigt sich diese Bezeichnung als ein wesentlicher Beleg dafür,
dass sie ein verunglücktes Buch ist. Seit dieser Beurteilung wird die Deutungsweise, den
Hintergrund dieses Misserfolges im Bezug auf das Konzept der PHG zu erklären, immerfort
herangezogen.
Die PHG hat auf diese Weise vielerlei Interpreten zur Herausbildung ihrer eigenen
Gedanken angeregt; sie wurde dennoch nicht als die Wissenschaft selbst, sondern nur als die
Schwelle zur wissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Der Begriff wie der „Palimpsest“ ist
Hegelschen Schule vgl. z. B. Löwith (1978), S. 65-136.
Die „Althegelianer“, die sich um die Bewahrung der Philosophie Hegels bemühen, betonen in der Regel die
Abgeschlossenheit des hegelschen Systems; sie interpretieren dementsprechend die PHG als die bloße Vorstufe
zur wissenschaftlichen Systematik des reifen Hegel. Als ein Musterfall dafür ist Gabler, der als Hegels
Nachfolger 1835 an die Universität Berlin berufen wurde, anzuführen; Gabler (1827) konzipiert die
„philosophische Propädeutik“, die er grundsätzlich der hegelschen Phänomenologie entsprechend etablieren
will, zwar als den „Weg zur Wissenschaft, welcher [aber] die Wissenschaft noch nicht selbst ist.“ S. 11 f.
Im Gegensatz dazu heben die „Junghegelianer“, die die progressive Potenz des dialektischen Denkens in
Hegels Philosophie loben, meistens die Eigenständigkeit der PHG hervor, unter der Voraussetzung, dass man
Hegels eigenständige Denkmotive, besonders im Rahmen der praktischen Philosophie, mehr in diesem Werk
als in anderen entdecken kann. Die Bewertung von K. Marx, dass die PHG die „Geburtsstätte der Hegelschen
Philosophie“ sei, ist bezeichnend dafür. Marx u. Engels, Werke Erg.-Bd. 1, S. 571 f.
19
Etwa in der Perspektive wie Gablers kann die PHG wohl für unreif oder sogar für ungelungen gehalten
werden, wenn man sie mit den philosophischen Wissenschaften in Hegels Enzyklopädie vergleicht. Nach der
Behauptung von einigen Interpreten ist sie trotz ihrer gedanklichen Eigenständigkeit noch einigermaßen mit
unorganisierten bzw. willkürlichen Vorstellungen verknüpft. Dazu vgl. das obige Beispiel von Rosenkranz
(1844), bes. S. 205; Michelet (1967), S. 616 f. Auch K. Marx kritisiert die PHG, obgleich er ihren inhaltlichen
Wert achtet, indem er vorzugsweise aufzeigt, dass Hegels Darstellung ultimativ im „abstrakten“ Denken liege;
aus diesem Grunde stellt Marx fest, dass die PHG eine „verborgne [sic!], sich selbst noch unklare und
mystizierende“ Schrift sei. Marx u. Engels, a. a. O., S. 572 f.
20
Haym (1857), S. 238. Für ihn spiegelt sich die zur Zeit Hegels überwiegende Tendenz der politischen
Restauration auch in seinen Gedanken wider, sodass ein innovatives Motiv in Hegels Philosophie mit einem
anderen, also regressiven, Motiv verunstaltet wird. Wie in einem Pergament, von dem der ursprüngliche Text
getilgt und das danach von Neuem beschrieben worden ist, komme auch in der PHG neben einem Motiv noch
ein anderes zum Tragen: neben der regressiven Transzendentalphilosophie noch die innovative
Geschichtsphilosophie. Die PHG sei, so Haym, „eine durch die Geschichte [= die praktische Philosophie] in
Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine durch die Psychologie [= die theoretische
Philosophie] in Zerrüttung gebrachte Geschichte“. S. 238-243.
Zu der Bewertung der Position Hayms vgl. bes. Pöggeler (1973), S. 336; ders. (1993), S. 184 f.
23
das Signum, das die Tendenz der bisherigen Bewertungen ausdrückt. Diese Ansicht lässt
sich folgendermaßen zusammenfassen: Die PHG sei ein geniales, aber dennoch misslungenes
Werk.
24
2. Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System
Was die Stellung der PHG im Gesamtsystem Hegels anbelangt, geht es bis heute um ihr
Grundkonzept. Die PHG wird zuerst als die Einleitung in die philosophische Wissenschaft
konzipiert. Aber es ist laut Hegel auch unbezweifelbar, dass die PHG selbst, damit sie eine
Einführung zum System ist, im Grunde die „Wissenschaftlichkeit“ (W3.14 f.) hat; sein
phänomenologisches Programm beruht nämlich auf der Forderung, dass eine Hinführung
zum „absolute[n] Begriff“ (W3.591) der Wissenschaft ebenfalls zu dem wissenschaftlichen
System selbst gehören soll.
Hegels ursprünglicher Konzeption nach ist die PHG nichts anderes als ein Teil des Systems.
Das ist freilich nicht so eindeutig fassbar; wegen der Janusköpfigkeit, dass die PHG der Weg
zur Wissenschaft und zugleich die Wissenschaft selbst sein soll, kommt wiederum ein
Bedenken auf, inwiefern sie als die Wissenschaft zu betrachten ist; wenn die PHG eine
Einleitung ins System ist, macht sie nur den Anfang desselben aus, sodass sie nicht alle
Bereiche des wissenschaftlichen Systems abdecken könnte. Dieser Zweifel taucht zumal
nach der Herausgabe der PHG bereits in Hegels Systemgedanken gradweise auf; nachdem
ihre einleitende Funktion von ihm selbst bezweifelt wurde, wird sie entweder aus dem
System ausgeschlossen oder als ein bloßer Systemteil eingegliedert. Rekapitulieren wir diese
Varianten im Hinblick auf das Systemverhältnis der PHG, wie es sich anhand von Hegels
Aussagen darüber ermitteln lässt.
Die PHG entsteht aus Hegels Bemühungen darum, die notwendige Herleitung des
wissenschaftlichen Standpunkts von dem Bewusstsein überhaupt durch „die Darstellung des
erscheinenden Wissens“ (W3.72) zu rechtfertigen. Seitdem sich sein Ideal zur
eigenständigen Systemkonzeption entwickelt hatte, wurde eine das System vorbereitende
Disziplin bei ihm dringend.21 Hegel betrachtet seine Phänomenologie ursprünglich als die
Propädeutik und dieser Entwurf entspricht seiner Jenaer Konzeption.
22
Sein
Systemprogramm setzt sich in der PHG, mit Ausdrücken wie „Leiter“ oder
„Vorbereitung“ (W3.29; 38) formuliert, vollkommen durch. Aber wenn dieser Punkt
außerordentlich pointiert würde, könnte der Akzent bei dem Spezifikum der PHG
ausschließlich auf ihrer pädagogischen Funktion liegen. 23 Dementsprechend könnte man
21
Zu Hegels Entwicklung der Systemkonzeption vgl. die philologischen Studien Kimmerles (1967; 1969);
Pöggeler (1973), S. 341-345; Fulda (1973), S. 416-422.
22
Dazu vgl. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 59; 96; 99.
23
Als ein Vertreter dieser Position aus der aktuellen Literatur ist Mehring (2004) anzuführen. Er ist der Ansicht,
die PHG „entfaltet nicht das System, sondern dient nur seiner Wegbereitung“; er denkt, sie „dient der
Vorbereitung des Lesers auf das System“. S. 163 f.
25
sowohl meinen, dass die PHG als die philosophische Propädeutik irgendeine Anweisung zur
Wissenschaft dargestellt werde, als auch dass sie, weil auch diese nicht die Wissenschaft
selbst ist, ausschließlich mit Unterstützung der – ihr uneigentlichen – wissenschaftlichen
Methode dem Bewusstsein bei seinem Sprung zur Wissenschaft behilflich wäre. Diese
Deutungsweise der PHG gibt uns den Eindruck, als ob es die folgenden einander
entgegenlaufenden Faktoren gäbe: erstens das alltägliche Bewusstsein, zweitens die
stringente Wissenschaft und letztens die diese beiden miteinander verbindende, jedoch im
Grunde unwissenschaftliche Propädeutik. Dasjenige, „was man zunächst unter einer
Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseins zur Wissenschaft sich vorstellt“ (W3.31),
basiert im Allgemeinen auf dieser Annahme.
Allein man kann ohne den Zusammenhang zwischen der PHG und dem System nirgends
über ihre pädagogische Funktion sprechen; die PHG ist nicht einfach als die Propädeutik
aufzufassen, soweit Hegel selbst sie als Wissenschaft konzipiert. Diese Wissenschaftlichkeit
gilt dem Bewusstsein als die Form der „allgemeinen Verständlichkeit“ (W3.19).
Die verständige Form der Wissenschaft ist der allen dargebotene und für alle gleichgemachte
Weg zu ihr, und durch den Verstand zum vernünftigen Wissen zu gelangen, ist die gerechte
Forderung des Bewußtseins, das zur Wissenschaft hinzutritt (W3.20).
Die Wissenschaft überhaupt soll auch verständlich und deshalb akzessibel sein. Das
Bewusstsein ist berechtigt, von ihr zu verlangen, dass sie „exoterisch“ sein soll, nicht
„esoterisch“.24
Die PHG ist Hegel zufolge nichts anderes als der Vollzug des Bewusstseins, das allerdings
den „Weg“ zur Wissenschaft betritt und das die „Länge“ desselben standhaft erduldet
(W3.33). Das Bewusstsein bedarf keines Kanons außerhalb seiner selbst, mit dem es feststellt,
ob sein Wissen die Wahrheit ist. Der Grund dafür ist, dass das Bewusstsein selbst (potenziell)
wissenschaftsfähig ist. Dass das Bewusstsein kraft seiner eigenen Vollziehung zur
Wissenschaft
emporgehoben
wird,
bedeutet
nämlich,
dass
das
(momentan)
unwissenschaftliche Bewusstsein seine wissenschaftliche Potenz, d. h. den obigen absoluten
Begriff der Wissenschaft, realisiert.
Die „esoterische“ Wissenschaft ist für Hegel unbegreiflich und unmöglich zu lernen, sodass sie in der Lage
ist, ein Eigentum „einiger Einzelner“ zu sein; die „exoterische“ Wissenschaft ist hingegen „begreiflich und
fähig, gelernt und das Eigentum aller zu sein.“ W3, S. 20.
26
24
Wenn die PHG auch als Wissenschaft fungiert, muss sie auf einem Grundprinzip des
wissenschaftlichen Begriffs basieren. Als ein Systemdenker behauptet Hegel, dass „das
Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden
kann“ (W3.27), weil das Wissen des Bewusstseins laut Hegel nicht einfach als das obige
Sein für Anderes gedacht werden kann. „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert,
kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ (W3.14). Dadurch wird aufgezeigt,
dass die Philosophie die als System dargestellte Wissenschaft ist,25 sodass die Wahrheit in
dieser Wissenschaftlichkeit besteht. Deshalb kann die Philosophie nur aufgrund der
„Darstellung des Systems selbst“ (W3.22) wissenschaftlich sein. Weil dieses System dem
Bewusstsein eigen sein soll, ist die dynamische Systematik relevant für die PHG.
Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst
rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als
Subjekt aufzufassen und auszudrücken (W3.22 f.).
Das Wahre ist laut Hegel nicht einfach als die denkunabhängige Substanz zu verstehen,
sondern an ihm selbst Subjekt. Weder um die für das Subjekt unzugängliche Substanz noch
um das (ohne Umgang mit derselben) nur auf sich selbst pochende Subjekt, sondern um die
durch das Subjekt aufgefasste Substanz oder um das auf die Ebene der Substanz
emporgehobene Subjekt geht es in der Darstellung des Systems. Insofern geschehen alle
Stufen der Herausbildung zur Wissenschaft in der PHG im Zusammenhang mit dem System.
Was jeden Moment der Darstellung in der PHG in „eine wissenschaftliche Ordnung“ leitet,
das nennt Hegel „die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges“ (W3.593; 73).
„Durch
diese
Notwendigkeit
ist
dieser
Weg
zur
Wissenschaft
selbst
schon
Wissenschaft“ (W3.80). Die phänomenologische Darstellung stützt sich auf diese
Notwendigkeit, die die „bestimmte Negation“ 26 impliziert; Hegel zeigt sie als seine
25
Zum Zusammenhang von System und Wahrheit in der PHG vgl. bes. Vos (2004).
Bei dem geläufigen Skeptizismus wird der Inhalt des Gegenstandes restlos außer Kraft gesetzt. Diese
Methode bringt immer das erkennende Subjekt zum Zustand „der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit“,
weil die bisherige Wahrheitsaussage völlig negiert wird, dadurch bleiben, logisch gesagt, nur die
„kontradiktorischen Begriffe“ übrig. Bei der geläufigen Art von Negation wird einem Urteil („A ist B“) das
andere, welches das erste nur einseitig („A ist nicht B“) verneint, entgegensetzt. Diese „abstrakte“ Negation
bedingt nur die kontradiktorischen Inhaltsbestimmungen, aus denen das „reine Nichts“, d. i. die inhaltliche
Unbestimmtheit, resultiert, weil Nicht-B in der Tat Alles außer B bedeutet. Im Gegensatz dazu geht der „sich
vollbringende Skeptizismus“, auf der wahrhaften dialektischen Bewegung beruhend, davon aus, dass das
„Nichts bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert“. Durch diese „bestimmte Negation“ entsteht ein
bestimmter Wahrheitsgehalt, ohne dass alle Voraussetzungen abgelehnt werden (z. B. „A ist nicht B, sondern
C“). Also: „Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das
27
26
dialektische
Methodik
auf,
durch
die
er
die
vollständige
Reihenfolge
der
Bewusstseinsgestalten behandelt. Ü ber die Wissenschaftlichkeit der PHG, in der der Prozess
des Ü bergangs des Bewusstseins zum absoluten Begriff des Wissens dargestellt worden ist,
schreibt Hegel Folgendes:
Der Weg, wodurch der Begriff des Wissens erreicht wird, wird durch sie [= die Bewegung des
Wissens-Begriffs] gleichfalls ein notwendiges und vollständiges Werden, so daß diese
Vorbereitung aufhört, ein zufälliges Philosophieren zu sein, das sich an diese und jene
Gegenstände, Verhältnisse und Gedanken des unvollkommenen Bewußtseins, wie die
Zufälligkeit es mit sich bringt, anknüpft oder durch ein hin und her gehendes Räsonnement,
Schließen und Folgern aus bestimmten Gedanken das Wahre zu begründen sucht; sondern
dieser Weg wird die vollständige Weltlichkeit des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit umfassen
(W3.38).
Die PHG ist also nicht einfach als die Propädeutik zu verstehen, sondern im Rahmen der
wissenschaftlichen Systematik zu denken; sie ist schon die Wissenschaft, die ihre eigentliche
Methode in sich trägt. Das Bewusstsein ist potenziell wissenschaftsfähig und die PHG
beschreibt durch ihre wissenschaftliche Notwendigkeit den Prozess, den Begriff des Wissens
zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel die PHG in Heidelberger
Enzyklopädie (1817) als „die wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseins“ (GW13.34), in
der das Bewusstsein allmählich an sein geistiges Wesen herankommt; in ihr wird nämlich
der Gesamtentwicklungsgang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen System, d. i. die
Reihe der gesamten „Weltlichkeit des Bewußtseins“, vollständig geschildert. Also kann man
feststellen, dass ihr wissenschaftliches Charakteristikum in der Notwendigkeit und der
Vollständigkeit besteht.27
wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes [Nichts] und hat einen Inhalt“. Hegel denkt, dass diese
„bestimmte Negation“ die wahrhafte „Methode der Ausführung“ für den Vorgang sei, mit dem sich die
Dialektik des Wissens „durch die Notwendigkeit des Fortgangs und Zusammenhangs“ entwickelt. W3, S. 7276 u. 159-163; W8, S. 243 ff.
27
Dazu vgl.: „Die Vollständigkeit der Form des nicht realen Bewußtseins wird sich durch die Notwendigkeit
des Fortganges und Zusammenhanges selbst ergeben“ (W3.73). Dazu vgl. auch W. Marx (1981). S. 32 f.
Also soll man die in der PHG dargestellte „Vollständigkeit“ mit allem, was ist, meinen. Zu diesem Begriff bei
Hegel vgl. z. B. Folgendes: „Vollständigkeit heißt die vollendete Sammlung alles Einzelnen, was in eine Sphäre
gehört, und in diesem Sinne kann keine Wissenschaft und Kenntnis vollständig sein. Wenn man nun sagt, die
Philosophie oder irgendeine Wissenschaft sei unvollständig, so liegt die Ansicht nahe, daß man warten müsse,
bis sie sich ergänzt habe, denn das beste könne noch fehlen. […] Aber ein großer alter Baum verzweigt sich
mehr und mehr, ohne deshalb ein neuer Baum zu werden, töricht wäre es jedoch, keinen Baum der neuen
Zweige wegen, die kommen könnten, pflanzen zu wollen“ (W7.370).
28
Die PHG ist durch ihre eigentliche Notwendigkeit ins System zu integrieren und zugleich
zeigt sie sich als eine Hinführung zur Wissenschaft. Daraus, dass die PHG sowohl die
Wissenschaft selbst als auch die Einleitung in das System ist, lässt sich Folgendes folgern:
Die PHG ist die wissenschaftliche Einleitung, sodass sie sich an den ersten Teil des
wissenschaftlichen Systems einordnet. Aus diesem Grunde betitelte Hegel die PHG als
„G. W. Fr. Hegels System der Wissenschaft. Erster Band, Die Phänomenologie des
Geistes“ (W3.593). Das ergibt sich aus den mehrmaligen und vielfältigen Versuchen Hegels,
in der Jenaer Zeit seine eigene Systematik zu konstituieren. Mit dem Terminus
„Phänomenologie“, der in seiner Gegenwart schon weit verbreitet war,28 bezweckt Hegel
die Einführung in die Wissenschaft, deren Fundamentaldoktrin anhand der Wissenschaft der
Logik als seiner „Metaphysik“ oder „spekulative[n] Philosophie“29 abgehandelt wird. Die
PHG erreicht mittels ihrer ganzen Darstellung den absoluten Begriff der Wissenschaft, der in
der Logik als deren Anfang vorausgesetzt worden ist (W5.42); die PHG wird
dementsprechend als die Voraussetzung für die Logik. Hegels Jenaer Plan, nach dem die
„Logik“ initial als die Einleitung in die „Metaphysik“ konzipiert wurde, gestaltete sich durch
seine mehrjährigen Versuche30 hindurch auf diese Weise um. Seine Jenenser Konzeption
setzte sich eine Weile durch, genauer zumindest bis zum Zeitpunkt, in dem er den ersten
Band der Logik, also „Die objektive Logik“ (1812), in Nürnberg veröffentlichte; seinem
Gesamtsystem nach geht die PHG (1807), der erste Teil des Systems, dem zweiten Teil
desselben voraus, der neben der Logik auch die „Philosophie der Natur“ und die
„Philosophie des Geistes“ umfasst.
Der erste Teil
Das System der
Wissenschaft
Der zweite Teil
Die Einleitung in das System
Die spekulative
Philosophie
Die Realphilosophie
Die Phänomenologie
des Geistes
Die Wissenschaft der
Logik
Die Natur- und
die Geistes-Philosophie
Allerdings kann die PHG, die von Hegel primär als das Prolegomenon zur Wissenschaft
konzipiert wurde, nun keinen eigenen Platz mehr im enzyklopädischen System einnehmen.31
28
Dazu vgl. bes. Bonsiepen (1988), S. IX-XVI.
Dazu vgl. diese Formulierungen Hegels: „die logische Wissenschaft, welche die eigentliche Metaphysik
oder reine spekulative Philosophie ausmacht“. W5, S. 16. Vgl. noch W3, S. 39; 47; 55.
30
Zur ausgewogenen Hinführung dazu vgl. Pöggeler (1973), S. 341-345; Bonsiepen (1988). S. XVII-XXIX.
31
Im Gegensatz dazu gibt es die Position, dass sich Hegels Jenaer Konzept bis zum Gedanken des
29
29
Der
Titel
der
„Phänomenologie“
wird
stattdessen
durch
Hegels
nochmalige
Systementwürfe 32 hindurch in seiner Enzyklopädie als ein kleines Kapitel innerhalb der
„Philosophie des Geistes“ eingegliedert, das als „[d]ie Phänomenologie des Geistes.
Bewußtsein“ betitelt wird; damit verringert sich das inhaltliche Spektrum des Werkes
drastisch. Indem die PHG, was Hegels Systemgedanken angeht, für nebensächlich gehalten
wird, pflegt sie mittlerweile nur als vergängliches Werk charakterisiert zu werden. Die PHG
wird also weder als eine bloße Vorbereitung zum System noch als der ins System
einführende erste Teil desselben, sondern nun als ein Glied innerhalb des Systems
aufgenommen.33
Hegels schwankende Evaluation der PHG und deren Umdeutungsversuch führen uns zur
Skepsis, ob die PHG überhaupt eine das Bewusstsein zum wissenschaftlichen System
hinführende Wissenschaft sein kann. In der „Vorrede“ zur PHG legt Hegel deren
systematische Funktion als eine vorausgeschickte Einführung zum System klar, indem er
insbesondere aufzeigt, dass die PHG als die Wissenschaft von irgendeiner geläufigen,
enzyklopädischen Systems durchgesetzt habe. Dafür ist Beaufort (1983) bezeichnend. Er vertritt die These der
„Zusammengehörigkeit von System und Phänomenologie“, d. h. der „Kontinuität des Hegelschen Denkens“.
S. 1-4. Auch die Position Hansens ist anzuführen, der sagt, dass Hegel „die Phänomenologie zu keinem
Zeitpunkt aus dem endgültigen wissenschaftlichen System verabschiedet“ habe. Hansen denkt, dass die PHG
als „Hegels erste Darstellung des Gesamtsystems (d. h. des subjektiven, des objektiven und des absoluten
Geistes)“ fungiert und dass diese Stellung der P HG in Hegels System bis zu seinem Tod gar nicht verloren
gegangen ist. Hansen (1994), Vorwort.
Aber es ist meines Erachtens unleugbar, dass Hegel selbst die systematische Stellung der P HG mehr oder
minder relativiert hat.
32
Als Hegel als Rektor und Lehrer im Gymnasium in Nürnberg Vorlesungen für seine Schüler hielt, gestaltete
er die „Phänomenologie“ mit dem Titel „Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie“ oder
„Bewußtseinslehre“, doch mit der verkürzten Fassung um. Allmählich stellte er die „Phänomenologie“ als ein
Glied innerhalb der Abteilung der Philosophie vom subjektiven Geist fest. W4, S. 73-85; 111-123; Jaeschke
(2003), S. 208-211. Im zweiten Band der Wissenschaft der Logik (1816) befinden sich Bemerkungen Hegels,
dass die Phänomenologie „zwischen der Wissenschaft des Naturgeistes und des Geistes als
solchen“ eingeordnet wird (W6.495); die „Phänomenologie“ behandele wohl nicht mehr den instinkthaften
Geist (also die „Seele“), aber auch noch nicht den vernünftigen Geist(also den „Geist“ in seiner engeren
Bedeutung), sondern das Bewusstsein überhaupt. Hier ist das Arrangement der subjektiven Geistesphilosophie
in Heidelberger Enzyklopädie (die „Anthropologie“ als Seelenlehre => die „Phänomenologie“ als
Bewusstseinslehre => die „Psychologie“ als eigentliche Geisteslehre) vorweggenommen worden.
33
Schon in dem ersten Band der Wissenschaft der Logik (1812) sagt Hegel, dass der Anfang der Wissenschaft
ohne vorangestellte Erläuterungen der Thematik, d. h. nur mit dem „reine[n] Sein“ selbst, gemacht werden soll
(W5.65-79). Diese Bemerkung birgt eine Beschränktheit der einführenden Funktion der P HG in sich. In
Heidelberger Enzyklopädie (1817) ist nachdrücklich festgehalten, dass die PHG „nicht ein absoluter Anfang,
sondern ein Glied in dem Kreise der Philosophie“ sein soll (GW13.34).
In Berliner Enzyklopädie als deren zweiten Auflage (1827) grenzt Hegel die Phänomenologie auf den Bereich
der Bewusstseinslehre, nicht der eigentlichen Geisteslehre ein. Hegels Gedanke wird besonders in seiner
Bewertung der Philosophie Kants klargemacht, indem er denkt, „daß sie [= Kants Philosophie] den Geist als
Bewußtsein aufgefaßt hat, und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben
enthält“ (GW19.317).
In der „Vorrede zur zweiten Ausgabe“ der Wissenschaft der Logik, welche kurz vor seinem Tod (1831)
geschrieben worden ist, verdeutlicht Hegel seinen letzten Verzicht darauf, die PHG als den ersten Teil des
enzyklopädischen Systems zu betrachten (W5.18).
30
unwissenschaftlichen Propädeutik abweichen soll und muss. Seine Ausdrücke,
„historische“ bzw. „räsonierende Konversation“, das „gefühlte und angeschaute“ Absolute,
die „begrifflose“ und „abstrakte“ Denkweise, der „Formalismus“, „Dogmatismus“ usw.34,
beschreiben alles in allem die Beispiele für die – durch wissenschaftliche Bemühungen – zu
überwindende „Unmethode“ (W3.48).35 Aber es ist unleugbar, dass man eine Problematik
mit dem Grundkonzept der PHG herausfindet; denn Hegel limitiert schon seit der ersten
Publizierung der Logik die systematische Funktion der PHG mehr oder minder. Hegel sagt,
die Wissenschaft ist in der Lage, „ohne vorangehende Reflexionen von der Sache selbst
anzufangen“ (W5.35); indem die Logik voraussetzungslos mit sich selbst anfangen soll, wird
der systematische Rang der PHG nämlich prekär. Diese Lagen evozieren die streng
systematisch fundierte Vorstellung, dass man die PHG vom wissenschaftlichen System
isolieren solle. In der ersten „Vorrede“ zur Logik schreibt er dementsprechend, dass die PHG
und die Logik „das äußerliche Verhältnis“ (W5.18) zueinander haben. In der „Einleitung“ zur
Logik wird dargestellt, dass eine vorläufige Erläuterung über ihr Hauptthema nicht so nötig
sei, weil das Hauptthema der Logik „innerhalb ihrer“ (W5.35), also nicht in der
„Vorrede“ noch in der „Einleitung“, behandelt werden müsse. Diese Aussage scheint auch
zu implizieren, dass die PHG als die Einleitung ins System überflüssig sei.36
Aber trotz dieser Umstände kann niemand Folgendes verneinen: Die Aktualität der PHG
wird auf keinen Fall von Hegel abgelehnt, im Gegenteil besitzt sie immerwährend einen
erheblichen Stellenwert. Diesen Punkt kann man in der Aussage Hegels erkennen, und zwar
in seiner letztendlichen Bewertung der PHG, in seiner „Notiz zur Überarbeitung des Werkes
34
Dazu vgl. W3, S. 11-18; 21 f.; 40-53; 59f.; 63-67.
Diese Ausdrücke stellen die Reihenfolge der Betrachtungsweisen dar, die nur auf geläufigen Vorstellungen
basieren, sich mit einer Sache zu beschäftigen. Diese Vorstellungen werden von Hegel wie folgt widerlegt:
„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste
Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen“ (W3. 35). Auch
die Aussagen in der „Einleitung“ zur Wissenschaft der Logik wie „nur lemmatischer Weise“, „zugegebenerund bekanntermaßen“ usf. (W5.35 f.; 42) werden von ihm als unwissenschaftliche Vorstellungen angeführt.
Hegel beschäftigt sich in jeder „Vorrede“ zu den anderen von ihm selbst publizierten Werken intensiv mit der
Unterscheidung seiner eigenen (begrifflichen) Methode von den unphilosophischen Bemühungen. Dazu vgl.
W7, S. 11-28; W8, S. 11-38.
36
Dazu vgl. z. B. Habermas (1963), S. 30; Vos (1983), S. 33. Aber als ein starkes Argument für diese
Blickrichtung ist Ottmanns (1973) Polemik gegen die Idee der P HG anzugeben. Ottmann denkt, dass Hegels
Versuch, die PHG als die Einleitung ins System zu verwenden, scheitert. Der Grund dafür besteht nach Ottmann
darin, dass die PHG von vornherein in einer misslichen Lage ist; denn die PHG setze voraus, was durch ihre
Darstellung selbst bewiesen werden sollte, obgleich sie, um die wissenschaftlich zu sein, ihren Standpunkt
nicht voraussetzen, sondern beweisen soll. Ottmann wertet vorwiegend Hegels dialektische Denkweise, die
durch „die bestimmte Negation“ geprägt ist, ab, weil dieses Negationsmodell in Hegels Gedankengang nur
durch die Voraussetzung sein wahres Resultat erreichen kann. Seine Behauptung basiert auf seiner
Überzeugung, dass die Einleitung und das „abgeschlossene“ System unverträglich seien, weil „Hegels
absolutem Wissen [als dem Resultat der PHG] der Beweis der Wissenschaft [als der Logik] am endlichen
Wissen [d. h. vom Standpunkt des unwissenschaftlichen Bewusstseins aus] nicht gelingen kann.“ S. 27-39;
185-197; 211 ff.
31
35
von 1807“, in der er kurz vor seinem Tod (1831) seine Gedanken mit einigen Worten
umgerissen hat. Seine knappe Aufzeichnung lautet so:
re. Vorrede
Phaenomenologie
erster Theil eigentlich
a) Voraus, der Wissenschaft
das Bewußtsein auf diesen Standpunkt zu bringen
b) Gegenstand für sich fortbestimmen,
Logik, hinter dem Bewußtsein
c) Eigenthümliche frühere Arbeit,
nicht Umarbeiten, – auf die damalige Zeit der Abfassung
bezüglich – in Vorrede: das abstracte Absolute –
herrschte damals (GW9.448).
Hier tritt Hegels Bezeichnung „erster Theil eigentlich“ auf, die impliziert, dass die PHG
originär als der erste Teil des Systems gedacht wurde. Dieses Wort „eigentlich“ führt uns
zur Annahme, dass Hegel, zusammen mit seiner Andeutung über die Unvollkommenheit der
PHG, endlich auf die einführende Funktion der PHG verzichtet haben würde. Hegels
Bemerkungen in der Notiz, wie „nicht Umarbeiten“, lässt sich entnehmen, dass er
ursprünglich nur auf die Ü berarbeitung der „Vorrede“ zur PHG, nicht auf die des
wesentlichen Teils desselben hingezielt hat, weil seiner Auffassung nach die
Eigentümlichkeit der PHG nicht angezweifelt werden kann.37 Der dezisivste Grund für ihre
eigentümliche Stellung besteht nicht bloß in einigen Denkmotiven, beispielsweise in dem
„Kampf auf Leben und Tod“, dem „unglückliche[n] Bewußtsein“, der „schöne[n]
Seele“ (W3.149; 163; 484); die gedankliche Relevanz der PHG liegt auch in der
Eigenständigkeit ihres Gedankengangs selbst. Die PHG ist zwar nicht mehr ein Teil des
enzyklopädischen Systems; denn entweder steht sie außerhalb des Systems, insofern sie sich
Hegels ursprünglicher Konzeption nach gestaltet, oder verliert sie ihre systematische
Funktion, das Bewusstsein ins System einzuleiten, insofern sie als die Bewusstseinslehre
innerhalb des Systems fungiert. Aber die PHG wird trotzdem nicht überflüssig, selbst was
den Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Systematik betrifft. Dieser Gedanke Hegels
37
Dazu vgl. Jaeschke (2003), S. 180; Fulda (1965), S. 25-28 u. 160 f.; Pöggeler (1973), S. 351; ders. (1993),
S. 173; Bonsiepen (1988), S. LIV.
32
lässt sich an dem obigen Ausdruck „Voraus [...] der Wissenschaft“ ablesen. Dieser Terminus
„Voraus“ impliziert hinsichtlich seines Konzepts die folgenden Aspekte: Wenn man seine
Blicke auf die Wissenschaftlichkeit der PHG richtet, lässt sich erkennen, dass sie
Wissenschaft außerhalb des wissenschaftlichen Systems ist, d. h. dass die PHG als
(Vorbereitungs-)Wissenschaft außerhalb des Systems steht. Diese Bezeichnung erhebt den
Anspruch, das philosophische System auf der Ebene seiner Dynamik zu erfassen.38
Die PHG trägt für Hegel, wie schon erwähnt, „die Notwendigkeit des Fortganges und
Zusammenhanges“ (W3.73) in sich, die Hinführung zum wissenschaftlichen Standpunkt zu
ermöglichen. Diese Notwendigkeit liegt dem Bewusstsein im Rücken, aber sie rechtfertigt
die Bewegung des Bewusstseins, das freilich nicht weiß, dass „hinter seinem Rücken“ die
Notwendigkeit „vorgeht“ (W3.80); die Vollziehung des Wissens-Begriffs, die sich aus der
„Darstellung des erscheinenden Wissens“ (W3.72) in der PHG ergibt, ist schon durch die
Wissenschaft gekennzeichnet, da der Bildungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft in
der Notwendigkeit liegt. Wie in der obigen Notiz explizit wird, ist diese Notwendigkeit
hinter dem Bewusstsein nichts anderes als die der „Wissenschaft der Logik“, d. h. die der
spekulativen Wissenschaft. Mit der linearen oder eindimensionalen Sichtweise ist dieses
reziproke Verhältnis zwischen der PHG und dem wissenschaftlichen System (einschließlich
der Logik) unüberschaubar; denn Hegel denkt, dass die Logik die PHG als „Voraus“ der
Wissenschaft voraussetzt, obwohl die logische Notwendigkeit dem Bewusstsein vorausgeht.
Dass die Logik, die aus der PHG resultiert, wiederum dieser vorausgeht, scheint hinsichtlich
der formallogischen Kohärenz sinnwidrig zu sein.39
38
Volkmann-Schluck (1963) ist der Ansicht, dass die PHG nach der Konstruktion des enzyklopädischen
Systems nicht mehr ins System eingefügt wird, aber trotzdem noch zur Wissenschaft gehört, da sie als ein
Stufengang zum wissenschaftlichen Standpunkt ins System eingeordnet wird. Sein Argument beruht auf der
These von der „Geschichtlichkeit der Wahrheit“: Hegels Denken entwickelte sich auch nach der
Systemkonstruktion ohne Ende, und zwar mit seinen historischen Varianten. S. 9 f.; 15 f.
Allein diese These ist zu weit von Hegels Position entfernt, wenn mit dieser „Geschichtlichkeit“ die
unabgeschlossene, sozusagen offene Systematik der Wissenschaft gemeint ist, sodass sich die systematische
Grundstruktur durch die Entwicklung des Denkens ad infinitum verwandeln muss.
39
Gegen Hegels Jenaer Konzeption werden sogleich Bedenken und Einwände erhoben. Isaac von Sinclair
bemängelt an diesem Punkt Hegels Gedanken, indem er an Hegel schreibt, dass Hegels Beweis nichts anderes
als ein „Zirkel[schluss]“ sei. Als Begründung seines Urteils gibt er an: Obgleich die PHG die nicht
wissenschaftliche, sondern bloße „historische Darstellung“ sei, beruhe trotzdem die Logik auf der PHG, sodass
die Logik, die eigentlich der PHG vorhergehen soll, aus der PHG folge. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 395;
417.
Hösle (1988) sieht Hegels Philosophie als „eine Höchstform der Transzendentalphilosophie“ an. Dem Ansatz
von Düsing und K. Hartmann zustimmend, sowohl dass die P HG die Logik nicht begründen könne, sondern
diese nur auf sich selbst beruhe, als auch dass die Logik und die Enzyklopädie die vollkommene Gestalt der
Philosophie Hegels seien, konstatiert er, dass „unter begründungstheoretischen Gesichtspunkten die
Phänomenologie kein integrierender Teil des Systems sein kann“, sondern sie „nur eine propädeutische
Einleitungsfunktion“ hat. Die Begründung der Logik durch die PHG sei schon der Irrtum des Zirkelschlusses,
wie Sinclair gesagt hat. Als ein Beleg dafür verweist Hösle auf Hegels dahin gehende Bemerkungen in der
Enzyklopädie, dass der wissenschaftliche Standpunkt die gesamte Entwicklung der Bewusstseinsgestalten
33
Um diese Problematik zu lösen, ist es unabdingbar, diese lineare Denkweise zu
überwinden. Dass die Logik die PHG voraussetzt und zugleich dieser vorausgeht oder dass
die PHG durch den Ausdruck „Voraus“ des wissenschaftlichen Systems (inklusive der Logik)
ausgezeichnet wird und zugleich schon zur Wissenschaft wird (weil die PHG in der logischen
Notwendigkeit liegt), ist gar nicht widersinnig. Die Notwendigkeit, durch die sich das
Bewusstsein bis zum Begriff der Wissenschaft entwickelt, kann nämlich durch die
vollständige Darstellung selbst über den Entwicklungsgang des Bewusstseins zur
Wissenschaft aufgezeigt werden.
Dieser Entfaltungsgang des Bewusstseins wird nicht bloß auf den formellen (wie
epistemologischen) Vollzug des gegenstandsbezogenen Bewusstseins beschränkt; die PHG
handelt vielmehr von dem ganzen Vollzug des sowohl erkennenden als auch handelnden
Bewusstseins. Ü ber diesen Punkt schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie wie folgt:
In meiner Phänomenologie des Geistes […] ist der Gang genommen, von der ersten, einfachsten
Erscheinung des Geistes, dem unmittelbaren Bewußtsein, anzufangen und die Dialektik
desselben bis zum Standpunkte der philosophischen Wissenschaft zu entwickeln, dessen
Notwendigkeit durch diesen Fortgang aufgezeigt wird. Es konnte hierfür aber nicht beim
Formellen des bloßen Bewußtseins stehengeblieben werden; denn der Standpunkt des
philosophischen Wissens ist zugleich in sich der gehaltvollste und konkreteste; somit als Resultat
hervorgehend, setzte er auch die konkreten Gestalten des Bewußtseins wie z. B. der Moral,
Sittlichkeit, Kunst, Religion voraus. Die Entwicklung des Gehalts, der Gegenstände
eigentümlicher Teile der philosophischen Wissenschaft fällt daher zugleich in jene zunächst nur
auf das Formelle beschränkt scheinende Entwicklung des Bewußtseins, hinter dessen Rücken
jene Entwicklung sozusagen vorgehen muß, insofern sich der Inhalt als das Ansich zum
Bewußtsein verhält (W8.91 f.).
Diese Aussage ist bemerkenswert, weil Hegel hier feststellt, dass die konkreten
Bewusstseinsgestalten eben den formellen vorhergehen, demnach der Gegenstand der
Erkenntnis (der dem Bewusstsein als „Ansich“ erscheint) aus jenen konkreten Teilen der
Philosophie resultiert. Der Fortgang des Bewusstseins zur Wissenschaft soll nicht allein die
voraussetzt. Diese Voraussetzung bleibe „nur in einem historisch-psychologischen“ Rahmen, denn die
Emporhebung des Bewusstseins zum absoluten Begriff des Wissens geschehe dadurch, dass die Zufälligkeit
bzw. die Unvollständigkeit der Bewusstseinsformen auf der historisch-psychologischen Ebene, die sich aus
dem entscheidenden Defizit des unwahren Bewusstseins ergibt, überwunden wird. Aus diesem Grunde
diagnostiziert Hösle, dass diese Voraussetzung unhaltbar sei und im Unterschied dazu die wahre Voraussetzung
nur „in einem geltungstheoretischen Sinn“ aufzunehmen sei. S. 12-15; 58 f.
34
Bildung des „Formellen des bloßen Bewußtseins“, d. h. nicht nur den epistemologischen
Prozess, abdecken;40 er muss ebenso sehr in „konkreten Gestalten des Bewußtseins“ oder
in realen „Gestalten einer Welt“ (W3.326) geltend gemacht werden; dadurch setzt die PHG
nicht nur den erkenntnistheoretischen Vollzug, sondern auch die Bereiche der praktischen
Philosophie, wie „Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion“, voraus.
Hegels Feststellung, dass diese konkreten Geltungsbereiche des in die Praxis umsetzenden
Bewusstseins, wie die „Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion“, gewissermaßen dem
Entfaltungsgang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt angehören, gibt uns
eine neue Deutungsweise der PHG; denn man muss denken, dass in ihr auch der reale
Wirkungskreis des Bewusstseins als der Gegenstand der Sozial- und Geschichtsphilosophie
spezifisch thematisiert worden ist. Während die „Phänomenologie des Geistes. Das
Bewußtsein“ in der Enzyklopädie, genauer innerhalb des subjektiven Geistes, sich nur auf
eine theoretische oder epistemologische Sphäre des Bewusstseins beschränkt, bezieht die
PHG sowohl diese Sphäre als auch den praktisch-sozialphilosophischen Rahmen mit ein,
sodass jene Verschränkung den wesentlichen Gedankengang der PHG nicht dekomponiert;
dass sich die PHG als Einleitung ins System nicht auf die formellen Gestalten des
erkennenden Bewusstseins beschränkt, sichert vielmehr ihre Wissenschaftlichkeit. Die PHG
ist also gar nicht überflüssig und sogar ihre systematische Funktion wird nicht völlig
wirkungslos, weil der Bildungsprozess des Bewusstseins in der PHG zumindest unter
theoretischen oder praktischen Blickrichtungen seine eigene Stelle einnimmt.
In diesem Zusammenhang muss man sorgfältig darüber nachdenken, inwiefern die PHG
als eine wissenschaftliche Hinführung zum enzyklopädischen System fungiert. Um auf
diesen Punkt einzugehen, richten wir unser Augenmerk auf Hegels Ausführungen anhand
der Logik. Hier zeigt Hegel einerseits auf, dass die Wissenschaftlichkeit der PHG im Bezug
auf die Logik eine affirmative Funktion hat, indem er über den „Weg“ des Bewusstseins zum
absoluten Begriff des Wissens Folgendes schreibt:
Dieser Weg geht durch alle Formen des Verhältnisses des Bewußtseins zum Objekte durch und
hat den Begriff der Wissenschaft zu seinem Resultate. Dieser Begriff bedarf also (abgesehen
davon, daß er innerhalb der Logik selbst hervorgeht) hier [d. h. in der Logik] keiner Rechtfertigung,
weil er sie daselbst erhalten hat; und er ist keiner anderen Rechtfertigung fähig als nur dieser
40
Dazu vgl. Fulda (1965), S. 115.
35
Hervorbringung desselben durch das Bewußtsein, dem sich seine eigenen Gestalten alle in
denselben als in die Wahrheit auflösen (W5.42).
Hier sind insbesondere drei Punkte bedeutsam: 1) Die spekulative Philosophie (unter
Anlehnung an das spekulative oder begreifende Wissen) (W3.554; 582) bedarf zwar keiner
besonderen Rechtfertigung, weil der absolute Begriff der philosophischen Wissenschaft
voraussetzungslos „innerhalb der Logik selbst“ abgehandelt werden kann; aber er ist das
„Resultat“ des Bildungsgangs des Bewusstseins. 2) Andererseits aber liegt der Grund für die
Voraussetzungslosigkeit
der
Logik
darin,
dass
der
Wissenschaftsbegriff
diese
Rechtfertigung „daselbst“, i. e. in der PHG, schon erhalten hat. 3) Nichts anderes als das
Bewusstsein bringt allerdings den Begriff hervor; die Reihe der Bewusstseinsgestalten wird
durch seinen Vollzug „in die Wahrheit“ emporgehoben, weil das Bewusstsein selbst im
Wesentlichen wissenschaftsfähig ist.
Allein Hegel zeigt zugleich eindeutig auf, dass die Logik als der absolute Anfang des
Systems die obige Voraussetzungslosigkeit hat, indem er die Voraussetzungslosigkeit der
Logik klarmacht;41 er betont nämlich neben der Funktion der PHG als der Voraussetzung
auch die „Notwendigkeit, mit dieser Wissenschaft [der Logik] wieder einmal von vorne [also
ohne Voraussetzung] anzufangen“ (W5.16).
Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so
bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur
der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als
solches betrachten wolle, ist vorhanden […]; er [= der Anfang] darf so nichts voraussetzen
(W5.68 f.).
Hier gibt es einen Ausdruck, der unsere Aufmerksamkeit erregt, also den „Entschluß“, der
sich auch in der Heidelberger Enzyklopädie als „Entschluß, rein denken zu
wollen“ (GW13.35), darstellt; es sei die Angelegenheit des Entschlusses, ohne
Voraussetzung mit dem reinen Denken anzufangen, obgleich dieser Entscheid sogar als
„eine Willkür“ angesehen werden könnte. Dieser „Entschluß“ beinhaltet die Unternehmung
des Subjekts, mit Ü berlegung und Nachdenken eine Option aus den anderen auszuwählen.
41
Unter Berufung auf Hegels Bemerkungen behauptet z. B. Vos (1983) die Beschränktheit der PHG, und zwar
vorausgesetzt, dass aus ihrer Darstellung nicht ein Beweis des begreifenden Wissens stattfindet. S. 32 ff.
36
Daher muss man diese Frage stellen: Was das Subjekt denn ausgewählt hat, wenn es sich
entschlossen hat, „rein denken zu wollen“?
Der Grundzug der Jenaer Systemkonzeption weist schon darauf hin, was Hegels
Aufzeichnung „Voraus“ der Wissenschaft (GW9.448) anzeigt. Es ist wohl unleugbar, dass
sich die Logik (als die Fundamentaldoktrin der philosophischen Wissenschaft) oder die
Enzyklopädie (als das ausgeführte System der philosophischen Wissenschaft) auf sich selbst
gründet; aber auch die PHG hat im Verhältnis zum System einen eigenen Grundcharakter.
Die endgültige Begründung der Wissenschaft ist selbstverständlich nur innerhalb der Logik
zu behandeln, indem man mit der voraussetzungslosen Logik anfängt; dennoch deutet diese
Behauptung nicht gerade an, dass es keinen anderen Weg zur Begründung der Wissenschaft
als jene Letztbegründung innerhalb der Logik gebe.
Die PHG macht zwar insoweit nicht mehr den Anfang des Systems aus, als sie außerhalb
des Systems steht. Aber die Darstellung in der PHG ist im Rahmen der bereits erwähnten
„allgemeinen
Verständlichkeit“
(W3.19)
sowohl
die Ausführung der
logischen
Notwendigkeit als auch die Rechtfertigung derselben; hierdurch wird die Logik begreiflich,
lehr- und lernbar, damit zugänglich für jedes Bewusstsein. Die Wissenschaftlichkeit der PHG
bedeutet, dass der absolute Begriff der Wissenschaft ausführbar und rechtfertigbar sein soll,
sodass das philosophische Subjekt von der Erhebung zum Standpunkt der Wissenschaft
überzeugt ist. Das philosophische Bewusstsein hat infolgedessen das absolute „Recht“, von
der Wissenschaft die „Leiter“ zum wahren Standpunkt der Wissenschaft zu fordern (W3.29).
Die PHG geht deswegen vom Standpunkt des (mit philosophischen Ü berlegungen
beginnenden) Subjekts aus der Logik vorher, weil sie das „Voraus“ der Wissenschaft ist. Die
PHG steht nun außerhalb des wissenschaftlichen Systems, sie ist trotzdem als eine
Wissenschaft in der Lage, auf andere Weise (als bei der Enzyklopädie) den Begriff der
Wissenschaft zu rechtfertigen. Ergo bietet sich sie – mit Fuldas Formulierungen – „als
Rechtfertigung der Wissenschaft gegenüber dem Bewußtsein“ 42 dar. Diese Begründung
42
Fulda (1965), S. 12; 160. Er vertritt insbesondere die Stellungnahme: Nach der Konstruktion des
abgeschlossenen Systems sei die PHG nicht mehr als der erste Teil des Systems, dennoch ebenso nicht bloß als
die Lehre des Formellen des Bewusstseins (als Systemglied) aufzufassen, sondern bekomme die eigentümliche
Stellung eines „Voraus“ der Wissenschaft. Die Einleitungsfunktion sei für die Enzyklopädie noch notwendig,
denn das Subjekt habe das Recht, die Einleitung in die Wissenschaft zu verlangen. Um den Anspruch des
Bewusstseins nachzukommen, „muss“ das absolute Wissen also „sich eine systemexterne Beglaubigung
verschafften.“ S. 1-12; 110-124; 160 f.; 297 ff. Sein Argument ist mit der Nötigung der geschichtsbezogenen
Betrachtung der PHG eng verwoben, die im nächsten Abschnitt eingehend thematisiert wird.
Was die Thematik „eine systemexterne Beglaubigung“ angeht, muss man die Position von Puntel (1973)
beachten. Puntel will, von der These Fuldas ausgehend, trotzdem über den Gedanken Fuldas hinausgehen.
Puntel behauptet, dass die PHG nicht bloß den systemexternen Charakter, sondern ein anderes System Hegels
ausmache. Puntel ist der Ansicht, dass es drei mögliche Darstellungen des Systems in Hegels Philosophie gebe,
von denen eine die Phänomenologie sei. S. 308-346. Aber das Argument von Puntel ist m. E. unplausibel;
37
geschieht gegenüber dem Subjekt; sie geschieht zwar außerhalb des Systems im engeren
Sinne, aber in Bezug auf das Subjekt oder vielmehr zu Gunsten desselben.
Hegel begründet explizit nur das eine System.
38
3. Die Deutungsweisen der Phänomenologie des Geistes
Die Frage, unter welchem Gesichtspunkt man sich mit der PHG beschäftigen solle, gehört zu
den meistdiskutierten Themen, was die Hegel-Studien anbelangt. Es gibt zu viele PHGInterpretationen, 43 als dass man sie leicht unter eine bestimmte Zahl von Kategorien
einordnen könnte. Diese Arbeit intendiert gleichwohl, die bisherigen Interpretationsweisen
der PHG in die zwei Richtungen aufzuteilen: in eine werk-transzendente Herangehensweise
und in eine werk-immanente.
Als die werk-transzendente Richtung, dem Verhältnis der PHG zu den außerhalb derselben
liegenden Umständen Beachtung zu schenken, ist zuerst die Intention oder Absicht des
Autors zu beachten, die insbesondere aus Hegels Selbstbewertung des Werkes
44
herauszulesen ist. Die PHG wird zweitens unter dem eigentlichen Aspekt des Lesers, d. h.
jeweils
aus
seiner
bestimmten
Ansicht,
analysiert.
45
Diese
perspektivische
Betrachtungsweise ermöglicht uns zwar, Hegels Philosophie reichhaltig zu verstehen; sie
soll dennoch durch eine exakte Textanalyse ergänzt werden, damit man sich der eventuellen
willkürlichen (sogar parteiischen) Interpretation entledigen kann. Es ist drittens von den
werkgeschichtlichen Tendenzen zu sprechen, durch die man das Werk unter Berufung auf
seine Entstehungs-, Entwicklungs- oder Wirkungsgeschichte beurteilt. Dazu trägt vor allem
die philologisch-historische Forschung 46 bei, die darauf hinzielt, uns zu zeigen, welche
äußeren Umstände die Entwicklung des hegelschen Gedankens bedingt haben. Mit dieser
positivistischen
Betrachtungsweise
wird
bezweckt,
uns
die
wissenschaftliche
Vorurteilsfreiheit zu garantieren, aber das kann nur dann zuträglich sein, wenn man die
Reihe der umfangreichen Materialien nicht einfach als die bloße Historie betrachtet, die als
der bloß vergangene Sachverhalt nicht mit der eigenen Einsicht des Autors verknüpft wird.
43
Zu den verschiedenen Interpretationsweisen sind m. E. nachfolgende Bemühungen besonders
zweckdienlich: Puntel (1973), S. 267-271; W. Marx (1981), S. 11-13; Becker (1971), S. 7-18; Weckwerth
(2000), S. 103-127.
44
Zu Hegels eigenem Jenaer Systemkonzept vgl. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 132, 134 u. 161;
Rosenkranz (1844), S. 202 u. 214. Zu seinem endgültigen Jenaer Konzept vgl. W3, S. 593; W5, S. 18, 35 u.
42 f. Zu seinem implizierten Bekenntnis über die Unvollkommenheit des Werkes vgl. Briefe, Bd. 1, S. 157 ff.;
GW9, S. 448. Zu seiner Umdeutung des Werkes vgl. GW13, S. 34; W8, S. 91 f.; W5, S. 18.
45
Für diese Tendenz sind die lebensphilosophisch-historistischen (bei Dilthey), die sozialphilosophischanthropologischen (bei K. Marx) und die phänomenologisch-ontologischen Bemühungen (bei Heidegger)
bezeichnend. Die eigentlichen Textanalysen dieser Interpreten haben sich auf die späteren Textdeutungen
ausgewirkt.
46
Als Beispiele dafür kann man Rosenkranz (1844), Haym (1857) usw. anführen, aber besonders ist Haering
(1934) bezeichnend, der einen großen Einfluss auf die intensive Hegel-Forschung in den 1960er Jahren von
Kimmerle (1967; 1969), Pöggeler (1973; 1993), Fulda (1965; 1973) usw. ausübt.
39
Die werk-immanente Haltung besteht darin, die Bedeutung des Textes möglichst so gut,
wie er da steht, herauszulesen, indem man sich so genau wie möglich daran hält. Wenn diese
Richtung nur ein für kritiklos-buchstäbliches Hinnehmen der Bemerkungen Hegels gehalten
wird, ist die absolute Immanenztheorie unhaltbar; denn es gibt nirgends eine völlig
vorurteilsfreie, unvoreingenommene Position und der unbefangene Leser könnte
paradoxerweise in einer unbegründeten Fiktion befangen sein.47
Daher muss man statt der obigen – jeweils einseitigen – Deutungsweisen seine
Aufmerksamkeit auf sonstige stichhaltigere richten. Dafür sind namentlich die logische und
gleichermaßen die geschichtliche Untersuchung kennzeichnend; die meisten aktuellen
Haltungen beruhen m. E. überhaupt auf einer dieser beiden Herangehensweisen.
Die logische Interpretation der PHG beginnt mit dem Ansatz, dass eine grundlegende
Logizität den Werdegang zum Begriff der Wissenschaft begründet, sodass man den
notwendigen Ü bergang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt begrifflich
erfassen kann. Diese Fundierung setzt wiederum das entsprechende Verhältnis der logischen
Bestimmungen zum Entwicklungsgang des Bewusstseins voraus, und zwar die
Gleichursprünglichkeit48 des enzyklopädischen Systems und der PHG im Hinblick auf die
immanente Logizität. Weil diese Richtung unter Bezugnahme der PHG auf das System
gedacht wird, kann man sie als die logisch-systematische Untersuchung bezeichnen, die nach
einigen Kriterien weiter ausdifferenziert werden muss.
Um den systematischen Zusammenhang zwischen der PHG und der Logik zu beweisen, ist
in der Tat die immanente Gemeinsamkeit von beiden vollständig und genau aufzuzeigen.
Als Versuche, die logische Grundlage für die PHG zu suchen, wird die durch die intensive
philologisch-logische Deutung vorgebrachte Logizität angenommen. Es gibt erstens eine
Behauptung, dass die Entwicklung des Bewusstseins bloß als „Konkretion logischer
Kategorien“ 49 anhand der Logik anzusehen sei. Aber diese streng logisch fundierte
Vorstellung kann entgegen der ursprünglichen Absicht direkt die Eigentümlichkeit der PHG
47
Diese werk-immanente Richtung basiert im Grunde auf der hermeneutischen Methode Gadamers, der die
bisherigen Fehlinterpretationen berichtigen will, indem er anhand der präzisen Lektüre dessen, was Hegel
ursprünglich in seinen Texten ausdrücken wollte, seine Gedankengänge so genau wie möglich nachvollzieht.
Aus diesem Grunde bezweckt Gadamer, „Hegel buchstabieren zu lernen“. Aber sogar diese Buchstabierung
bedeutet kein blindes Hinnehmen. Gadamer zielt mit dem „Nachvollzug“ des hegelschen spekulativen Denkens
darauf ab, z. B. „das griechische Substrat im Denken Hegels“ ausfindig zu machen. Gadamer (1971), S. 5 f.
Zur Kritik an einer absoluten Immanenztheorie vgl. Puntel (1973), S. 268.
48
Bezüglich dieser Thematik ist bes. ein Vergleich Pöggelers (1973) tauglich, dass „Phänomenologie und
Logik so etwas wie eine ‚Zwiesel‘ sind – ein Baum mit zwei Stämmen, die aus einer Wurzel und aus einem
Grundstamm erwachsen“. S. 359.
49
Heinrichs (1974), S. XI-XIII.
40
selbst als eines eigenständigen Werkes beschädigen.50 Insofern die Logik werkgeschichtlich
gesehen der PHG nachfolgt, halten einige Forscher überdies dieses Unternehmen für einen
Zirkelbeweis, i. e. für einen typischen Beweisfehler, das zu beweisende Resultat
vorauszusetzen. Zweitens kann man denken, dass Hegel nicht der Logik, sondern
irgendeinem der PHG chronologisch vorhergehenden (nämlich unter seinen Jenaer
Systemkonzeptionen) Fragment die logische Struktur der PHG entnehme. Die Position, in
der man die Skizze als den Entwurf der Darstellung interpretiert, resultiert außerdem bloß
unter Anlehnung an die Probabilität aus dem Vorhaben, Hegels Systemkonzept fruchtbar
abzuhandeln. In diesem Zusammenhang wird die chronologisch der PHG vorausgehende,
zumal
eine
knappe
über
Skizze
die
„speculative
Philosophie“
„Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/6)“ bezeichnet.
51
aus
dem
Obwohl diese
Annahme jedoch das tatsächliche Konzept Hegels wiedergäbe, ist diese Logik-Skizze
wörtlich die bloße Umrisszeichnung für die immanente Struktur der PHG; deshalb kann
niemand nur mit dieser Skizze ein konkretes Entsprechungsverhältnis zwischen beiden leicht
erfassen. Diese Annahme sollte also nicht zu stark unterstrichen werden.
Im
Gegensatz
dazu
gibt
es
eine
andere
Unternehmung,
die
philologische
Kontextualisierung mehr oder weniger einzuschränken. Zunächst wird die Ü berlegung, die
der PHG zugrunde liegende Logizität ausschließlich innerhalb dieses Werkes zu suchen,
angestellt.
52
Dieser immanent-logischen Untersuchung gemäß kann man mit den
Darstellungskategorien, die von Hegel als Komponenten der dialektischen Methodik
innerhalb der PHG formuliert werden, – etwa das Ansich-, Fürsich- und Aunundfürsichsein,
das abstrakte Wesen, das Anderswerden, das bei sich Sein in seinem Anderen u. a. – dem
Gedankengang der PHG konsequent folgen.
Es gibt auch einen anderen Versuch, um aus dem philologischen Rekurs loszukommen,
aber die PHG insgesamt einheitlich zu verstehen. Diese Einstellung in der vorliegenden
Arbeit, in der die geschichtliche Thematisierung genannt wird, resultiert aus der Auffassung,
dass es zum Ü bergang des Bewusstseins zur Wissenschaft grundsätzlich eines zeitlichen
50
Zur Kritik der starken logischen Deutung vgl. Weckwerth (2000), S. 110; 127.
Diese Skizze lautet „absolutes Seyn, das sich andres, (Verhältniß wird) Leben und Erkennen – und wissendes
Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich“. GW8, S. 286. An dieser Annahme wurde zwar Kritik unter
Berufung auf andere Hypothesen geübt. Fulda (1965), S. 140-145; Heinrichs (1974), S. XIII. Aber jene
Annahme (ursprünglich Pöggelers) wurde nach und nach von anderen Interpreten umfassend angenommen.
Pöggeler (1973), S. 362 ff.; Fulda (1973), S. 424; Trede (1975), S. 195-209; Düsing (1976), S. 156-159;
Bonsiepen (1988), S. XXVI-XXIX; Hösle (1988), S. 121; Jaeschke (2003), S. 178. Zu den Ausführungen über
das Entsprechungsverhältnis der Skizze zur P HG vgl. Pöggeler (1988), S. 20-30; Schäfer (2001), S. 164-176.
52
Dazu vgl. Scheier (1986), S. XIf.
41
51
Vorgangs bedarf. Diese Kontextualisierung ist ebenfalls ein konstanter Faktor für die PHGDeutung, sofern dieses Werk den Bildungsprozess des Bewusstseins darstellt.53
Die geschichtliche Richtung ist nach dem grundlegenden Merkmal weiterhin
auszudifferenzieren, das mit der oben (in dem Abschnitt „A. 1. Die Bewertungen der
Phänomenologie des Geistes) erwähnten Thematik „Palimpsest“ gemeint wird. Diese These
impliziert, dass die PHG nicht kongruent aufgebaut worden sei, sondern zwei heterogene
Grundmotive durcheinander gebracht hätte; die zwei Faktoren, nach Haym die
„Psychologie“ und die „Geschichte“,54 sind in ein Werk geflochten worden. Die beiden sind
als Bestandteile der geschichtlichen Strukturierung zu betrachten: der erste als die
Geschichte auf der epistemologischen Ebene und der zweite als die auf der sozial- und
geschichtsphilosophischen Ebene.55 Nach der Weise, auf welche Ebene man eine besondere
Akzentuierung legt, sind die geschichtlichen Untersuchungen in zwei Teile aufzugliedern,
die auch mit den obigen perspektivischen Bemühungen eng verwoben sind. Erstens: Es
handelt sich um die Kontextualisierung des neuzeitlichen idealistischen Vollzugs (von
Descartes bis zum deutschen Idealismus), insbesondere unter Berufung auf Diltheys
53
Selbst bei der logischen Interpretation wird wohl das geschichtliche Moment in Erwägung gezogen. Die
PHG zeigt dem Bewusstsein auf, wie die Wahrheit der spekulativen Logik endlich für das Subjekt zugänglich
wird, und deshalb kann sich die Logizität innerhalb der PHG gleichsam als die Geschichte der logischen
Bestimmungen gestalten.
Pöggeler (1993) thematisiert im Speziellen unter dem philologisch-logischen Blickwinkel die
Geschichtlichkeit. Was die Geschichtsbezogenheit bei der logischen Interpretation betrifft, gibt Pöggeler vor:
„Die Phänomenologie stellt das System der spekulativen Bestimmungen als Geschichte dar. Sie setzt die
spekulativen Bestimmungen als Gegenstände der Gestalten des Bewußtseins und ist so eine Entäußerung der
Logik aus der Form des reinen Begriffs in die Geschichte der Erfahrungen, die das Bewußtsein mit seinen
Gegenständen macht.“ S. 354. Zu dem Zusammenhang zwischen der PHG, dem System und der
Geschichtlichkeit vgl. Weisser-Lohmann (1998) S. 183-189.
54
Haym (1857), S. 238-243.
55
Die epistemologische Tendenz beruht m. E. auf der geistesgeschichtlich fundierten Perspektive
(ursprünglich von Dilthey) und die sozialphilosophische ergibt sich aus der Position, in der man (von K. Marx
beeinflusst) hauptsächlich die reale Weltgeschichte behandelt. Neben Kojève (1975), Lukács (1967) und
Hyppolite (1946) interpretieren auch Beaufort (1983), Dellavalle (1998) u. a. den ganzen Entfaltungsgang des
Bewusstseins direkt als die Weltgeschichte. Jaeschke (1996) beachtet die Geschichtlichkeit des Geistes, um die
systematische Funktion der PHG zu ergründen.
42
geistesgeschichtliche Position.56 Auch die sog. phänomenologische Position Heideggers57
gehört zu diesen Betrachtungsweisen. Zweitens: Der Gedankengang der PHG wird als der
Prozess verstanden, der die Zielsetzung der Menschheit in der konkreten sozial-kulturellen
Welt realisiert. Diese geschichts- und sozialphilosophischen Bemühungen werden
hauptsächlich vom Marxismus überhaupt motiviert.58
56
Diltheys Position besteht in der Einsicht, dass Hegels Philosophie für die Theorie des Begriffes des
„Lebens“ oder dessen geschichtliche Auffassung bezeichnend sei. Für Dilthey sei Hegels Denken seit seiner
Jugendzeit eng auf alle Gesamtgestaltungen des Lebens bezogen. Dilthey, Werke, Bd. 4. Die Eigentümlichkeit
der hegelschen Philosophie liege nach Dilthey eben in der „Einführung des begrifflichen Denkens in die
Geschichte“, sodass Hegel zur geschichtlichen Kontextualisierung des neuzeitlichen Bewusstseins oder zur
Transzendentalphilosophie beitrage. Diltheys Interpretation zufolge bezeichne sich der Entwicklungsgang des
Bewusstseins als derjenige Prozess, der den Dualismus der Transzendentalphilosophie überwindet. Dilthey
(1961), S. 131 f. Den Hauptgegenstand der PHG bezeichnen andere Interpreten als „die transzendentale
Geschichte des Bewußtseins“ oder „die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins“. Pöggeler (1973),
S. 375; Düsing (1993), S. 107. Von dem Ansatz Diltheys ausgehend haben seine Schüler sich mit dem Thema
der philosophischen Geschichte in der deutschen klassischen Neuzeit beschäftigt. Dazu vgl. N. Hartmann
(1960); Kroner (1961).
57
Heidegger betont unter Berufung auf diese Wahrheitsfähigkeit der „Darstellung des erscheinenden Wissens“,
dass sich dieses Wissen von dem natürlichen Bewusstsein absetzen müsse. Diese Darstellung bezeichne sich
als die Darstellung des abendländischen philosophischen Denkens. Dazu vgl. Heidegger, „Hegels Begriff der
Erfahrung“, in: Werke, Bd. 5, S. 115-208. Zu den eingehenden Bemerkungen in diesem Aufsatz zum
Zusammenhang der Grundidee der PHG mit dem neuzeitlichen philosophischen Prinzip „cogito“ bzw. dem
„transzendentalen Subjekt“ vgl. W. Marx (1981), S. 14-20; 34-41; 59-66. Zur auf der Grundlage der
Phänomenologie Heideggers erbrachten ontologisch-seinsgeschichtlichen Untersuchung vgl. Fink (1977).
58
Der junge Marx versteht den ganzen Gedankengang der PHG als eine Entstehungsgeschichte der Menschheit.
Ihm zufolge halte Hegel die Geschichte des Menschen für den „Prozeß“, durch den der Mensch sich selbst
erzeugt; der Mensch überwinde kraft seiner „Arbeit“ als seines „Selbsterzeugungsakt[s]“ die Grundbedingung
seiner Existenz, d. h. den Zustand der „Entäußerung“. An Hegels Darstellungen liest K. Marx den
anthropologischen Drang und die Methodik ab, die Entstehungsgeschichte der Menschheit darzustellen, jedoch
kritisiert er Hegels idealistische Einstellung überhaupt; K. Marx weist darauf hin, dass sich Hegels Darstellung
selbst „in entfremdeter Weise“ vollziehe. Das strukturelle Modell der realgenetischen Durchführung in der
PHG formuliert K. Marx als die folgende „Entstehungsgeschichte“ der Menschheit: Durch die
„Arbeit“ geschieht die „Vergegenständlichung“, die jedoch zugleich die „Selbstentfremdung“ des Menschen
verursacht, aber durch die Weiterbildung nimmt sich das Subjekt sein Wesen zurück; daraus ergibt sich die
„Selbstgewinnung“ desselben. Für K. Marx erweise sich der gesamte Vollzug des Bewusstseins trotz der
hegelschen idealistischen Tendenz als der geschichtliche Hergang des menschlichen Wesens. Marx u. Engels,
Werke Erg.-Bd. 1, S. 568-588.
Die These der geschichtlich-gesellschaftlichen Objektivierung des menschlichen Gattungswesens entwickelt
sich durch seine Nachfolger weiter; dadurch bilden sich „Arbeit“, „Entäußerung“, „Entfremdung“, „Herrschaft
und Knechtschaft“, „Anerkennung“ etc. sowohl als Schlüsselbegriffe zur Auffassung der wirklichen
Weltgeschichte als auch als der Ansatzpunkt zum Verständnis der praktischen Philosophie Hegels heraus. Dafür
stellen Lukács und Kojève die folgenden außerordentlich sinnvollen Thesen auf: Lukács betrachtet die
„Entäußerung“ als den „philosophisch[en] Zentralbegriff“ der P HG. Kojève, der sich auch um die Philosophie
Heideggers bzw. den Existenzialismus bemüht, betont im Rahmen des anthropologischen
Menschenverständnisses die Begierde nach der Anerkennung; damit geht er mit großer Aufmerksamkeit auf
das Kapitel „Selbstbewußtsein“ ein. Lukács (1967), S. 552-693; Kojève (1975), S. 20-89; 134-216.
43
<Die Richtungen der PHG-Interpretation>
1. werk-transzendent
1.1 intentionalistisch
nach der eigenen Absicht des Autors
1.2 perspektivisch
aus der Sichtweise des Lesers
1.3 philologisch-historisch
die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes
2. werk-immanent
2.1 absolut immanent
die Buchstabierung der Darlegungen des Autors
2.2 logisch
2.2.1 philologisch-logisch
in Bezug auf die Logik oder das wissenschaftliche System
2.2.2 immanent-logisch
die logische Struktur innerhalb des Werkes
2.3 geschichtlich
2.3.1 epistemologisch: theoretisch
2.3.2 sozial- und geschichtsphilosophisch: praktisch
die Geschichte des philosophischen Gedankens
die Geschichte der konkreten Kultur oder Welt
Die vorliegende Arbeit verwendet – sowohl ohne den intentionalistischen Ü berblick (1.1)
zu verlassen als auch in Auseinandersetzung mit der perspektivischen Richtung (1.2) –
hauptsächlich
die
geschichtsbezogenen
Betrachtungsweisen
(2.3).
Damit
der
Sittlichkeitsbegriff als das Hauptthema in dieser Arbeit dennoch eingehend behandelt wird,
muss es sich um einen Versuch handeln, insbesondere auf den zweiten geschichtlichen
Faktor (2.3.2) einzugehen. Diese revidierte geschichtliche Betrachtung ermöglicht m. E. uns,
in der Darstellung der PHG einen einheitlichen Faden herauszufinden, indem man den
Begriff der Geschichtlichkeit in der PHG, d. i. die Bildungsgeschichte des Geistes, auf die
ganze Architektonik der PHG anwendet. Ü berdies ist herauszuheben, dass ihre konkrete
Lektüre durch die Ü berlegung der im Werk selbst formulierten Darstellungskategorien
(2.2.2) ergiebig ist.
44
B. Die strukturelle Einheitlichkeit der Phänomenologie des Geistes
1. Die Problematik im Bezug auf die Strukturierung der Phänomenologie des Geistes
Es ist bis heute umstritten, ob man die PHG als ein einheitlich strukturiertes Werk
einschätzen kann. Diese Problemstellung ist auch für die Deutungsweise der PHG in dieser
Arbeit, die hauptsächlich in der geschichtsbezogenen Lektüre liegt, signifikant; denn der
Geltungsbereich der geschichtlichen Momente in diesem Werk ist davon abhängig, bis
wohin innerhalb der PHG der gedankliche Inhalt im Bezug auf die geschichtliche
Thematisierung durchdrungen worden ist, mit anderen Worten, ob er sich auf ihren gesamten
Text ausdehnt oder nur auf einige bestimmte Teilstücke beschränkt. Die meisten
Beschäftigungen mit der Binnenstruktur der PHG sind auf die Frage bezogen, ob zwei
Faktoren (die theoretisch- und die praktisch-philosophische Ebene) miteinander
unverträglich sind oder in Gemeinschaft miteinander stehen. Der Verdacht59 hinsichtlich
dieser Frage kann im Allgemeinen in diese zwei Richtungen eingeteilt werden:
1) Die PHG scheint als ein (ursprünglich von Haym festgestelltes) „Palimpsest“60, d. h. als
ein Werk, in dem zwei heterogene Gedankengänge zur gleichen Zeit sichtbar sind; in
Anlehnung an die Annahme, dass in die PHG diese verschiedenen Faktoren ineinander
gesetzt werden, meinen einige Interpreten, sie sei gar kein einheitlich strukturiertes Werk.
Die Skepsis, was eine einheitliche Komposition der PHG angeht, resultiert also aus nichts
anderem als der Diagnose, dass in diesem Werk zwei Hauptfaktoren chaotisch miteinander
verschlungen worden seien.
2) Aus (seit Haering61) versuchten Darlegungen lassen sich die nachfolgenden Umstände
als Ursache für diese Skepsis beobachten: Hegels unerwartete Umgestaltung der Urform der
PHG während ihrer Niederschrift, das daraus entstandene unproportionierte Anwachsen
Als ein nachdrückliches Beispiel ist die folgende Aussage anzuführen: „Tatsächlich ist die Phänomenologie
des Geistes viel zu umfassend, als daß wir sie systematisch durcharbeiten könnten“. Taylor (1978), S. 194.
60
Haym (1857), S. 238. Zu dieser Thematik vgl. TEIL I, A. 1. in dieser Arbeit: „Die früheren Bewertungen
der Phänomenologie des Geistes“.
61
Haering (1934) behauptet, dass Hegels Zeitdruck vor der Abfassung, seine persönliche Notsituation
während der Niederschrift, seine nachherige Umdeutung des Werkes usw. als Hauptmaßstäbe der PHG-Lektüre
dienen müssen. Durch seine strengen philologisch-werkgeschichtlichen Bemühungen gelangt Haering zu der
nachfolgenden Auffassung: Die PHG zeige sich „als Folge eines sehr plötzlichen, unter innerem und äusserem
[sic!] Druck gefassten Entschlusses“. Sein Grundgedanke, die P HG sei ein konfundiertes Werk, scheint
beweisbar aufgrund des Faktums, dass dieses Werk, ursprünglich als die Einführung zum System gedacht,
letztendlich als ein Systemteil umgestaltet wurde. S. 119 f.; 133.
45
59
derselben usw.62 zeigen uns, dass der phänomenologische Ansatz dem wirklichen Vollzug
desselben nicht völlig entspricht. Daraus folgt die Behauptung, dass die originelle
Konstruierung dieses Werkes sogar wider Hegels Erwartung gegen die andere
ausgewechselt worden sei, sodass an einer bestimmten Stelle innerhalb des Werkes die
Gedankenlinie gebrochen worden sei, indem die zwei heterogenen Faktoren die PHG
durcheinander gebracht hätten. Haerings Nachfolger nehmen im Grunde die These der
Bruchstelle innerhalb der PHG seinen Gedanken hin, und zwar vorausgesetzt, dass Hegel ab
dem letzten Teil der PHG auf jeden Fall in die andere Phase als in seiner ursprünglichen
Strukturierung getreten sei.63 In Entsprechung zu dieser Position wird bei der PHG-Lektüre
im Allgemeinen Folgendes vorausgesetzt: Die PHG bestehe aus zwei voneinander isolierten
Teilen, d. h. dem ersten Teil als dem hauptsächlich theoretischen Teil und dem zweiten Teil
als dem praktischen Teil; der letztere im Besonderen sei, wie Hegel selbst eingestanden hat,
die entscheidende Ursache für diese „unselige Verwirrung“, weil in diesem zweiten Teil die
„größere Unform“64 zutage trete.
Diese zwei Richtungen lassen sich durch den folgenden Nachweis erkennen: Es gibt in
einem
Werk
zwei
Titel
(die
„WISSENSCHAFT
DER
ERFAHRUNG
DES
BEWUSSTSEYNS“ und die „WISSENSCHAFT DER PHÄ NOMENOLOGIE DES
GEISTES“)
65
und zwei Prologe (die am Anfang der Niederschrift geschriebene
„Einleitung“ und die nach der Fertigstellung des Textes schließlich geschriebene „Vorrede“).
Dieses Faktum pflegt Hegel-Forschern nach wie vor Schwierigkeiten zu bereiten, denn es
62
Dazu vgl. Nicolin (1967); Pöggeler (1973), S. 330-339; der (1993), S. 182-195; Ottmann (1973), S. 115120; GW9, S. 469-471; Bonsiepen (1988), S. XXI-XXIII; Förster (2008), S. 37 f.
63
Hoffmeister denkt, dass sich im Text „keine einzige offene Bruchstelle feststellen“ lässt; trotzdem plädiert
er realiter für die Hypothese Haerings, zumal Hegels ursprünglicher Plan, der sich angeblich in der
„Einleitung“ zur PHG ausdrücke, auch für Hoffmeister, wie Haering meint, sei, dass der Weg des Bewusstseins
nur bis zum Kapitel „Vernunft“ reichen solle, d. h., dass Hegel, ohne die Kapitel „Geist“ und „Religion“ zu
behandeln, von der Vernunft „unmittelbar“ zur Logik übergehen wollte. Insofern sei die P HG von vornherein
auf die Ebene des subjektiven Geistes (wie die „Phänomenologie“ im enzyklopädischen System) beschränkt
und sie gestalte sich im Vergleich zu dem späten System höchstens nur als die Propädeutik, die als solche noch
nicht wissenschaftlich ist. Haering (1934), S. 129 f.; 137 f.; Hoffmeister (1952), S. XXXIV f.
Dieser inhaltliche Zusammenhang mit Haering findet sich auch im Argument Pöggelers. Pöggeler stellt zwar
dem Gedanken Haerings seine These entgegen, dass der Ansatz zum Ziel der P HG oder – mit Hegels
Formulierungen in der „Einleitung“ – der „Punkt“ der „eigentlichen Wissenschaft des Geistes“, wo die
Erscheinung dem Wesen gleich wird (W3.81), (nicht erst im Kapitel „Vernunft“, sondern schon) im Kapitel
„Selbstbewußtsein“ erreicht worden sei. Dennoch ist auch er der Ansicht, dass die Urform der PHG während
der Niederschrift erheblich modifiziert werde, wobei (weil die Wissenschaft der Geistes-Erscheinung während
der Niederschrift seiner „Einleitung“ nicht konzipiert worden sei) Hegel (anders als in seinem ursprünglichen
Plan) die dem Kapitel „Selbstbewußtsein“ nachfolgenden Gestalten dem gesamten Werk hinzufügen müsse.
W3, S. 80f. Dies bedeutet: „Die Proportionen [dieses Werkes] verschieben sich also ins Monströse“, indem die
zweite Hälfte des Buchs entgegen dem anfänglichen Konzept suppliert ist. Pöggeler (1973), S. 333-336, 348350 u. 354f.; ders. (1993), S. 209-214.
64
Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 161 f.
65
Dazu vgl. GW9, S. 3, 51; 444; 469 ff.
46
scheint, dass man eine grundlegende Bruchstelle innerhalb des Werkes finden müsse, an der
die zwei Prinzipien endgültig entzweit werden.
Allein die PHG ist m. E. nicht einfach als ein doppeldeutiges Werk zu sehen, sondern
einheitlich durchkomponiert; in ihrem ganzen Text wird nämlich ein und derselbe Ansatz
geltend gemacht. Diese These, dass der ganze Inhalt der PHG von ein und demselben Ansatz
durchdrungen sei, negiert gleichwohl nicht die Tatsache, dass dieses Werk in mehrere Teile
aufgegliedert werden kann.66 Diese Einteilung der inneren Struktur soll sich trotzdem von
der Bruchstelle der Gedankenlinie unterscheiden.
Der obige Verdacht, ob die PHG einheitlich organisiert worden ist, kann dadurch
überwunden werden, dass man den obigen „Palimpsest“-Charakter des Werkes, um den
Gedankengang der PHG einheitlich zu erblicken, unter dem geschichtlichen Blickwinkel
wieder betrachtet. Man könnte zwar die PHG als ein „Palimpsest“ ansehen, aber dieser
Charakter folgt nicht daraus, dass die zwei Faktoren chaotisch miteinander verflochten
worden sind; denn die PHG enthält vielmehr diese Faktoren als ihre Momente, genauer die
zwei geschichtlichen Momente, umfassend in sich. Die theoretische und die praktische
Ebene sind nämlich im ganzen Entwicklungsgang des Bewusstseins eng verwoben. Der
„Palimpsest“-Charakter der PHG tritt also in wahrhafter Bedeutung nur dann heraus, wenn
in jeder Stufe des Bewusstseins Hegels Beschäftigungen – mit K. Marx – sowohl mit der
Geschichte der Welt-Interpretation als auch mit der Geschichte der Welt-Veränderung 67
miteinander vereinigt integriert werden. Um die strukturelle Einstimmigkeit der PHG zu
erfassen, muss man zunächst darauf hinweisen, wie die oben erwähnte Problematik aufgelöst
werden kann, also wie zwei Titel und zwei Prologe unter einer Gedankenfolge
zusammengefasst werden können.
Es wird im Allgemeinen gesagt, dass die Veränderung des Buchtitels (von der
Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zur Wissenschaft der Phänomenologie des
Geistes) Hegels unerwartete Umdeutung der PHG repräsentiere; die „Einleitung“ betreffe
außerdem nur die erste Hälfte des Werkes, während die „Vorrede“ als das Prolog zum
System den ganzen Text in Zusammenhang mit dem System bringe. Aber die
Haupterkenntnis der vorliegenden Arbeit liegt besonders unter Anlehnung an W. Marx in
nachfolgenden Feststellungen: 1) Die PHG ist nur insoweit die „Wissenschaft des Geistes“,
66
Dementsprechend setzt diese Arbeit voraus, dass die PHG eine entscheidende Zäsur insbesondere zwischen
dem Kapitel „Vernunft“ und dem Kapitel „Geist“ bilde, sodass sie in zwei Hauptteile plausibel erteilt wird,
obgleich sie einheitlich durchkomponiert ist. Dazu vgl. den TEIL I, C. 1. „Vorausblick“.
67
Marx u. Engels, Werke Bd. 3, S. 7.
47
als sie die „Erfahrungswissenschaft des Bewußtseins“ ist (und umgekehrt ebenso), und 2)
die „Vorrede“ zur PHG wird als die Einführung sowohl zum wissenschaftlichen System als
auch zum Text der PHG selbst, zumal sie das Argument der „Einleitung“ zur PHG
nachvollziehbar macht.68
In diesem Zusammenhang lässt sich die Hauptthese in dieser Arbeit, was die Grundidee
der PHG betrifft, folgendermaßen ausdrücken: Die PHG ist sowohl die Wissenschaft der
Erfahrung des Bewusstseins als auch die Wissenschaft der Erscheinung des Geistes. Dieser
Punkt ist nun dadurch zu erörtern, dass man den Text der PHG, der neben dem Hauptteil
auch die zuerst geschriebene „Einleitung“ bzw. die zuletzt geschriebene „Vorrede“ abdeckt,
ganzheitlich interpretiert.
68
Dazu vgl. W. Marx (1981), S. 9 ff.; 70; 79 ff.
48
2. Die „Umkehrung des Bewußtseins“ und die „Kraft des Geistes“
Die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins“, die im letzten Absatz der
„Einleitung“ zur PHG auftaucht, wird ebenfalls in der „Vorrede“ zur PHG als die
„Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht“ (W3.80; 38) dargestellt. Diese
Erfahrung betrifft fraglos die Erfahrung des Bewusstseins; aber dieser Terminus gibt uns
m. E. einen entscheidenden Beweis dafür, dass die PHG sowohl die Wissenschaft der
Phänomenologie des Geistes als auch die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins ist
(GW9.51; 444).
Wenn das Bewusstsein ohne seine Bemühung um einen wissenschaftlichen Standpunkt
nur auf sein Recht pochen würde, so würde die Wissenschaftlichkeit dem Bewusstsein
unausweichlich als eine unüberwindbare Schranke gelten. Diese resultiert ursprünglich aus
der Selbstbeschränkung der „natürlichen Vorstellung“, dass es „zwischen das Erkennen und
das Absolute eine sie [= beide] schlechthin scheidende Grenze falle“ (W3.68). Die Meinung
des „natürlichen Bewußtseins“, das annimmt, dass „das Absolute auf einer Seite stehe und
das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten“ (W3.72; 70)
sei, hat zur Folge, dass das Bewusstsein von Anbeginn an immer einen unüberbrückbaren
Hiatus ansetzt: den absoluten Abgrund zwischen dem von ihm jeweils erworbenen Wissen
und der von ihm ultimativ beabsichtigten Wahrheit. Wenn wir einen Blick auf „die
abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit“ in ausführlicher Weise werfen,
und zwar „wie sie an dem Bewußtsein vorkommen“ (W3.76), so schreibt Hegel Folgendes:
Dieses [natürliche Bewusstsein] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich
bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite
dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein
für ein Anderes unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird
ebenso von ihm [= dem Wissen] unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser
Beziehung; die Seite dieses Ansich heißt Wahrheit (W3.76).
Insofern das Bewusstsein diesen Abgrund als seine epistemologische Grundbedingung
voraussetzt, könnte die PHG laut Hegel permanent nicht dem Bewusstsein eigen sein; das
natürliche Bewusstsein schickt sich in einen unvermeidlichen „Schein“ (W3.81) der
kompletten Abtrennung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven.69
69
Zur Natürlichkeit des Bewusstseins bei Hegel vgl. besonders W. Marx (1981), S. 22-24.
49
Der „Weg des natürlichen Bewußtseins“ fängt mit der „Gewißheit“ von der jeweils
jetzigen Position an (W3.72). Indem jedoch die Einsicht erreicht wird, dass sein momentanes
Dafürhalten des Bewusstseins unwahr sei, gerät das Bewusstsein bald in „Zweifel[]“ (W3.72);
das natürliche Bewusstsein ist nämlich mit dem Schein, als ob sein Objekt von ihm selbst
schlechthin abgetrennt wäre, verbunden. Das Bewusstsein muss aber erweisen, dass sein
Vorgang realiter der affirmative Prozess zur Wahrheit ist; aus der Erfahrung des
Bewusstseins ergibt sich, dass der Begriff des absoluten Wissens entfaltet wird. Hegels
Ausdruck der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ ist nicht einfach auf den „Weg des
Zweifels“, sondern vielmehr auf „die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden
Wissens“ (W3.72) bezogen. Die Erfahrung des Bewusstseins kann laut Hegel nicht einfach
als „der Weg des Zweifels“, sondern „eigentlicher als der Weg der Verzweiflung“ (W3.72)
angesehen werden; aus der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ ergibt sich nämlich die
„Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen“ (W3.73).
Das für Irrtum anfällige Bewusstsein gestaltet, immer wenn sein jeweiliger
Wahrheitsanspruch in eine unhaltbare Lage gerät, sein bisheriges Kriterium für das
Wahrheitsurteil um, damit es den Wahrheitsgehalt seiner Auffassung prüfen kann. Seine
Veränderung des Kriteriums führt dazu, dass es die Nichtigkeit des Gegenstandes selbst
erfährt. Dadurch verkehrt sich seine bisherige These ins Gegenteil, aber diese „Umkehrung
des Bewußtseins“ (W3.79) bedeutet, dass es seine Position zu der dazu konträren,70 nicht
kontradiktorischen verlagert; diesen Punkt formuliert Hegel wie folgt:
Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen
als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt,
ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird (W3.78).
Diese Erfahrung des Bewusstseins wird als „das ganze System desselben“ (W3.80)
verstanden; der Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft fungiert nämlich bereits als
die
wissenschaftliche
Darstellung
der
ganzen
Bewusstseinserfahrung.
Diese
Bewusstseinserfahrung wird von Hegel auch als „vollständige Erfahrung“ (W3.72)
dargestellt.
Dazu vgl. die Anm. 13 im TEIL I, A. 2. „Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum
enzyklopädischen System“.
50
70
Auf das natürliche Bewusstsein macht zwar jeder Moment, in dem es sich seines
Gegenstandes bewusst ist, den Eindruck, als ob sein Dafürhalten verloren wäre, ohne dafür
etwas Wahres neu zu lernen. Die „vollständige Erfahrung“ des Bewusstseins ist aber nichts
anderes als affirmativer Vollzug, mit dem es die „fortschreitende Entwicklung der
Wahrheit“ (W3.12) gestaltet. Der Skeptizismus des Bewusstseins ist deshalb auf gar keinen
Fall pessimistisch; vielmehr steht jeder Augenblick, in dem es sich zu seinem Gegenstand
verhält, ganz und gar in fortschreitender Bewegung. Insofern ist die Erfahrung des
Bewusstseins als der „sich vollbringende Skeptizismus“ (W3.72) zu schildern, weil „nichts
gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist oder, wie dasselbe auch ausgedrückt wird, was
nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges, oder
welche Ausdrücke sonst gebraucht werden, vorhanden ist“ (W3.585). Diese Erfahrung ist
mitnichten einfach als Gefühl, Ahnung, Glauben usw. zu deuten. Dieser bloß subjektive
Vollzug setzt im Grunde den Gegensatz zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand
voraus. Gleichwohl realisiert es unwissentlich (nicht „für das Bewußtsein“) unter Anlehnung
an die Notwendigkeit der Sache selbst („an sich“ oder „für uns“ – also für die philosophische
Wissenschaft) den Begriff der Wissenschaft. Die Erfahrung des Bewusstseins bedarf somit
jedes Momentes seiner Erfahrungen. Der Weg des natürlichen Bewusstseins wird insofern
„schon Wissenschaft“, als seine Erfahrung potenziell den „Weg zur Wissenschaft“ impliziert,
denn aus dem Vollzug des Bewusstseins geht für Hegel „die Notwendigkeit des Fortganges
und Zusammenhanges“ der Bewusstseinsgestalten (W3.80; 73) hervor. Die Notwendigkeit
kann nur durch die vollständige Darstellung seiner gesamten Erfahrung aufgezeigt werden.
Diese Charakteristika, d. h. die Notwendigkeit und die Vollständigkeit, machen die PHG
bereits zu einer Wissenschaft, die von der Erfahrung des Bewusstseins handelt.
Das natürliche Bewusstsein muss sich von seinem „Schein“ entfernen, bis es „zu seiner
wahren Existenz“ gelangt (W3.80). Hier erreicht es nach Hegel „einen Punkt“, „wo die
Erscheinung dem Wesen gleich wird“ (W3.81). Anschließend macht er eine beachtliche
Bemerkung, dass „seine [= des Bewusstseins] Darstellung hiermit mit eben diesem Punkte
der eigentlichen Wissenschaft des Geistes zusammenfällt“ (W3.81). Das heißt: Die
eigentliche Wissenschaft des Geistes, die sich aus der vollendeten Bewegung des
Bewusstseins ergibt, ist nichts anderes als der absolute Begriff der Wissenschaft.71
Welcher Phase der Bewusstseinserfahrung der in der „Einleitung“ zur PHG erwähnte „Punkt“ entspricht,
d. h. was die eigentliche Wissenschaft des Geistes impliziert, ist entscheidend dafür, dass man erfasst, was
Hegel mit seinem phänomenologischen Unternehmen bezweckt. Was diese Frage betrifft, behauptet Pöggeler
(1993), dass dieser „Punkt“ dem Ansatzpunkt des objektiven Geistes entspreche; Pöggelers Behauptung beruht
im Grunde auf seiner Annahme, dass die zweite Hälfte der P HG nicht zu Hegels ursprünglicher Konzeption
gehört habe. S. 212 ff.
51
71
Mit
der
„Umkehrung
des
Bewußtseins“
versucht
Hegel
die
„vollständige
Erfahrung“ vonseiten des Bewusstseins zu erweisen, in der vielmehr eine andere Gestalt als
seine neue Wahrheit „entspringt“. Diese Dialektik ist für uns durch die vollständige
Erfahrung des Bewusstseins zu vollbringen und diese notwendige Kohärenz muss in allen
Bewusstseinsgestalten entstehen, wie sie an sich ist. Das natürliche Bewusstsein, das mit
dem Schein (als ob sein Objekt von sich selbst abgetrennt worden wäre) nicht entbunden
bleibt, sieht die Entstehung des neuen Gegenstands nur, ohne zu wissen, dass der Gegenstand
des Bewusstseins das Phänomen desselben ist, „was für uns gleichsam hinter seinem Rücken
vorgeht“ (W3.80). Die Reihe der gegenstandsbezogenen Erfahrungen vonseiten des
Bewusstseins
impliziert
gleichwohl
den
Weg
zur
„Realisierung
des
[Wissens-]Begriffs“ (W3.72); dieser Begriff ist mehr oder minder in seinem einfachen
Potenzial verborgen, aber entwickelt sich allmählich, also von sich selbst her (der „Natur der
Sache selbst“ gemäß) bis zu seinem Ziel, das seinem Inhalt nach nichts anderes als der
Begriff der Wissenschaft ist.
Was den Werdegang des natürlichen Bewusstseins zur Wissenschaft anbelangt, ist nicht
außer Acht zu lassen, dass die ganze Reihe seiner Erfahrungen nicht einfach als ein
Instrument, um zum absoluten Begriff des Wissens hinaufzusteigen, gedacht werden soll;
Hegels phänomenologische Darstellung ist nämlich keinesfalls für eine einfache Leiter zum
wissenschaftlichen System zu halten. Der Grund dafür ist Folgendes:
Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende
Wesen (W3.24).
Der Begriff des absoluten Wissens manifestiert sich nämlich durch die vollständige
Erfahrung des Bewusstseins als das „Ganze“, das nämlich „aus der Sukzession wie aus
seiner Ausdehnung in sich zurückgegangen“ ist (W3.19).
Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das
Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist
Diese Wissenschaft des Geistes ist aber nicht bloß als die Philosophie des objektiven Geistes zu deuten. Die
PHG behandelt die Gegenstandserkenntnis vonseiten des Bewusstseins, aber zu seinem Gegenstand gehört
auch das geistige Prinzip für die kulturelle Welt der Menschheit (die Moralität, die Sittlichkeit, die Kunst und
die Religion); die PHG deckt sich nämlich für das wissende bzw. handelnde Subjekt mit dem gesamten Bereich
des Geistes, d. h. dem subjektiven, objektiven und absoluten Geist.
52
das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch
entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen (W3.13).
Das „wirkliche Ganze“, das als das Wahre bezeichnet wird, besteht nicht in dem „nackte[n]
Resultat“, sondern in dem ganzen Werdegang zu seinem vollendeten Wesen. Der „einfache
Begriff“ wird durch die ganzen Ausführungen des erscheinenden Wissens erst als „der
erreichte Begriff des Ganzen“ bezeichnet, mit anderen Worten, die bis auf Aristoteles
zurückgeführt
werden:
Die
bloße
„Möglichkeit“
entwickelt
sich
durch
ihre
„Realisierung“ endlich als „vollkommene Wirklichkeit“ (W3.19; 34).
Hegel denkt, dass sich die Sache selbst durch ihre eigene Dialektik, wie sie beschaffen ist,
d. h. nur unter Anlehnung an „die Selbstbewegung des Begriffs“ (W3.65), manifestiert. In
diesem Gedanken spiegeln sich mehr oder minder die philosophischen Gedanken während
des antiken Griechentums wider. Hegel sieht in dem Ausdruck Nous (νοῦς), den Anaxagoras
zuerst benutzte, den „Verstand des Daseins“, d. h. die Natur der Sache selbst (W3.54). Diese
Sache beruht, solange sie als sich selbst bewegend gedacht wird, auf dem folgenden
aristotelischen Gedanken der Natur: Die Physis (φύσις) vollziehe von sich selbst aus das
„zweckmäßige Tun“, denn sie sei das „Subjekt“, das entstand, sich entfaltet und letztlich
vergehen wird (W3.26). Als die wissenschaftliche Methode zur Einsicht in die Sache selbst
wurde von Parmenides und Platon die Dialektik konzipiert, die aber erst von Aristoteles
eingehend thematisiert wurde (W3.65 f.). Aus dieser Grundlage lässt sich feststellen, dass
Hegels spekulative Methodik aus diesen traditionellen Errungenschaften folgt.
Hegel vertieft aber diese Weltweisheit, und zwar durch seinen eigenen Terminus „Geist“.
Der Geist wird im Grunde als das Ganze verstanden. Die Ganzheit des Geistes tritt zuerst im
Kapitel „Geist“ auf; hier wird der Geist als der Grund oder die substanzielle Grundlage für
das wirkliche Leben des Menschen (W3.325-331) dargestellt. Die grundsätzliche
Implikation des Geistes-Begriffs kann man im Kapitel „Religion“ eruieren; hier ist Hegels
Bestimmung des Geistes durch die einfache Totalität oder den ganzen Geist gekennzeichnet
(W3.498). Dieser ganze Geist ist nichts anderes als der absolute Geist, weil der Geist der
Religion dem Inhalt nach schon seine Wahrheit impliziert. Mit dem Konzept des absoluten
Geistes bezweckt Hegel, den Dualismus von Bewusstsein und Gegenstand zu überwinden;
die Reihe der Gegenstände wird jeweils als geistiges Wesen bezeichnet, indem das
Bewusstsein zu der Einsicht kommt: Sein Verhältnis zu seinem Gegenstand ergibt sich
realiter aus dem „geistige[n] Verhalten“ (W3.576). Der Geist ist weder ein bloß Allgemeines
53
als Abstraktes noch ein bloß Konkretes als Zufälliges, sondern das konkret-allgemeine
Wahre; er wird als die durch alle Bewusstseinsgestalten durchdringende Totalität aufgefasst,
indem er alle seine Momente integriert. Hegels Bezeichnung des Wahren als des Ganzen ist
auf der im Folgenden dargestellten Ebene der geistigen Ganzheit ersichtlich:
Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende, - das sich
Verhaltende und Bestimmte, das Anderssein und Fürsichsein - und [das] in dieser Bestimmtheit
oder seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende; - oder es ist an und für sich. - Dies
Anundfürsichsein aber ist es erst für uns oder an sich, es ist die geistige Substanz. Es muß dies
auch für sich selbst, muß das Wissen von dem Geistigen und das Wissen von sich als dem Geiste
sein, d. h. es muß sich als Gegenstand sein (W3.28).
Das Wahre ist für Hegel schon das „Geistige“; die geistige Wahrheit ist nämlich weder eine
bloß jenseitige, denkunabhängige Substanz noch ein Produkt des subjektiven Dafürhaltens,
sondern sie ist durch die spekulative Einsicht in die Sache selbst zu erreichen. Damit
bezweckt Hegel, zu beweisen, dass das Subjekt kraft seiner sich bewegenden Natur seine
Substanz als denjenigen Zweck, der nichts anderes als sein Anfang ist, begreifen kann. In
diesem Zusammenhang schreibt Hegel über das Wesen des Geistes Folgendes:
Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner
Auslegung sich auszubreiten (W3.18).
Der „Geist“ enthält die „Kraft“ bzw. „Tiefe“ in sich; die Bildungsgeschichte des
erscheinenden Wissens muss „in immer fortschreitender Bewegung begriffen“ werden
(W3.18), sodass sich aus dem Entwicklungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft ergibt,
dass Nichts verloren gegangen ist. Jede Gestalt des natürlichen Bewusstseins hat eine
Erfahrung, dass sein Versuch, ein endgültiges Wissen zu erringen, gescheitert ist. Dieses
Scheitern erscheint ihm als ein „Tod“, weil es die „Gewalt“ leiden muss (W3.74), zur
Einsicht in die Unwahrheit seines Wissens zu kommen; das Bewusstsein muss nun auf sein
Dafürhalten vollständig verzichten und den Zustand der Haltlosigkeit geduldig ertragen, bis
eine neue Wahrheit auftritt. Diese seine Erfahrung über die „ungeheure Macht des
Negativen“ führt gleichwohl zur „Angst“ vor der ankommenden Wahrheit (W3.36; 74). Das
Wesen des Geistes besteht also darin, über die Grenze des jeweiligen Bewusstseins
54
hinauszugehen. Der obige Tod ist für das Bewusstsein „das Furchtbarste“, weil „das Tote
festzuhalten das [ist], was die größte Kraft erfordert“ (W3.36).
Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut […], sondern das ihn erträgt und in ihm sich
erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten
Zerrissenheit sich selbst findet (W3.36).
Es ist die Aufgabe der PHG, dieses „Leben des Geistes“ gänzlich auszuführen. In jeder Phase
der Bildungsgeschichte des Bewusstseins ist für Hegel der absolute Begriff der Wissenschaft
„an und für sich schon bei uns“ (W3.69), obwohl für das natürliche Bewusstsein eine
jeweilige Parusie des Absoluten in einer beschränkten Form gilt.
Jeder Versuch, mit der bloß abstrakt wesentlichen, aber noch nicht entfalteten Substanz
das Wahre zu erfassen, ist dann zum Scheitern geworden. Die nur sich auf sich beziehende
Einfachheit stößt sich – sich auf dem sich Entgegengesetzten beziehend – von sich selbst ab,
sodass es in sich zurückkehrt. Das Wahre als Ganzes besteht in dem wirklichen Dasein des
Begriffs, das im begreifenden Wissen wirklich zu erfassen ist. Dem Bewusstsein enthüllt
sich sein Wesen nur dadurch, dass es zu der folgenden Einsicht gelangt: Sein Verhältnis zu
seinem Gegenstand ist nichts anderes als die Beziehung des Geistes auf sich selbst. Das
Wissen des Geistes von sich ist also erst dadurch erreichbar, dass das natürliche Bewusstsein
„an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“ (W3.68), gelangt. In jeder Phase
der Erfahrung wird vonseiten des Bewusstseins sein geistiges Spezifikum so gleich
überschaubar, wie die Sache ihm erscheint. Indem das Bewusstsein seinen Gegenstand, wie
er an sich ist, begreifen kann, wird dieses an sich seiende Potenzial auch für das Bewusstsein
selbst ersichtlich. Aufgrund dieser Dialektik des Geistes lässt sich erkennen, dass er „sich
seiner selbst entäußert und sich in seine Substanz versenkt, und ebenso als Subjekt aus ihr
in sich gegangen ist, und sie zum Gegenstande und Inhalte macht, als es diesen Unterschied
der Gegenständlichkeit und des Inhalts aufhebt“ (W3.587 f.).
Das wahre Wissen des Menschen betrifft nicht einfach die jenseitige Substanz, sondern
beruht im geistigen Verhältnis des Subjekts zum Objekt. Im begreifenden Erfassen dessen,
was der Geist an und für sich ist, wird der absolute Geist als das Wissen des subjektivsubstanziellen Geistes von sich ausgeprägt. Diese Selbstbeziehung des Geistes auf sich
selbst impliziert die „selbstbewußte Freiheit“, die „in sich ruht“, dennoch dem Anderen nicht
gegenübersteht, sondern mit ihm „versöhnt“ ist (W3.25 f.; 498); diese Versöhnung ist ein
55
Prädikat seines Freiheitsbegriffes, mit dem Hegel grundsätzlich den Gegensatz zwischen der
Bewusstseinserscheinung und der sie beherrschenden Gesetz- oder Zweckmäßigkeit
auszugleichen versucht. Hegels Gedanke der Versöhnung bzw. Freiheit wird endgültig in
dem Kapitel „Das absolute Wissen“ dargelegt; das absolute Selbstbewusstsein des Geistes
ergibt sich aus der nochmaligen, aber abschließenden Versöhnung zwischen der moralischen
und der religiösen Versöhnung, mit anderen Worten aus dem endgültigen Ausgleich
zwischen dem Bewusstsein des Geistes (d. h. dem Wissen des Geistes) und seinem
Selbstbewusstsein (d. h. seinem Wissen von diesem Wissen) (W3.578 f.). Daraus lässt sich
erkennen, dass der Geist infolgedessen nun „in seinem Anderssein als solchem bei sich
ist“ (W3.575), sodass sein Inhalt in der „Freiheit seines Seins“ besteht (W3.588).72
Was die Strukturierung der geistigen Totalität (das freie Beisichsein des Geistes in seinem
Anderssein) angeht, ist auch dieser Punkt nicht außer Acht zu lassen: Das endgültige Wissen
des Geistes von sich ist erst durch die vollständige Erfahrung des Bewusstseins erreichbar.
Was Hegel als das Wesen des subjektiv-substanziellen Geistes darlegt, das ist seine „reine
einfache Negativität“ (W3.23), aus der vonseiten des Geistes der Prozess des
„Sichunterscheidens“, des „Dirimierens“ und des „in sich [Z]urücknehmen[s]“ (V5.120)
geschieht. Dieser Gedanke spiegelt sich auch in diesem Satz wider: „Das Sichselbstgleiche
entzweit sich“ (W3.132). Der Geist entwickelt sich nämlich seinerseits aus der einfachen
Identität mit sich durch seine Entäußerung (oder Entzweiung in das Fürsichsein und in das
Sein für Anderes) erst zur Rückkehr zu dem, was er an sich ist. Aber dieses Wesen des
Geistes ist in Wahrheit als die Entelechie des geistigen Potenzials vonseiten des
Bewusstseins zu denken, denn er ergibt sich erst aus der eigenen Erfahrung des Bewusstseins.
In diesem Zusammenhang sagt Hegel, „eine Zutat von uns“ sei „überflüssig“, denn das
Bewußtsein „gibt seinen Maßstab an ihm selbst“ (W3.76 f.). Wenn es unsere Zutat geben
sollte, ist sie nichts anderes als „das reine Zusehen“ oder als „das reine Auffassen“ (W3.77;
79); nur diese „Betrachtung“ ist „unsere Zutat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des
Bewußtseins zum wissenschaftlichen Gange erhebt“ (W3.79). Unsere Betrachtung ist
selbstverständlich nicht belanglos, weil die ganze Reihe der Bewusstseinserfahrungen von
uns erst „in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht“ wird.73 Gleichwohl muss sie nichts
72
Zu dem engen Zusammenhang dieses Beisichseins des Geistes mit der Freiheit bzw. der Versöhnung vgl.
Jaeschke (2004), S. 210 ff.
73
Dazu vgl.: „Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des Geistes ist in
eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sie nach ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die
unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen, welche ihre nächste Wahrheit sind“ (W3.593).
56
anderes als bloße „Zutat“ sein, weil wir dem Gehalt der von dem Bewusstsein selbst schon
gemachten Erfahrungen zuhöchst eine Form um der Ordnung willen hinzufügen.
In diesem Zusammenhang denkt Hegel, dass die Wissenschaft vom Bewusstsein im
Grunde mit der Wissenschaft vom Geist übereinstimmen kann, und zwar indem jene
Wissenschaft die gleiche Leistung wie diese erreicht. Die Bewusstseinserfahrung in der PHG
drückt „das ganze Reich der Wahrheit des Geistes“ (W3.80) aus; in der „Vorrede“ berührt
Hegel sogar die „Erfahrung des Geistes“ (W3.39). Sowohl in der „Einleitung“ als auch in
der „Vorrede“ sind die Wissenschaft vom Bewusstsein und die Wissenschaft vom Geist
nämlich zumindest insoweit von gleichem Rang, als die beiden den Erfahrungsbegriff
betreffen. Solange das Bewusstsein als „der daseiende Geist“ verstanden wird, impliziert
seine Erfahrung „die Bewegung des besonderen, sich nicht befriedigenden Geistes“ (W3.35).
Weil die Erfahrung des Bewusstseins also den Begriff des Geistes selbst betrifft, ist sie nichts
anderes als „das Werden seiner zu dem, was er an sich ist“ (W3.585). Die Gemeinsamkeit
mit beiden Wissenschaften lässt sich durch den Begriff „Erscheinung“ (φαινόμενον oder
Phänomen) eindeutiger konstatieren. Wie Hegel in der „Vorrede“ festhält, ist das „System
der Erfahrung des Geistes“ nichts anderes als „die Erscheinung desselben“ (W3.39 f.); die
Phänomenologie bedeutet demgemäß die Erscheinungs-Wissenschaft (d. h. Phänomenonlogie) des Geistes.
Die „Darstellung des erscheinenden Wissens“ (W3.72) hat die doppelte Bedeutung:
Einerseits ist das erscheinende Wissen insoweit „eine leere Erscheinung des Wissens“, als
es, „neben“ dem geläufigen fehlbaren Wissen stehend, nur auf der unüberprüften
„Versicherung“ beruht (W3.71). Aber sein Entwicklungsgang ist andererseits – im
Wesentlichen – der Weg, um den absoluten Begriff des Wissens zu realisieren, weil das
Bewusstsein durch seine vollständige Erfahrung hindurch zum absoluten Wissen gelangen
werden muss. Die Darstellung des erscheinenden Wissens ist „die bewußte Einsicht in die
Unwahrheit“ desselben, genauer die Einsicht, dass jedes erscheinende Wissen „nur der nicht
realisierte Begriff“ (W3.72) des Wissens ist. Also lässt sich Folgendes folgern: Die PHG als
die Wissenschaft der Bewusstseinserfahrung hat wohl das erscheinende Wissen zu ihrem
Gegenstand, das nichts anderes als „der Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren
Wissen dringt“ (W3.72) ist, weil sie selbst die wissenschaftliche Darstellung des
erscheinenden Wissens ist. Hegel setzt das erscheinende Wissen von dem natürlichen
Bewusstsein überhaupt nicht ab; 74 denn er fasst „eine natürliche Vorstellung“ als die
Heidegger ist dazu gewillt, die (in der „Einleitung“ zur PHG dargestellte) „Darstellung der Erscheinung“ als
Grundlage der hegelschen Philosophie zu bezeichnen. Er setzt seinem Gedanken entsprechend die Darstellung
57
74
Unternehmung auf, „das wirkliche Erkennen desselben, was in Wahrheit ist“ (W3.68), zu
erreichen. Das Bewusstsein ist der Treib eigen, sich zum absoluten Wissen zu bilden; die
wissenschaftliche Darstellung über den Bildungsprozess des Bewusstseins betrifft aber die
begreifende Auffassung, das geistige Potenzial des Bewusstseins zu betrachten. Die PHG
bringt, insofern sie die begreifende Betrachtung ist, die vollständige Erfahrung des
Bewusstseins zu einer wissenschaftlichen Ordnung, sodass das Bewusstsein das Begriffene
oder dasjenige, was wissenschaftlich betrachtet wird, ist.
Auch Hegels Verständnis der „Erscheinung“ in der „Vorrede“ deckt sich im Wesentlichen
mit dem in der „Einleitung“. Die Erscheinung tritt zwar dem ersten Anschein nach als das
bloße „Entstehen und Vergehen“ (W3.46) des Vorhandenseins einer Sache auf, aber aus
diesem empirischen Vorgang ergibt sich der affirmative Ü bergang zur Wahrheit; wie „der
bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“ (W3.46), so bezeichnet jedes
einzelne Phänomen sich als der Prozess, der die Momente der Wahrheit nach und nach
realisiert. Dieser Gedanke Hegels verdichtet sich mit dem Satz: „Das Wahre ist das
Ganze“ (W3.24). Dies ist des Weiteren mit der Einsicht eng verwoben, dass wir „das Wahre
nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (W3.23)
haben; indem sich die Wahrheit als das wissenschaftliche Gesamtsystem gestaltet, erweist
die Substanz sich an ihr selbst, ebenso sehr Subjekt zu sein. Damit kommt das Bewusstsein
zum wahren Einblick in den Geist.
Jede Erscheinung tritt jeweils als eine bestimmte Phase auf, in der das Bewusstsein das
Wesen des Wahren erfährt, mit anderen Worten: „Das Bewußtsein weiß und begreift nichts,
als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz“, sodass
diese Substanz eben als sein „Gegenstand“ (W3.38) erscheint. Daran lässt sich ablesen, dass
des erscheinenden Wissens vom Gang des natürlichen Bewusstseins nachdrücklich ab. Heidegger zufolge „geht
sie [= die Darstellung des erscheinenden Wissens] ständig in einem Zwischen hin und her, das zwischen dem
natürlichen Bewußtsein und der Wissenschaft waltet“; weiter sei das erscheinende Wissen ein qualifiziertes
Wissen für das Werden zum absoluten Wissen, also solle es von dem natürlichen Bewusstsein deutlich
unterschieden werden. Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“, in: Werke, Bd. 5, S. 115-208.
Von der Position Heideggers ausgehend beabsichtigt W. Marx (1981) weiterhin, auf das erscheinende Wissen
oder auf die Rolle des Phänomenologen einen besonderen Akzent zu setzen. W. Marx zufolge ist das
erscheinende Wissen nichts anderes als dasjenige, das nicht nur ein bestimmt qualifizierter Modus des
natürlichen Bewusstseins, sondern auch oder vielmehr ein ganz anderes Wissens als dieses Bewusstsein ist; er
ist der Ansicht, das erscheinende Wissen erhebe kraft der oben gesagten Qualifizierungen wie der
Vollständigkeit bzw. der Notwendigkeit das natürliche Bewusstsein zum absoluten Wissen. S. 21; 26-34; 45;
92 f.; 124-133.
Aber Hegel denkt m. E., das natürliche Bewusstsein enthält, obgleich es momentan als ein ganz und gar
unwissenschaftliches Bewusstsein erscheint, potenziell das geistige Wesen in sich. Das in der PHG behandelte
natürliche Bewusstsein ist kein geläufiges – d. h. bloß naive – Bewusstsein, sondern ein von Hegel methodisch
hervorgebrachter Terminus. Für den Phänomenologen ist das natürliche Bewusstsein schon ein
wissenschaftsfähiges Wissen, also gleichbedeutend mit dem erscheinenden Wissen.
58
der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung selbst daraus folgt, dass der Geist selbst
vergegenständlicht wird. In diesem Kontext ist der Weg des natürlichen Bewusstseins auch
als der Weg desselben zu deuten, auf dem es sich zum Geist läutert. Der Werdegang des
Bewusstseins zum Geist oder die Befreiung des Bewusstseins von seinem Schein ereignet
sich nicht bloß als Resultat dieses Werdegangs, sondern ebenso sehr im ganzen Prozess.
Weil Hegel von vornherein das Bewusstsein als das „unmittelbare Dasein des
Geistes“ ansieht, besteht die „Gestalt des erscheinenden Geistes“ in der gleichen
Gedankenfolge wie bei der Gestalt des „erscheinenden Bewußtseins“ (W3.38; 589; 73). Also
bezeichnet sich die PHG als die Darstellung darüber, wie das (potenziell geistige)
Bewusstsein zum Geist erhoben und als derselbe begriffen wird. Wie der Weg des
natürlichen Bewusstseins im Wesentlichen als seine vollständige Erfahrung zum absoluten
Wissen erfasst werden muss, so gestaltet sich „das System der Erfahrung des Geistes“,
insofern es die „Erscheinung des Geistes“ selbst repräsentiert, als die oben erwähnte
dialektische Bewegung des Geistes (also der Prozess des „Sichunterscheidens“, des
„Dirimierens“ und des „in sich [Z]urücknehmen[s]“) (V5.120). Die „ganze Bewegung“ des
Geistes zu seiner vollendeten Entfaltung besteht – mit Formulierungen in der PHG – darin,
„sich ein Anderes, d. h. der Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein
aufzuheben“ (W3.46; 38).
Und die Erfahrung [des Bewusstseins] wird eben diese Bewegung [d. h. die des Geistes] genannt,
worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder
des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich
zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch
Eigentum des Bewußtseins ist (W3.38 f.).
Der abstrakte Zustand des Geistes, seine Entäußerung und seine Rückkehr zu sich sind für
Hegel die Musterformen, um die Sache zu begreifen, aber er qualifiziert sie im Speziellen
für die paradigmatische Dialektik einer solchen geistigen Bewegung.75
Weil Hegels Terminus „Erscheinung“ sowohl der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung
als auch die Manifestationsweise des Geistes ist, wird der Bildungsgang des Bewusstseins
unter zwei Gesichtspunkten, teils „für das Bewußtsein“ (also für das erscheinende Wissen
75
Dazu vgl. W10, S. 9-32.
59
selbst), teils „für uns“ (d. h. im Rahmen der wissenschaftlichen Darstellung des
erscheinenden Wissens), dargestellt.
Die Erfahrung des Bewusstseins oder die Erscheinung des Geistes macht das
darzustellende erscheinende Wissen, d. h. „die ausführliche Geschichte der Bildung des
Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“ oder „die eigentliche Durchbildung des natürlichen
Bewußtseins“ aus, durch die das Bewusstsein seine Beschränktheit allmählich überwindet,
um erst seine „geistige Wesenheit“ (W3.73; 37) zu erringen. Soweit das Bewusstsein für den
unmittelbaren Geist charakteristisch ist, erfährt dieser (auf der Ebene des Bewusstseins
stehende) Geist sein Phänomen. Die Dialektik des Bewusstseins fußt darauf, dass der Geist
sich von sich selbst unterscheidet und endlich aus seiner Unterschiedenheit zur Einsicht in
die strukturelle Einheitlichkeit von beiden zurückkehrt.
Aus dem Obigen lässt sich Folgendes festhalten: Die Wissenschaft vom Bewusstsein und
die Wissenschaft vom Geist betreffen im Grunde eine und dieselbe Thematik, sodass, wie
W. Marx feststellt, „die Phänomenologie des Geistes vom Anfang bis zum Ende sowohl die
Erfahrungswissenschaft als auch die Geisteswissenschaft ist“. 76 Die Grundidee der PHG
besteht nämlich darin, die Lehre des Bewusstseins und die des Geistes im ganzheitlichen
Bezugsrahmen zu vereinigen. Die PHG schildert, insofern sie Bewusstseinslehre ist, die
Läuterung des Bewusstseins zum Geist und zugleich vermittelt sie uns, insofern sie
Geisteslehre ist, die Selbstentwicklung des Geistes, der die Beschränktheit des Bewusstseins
überwindet und zu sich selbst zurückkommt. Die Erfahrung des Bewusstseins und die
Erscheinung des Geistes decken sich im Hinblick auf Hegels phänomenologisches
Unternehmen miteinander.
76
W. Marx (1981), S. 70.
60
C. Der ganze Aufbau der Phänomenologie des Geistes
1. Vorausblick
Die PHG als Bewusstseinslehre schildert den Ü bergang des Bewusstseins zum Geist und
sie vermittelt uns, insofern sie als die Geisteslehre aufgefasst wird, den Fortgang des Geistes,
der die Beschränktheit des Bewusstseins überwindet. Diese These der Kongruenz zwischen
beiden Lehren in puncto des Geltungsbereiches bringt uns zur Auffassung der einstimmigen
Konstruktion innerhalb der PHG; diese Deckungsgleichheit impliziert, dass man nirgends
innerhalb der PHG die Stelle, an der ihr Gedankengang deutlich entzweigerissen ist (wie
gesagt in den theoretischen und in den praktischen Teil), finden kann. Das heißt: Es gibt in
der PHG keine Bruchstelle im Bezug auf den Inhalt bzw. die Form. Es ist vielmehr
folgerichtig zu denken, dass man einige bestimmte Wendepunkte an der Bewegung des
Bewusstseins, die den ganzen Entwicklungsgang periodisieren, finden kann. Die Punkte, die
die Grenze der Etappen, in denen das Bewusstsein zum Geist wird, sind als die Reihe der
Bewusstseinsgestalten zu verstehen; dadurch, dass das Bewusstsein diese ihm selbst
„vorgesteckte[n] Stationen“ restlos durchwandert hat, wird es „zum wahren Wissen“ dringen,
indem es sich zum Geist läutert (W3.72). Dadurch lässt sich erkennen, dass sich die
Bewusstseinserfahrung nach einigen Wendepunkten differenziert und dass diese
Periodisierung den ganzen Aufbau der PHG bildet.
Gleichwohl ist auch zu beachten, dass man, um die These der einheitlichen Struktur der
PHG geltend zu machen, die folgenden Bedingungen in solche Ü berlegungen mit
einbeziehen muss:
Erstens: Die beiden Lehren fungieren auf voneinander unterschiedliche Weise, und zwar
jeweils von ihrem Antipoden ausgehend. Die Bewusstseins- und die Geisteslehre bestehen
zwar in einer voneinander unterschiedlichen Weise; die PHG betrifft nämlich zwei
Perspektiven: die theoretische und die praktische. Deswegen führt diese Gegenseitigkeit
dazu, dass der Akzent jeweils auf den eigenen bestimmten Teil des Werkes gelegen ist; die
erste Hälfte der PHG beruht hauptsächlich auf der theoretischen Perspektive, während ihre
zweite Hälfte hauptsächlich die praktische betrifft.77 Man soll gleichwohl die Strukturierung
Man kann wohl sagen, dass das gesamte Kapitel „Selbstbewußtsein“ und die einigen Teile im Kapitel
„Vernunft“ der praktischen Philosophie zugeordnet worden sind. Aber erst im Kapitel „Geist“ kann man m. E.
einen eigentlichen Sinn der Geschichtsgezogenheit erkennen, während man in den einigen Teilen, die dem
Kapitel „Geist“ vorhergegangen sind, nur einige der Momente für die wirkliche Geschichte finden kann. Dazu
61
77
der PHG wie folgt nicht verkennen: Als ob die Erfahrung des Bewusstseins nur zu dem ersten
Teil der PHG gehören würde, während man die Offenbarung des Geistes nur im zweiten
finden könnte. Die Dialektik des Bewusstseins und die des Geistes werden vielmehr im
ganzen Hauptteil der PHG thematisiert. Das Bewusstsein verwirklicht durch seinen Vollzug
sein geistiges Potenzial und dieser Vollzugsprozess entspricht dem Prozess, die
Beschränktheit des Bewusstseins, also des unmittelbaren Geistes, zu überwinden. Indem das
philosophische Subjekt die Dialektik des Geistes nachvollzieht, kann es das wahre
Verständnis über das sein Objekt wissende bzw. seinen Willen objektivierende Wesen des
Bewusstseins erst erringen, nachdem es zum Kapitel „Das absolute Wissen“ gelangt ist.
Indem sich die Substanz durch die Dialektik des Bewusstseins, die mit dem Kapitel „Die
sinnliche Gewißheit“ mit der persönlichen Ü berzeugung des Bewusstseins vom
Vorhandensein anfängt, repräsentieren lässt, kann sich der Geist für es manifestieren. Also
sind die zwei Methoden oder zwei Aspekte auf die Verschiedenheit des Ansatzpunkts, mit
dem die beiden anfangen, bezogen, gar nicht auf die Verschiedenheit des
Geltungsbereiches.78
Zweitens: Wenn man die PHG auch mit einer Gedankenfolge interpretiert, lässt sich doch
daraus keinesfalls folgern, dass Hegel vom Anfang der Niederschrift bis zu ihrem Ende nicht
einmal sein Konzept verändert hätte. Eine solche Interpretationsweise zieht nämlich die
Tatsache nicht in Betracht, dass Hegel während der Abfassung der PHG einen Punkt, der am
Anfang der Arbeit für ihn nicht sichtbar war, erspürt; Hegel hat tatsächlich während der
vgl. den folgenden Teil: „2. Überblick“.
78
Siep (2000) sagt, die PHG habe zwar „zwei Aspekte“ oder „zwei Methoden“; Siep denkt, mit einem
Vergleich, dass „Erfahrung [des Bewusstseins] den Weg von unten, von den unmittelbarsten Formen und
Standpunkten des natürlichen Bewußtseins, zum absoluten Wissen ist, Phänomenologie [des Geistes] dagegen
diesen Weg von oben charakterisiert, nämlich insofern auf ihm schon alle Kategorien, Erkenntnis- und
Seinsweisen des Geistes erscheinen bzw. ins Bewußtsein treten.“ Aber diese beiden Aspekte der PHG bedeuten
die „Aspekte derselben Sache“; die PHG behandele nämlich dieselbe Sache. Diese Idee von Siep ist m. E. nur
insoweit haltbar, als die zwei Lehren alle jeweils charakteristischer für einen bestimmten Teil sind. Also kann
es nicht gesagt werden, dass die Bewusstseinslehre den zweiten Teil des Buchs (von der „Vernunft“ bis zur
„Religion“) nicht abdecke. S. 63.
In Anlehnung an die Behauptung von Siep hält Iber (2006) fest, dass Hegel in seinem Werk die
„Zusammenführung des Bewußtseins- mit dem Geistbegriff“ aufzeigen wollte. Iber zufolge impliziere Hegels
Titelveränderung, dass die PHG vielmehr „nur dieselbe Sache“ thematisiere; diese Titelveränderung stelle
nämlich „den Paradigmenwechsel vom Bewußtsein zum Geist“ dar, und zwar „aus verschiedenen
Perspektiven“; die Erfahrung des Bewusstseins gelange endlich zur „Einsicht in die Geistnatur des
Bewusstseins“. Iber beweist schlüssig, dass Hegel in Bezug auf diese zwei Titel dieselbe Thematik ins Auge
fasst. S. 135.
Dementsprechend betrifft jeder Teil der PHG grundsätzlich die zwei Lehren, obgleich diese beiden jeweils
charakteristischer für einen bestimmten Teil sind. Auch Siep vertritt die gleiche Meinung. Er sagt, das Kapitel
„Geist“ bilde eine grundlegende „Zäsur“ im Bildungsgang des Bewusstseins; dennoch denkt er, dass von der
Dialektik des Bewusstseins auch in dieser Phase noch die Rede sei, weil Hegel den Begriff der
Bewusstseinserfahrung für das ganze Werk benutze. Also lässt sich feststellen, dass die von Siep erkannte
„Zäsur“ auf keinen Fall als die Bruchstelle innerhalb der PHG aufzufassen ist. Siep (2000), S. 173 f.
62
Abfassung die ursprüngliche Strukturierung der PHG zu verändern versucht. Aber Hegel hat
sich trotzdem mit dieser unerwarteten Umgestaltung von seinem ursprünglichen Entwurf
nicht verabschiedet. Das heißt: Weder wandelte Hegel, wie Haering sagt, „unter der Hand“,
d. h. plötzlich und unabsichtlich, seinen Plan, noch verschoben sich, wie Pöggeler sagt, die
„Proportionen“ der PHG, bes. ihrer zweiten Hälfte „ins Monströse“.
79
Stattdessen
entwickelte sich ein Denkmotiv, das zu Anfang für Hegel nicht so klar, dennoch irgendwie
latent vorhanden war, während der Niederschrift weiter. 80 Hegel bemühte sich während
dieser Zeit um die optimale Methodik, um den Werdegang des Bewusstseins zur
Wissenschaft zu schildern; demgemäß konzipierte er endlich die Erfahrungswissenschaft
des Bewusstseins als die Lehre, die nicht bloß die Erkenntnis des Objekts thematisiert,
sondern sich sogar in den ganzen Umfang der Bewusstseinsgestalten, um den Inhalt des
nachfolgenden Systems vorzubereiten und vorwegzunehmen, ausbreitet. In diesem
Zusammenhang ist es schlüssig, dass Hegel, um die Notwendigkeit des Ü bergangs des
Bewusstseins zum Geist klarer zu beleuchten, den Titel des Werkes veränderte.
Aus diesem Bezugsrahmen lässt sich die folgende These hinsichtlich des ganzen Aufbaus
in der PHG herleiten: Jede Bewusstseinsgestalt (schon ab dem Kapitel „Selbstbewußtsein“)
ist sowohl die Antithese ihrer Vorgängerin als auch die Synthese von allen bislang
vollzogenen Gestalten. Der absolute Geist besagt eben die logische Totalität, die die Reihe
der Bewusstseinsgestalt (vom sinnlichen Bewusstsein zum religiösen Bewusstsein) in ein
Prinzip integriert. Die Vollendung des Bewusstseins in der PHG liegt darin, dass das
Bewusstsein sein geistiges Potenzial vollständig erkennt.
Zur Textorganisation bedarf es auch in der PHG fraglos irgendeiner Einteilung, aber eine
Problematik in dieser Hinsicht liegt darin, dass es hier zwei Gliederungen gibt. Die zwei
79
Haering (1934), S. 133; Pöggeler (1973), S. 334.
Was diesen Punkt anbelangt, ist vor allem die Analyse Försters (2008) sinnvoll. Er hält die Ansicht, dass
Hegel im Kapitel „Vernunft“ die Übersicht über seinen Text verloren habe, für „ganz unplausibel“. Hegel
bezwecke vielmehr, jeden Entwicklungsgang der Bewusstseinsgestalten „zu einer höheren Stufe von
Komplexität“ zu führen, weil die auftretende Gestalt den Inhalt der bisherigen Gestalten in sich enthalten muss
(indem sich die Spiralbewegung der Bewusstseinsgestalten gestaltet). Besonders anhand seiner philologischen
Bemühungen versucht Förster zu begründen, warum das Kapitel „Vernunft“ sehr viel umfangreicher werden
musste. Diese Behauptung Försters ergibt sich aus der Einsicht, dass Hegel entdeckte, „was er bei Abfassung
der Einleitung so nicht deutlich vor Augen hatte“. Förster denkt, dass der „Kreis“ des Bildungsgangs des
Bewusstseins im Kapitel „Vernunft“ zwar „noch gar nicht geschlossen“, „die Dialektik des natürlichen
Bewußtseins“ jedoch „an ihr Ende gekommen“ sei. Dadurch rekurriert er auf Haerings Ansatz, dass die
Darstellung in der PHG bis zu diesem Kapitel in Bezug auf den Inhalt schon ihren Schlusspunkt erreiche. S. 4556.
Aber man kann m. E. die von Förster explizierte Spiralbewegung der Bewusstseinsgestalten nicht bloß in dem
ersten Teil des Werkes, sondern vielmehr in seinem ganzen Hauptinhalt finden, weil man „die Dialektik des
natürlichen Bewußtseins“ nicht bloß in dem ersten Teil des Werkes, sondern auch in dem zweiten Teil desselben
finden kann.
63
80
unterschiedlichen Einteilungen gehen beide auf Hegel selbst zurück; sowohl die erste als
auch die zweite Gliederung kann man nämlich direkt in dem Text beobachten. Daran, dass
die zweite Gliederung nicht im Hauptteil des Textes, sondern nur im „Inhalt“81 am Anfang
des Buchs auftritt, lässt sich ablesen, dass Hegel erst nach der Abfassung der PHG diese
alphabetische Gliederung hinzugefügt hat. Daraus, dass die erste in diesem „Inhalt“ noch
vorhanden ist, lässt sich auch ersehen, dass die erste durch die zweite nicht ersetzt, sondern
komplettiert worden ist.
Neben den zwei Gliederungen gibt es gleichwohl auch eine andere, die als die dritte
Gliederung bezeichnet werden kann; in seiner „Selbstanzeige“, die kurz nach der
Niederschrift der PHG vermutlich, aber mit ziemlicher Sicherheit, von Hegel selbst
formuliert wurde, schreibt er über die Strukturierung des Werkes Folgendes:
Die Phänomenologie des Geistes […] faßt die verschiedenen Gestalten des Geistes als
Stationen des Weges in sich, durch welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird. Es wird
daher in den Hauptabteilungen dieser Wissenschaft, die wieder in mehrere zerfallen, das
Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, die beobachtende und handelnde Vernunft, der Geist selbst,
als sittlicher, gebildeter und moralischer Geist, und endlich als religiöser in seinen
unterschiedenen Formen betrachtet. Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum
der Erscheinungen des Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sie nach
ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen,
welche ihre nächste Wahrheit sind. Die letzte Wahrheit finden sie [= die Bewusstseinsgestalten
oder die Geistesphänomene] zunächst in der Religion und dann in der Wissenschaft, als dem
Resultate des Ganzen (W3.593).
Seine Bemerkung könnte zwar keine explizite Gliederung sein, jedoch könnte man sagen,
sie impliziert Hegels Gedanken, was die Architektonik der PHG betrifft.
Daraus lässt sich die Reihe der strukturellen Einteilungen der PHG folgendermaßen
tabellarisieren:
81
Dazu vgl. GW9, S. 5 ff.
64
<Hegels Einteilung des Hauptteils der PHG>
Die erste Gliederung
Die zweite Gliederung
Die „Hauptabteilungen“ in Hegels
„Selbstanzeige“
I. „Die sinnliche Gewißheit“
II. „Die Wahrnehmung“
(A) „Bewußtsein“
„Bewußtsein“
(B) „Selbstbewußtsein“
„Selbstbewußtsein“
III. „Kraft und Verstand“
IV. „Die Wahrheit der Gewissheit
seiner selbst“
A. „Selbständigkeit und
Unselbständigkeit des
Selbstbewußtseins; Herrschaft und
Knechtschaft“
B. „Freiheit des Selbstbewußtseins;
Stoizismus, Skeptizismus und das
unglückliche Bewußtsein“
V. „Gewißheit und Wahrheit der
Vernunft“
A. „Beobachtende Vernunft“
B. „Die Verwirklichung des
vernünftigen Selbstbewußtseins durch
sich selbst“
C. „Die Individualität, welche sich an
und für sich selbst reell ist“
VI. „Der Geist“
A. „Der wahre Geist. Die Sittlichkeit“
B. „Der sich entfremdete Geist. Die
Bildung“
C. „Der seiner selbst gewisse Geist.
Die Moralität“
(AA)
„Vernunft“
(C)
Die „beobachtende und
handelnde Vernunft“
(BB)
„Der Geist“
„als sittlicher, gebildeter
und moralischer“
„Geist“
VII. „Die Religion“
A. „Die natürliche Religion“
B. „Die Kunstreligion“
C. „Die offenbare Religion“
(CC)
„Die Religion“
VIII. „Das absolute Wissen“
(DD)
„Das absolute
Wissen“
„als
religiöser“
„Die
letzte
Wahrheit“
„Wissenschaft“
Die Dialektik in der PHG kann man mit dem der ersten Gliederung entnehmbaren
Denkmodell wie folgt konstatieren: 1) Jedes Bewusstsein in einer bestimmten Gestalt fängt
mit
der
„Gewißheit“
davon,
dass
sein
Ansatzpunkt
als
Kriterium
für
die
Wahrheitsbeurteilung unbedingt gültig sei, seinen wissenden bzw. handelnden Vollzug an;
es verschafft sich über etwas Gewusstes bzw. Durchgeführtes Gewissheit. 2) Das
Bewusstsein erfährt jedoch auf einen Schlag die „Unwahrheit“ desselben; in dem
65
Augenblick, da sich dieser Vollzug des überzeugten Bewusstseins vollendet, geht dieser
Verlauf sogleich zu Ende. Dadurch muss sein bisheriger Grund untergehen, sodass das
Bewusstsein sozusagen von seinem „Schein“ nicht abweichen kann. 3) Aber dieses
Zugrundegehen der bisherigen Ü berzeugung impliziert zugleich für Hegel seine Rückkehr
in den wahren Grund des Bewusstseins; die Einsicht desselben in die Unwahrheit seines
Gegenstandes bringt andererseits das Bewusstsein zu einem höheren Standpunkt. Dieses
Moment des dialektischen Ü bergangs, d. h. die „Umkehrung des Bewußtseins“, ergibt sich
aus der „bestimmten Negation“, die man als die Aufhebung des Inhalts des bisherigen
Gegenstandes, d. i. als den daraus einen anderen wahren Gegenstand, „eine neue Gestalt des
Bewußtseins“ (W3.80), erscheinen lassenden Vollzug, bezeichnen kann. Dieser Ü bergang
des Bewusstseins von der Gewissheit zur Wahrheit fungiert als sein dialektisches
Bewegungsmodell bis zum letzten Atemzug und, weil durch den jeweiligen Ü bergang die
Bestimmungen der vormaligen Wahrheitsaussage nicht ausgelöscht werden; jede nächste
Ü bergangsphase, d. h. die zur Wahrheit gewordene Gewissheit, muss sowohl intensiver als
auch extensiver denn je zuvor werden. Auf diese Weise führt das wissende bzw.
objektivierende Bewusstsein in die allmählich intensiver und extensiver werdende Richtung
vom Kapitel „I. Die sinnliche Gewißheit“ zum Kapitel „VIII. Das absolute Wissen“. 82
Wenn wir uns im Speziellen mit der ganzen Architektonik der PHG befassen, lässt sich daran
ablesen, dass Hegels Geschichtsverständnis als die umfangreiche Bildungsgeschichte des
Geistes bezeichnet wird.
Die Ausdrücke der „Gewißheit“ und der „Wahrheit“ treten zwar nur bis zum Kapitel „V“ in der ersten
Gliederung zutage. Aus diesem Grunde denkt z. B. Pöggeler (1993), dass unerwartet der Schwerpunkt des
Werkes vom „Selbstbewußtsein“ durch den „Geist“ bis zur „Religion“ verlagert sei. S. 222. Aber die Erhebung
der Gewissheit zur Wahrheit bildet m. E. auch in den nachfolgenden Kapiteln, also im „Geist“ und in der
„Religion“, jeweils die Übergangsphase der Bewusstseinsgestalten. Das Kapitel „VI. Der Geist“ hat seinen
Ausgang, indem die „Gewißheit“ der Vernunft endlich „zur Wahrheit erhoben“ ist. Aber diese Entsprechung
der Gewissheit zur Wahrheit gilt nur an sich. Der Geist erscheint dem Bewusstsein im Kapitel „VII. Die
Religion“ „als absoluter Geist“, weil der religiöse Geist, genauer der Geist der christlichen Religion, „wie er
in der Gewißheit seiner selbst, sich auch in seiner Wahrheit ist“. Trotzdem sind auch in diesem Geist die beiden
„noch ungleich“. Erst der absolute Geist, „der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des
Selbsts gibt“, erscheint dem Bewusstsein in seinem wahren Element. Denn erst seine „Wahrheit ist nicht nur
an sich vollkommen der Gewißheit gleich, sondern hat auch die Gestalt der Gewißheit seiner selbst, oder sie
ist in ihrem Dasein, d. h. für den wissenden Geist in der Form des Wissens seiner selbst.“W3, S. 324; 501 f.;
582 f.
66
82
2. Ü berblick
2.1 „Bewußtsein“: die Dialektik des gegenständlichen Bewusstseins
Die drei zuerst auftretenden Bewusstseinsgestalten („Die sinnliche Gewißheit“, „Die
Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“) werden wiederum in der zweiten Gliederung in
das Kapitel „Bewußtsein“ eingeordnet. Dies „Bewußtsein“ ist der geläufigen Epistemologie
nach im Grunde das gegenständliche Bewusstsein. Der Standpunkt des Bewusstseins, den
Hegel als die Supposition des natürlichen Bewusstseins bezeichnet, liegt darin, dass das
Bewusstsein „etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“ (W3.76), unterscheidet;
deshalb ist für das Bewusstsein ein grundlegender Gegensatz zwischen der Erscheinung und
dem Wesen, vor allem zwischen der Gewissheit und der Wahrheit, unabdingbar
vorausgesetzt. Weil das Bewusstsein auf dieser Hypothese (die besagt: „Ich bin ganz anders
als mein Gegenstand“) fußt, gerät es ins Schwanken zwischen zwei ontischen Konstanten,
indem es einmal das Objektive, ein andermal hingegen das Subjektive – aber wiederum
umgekehrt – als seinen Kanon der Wahrheit erachtet.
Das Bewusstsein bezweckt zuerst mit dem unmittelbaren Wissen (abhängig von der
sinnlichen Anschauung) direkt die unvoreingenommene Erkenntnis über einzelnes
„Dieses“ (W3.82). Aber es erfährt sogleich die Unwahrheit seiner „Meinung“ (W3.85),
indem es beobachtet, dass dieses von ihm als am wahrhaftesten angesehene Objekt in der
Tat nicht als ein rein Einzelnes, sondern als ein Allgemeines erscheint, weil alle Einzelnen
als sense-data ausschließlich mit Hilfe von kategorialen Formulierungen des Subjekts
aussprechbar sind. Unter Berufung auf die Ebene einer solchen Allgemeinheit erlangt das
Bewusstsein die Kenntnis, dass jedes einfache Substrat mit vielerlei (einzelnen)
Bestimmungen vermittelt werden muss; aufgrund dessen nimmt es sodann das „Ding von
vielen Eigenschaften“ (W3.94) wahr. Aber es muss in den Widerspruch zwischen dem
Einfachen (d. h. der „Dingheit“ eines Dinges) (W3.95) und den vielen Einzelnen (d. h. den
„Eigenschaften“ desselben) geraten, weil hier eine „Täuschung“ (W3.97) immer möglich ist,
gleich wenn es eine von zwei extremen Optionen für das Kriterium der Wahrheit wählt. Der
Verstand als die dritte Bewusstseinsgestalt kommt zur Einsicht in die Einheit von beiden
solchen Konstanten. Er kann als intellectus, i. e. als das geistige Verständnis, angegeben
werden, indem durch ihn das Innere und das Ä ußere an einer Sache in einem Atemzug
einzusehen sind. Mit dieser Fähigkeit hat das Bewusstsein einen Einblick in „die in sich
zurückgedrängte Kraft“ (W3.110). Dadurch erkennt es zuerst die „Erscheinung“ (das „Spiel
der Kräfte“) (W3.116); dann kommt es durch sie zur Einsicht in ihren wahren Hintergrund
67
(das „Gesetz der Kraft“), d. h. in ihre „übersinnliche Welt“ (W3.120). Erst dieser letzte
Verstand – mit Scheier der „begreifende“ Verstand 83 – ermöglicht (potenziell) dem
Bewusstsein, das „Unbedingt-Allgemeine“ (W3.108) zu erfassen.
2.2 „Selbstbewußtsein“: der erste Wendepunkt des Geistes
Mit der letzten Wahrheit des Verstandes gelangt das Bewusstsein für Hegel an den Eingang
zur übersinnlichen Welt; das „Reich der Gesetze“ (W3.120) als die Wahrheit des
Bewusstseins führt das Bewusstsein zur Einsicht in den „Begriff des Gesetzes
selbst“ (W3.121). Das Bewusstsein beschränkt den Geltungsbereich dieses Gesetzes nicht
nur auf sein Objekt, sondern geht nun über seine Objektbezogenheit hinaus und in sich selbst
zurück. Es wird sich nunmehr seiner selbst bewusst; hiermit taucht „das einheimische Reich
der Wahrheit“ auf (W3.138). Das resultiert daraus, dass das Bewusstsein neben der
Objektbezogenheit auch die Beziehung auf sich selbst hat. Hier „ist dies entstanden, was in
diesen früheren Verhältnissen nicht zustande kam, nämlich eine Gewißheit, welche ihrer
Wahrheit gleich ist“ (W3.137). Das Bewusstsein macht hierdurch eine erste geistige
Erfahrung, dass „nicht nur für uns, sondern auch für das Wissen selbst der Gegenstand dem
Begriffe entspricht“ (W3.137); diese Erfahrung ergibt sich aus der „Bewegung des
Anerkennens“ (W3.146). Aus diesem Grunde bezeichnet Hegel das Selbstbewusstsein mit
dem „Begriff des Geistes“ (W3.145); obgleich die geistige Natur des Bewusstseins nicht
vollkommen erfasst wird, beginnt ab diesem Augenblick „die Offenbarung der
Tiefe“ (W3.591), zu der das erscheinende Wissen erst auf seinem Endpunkt gelangen soll,
sodass der absolute Begriff der Wissenschaft dem Bewusstsein erscheint.84 Also hat das
Laut Scheier (1980) hat das unmittelbare Bewusstsein (von der „sinnlichen Gewißheit“ zum „Verstand“)
insgesamt vier Gegenstände, denn der Verstand besteht aus zwei Gestalten; die erste ist der
„wahrnehmende“ Verstand, der „das reflektiert allgemeine Ansich“, d. h. das „Spiel der Kräfte“, zu seinem
Gegenstand hat; die zweite wird als der „begreifende“ Verstand bezeichnet, dessen Denken auf „das absolut
allgemeine Ansich“, d. h. auf das „Gesetz der Kraft“, gerichtet ist. S. 63-88.
84
Von dieser Aussage Hegels ausgehend kommt Pöggeler (1993) zur Einsicht, dass das Selbstbewusstsein den
Punkt des absoluten Wissens erreiche, sodass alle nachfolgenden Bewusstseinsgestalten (von dem Kapitel
„Vernunft“ zu dem Kapitel „Das absolute Wissen“) „als die erfüllteren Gestaltungen dessen, was im
Selbstbewußtsein erreicht wird, vorgeführt“ würden. S. 293. Diese Vorführungsthese beruht auf Pöggelers
folgender Ansicht: „In gewisser Weise steckt die Vernunft ja schon im Bewußtsein; Geist und Religion steckten
im Selbstbewußtsein.“ S. 210.
Aber dieses Argument ist m. E. unplausibel, denn für Hegel ist das „Selbstbewußtsein“ nichts anderes als der
„Begriff“ des Geistes und die nachfolgenden (zum absoluten Wissen gelangenden) Darstellungen sind die
Ausführung des virtuellen Wesens, nicht Exemplifikationen der bereits vollendeten Substanz. Das Wesen des
Geistes ist nämlich nicht im „Selbstbewußtsein“ vollendet und alle sukzedierenden Bewusstseinsgestalten sind
nicht einfach als die Wiederholung des Inhalts im Kapitel „Selbstbewußtsein“ zu verstehen. Es könnte zwar
68
83
Bewusstsein nun „seinen Wendungspunkt“ (W3.145); deswegen verselbständigt sich diese
Phase – mit Recht – in der zweiten Gliederung zu einem eigenen Kapitel
„Selbstbewußtsein“.85
Das Selbstbewusstsein ist eine „neue Gestalt des Wissens“, insofern es sich nicht einfach
als das „Wissen von einem Anderen“, sondern nunmehr als das „Wissen von sich
selbst“ bezeichnet (W3.138). Das heißt: „Ich unterscheide mich von mir selbst“, aber dieses
Ich ist zugleich von dem Unterschiedenen nicht unterschieden, somit ist dieses
„Unterschieden des Ununterschiedenen“ (W3.134) für das sich auf sich beziehende
Selbstbewusstsein kennzeichnend. Insofern diese Selbstbezogenheit freilich nichts anderes
tut, als von seinem Anderssein zu abstrahieren, schwebt diesem Bewusstsein nur die
„Tautologie: Ich bin Ich“ (W3.138) als der archimedische Punkt der subjektivistischen
Philosophie vor. Gleichwohl verabschiedet sich das Selbstbewusstsein nicht von seiner
Objektbezogenheit; vielmehr hebt es sie denkerisch auf. Es macht im Grunde seine
Erfahrung über sich selbst, jedoch verbleibt dieser Vollzug nicht in einer bloßen
Kontemplation, sondern er erweitert sich auch bis zum Bereich der durch die praktische
Tätigkeit
gewonnenen
Erfahrung.
86
Durch
diese
doppelsinnige
Erfahrung
vergegenständlicht sich der Geist, d. h. die „absolute Substanz, welche in der vollkommenen
gesagt werden, dass im Kapitel „Bewußtsein“ und im Kapitel „Selbstbewußtsein“ irgendein in den
nachfolgenden Gestaltungen darzustellender Inhalt „in gewisser Weise“ bereits „steckt“. Aber niemand kann
dieser Sachlage entnehmen, dass mit einigen fragmentarischen Darstellungen im „Bewußtsein“ bzw.
„Selbstbewußtsein“ die nachträgliche Entwicklung des Bewusstseins zur Wissenschaft schon fertig geworden
sei.
85
Es sind Versuche, diesen Wendepunkt als die grundlegende Bruchstelle des ganzen Werkes zu betrachten.
Dafür ist die Behauptung Taylors (1978) bezeichnend. Für ihn handelt es sich bei den drei Gestalten im Kapitel
„Bewußtsein“ um die (im Grunde ausschließlich auf die Logik in Hegels System zurückzuführende)
„ontologische Dialektik“ als die Grundlage für den epistemologischen Vollzug, während die „historische
Dialektik“ vom Kapitel „Selbstbewußtsein“ bis zum letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ vorherrschend sei.
Mit dieser Analyse bezweckt Taylor zu erweisen, dass die PHG nicht ein systematisch einheitliches Werk sei.
S. 284-293. Aber seine radikalistische Einstellung, den angeblich logischen Teil vom realphilosophischen Teil
solcherweise abzutrennen, ist m. E. deswegen unhaltbar, weil die ursprüngliche Idee selbst der P HG nichts
anderes als die Einführung zum System (einschließlich der Logik) ist. Die Dialektik des Bewusstseins ist im
Grunde auf den ganzen Text bezogen. Der Ü bergang des Bewusstseins zum Selbstbewusstsein fungiert – dieser
Punkt wird nachher ausführlich gemacht – als ein Grundmodell der PHG, weil z. B. die Entstehung der
offenbaren Religion als der letzten Bewusstseinsgestalt mit diesem Ü bergangs-Modell expliziert wird. W3,
S. 502. Ü berdies gibt es in den nachherigen Gestalten die beiden Dialektiken, und zwar vermischt miteinander;
aber es muss zugleich festgestellt werden, dass auch im Kapitel „Bewußtsein“, soweit die sog. historische
Dialektik behandelt wird, sich zumindest Hegels Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern in der Darstellung
über die Dialektik des Bewusstseins widerspiegelt. Zum Zusammenhang der P HG mit der philosophischen
Geschichte vgl. z. B. die Literatur Falkes (1996), in der (neben ihrem Zusammenhang mit dem
enzyklopädischen System auch) dieser geschichtliche Zusammenhang thematisiert worden ist.
86
Der praktische Sinn des Begriffes „Selbstbewußtsein“ wird vor allem von Kojève (1975) als die Basis der
PHG-Interpretation betont. Ihm zufolge ist das Selbstbewusstsein das ursprüngliche Prinzip der
Menschwerdung und Sozialkonstruktion. S. 20-47. Zum Versuch, die „Anerkennung“ als den Grundbegriff der
praktischen Philosophie überhaupt aufzufassen, vgl. Honneth (1992).
69
Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender
Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (W3.145).
In diesem Erfahrungsprozess des Selbstbewusstseins tritt für ein selbständiges Individuum
ein anderes als sein Gegenstand auf. Das heißt: „Es ist ein Selbstbewußtsein für ein
Selbstbewußtsein“ (W3.144). Weil sogar mein Gegenstand als das „Ich“ erscheint, wird das
Verhältnis zwischen mir und meinem Gegenstand auf eine ganz andere Ebene als bisher
gehoben, denn es geht nunmehr um die Beziehung zwischen zwei für sich seienden (d. h.
eigene „Freiheit“ haben wollenden) Individuen. Auf dieser überindividuellen Ebene
bemühen sich die beiden Subjekte gleichermaßen darum, ihre eigene „Freiheit“ zu
bewahrheiten. Das Lebensgefühl des Subjekts, das den Zustand „der vollkommenen Freiheit
und Selbständigkeit“ begehrt, nennt Hegel „Begierde“ (W3.143). Hier ist es beachtenswert,
dass das solcherweise begehrende Subjekt unabdingbar das Dasein eines anderen Subjekts
voraussetzt, um ihm seine „Freiheit und Selbständigkeit“ zu entziehen, denn „[d]as
Selbstbewußtsein
erreicht
seine
Befriedigung
nur
in
einem
anderen
Selbstbewußtsein“ (W3.144). Jedes in dieser „Begierde“ begriffene Subjekt ist „seiner selbst
nur gewiß durch das Aufheben“ seines Gegenstandes (W3.143); weil es nur durch die
„Nichtigkeit dieses [= seines] Anderen“ seine „Selbständigkeit“ bewährt sieht (W3.143),
müssen die beiden so miteinander interagierenden Individuen in den als Zero-sum-game
bezeichneten Zustand eintreten, der mit dem Begriff „Kampf auf Leben und Tod“ (W3.149)
verdichtet beschrieben worden ist. „Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“, die auch der
Titel des Kapitels „IV“ ist, besteht aber darin, dass durch diese gegenseitig verschlungenen
Bemühungen die beiden Subjekte endlich zu der Einheit miteinander kommen, die sich mit
dem Motto bezeichnet, dass das „Ich“ nichts anderes als das „wir“ sei und, ebenfalls das
„wir“ nichts anderes als das „Ich“. Der Erfahrungsprozess des Selbstbewusstseins zeigt uns
auf diese Weise den Prozess der Anerkennung; daraus resultiert die kollektive Ebene des
Selbstbewusstseins als das geistige Wesen desselben.
Aber
diese
Dialektik
87
der
Begierde
bzw.
Anerkennung
im
Kapitel
„Selbstbewußtsein“ expliziert nicht völlig das geistige Wesen des Bewusstseins, sondern
besagt nur, dass „der Begriff des Geistes für uns vorhanden“ (W3.145) ist, denn erst in der
jetzigen Phase wird für uns, also für die Wissenschaft, auf das Substrat zur Einheit zwischen
zwei verschiedenen Individuen auch nur hingedeutet. In diesem Kapitel erfährt zwar das
begehrende Selbstbewusstsein, dass sein Gegenstand seinem Verlangen nachkommt, aber
87
Zu dieser Thematik vgl. z. B. Gadamer (1973); Siep (1998), bes. S. 108-116.
70
seine Erfahrung („Ich bin geradezu wir selbst“) wird durch die Privation der
Selbstständigkeit von seinem Anderen, von einem anderen Selbstbewusstsein, gewonnen.
Deshalb ergibt sich diese Einheit noch nicht zwischen zwei selbstständigen Individuen,
sondern zwischen einem selbstständigen Bewusstsein („Herr“) und einem anderen, aber
unselbstständigen Bewusstsein („Knecht“). Dieses „Verhältnis der Herrschaft und
Knechtschaft“ (W3.157) ist nicht ein wahrhaft gegenseitiges, sondern „ein einseitiges und
ungleiches Anerkennen“ (W3.152). Selbst wenn der Träger der Freiheit verändert wird, ist
diese Unvollkommenheit der Anerkennungsbewegung nicht zu überwinden. Anstatt des
Herrn, der sich seine Selbstständigkeit in der Tat durch einen Anderen bewähren lässt, eruiert
der Knecht endlich durch die Vergegenständlichung seines Wesens kraft seiner eigenen
„Arbeit“ seine Freiheit (W3.151). Indem zwei Momente des Selbstbewusstseins, d. i. die
Selbstständigkeit und die Unselbstständigkeit, einem solchen Subjekt anheimfallen, stellt
sich nunmehr „die Verdopplung des Selbstbewußtseins in sich selbst“ (W3.163) ein. Aber
dieser Augenblick geschieht ohne die Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein;
diese „Verdopplung“ bleibt nur „innerhalb der Knechtschaft“ (W3.154 f.) stehen. Diese
Freiheit des Selbstbewusstseins gestaltet sich als „Stoizismus“, „Skeptizismus“ und
letztendlich als „das unglückliche Bewußtsein“. Diese Gestalten sind alles in allem die der
Freiheit
innerhalb
des
unselbstständigen
Bewusstseins.
Das
wahrhafte
Anerkennungsverhältnis zwischen zwei selbstständigen Individuen findet hier noch nicht
statt. 88 Kurz: Im „Selbstbewußtsein“ fängt für uns das virtuelle geistige Wesen des
Bewusstseins zu erscheinen an, im Gegensatz dazu für das Bewusstsein sein eigener (aber
bis jetzt nur unvollkommener) Freiheitsgenuss.89
2.3 „Vernunft“: die Synthesis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein
Das „Selbstbewußtsein“ nannte Hegel noch nicht den Geist selbst, sondern nur den
„Begriff“ desselben, weil das geistige Wesen des Selbstbewusstseins ausschließlich für uns
vorhanden war. Zwar fand auch für das Bewusstsein die Erfahrung der Gegenwart des
geistigen Wesens statt; aber diese Erfahrung seiner Freiheit bzw. Selbstständigkeit war vor
allem deswegen einseitig, weil es sich auf seinen Gegenstand (auch als ein Selbstbewusstsein)
88
Dazu vgl. Siep (1979), S. 68-75; 124-129.
Hier fehlt die Darstellung des Teils „B. Freiheit des Selbstbewußtseins“, weil es in der vorliegenden Arbeit
nur um die Dialektik der Anerkennung geht.
71
89
negativ bezieht, weil es nämlich, um sich selbst zu bewähren, ihn ausschließt. Für das
stoische Selbstbewusstsein, das seinen Gegenstand für schlechthin gleichgültig gegen sich
hält, und für das skeptische, das es für den vergänglichen Schein hält, erscheint sein Anderes
ebenfalls als bedeutungslos. Das unglückliche Bewusstsein ergibt sich daraus, dass, obwohl
es ernsthaft die Einheit von seiner Ü berzeugung und ihrer wirklichen Sachlage intendiert,
sein Wunsch, immer unbefriedigt, jenseits seiner selbst bleibt; deshalb bezeichnete sich sein
Anderes als dasjenige, was immer anders als es selbst sei. Anders als in dieser Etappe kommt
erst in dem Kapitel „Vernunft“ die positiv-affirmative Beziehung des Denkenden auf das
Seiende auf. Das Bewusstsein hält bedenkenlos dafür, dass eine solche Einheit diesseits
realisiert sein müsse. Diese „Gewißheit“ des Bewusstseins, „alle Realität zu sein“ oder „alle
Wahrheit zu sein“, ist geradezu die „Vernunft“ (W3.177 f.). Diese „Vernunft“ ist einesteils
die Wahrheit des Bewusstseins, denn sie kann seinen Gegenstand, wie er in Wahrheit ist,
erfassen. Ebenso ist sie andernteils die Wahrheit des Selbstbewusstseins, denn sie ist im
Gegenstand zugleich bei sich. Das Bewusstsein auf der Ebene dieser Vernunft meint ergo
gewiss, seine Gegenstände seien, wie sie in Wahrheit sind, durch seinen eigenen Vollzug
realisiert. Aus diesem Grunde lässt sich feststellen, dass die Vernunft deswegen als die
„Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins“ (W3.326) zu verstehen ist, weil sie
die vorigen Gestalten des Bewusstseins (von dem Kapitel „Bewußtsein“ zu dem Kapitel
„Selbstbewußtsein“) umfasst.
Das Kapitel „Vernunft“ stellt, was den Aufbau der PHG angeht, einen anderen
Wendepunkt (als das Kapitel „Selbstbewußtsein“) dar: In der schon erwähnten („1.
Vorausblick“) zweiten Gliederung lässt Hegel das Kapitel „(C)“ mit der Vernunft anfangen.
Die Erfahrung des Bewusstseins auf der Ebene der Vernunft impliziert seine Ü berzeugung
davon, dass sein Gegenstand nichts anderes als das Absolute (namentlich das
Anundfürsichsein oder die „Sache selbst“) sei und dass das Bewusstsein dies Absolute
suchen und finden könne. Anscheinend könnte man deshalb zwar sagen, dass die Entfaltung
des natürlichen Bewusstseins zur Vernunft den ganzen Umfang markiere. Aber man soll aus
dieser Perspektive es nicht so ansehen, als ob die dem Kapitel „Vernunft“ nachfolgenden
Gestaltungen die bloße Rekapitulation des Standpunkts der „Vernunft“ wären;
diese
Missdeutung beruht auf der Sachlage, dass die Darstellung der „Phänomenologie“ im
enzyklopädischen System als Bewusstseinslehre in dem Kapitel „Vernunft“ ihre Darstellung
beendet.
Warum und wie die „Vernunft“ in der PHG den zweiten Wendepunkt bildet,
dafür muss man also den Grund anderwärts ausfindig machen.
72
Das dritte Kapitel „(C)“ beginnt mit der „Vernunft“, gleichwohl soll dies nicht heißen, das
Bewusstsein erreiche mit der „Vernunft“ völlig die Ebene des absoluten Wissens. Die
anfängliche Existenz-Form der Vernunft ist die „Gewißheit“; diesen Vollzug des
Bewusstseins nennt Hegel auch „die Vorstellung der Vernunft“ (W3.177). Das Bewusstsein,
das nunmehr als Vernunft erscheint, meint: „[D]ie Realität, die ich im Auge behalte, ist alles
in allem meine Vorstellung, die sich durchgehend als die Wahrheit selbst bezeichnet“ – diese
„Gewißheit“ nennt Hegel auch den „Idealismus“ (W3.179). Diese Ausdrücke, „Gewißheit“,
„Vorstellung“, „Idealismus“ usf., sind unüberbietbar kennzeichnend für das Spezifikum der
Vernunft in der PHG; denn im Kapitel „Vernunft“ geht es um den Vollzug des „einzelnen
Bewußtsein[s]“,
also
besteht
seine
„Gewißheit“
grundsätzlich
„in
seiner
Einzelheit“ (W3.177). Obgleich das Bewusstsein in diesem Kapitel (anders als im
„Selbstbewußtsein“) in positiver Beziehung zu seinem Anderen steht, kann es trotzdem noch
nicht über den Standpunkt von einem Individuum hinausgehen. Die „Gewißheit“ der
Vernunft, „alle Realität zu sein“, ist weder „die Realität der Vernunft“ noch „die wirkliche
Vernunft“ (W3.185); die absolute Wahrheit soll sich für das vernünftige Bewusstsein als sein
eigenes Produkt erweisen, dennoch kann das für es nicht geschehen. Dieser Träger des
vernünftigen
Dafürhaltens
ist
noch
nicht
zur
wahrhaften
„Verdopplung
des
Selbstbewusstseins in sich selbst“ gelangt; die Thematik der gegenseitigen Anerkennung
bzw. Versöhnung zwischen verschiedenen Individuen tritt nämlich erst im Kapitel
„Geist“ zum ersten Mal auf. Aufgrund dessen drückt sich in dem Titel „(C) (AA) Vernunft“,
mit dem Hegel versieht, sein Gedanke aus, dass die Vernunft die Synthesis von den beiden
vorherigen Gestalten („(A)“ und „(B)“) ist, und zwar die erste („(AA)“) Synthesis.
Auch der Titel in der ersten Gliederung „V. Gewißheit und Wahrheit der
Vernunft“ repräsentiert den Entwicklungsgang, in dem sich das Bewusstsein an seinem
naiven Dafürhalten, an dem „abstrakten Begriff der Vernunft“ abarbeitet, um „das leere
Mein“, d. h. seine abstrakte Meinung, mit dem allgemeingültigen Inhalt „zu erfüllen“, um
dadurch ihm selbst „die Realität in Wahrheit“ (W3.185) zuteilwerden zu lassen. In diesem
Zusammenhang nähert sich das Bewusstsein im Kapitel „Vernunft“ seinem Ziel stufenweise
an: Erstens gestaltet es sich als die theoretische Vernunft („A. Beobachtende Vernunft“), die
das „Sein“ des „einzelnen Bewußtseins“ mit der „Kategorie“ in seinen Besitz bringt,
zweitens als die praktische („B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins
durch sich selbst“), die trotz seiner Einzelheit um der erfüllten „Allgemeinheit“ bzw.
„Notwendigkeit“ willen tätig ist, 90 und drittens als die Einheit von beiden („C. Die
90
Aber selbst die praktische Vernunft kann die Dimension der Einzelheit nicht überwinden, weil sie noch in
73
Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“), also als das einzelne
Selbstbewusstsein, das den Weg dazu findet, sich selbst im Allgemeinen „Tun Aller und
Jeder“ (W3.325) zu betätigen.
Die „Vernunft“ ist der Anfang der dritten und letztendlichen Phase im Werdegang des
Bewusstseins zur Wissenschaft und macht im Vergleich zu vorigen Gestaltungen zweifellos
einen noch hochrangigeren Wendepunkt (also einen intensiveren und extensiveren als je
zuvor) aus. Das vernünftige Individuum, das seine einzelne Ü berzeugung mit dem
allgemeinen Inhalt erfüllt, umfasst den ganzen Inhalt der vorigen Gestaltungen, weil es
graduell sein Wesen sowohl intensiver als auch extensiver verwirklicht. Die Vernunft ist
nicht als die Entgegensetzung der bisherigen Gestaltungen sondern als die umfangreichere
bzw. reichhaltigere Synthese derselben aufzufassen, während das Selbstbewusstsein
gewissermaßen als die Antithese des Bewusstseins verstanden werden kann. Die Dialektik
des Entwicklungsgangs in der PHG besteht also darin, dass – zumindest ab der „Vernunft“ –
jeweils alle Wendepunkte jeweils aller bisherigen Prozesse dieser Bewegung von Anfang an
wiederholt (insbesondere die strukturellen Elemente der Bewegung in Erwägung ziehend)
dargestellt werden. Das „Bewußtsein“, das „Selbstbewußtsein“ und die „Vernunft“ als die
Einheit von beiden fungieren deshalb als die grundlegenden Momente, die nachfolgenden
(zum absoluten Wissen zu gelangenden) Bewegungen zu explizieren.91 Die Vernunft enthält
den theoretischen Vollzug des Bewusstseins (im „Bewußtsein“) und den praktischen
Vollzug desselben (im „Selbstbewußtsein“) in seinem Geltungsbereich; sie umfasst auch
innerhalb ihrer Bewegung die theoretische Seite („A. Beobachtende Vernunft“) und die
praktische („B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins“), um die Einheit
von beiden („C. Die Individualität“) zu erringen.
Das letzte übergeordnete Kapitel „(C)“ in der zweiten Gliederung ist titellos, also
entspricht das Kapitel „Vernunft“ dem ersten untergeordneten Kapitel „(C) (AA)“. Weil die
Vernunft nicht das Ziel selbst der PHG ist, sondern mit anderen gleichrangigen
untergeordneten Gestaltungen92 die strukturellen Elemente mehr oder minder gemein hat,
gilt die Dialektik der Synthese von Bewusstsein und Selbstbewusstsein auch in diesen
nachfolgenden Gestaltungen. Das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein (und die Einheit
von beiden) sind nämlich – gleich wie das Verhältnis zwischen der Substanz und dem
Subjekt – relevant dafür, den Ü bergang des Bewusstseins zum absoluten Geist darzulegen.
der Vorstellung des Einzelnen bleibt. Die Verwirklichung dieser Vorstellung bezweckt das moralische
Bewusstsein in dem nächsten Kapitel „Geist“, und zwar vor allem mit dem Ideal des höchsten Guts.
91
Dazu vgl. z. B. Dooren (1969), S. 93.
92
Das heißt: „(BB) Der Geist“, „(CC) Die Religion“ und „(DD) Das absolute Wissen“.
74
2.4 „Geist“: das Ganze des weltlichen Geistes
Dadurch, dass die „Gewißheit“ der Vernunft „zur Wahrheit erhoben“ ist, wird sie erst zum
„Geist“ (W3.324). Diese Erhebung wird ohne Zweifel auch als die dialektische Begebenheit
im bisherigen Entwicklungsgang des Bewusstseins qualifiziert; wie das gegenständliche
Bewusstsein im Kapitel „Bewußtsein“, indem seine Gewissheit zur Wahrheit gelangt war,
in das Kapitel „Selbstbewußtsein“ eintrat und wie das „Selbstbewußtsein“ sich, indem es
diese Wahrheit des gegenständlichen Bewusstseins als seine Gewissheit voraussetzte, auf
den Weg zu seiner Wahrheit, der Vernunft, machte, so geht auch die Vernunft von der
Wahrheit des Selbstbewusstseins aus. Aber die Stellung des Geistes, in der sich die
Gewissheit der Vernunft als ihre Wahrheit beweist, bringt viele Interpreten zur Ü berzeugung
davon, dass hier ein deutlicher (gedanklicher) Einschnitt in der PHG sei.93 Was das Kapitel
„Geist“ zum durchschlagendsten Wendepunkt des Werkes macht, ist, dass das absolute
Wesen für das Bewusstsein als das Resultat seines eigenen Vollzugs wirklich erscheint,
während die Vernunft nur die Gewissheit hatte, dass die Wahrheit als ihr Produkt auftrete.
Alle bisherigen Gestaltungen sind die „Gestalten nur des Bewußtseins“; sogar die Vernunft
ist streng genommen nichts anderes als „das Bewußtsein, das Vernunft hat“; deshalb lässt
sich nicht sagen, dass sie selbst Vernunft „ist“ (W3.326). Dagegen nennt Hegel die Gestalten
im Kapitel „Geist“ „Gestalten einer Welt“, d. h. „die realen Geister“, die ihrerseits
„eigentliche Wirklichkeiten“(W3.326) haben. Erst im Geist werden das „Selbst des
Ungeachtet seiner Diagnose, dass der (in der „Einleitung“ von Hegel implizierte) Punkt der eigentlichen
Geisteslehre schon im Kapitel „Selbstbewußtsein“ (und zwar mit dem Ausdruck: der „Begriff des Geistes“)
erreicht worden sei, ist auch Pöggeler der Ansicht, dass die PHG, insofern sie nicht als die
Erfahrungswissenschaft des Bewusstseins, sondern jetzt als die Wissenschaft vom Geist umgedeutet werde,
erst im Kapitel „Geist“ an diesem Punkt ankomme. S. 221.
Es gibt die Behauptung, dass das Kapitel „Geist“ die grundlegende Bruchstelle in der PHG sei. Dazu vgl. z. B.
Röttges (1976) S. 147. In Bezug auf diesen Punkt ist Meulen (1958) der Ü berzeugung, dass die Vernunft (als
der erste Abschnitt im dritten Kapitel) zwar die erste Synthese zwischen dem ersten und dem zweiten sei,
trotzdem müsse man sagen, dass der Geist „der eigentliche Angelpunkt des Werkes“ sei. Der Punkt, der für ihn
von größerer Bedeutung ist, was den ganzen Aufbau des Werkes anlangt, ist, dass der Geist als die sog.
„gebrochene Mitte“ in der PHG verstanden werden soll. Er sei die Mitte im doppelten Sinne: einesteils die
Vollendungsphase der ersten Tetrade (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => Vernunft => Geist), aber
andernteils die Anfangsphase der zweiten (Geist => Religion => das absolute Wissen => Natur). S. 289-292.
Dieser Behauptung kann die Position von Siep (2000) entgegengehalten werden. Auch er kommt, wie schon
(die Anm. 1. in diesem Abschnitt) dargestellt, zur Einsicht, dass man zwischen der Vernunft und dem Geist
eine markante „Zäsur“ findet, die das Werk plausibel in die zwei Teile teilt. Gleichwohl behauptet er zugleich
nicht, dass die PHG ab dem Kapitel „Geist“ auf einer ganz anderen (als je zuvor angewandeten) Methodik
beruhe. Siep denkt, dass der Geist den entscheidendsten Wendepunkt des Werkes bildet, aber man nicht sagen
solle, dass er die Bruchstelle desselben sei. S. 173 f.
75
93
wirklichen Bewusstseins“ (d. i. das einzelne Subjekt) und seine „Substanz“ (d. i. seine Welt
als die substanzielle Grundlage für seine Existenz) in Eins integriert (W3.325). Dass diese
beiden zur Einheit kommen, ergibt sich daraus, dass die Vernunft „sich ihrer selbst als ihrer
Welt und der Welt als ihrer selbst bewußt ist“ oder dass „das allgemeine, sichselbstgleiche,
bleibende Wesen“ wirklich ist, sodass das einzelne Subjekt die allgemeine Substanz für „sein
eigenes Werk“ hält (W3.324 f.). Aus diesem Grunde lässt sich folgern, dass alle Gestalten
im Kapitel „Geist“ den objektiven Geist im enzyklopädischen System betreffen. 94 Der
„Geist“ und der objektive Geist in der Enzyklopädie sind zwar nicht in allen Punkten völlig
kongruent, jedoch wird selbstverständlich auch in der PHG die objektive Grundlage
behandelt, die für alle Mitglieder verbindlich ist, und zwar unter dem Blickwinkel auf das
Verhältnis der Subjektivität zu dieser Grundlage.95
Die bisherigen Bewusstseinsgestalten (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zum Kapitel
„Vernunft“) wurden dargestellt, ohne den Zusammenhang des einzelnen Bewusstseins mit
seiner substanziellen Grundlage in Erwägung zu ziehen. Aber ohne diesen Zusammenhang
wäre das einzelne Individuum von Anfang gar nicht da; das geläufige Bewusstsein, das
natürliche Bewusstsein, setzt ohne Zweifel voraus, dass sein Gegenstand von Anfang
schlechthin gegeben worden sei, aber seine Annahme stimmt mit der Wirklichkeit nicht
94
Zur Strukturierung der PHG unter Berufung auf die Gliederung der Philosophie vom Geist im
enzyklopädischen System vgl. bes. Lukács (1967), S. 572-655. Er teilt ihren ganzen Text in den subjektiven
Geist („Bewußtsein“, „Selbstbewußtsein“ und „Vernunft“), den objektiven Geist („Geist“) und den absoluten
Geist („Religion“ und das „absolute Wissen“) auf. Auch Haering (1938) ist im Grunde in der gleichen Position.
S. 484 ff.; 513. Diese Komposition wird bis heute als die Musterform im Bezug auf die systematische Analyse
der PHG verstanden.
95
Es gibt die Behauptung, dass das Kapitel „Geist“ dem objektiven Geist in der Enzyklopädie nicht entspreche.
Diese Position folgt aus der Ansicht, dass man in der PHG die Darstellung des objektiven Geistes nicht
beobachten kann. Nach dieser Position müssen sich alle Wahrheitsansprüche in der P HG wegen ihres eigenen
Systemverhältnisses auf den Ü bergang des Bewusstseins zur Wissenschaft zurückführen, sodass der
Geltungsbereich der Subjektivität dem Bildungsprozess des Bewusstseins entsprechend immer umfangreicher
werde. In der PHG sei (im Gegensatz zum enzyklopädischen System oder sogar zu den Jenaer Systementwürfen)
die Objektivierungsform des Willens, das rechtlich-politisch-staatliche System, nicht eingehend dargestellt.
Dazu vgl. z. B. Dellavalle (1998) S. 135 f.; Luckner (1994) S. 193 f. Wenn man einen genaueren Blick auf
diese Behauptung wirft, dann zeigt sich folgender Kernpunkt: Das System des objektiven Geistes liege in der
„drittpersönlichen Perspektive“, aber in der PHG sei diese Perspektive unmöglich, weil hier im Grunde der
Standpunkt des sich bildenden Bewusstseins, also die „erstpersönliche“ Perspektive, beherrschend sei. Aber
auch in der praktischen Philosophie in seinem späten System hält Hegel diese Perspektive der Subjektivität für
unabdingbar, was die wahre Verwirklichung des vernünftigen Prinzips angeht. Dazu vgl. Halbig (2008), S. 494497; 501-503.
Ungeachtet dessen, dass die Grundkonzeption der PHG von der Enzyklopädie unterschieden ist, kann man aber
die Objektivierungsphase im Entwicklungsgang des Bewusstseins behandeln. Obgleich der Staatsbegriff im
neuzeitlichen Sinne in der PHG zwar nicht speziell thematisiert ist, kann diese Situation m. E. nicht geradezu
das Hindernis für die praktisch-philosophische Betrachtung der PHG sein, denn der ganze Bildungsprozess im
Kapitel „Geist“ kann aus der geschichtsbezogenen Perspektive und dadurch in Bezug auf das allgemeine
Selbstbewusstsein, also – mit dem Terminus in der PHG – der „Gemeinde“, intensiv abgehandelt werden. Die
PHG handelt also von dem Prinzip des Gemeinwesens, obgleich der explizite Begriff des Staats nicht
ausgeführt ist.
76
überein. Vielmehr kann das Bewusstsein nach wie vor nur unter (ihm selbst vorausgehenden)
bestimmten Bedingungen etwas wissen, wollen, handeln usw. Nur dadurch, dass es zum
Einblick in diese Bedingungen kommt, d. h. von seinem Schein (als ob seine partikulare
Subjektivität und die universale Grundlage für seine Existenz selbst voneinander
„isoliert“ worden wären) (W3.325) entbunden ist, fängt das Bewusstsein die (bis jetzt außer
seiner Einsicht gebliebene) Grundverfassung seiner Existenz zu erfassen an. Alle bisherigen
Gestalten sind „Abstraktionen“ des Geistes und indem dieser sie als seine
„Momente“ auffasst und in sich enthält, bleiben sie in ihrem „Grund und Wesen“, also im
Geist, bestehen (W3.325 f.). Hiermit bezeichnet sich der Geist sowohl als Vernunft wie als
Bewusstsein und zugleich Selbstbewusstsein, denn er ist der Grund für die Vernunft, die
Einheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, qualifiziert. Die Vernunft war insofern die
Wahrheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, als diese beiden Gestaltungen auf dieser
höheren Ebene („Vernunft“) eins werden, aber der Geist bringt wiederum die Gewissheit der
Vernunft zu ihrer Wahrheit. Ü ber den „Geist“ schreibt Hegel Folgendes:
Der Geist ist also Bewußtsein überhaupt, was sinnliche Gewißheit, Wahrnehmen und den
Verstand in sich begreift, insofern er in der Analyse seiner selbst das Moment festhält, daß er
sich gegenständliche seiende Wirklichkeit ist, und davon abstrahiert, dass diese Wirklichkeit sein
eigenes Fürsichsein ist. Hält er im Gegenteil das andere Moment der Analyse fest, daß sein
Gegenstand sein Fürsichsein ist, so ist er Selbstbewußtsein. Aber als unmittelbares Bewußtsein
des Anundfürsichseins, als Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewusstseins ist er das
Bewußtsein, das Vernunft hat, das, wie das Haben es bezeichnet, den Gegenstand hat als an
sich vernünftig bestimmt […]. Diese Vernunft, die er hat, endlich als eine solche von ihm
angeschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und die seine Welt ist, so ist
er in seiner Wahrheit; er ist der Geist (W3.326).
Der „Geist“ enthält nämlich als Ganze die Reihe der vorherigen Bewusstseinsgestaltungen
in sich, die nun nur als die „Abstraktionen“ oder „Momente“ des Geistes entpuppt werden.
Im „Geist“ wird der (im „Selbstbewußtsein“ für uns erfasste, also nur von dem
spekulativen Betrachter angekündigte) „Begriff des Geistes“ (W3.145) realisiert, und zwar
nicht einfach in seiner Gewissheit, sondern in seiner Wirklichkeit. In der „Vernunft“ hatte
das Bewusstsein eine Erfahrung über sein geistiges Wesen, jedoch konnte es noch nicht dazu
gelangen, dies als sein eigenes Werk auszuweisen. Dem Bewusstsein im „Geist“ tut sich
hingegen eine neue Phase auf: In dieser Verdopplung findet sich nicht bloß meine eigene
77
Freiheit, sondern auch deine Freiheit ist vorhanden, indem das Bewusstsein zur Einsicht
kommt, dass sein Anderes ebenfalls das die Anerkennung wollende Selbstbewusstsein ist.
In dem Gemeinwesen haben sowohl Ich als auch Du Geltung, dadurch werden Wir uns
gegenseitig anerkannt, miteinander versöhnt. Im „Geist“ erfasst also das Bewusstsein, dass
um meiner Freiheit willen auch deine Freiheit prinzipiell zu präsupponieren ist.
Im „Geist“ tragen sich, wie schon gesagt, die „Gestalten einer Welt“ zu; jede Gestalt im
„Geist“ wird von Hegel jeweils als Gestalt in einer bestimmten geschichtlichen Zeit, in
einem bestimmten Volksstaat, dargestellt; hiermit ist sie nichts anderes als eine bestimmte
Gestalt einer bestimmten geschichtlichen Welt. Nun wird die gesamte Bildungsgeschichte
des Geistes in der okzidentalen Welt (anders als bei den bisherigen Bewusstseinsgestalten)96
intensiv und ausführlich ins Auge gefasst. Indem der Geist alle bisherigen
Bewusstseinsgestalten als seine Momente in sich enthält, kann man den ganzen Prozess der
geistgeschichtlichen Bildung sozusagen chronologisch erfassen, sodass die Weltgeschichte
in der PHG auftritt, und zwar in einer Aufeinanderfolge von verschiedenen historischen
Epochen.
Aber Hegel relativiert mehr oder weniger den geistesgeschichtlichen Bildungsprozess des
Bewusstseins in dem Kapitel „Geist“, denn diese Chronologie des geistigen Geschehens ist
streng genommen noch nicht vollkommen chronologisch; mit dieser einen Reihenfolge ist
die ganze Weltgeschichte nämlich noch nicht fertig. Diese Geschichte deckt die der alten
morgenländischen Welt nicht ab; ferner liegt der Entwicklungsgang des Geistes noch nicht
in der vollkommen zeitlichen Kontinuität, die nach Hegel erst im Kapitel „Religion“ in
optima forma dargestellt werden könne. Die Darstellung des erscheinenden Wissens bleibt
nicht im „Geist“.
Der „Geist“ macht drei Abschnitte aus: der Geist in seiner einfachen Wahrheit oder in der
unmittelbaren Einheit mit sich selbst (A. „Die Sittlichkeit“), der Geist in seiner höchstabstrakten Entfremdung (B. „Die Bildung“) und endlich der Geist in seiner vollkommenen
Gewissheit (C. „Die Moralität“). Dieser Prozess kann als der Entwicklungsgang des Geistes
96
Es gab natürlich auch vor dem Geist die geschichtsbezogenen Darlegungen. In der Reihe aller Gestalten im
subjektiven Geist (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => Vernunft) zeigt sich Hegels Auseinandersetzung mit
der Geschichte der (von der altgriechischen Welt zu der hegelschen Gegenwart) ganzen theoretischen
Philosophie. Im zweiten Abschnitt des Kapitels „Selbstbewußtsein“ wurden einige Erfahrungen des
Bewusstseins in einer bestimmten wirklichen Welt, d. i. in der nachklassischen griechischen Zeit, deutlicher
hervorgehoben und aus dem Kapitel „Vernunft“ kann man die wissenschaftliche Revolution in der frühen
Neuzeit (der Epoche der Renaissance und auch schon der Aufklärung bis hin zu Kants „Vernunft“-Begriff) und
auch die Moralphilosophie von Kant und Fichte in der klassischen Neuzeit herauslesen. Aber insofern diese
Gestalten die „Abstraktionen“ des Geistes, also die Momente desselben sind, darf die hiesige geschichtliche
Auffassung auf jeden Fall nur partiell und einseitig sein.
78
zu seiner absoluten Wahrheit, genauer zu seinem endgültigen Wissen um diese Wahrheit,
charakterisiert werden.
2.5 „Religion“: der absolute Geist in Form der Vorstellung
Das Kapitel „Religion“ besitzt trotz der Zweifel97 an dessen Funktion in der Konstruierung
der PHG offenkundig seine eigene Stellung im Rahmen des Werdegangs zur Wissenschaft,
und zwar nicht bloß der Darstellungsfolge, sondern auch der wahrheitstheoretischen
Rangordnung nach. Die Religion fungiert evident als eine Gestalt des Bewusstseins; sie
macht somit die letzte Vorstufe des absoluten Wissens aus und lässt sich, wie in der
Religionsphilosophie formuliert, als „die höchste Stufe des Bewußtseins“ (V3.4) verstehen.
Der Begriff der Religion aber impliziert für Hegel bereits das Wesen des absoluten Geistes;
ab dem Kapitel „Religion“ gibt sich nämlich der absolute Geist zu erkennen; die christliche
Religion wird als die Heimstätte der höchsten Wahrheit für das Bewusstsein dargestellt.
Im letzten Kapitel wurde der „Geist“ bereits als „das sich selbst tragende, absolute reale
Wesen“, nämlich als der „Grund“ für die bisherigen Bewusstseinsgestalten bezeichnet,
indem er diese als seine „Momente“ voraussetzte (W3.325 f.). Aber dieser „Geist“ muss sich
in die Richtung seiner höheren Gedankendimension weiterentwickeln; mithin muss die
„Religion“ wiederum den bisherigen (nun bis zum „Geist“ gelangten) Gesamtvollzug
Es gibt die Behauptungen, dass das Kapitel „Religion“ hinsichtlich der Gesamtstruktur innerhalb des Werkes
nicht nur überflüssig, sogar eher nachteilig für die einheitliche Interpretation desselben sei, weil dieses Kapitel
uns höchstens Beispiele für das absolute Wissen gebe. Dazu vgl. z. B. Röttges (1976), S. 175 ff.; Welker (1978)
S. 96 f. u. 122. Schnädelbach (1999) glaubt, dass in dem Kapitel „Religion“ die Wissenschaft der
Bewusstseinserfahrung gescheitert sei, sodass sie sich auf die Religionsphilosophie umstelle. S. 76. Liebrucks
(1970) denkt sogar, dass die Darstellung in der PHG mit dem letzten Teilstück im Abschnitt „Moralität“, d. h.
mit dem Teilstück „c. Das Gewissen“ abschließen könnte. S. 262.
Aber diese negativen Meinungen, die sich aus dem Bedenken hinsichtlich der systematischen Tauglichkeit des
Kapitels „Religion“ ergeben, setzen, worauf Jaeschke (1983) mit Recht hinweist, im Allgemeinen voraus, dass
die Notwendigkeit selbst des Ü bergangs von der „Religion“ zum absoluten Wissen keinesfalls zu bezweifeln
ist. Also hat nach Jaeschke dieses Kapitel jener Kritik zum Trotz eine eigenständige Funktion im Hinblick auf
die Strukturierung der PHG. S. 61f. Aber Jaeschke relativiert mehr oder minder den Sinn der
Religionsdarstellungen in der PHG, indem er denkt, der spezielle Begriff der Religion werde in der P HG (im
Vergleich zur Darstellungskonstruktion in Hegels enzyklopädischem System oder sogar zur Jenaer
Systemkonzeption) nicht behandelt. Ders. (1986), S. 200-209.
Es gibt viele Interpreten, die dem Kapitel „Religion“ große Bedeutung beimessen. Wagner (1971) betont die
Unentbehrlichkeit des Kapitels „Religion“, indem er die dialektische Notwendigkeit des Ü bergangs von dem
Gewissen durch die „Religion“ zu dem absoluten Wissen bemerkt. S. 188-195. Hoffmann (2008) bemüht sich
darum, die methodische Sonderstellung des Kapitels „Religion“ und die abschließende Funktion desselben zu
erklären. S. 309ff. Maza (1999) sagt, dass das Kapitel „Religion“ insbesondere im Hinblick auf die
Interpretation der Geschichtlichkeit der PHG und deren Logik eine entscheidende Stellung einnimmt. Häußler
(2007) analysiert das Kapitel „Religion“ im Hinblick auf die Säkularisierung des Religionsbegriffs. S. 11-17.
79
97
voraussetzen, sodass der Gedankenhorizont im Kapitel „Religion“ intensiver und extensiver
als je zuvor werden kann. Anders als in den vorherigen Gestalten (vom „Bewußtsein“ bis
zur „Vernunft“) kann man im Kapitel „Geist“ Hegels Betrachtungen der Weltgeschichte
(von der griechischen bis zur neuzeitlichen Welt) eruieren; auch die im „Geist“ dargestellten
Bewusstseinsgestalten sind in einer chronologischen Reihenfolge zusammengefasst. Aber
das Kapitel „Religion“ bezieht die allen bisherigen Gestalten (vom „Bewußtsein“ bis zum
„Geist“) in die Darstellung der Geschichte der Religion mit ein, damit kann man in diesem
Kapitel den noch intensiveren und extensiveren Gedankenhorizont als je zuvor betrachten.
Die Endphase der Religionsgeschichte ist sowohl die Vollendung des religiösen
Bewusstseins als auch die Vollendung der vollständigen Bewusstseinserfahrung; denn aus
dem Ü bergang der Religion zum absoluten Wissen ergibt sich die Einsicht in das Verhältnis
zwischen der Moralität und der Religion, d. h. zwischen dem Fürsichsein des Geistes und
dem Ansichsein des Geistes, und aus dieser Einsicht folgt, dass das Bewusstsein zur Einsicht
in den absoluten Begriff der Wissenschaft kommt (W3.579).
Um den gedanklichen Inhalt der Religion darzulegen, wendet Hegel in dem einleitenden
Teil zum Kapitel „Religion“ die Folgenden an: 1) Die feine Aufgliederung des
Geistesbegriffs, und 2) die Einbeziehung der Zeit-Konzeption in das Ausmaß des religiösen
Gedankens.
1) Im Kapitel „Religion“ wird der „Geist“ nunmehr als „unmittelbarer Geist“ (W3.498)
bezeichnet. Zu diesem Titel gehört ursprünglich das Bewusstsein überhaupt, solange ihm
selbst sein geistiges Wesen noch fremd ist. Der unmittelbare Geist ist daher im Wesentlichen
nichts anderes als das natürliche Bewusstsein, weil er „seiner Welt gegenübertretend in ihr
sich nicht erkennt“ (W3.497); insofern ist dieser Geist weder zum Wissen von seiner
Wahrheit noch zur Einsicht in den innigen Zusammenhang zwischen ihm selbst und seiner
Welt (d. h. der in Wahrheit von ihm selbst realisierten Grundlage) gelangt. Jede vor-religiöse
Bewusstseinsgestalt (mitsamt dem „Geist“) liegt in der „Bestimmung des eigentlichen
Bewußtseins des Geistes“, sodass sie insgesamt den Geist „in seinem Bewußtsein“ (W3.497)
bedeutet. Sie wird auch als „das Dasein des Geistes“ oder der „Geist in seinem weltlichen
Dasein“ (W3.498) ausgedrückt, der mit dem objektiven Geist im enzyklopädischen System
eng verwoben ist. Dieser „wirkliche Geist“ (W3.504), der das weltliche Interesse des
Menschen betrifft, kann m. E. als WELTLICHER GEIST aufgefasst werden, während die drei
Gestalten der Religion (d. h. „A. Die natürliche Religion“, „B. Die Kunstreligion“ und „C.
Die offenbare Religion“) insgesamt mit dem RELIGIÖ SEN GEIST zu bezeichnen sind. Die
Ü berwindung der Weltlichkeit fällt mit der „Vollendung des Geistes“ zusammen, in der er
80
als „der sich selbst wissende Geist“ oder „der sich als Geist wissende Geist“, mit anderen
Worten als „das Selbstbewußtsein des Geistes“ (W3.499; 496; 495), formuliert wird.98
<Die „Religion“ als die Vollendung des Geistes>
„Religion“
Der religiöse Geist
Der weltliche Geist
„Bewußtsein“
„Selbstbewußtsein“
„Vernunft“
„Geist“
Im Kapitel „Religion“ wird die Religion als der „Grund“ für die vorherigen Gestalten
qualifiziert, indem sie diese als „Momente“ voraussetzt (W3.497 ff.). Die ganzen
vorhergegangenen Bewusstseinsgestaltungen (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) bilden
nur insofern die „Momente“ für die Religion, als der RELIGIÖ SE GEIST jene Gestaltungen
umfassend und gänzlich in sich enthält. Auch die Gestalten im Kapitel „Geist“ sind zwar
ganze geschichtliche Welten. Aber die Religion bildet m. E. das größere Ganze (als „Geist“),
weil sie ihre vorherigen Stufen (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“), also die Gestalten des
gesamten WELTLICHEN GEISTES, zu ihren Momenten hat.
Ohne den RELIGIÖ SEN GEIST (d. h. das größere Ganze) könnten diese vor-religiösen
Gestalten (d. h. die Momente des Ganzen) voneinander nicht verschieden sein, weil diese
(ohne Zusammenhang miteinander) überhaupt nicht mit gleichem Maß messbar wären;
obschon sie sich daher anhäufen, würde ihre Gesamtheit nur als die bloße Summe bezeichnet.
Im RELIGIÖ SEN GEIST kann man genauer gesagt die zwei Reihenfolgen finden: die
Reihenfolge des WELTLICHEN GEISTES und die Reihenfolge der drei obigen Gestalten der
Falke (1996) versucht, das Entsprechungsverhältnis der drei Gestalten im Kapitels „Geist“ zu den drei
Gestalten im Kapitel „Bewußtsein“ aufzuzeigen und damit zu demonstrieren, dass „sich der Geist zur Religion
wie das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein verhält“. S. 273 ff.
81
98
Religion. In Bezug auf die erste stellt sich die Frage, in welchem Sinne die vorreligiösen
Gestalten die Momente der Religion ausmachen. Man darf nicht meinen, dass in jeder
Gestalt der Religion alle Gestalten des WELTLICHEN GEISTES behandelt werden; man kann
ebenso wenig sagen, dass das moralische Gewissen weltgeschichtlich gesehen der Religion
vorausgehe, weil sich die Geschichte der Religion mit der ganzen Weltgeschichte deckt,
während die Moralität selbstverständlich auf der Freiheit der neuzeitlichen Subjektivität
beruht. Daher kann man den RELIGIÖ SEN GEIST weder als die bloße Summe der allen
bisherigen vorreligiösen Gestalten noch als die geschichtliche Folge des WELTLICHEN
GEISTES auffassen; die Religion ist vielmehr diejenige logische Folge, die aus der Erkenntnis
resultiert, dass sie die aufgehobene Form desselben ist. Diese Bestimmung erlaubt es uns,
die beiden Reihenfolgen mit einzubeziehen; die Gestalten des WELTLICHEN GEISTES sind
ergo der „Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges selbst“ (W3.73) gemäß als
die Momente der Religion darzustellen und man kann ebenso in der zweiten Reihenfolge
(von der natürlichen bis zur offenbaren Religion) diese Notwendigkeit des Ü bergangs
erkennen. In diesem Zusammenhang nennt Hegel den Geist der Religion als den ganzen
Geist, in dem ihre Momente bestehen, „die einfache Totalität“, während er die Gesamtheit
der allen vorreligiösen Gestalten „[die] zusammengefaßte Totalität“ (W3.498) nennt. Wenn
der „Geist“ der „Grund“ für die vorherigen Gestalten war, kann man m. E. die
„Religion“ nun gleichsam als den Urgrund für den WELTLICHEN GEIST bezeichnen, indem
der RELIGIÖ SE GEIST alle Vorstufen als seine Momente wiederum, aber umfassender, in sich
enthält.
2) Um diese Stellung der Religion zu rechtfertigen, verwendet Hegel hier die spekulative
Zeit-Konzeption. Im Gegensatz zu dem bislang vollzogenen Gesamtverlauf können die drei
Gestalten des RELIGIÖ SEN GEISTES mit ein und demselben Maß für die Zeit dargestellt
werden. Hegels Interpretation der Zeit lässt sich zwar mit der diesbezüglichen Erläuterung
Kants vergleichen; Was die Vorstellung der Zeit belangt, vertritt Hegel mehr oder weniger
die gleiche Stellung wie Kant.99 Hegel denkt nämlich, dass die verschiedenen Dinge oder
Bekanntlich sieht Kant die Vorstellung der „Zeit“ (mit dem „Raum“ zusammen) als die apriorische
Grundlage für unsere empirische Anschauung. Er denkt, es sei nur durch diese Vorstellung möglich, einen
fundamentalen Sachverhalt in der Mechanik, etwa Veränderung oder Bewegung, zu erörtern; man betrachtet
teils die „zu einer und derselben Zeit“ vorhandenen verschiedenen Dinge (und zwar insofern sie im einem und
demselben Raum vorhanden sind) nach der Vorstellung „zugleich“, teils die verschiedenen Eigenschaften von
einem Ding oder die verschiedenen Dinge „in verschiedenen Zeiten“ nach der Vorstellung „nacheinander“.
Diese Vorstellung („das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“) koordiniert die verschiedenen Vorgänge in
einem gleichen Maße, das „nur von einer Dimension“ ist. Die Zeitvorstellung ist für Kant (anders als die
Raumvorstellung) die „innere Anschauung“; es ist deshalb um deren Erläuterung willen unabdingbar, die
Zeitfolge durch die analogische Methodik zu verbildlichen, indem man sich die Zeit „durch eine ins Unendliche
fortgehende Linie“ vorstellt. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 3, S. 78-83.
82
99
Vorgänge nur in der Zeit sozusagen „in einer Aufeinanderfolge“ (W3.498), ergo einheitlich
darzustellen sind. Aber anders als die kantische (gewissermaßen geläufige) Analogie der
ein-dimensionalen Linie, versucht Hegel mit einer anderen Metapher die unentbehrliche
Rolle der Zeitlichkeit in der Religion zu veranschaulichen: mit einem „Bund“ oder dem
Urgrund für „viele Linien“ oder „Knoten“ (W3.500 f.). 100 Während in der vertrauten
linearen Dimension der Zeitfolge (Vergangenheit => Gegenwart => Zukunft) die
verschiedenen Angaben ausschließlich nacheinander in eine Gedankendimension
eingeordnet werden können, beabsichtigt Hegel mit der Zeitlichkeit eine andere Implikation:
Die verschiedenen Faktoren entwickeln sich sowohl gleichzeitig, i. e. in einem Atemzug
zugleich auftretend, als auch parallel, i. e. sich in ein und dieselbe Richtung wendend. Bisher
spricht sich jede Gestalt des weltlich-vorreligiösen Geistes jeweils als die letzte Wahrheit an;
jede Position desselben erstreckt sich von der Wahrheit seines Vorgängers (d. h. von seiner
Gewissheit) bis zu seiner Wahrheit (d. h. zu der Gewissheit seines Nachfolgers). Jede der
bisherigen Bewusstseinsgestalten (wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein usw.) ist mit einer
geraden Linie vergleichbar; eine Linie ist durch einen Knotenpunkt von einer anderen
getrennt. Mehrere durch diese Knoten gebrochene Linien treffen aber wiederum in einem
„Bund“, d. h. einem Bündel als Vereinigungsort, zusammen. Ü ber das Verhältnis von
„Knoten“ und „Bund“ sagt Hegel Folgendes:
Wenn also die bisherige eine Reihe [aller vor-religiösen Gestalten] in ihrem Fortschreiten durch
Knoten die Rückgänge in ihr bezeichnete, aber aus ihnen sich wieder in eine Länge fortsetzte,
so ist sie nunmehr gleichsam an diesen Knoten, den allgemeinen Momenten, gebrochen und in
viele Linien zerfallen, welche, in einen Bund zusammengefaßt, sich zugleich symmetrisch
vereinen (W3.500 f.)
Hegel steht zwar prinzipiell im Gegensatz zu Kant. Hegel denkt, dass Raum und Zeit nicht „subjektive Formen“,
sondern vielmehr alle Dinge „in Wahrheit selber räumlich und zeitlich“ seien. W10, S. 253. Also ist die
Thematik „Zeit“ für Hegel nicht der Philosophie des subjektiven Geistes, sondern im Grunde der
„Naturphilosophie“ zugeordnet. Aber Hegels Begriff der Zeit ist in concreto kommensurabel mit der Position
Kants. Hegel stellt fest, dass z. B. die Zeit die Grundlage für den Werdegang der Dinge und zunächst als
„Punkt“ vorstellbar sei, jedoch diese Vorstellung in Bezug auf den Raum als „Linie und Fläche“ entwickelt
werden könne. W9, S. 47-55. Die Zeit wird von Hegel (ebenso wie von Kant) mit Hilfe von der Analogie mit
dem Raum dargelegt, damit der Entwicklungsgang der Sache einheitlich erfasst werden kann.
Allein Hegel schreibt der Zeit eine grundsätzliche Schranke zu, die Kants Gedanken betrifft: die Form der
subjektiven Vorstellung. Hegel versucht zwar im Kapitel „Religion“ durch eine noch eingehendere (als Kant)
Interpretation, die Sonderstellung der Religion in dem ganzen Aufbau der PHG anschaulich zu machen. Er
relativiert aber zugleich ihren wahrheitstheoretischen Rang. Obwohl die Religion ihrem Inhalt nach schon den
absoluten Geist impliziert, ist sie mit einer (der Form angemessenen) Schranke verbunden; sofern die Religion
im vorstellenden Denken des Gegenstandes liegt, ist sie mit dem Zeit-Begriff eng verwoben.
Zu dem speziellen Zeitbegriff Hegels vgl. Brauer (1982), S. 135-195.
100
„Knote“ (node) kann als Schleife, Verschlingung, Knorren, Knolle, Ast, Gelenk usw. verstanden werden.
Hingegen ist „Bund“ (bundle) als Bündel, Gefäßband oder Gefäßpflanze zu deuten.
83
Aus diesem Grunde ist die Ganzheit des RELIGIÖ SEN GEISTES als die „einfache
Totalität“ charakterisiert. Sie bezieht daher unter ihrem eigenen Aspekt die Reihe der vorreligiösen Gestaltungen einheitlich mit ein; diese Gestalten vereinigt sich nunmehr zu einer
und derselben Gedankenlinie, also zur Vorstellung der Zeitlichkeit, sodass „die folgende
[Gestalt] die vorhergehenden an ihr behält“ (W3.499). Wie seine Darstellungen besteht das
methodische Spezifikum 101 des Kapitels „Religion“ eben in der Totalität, in der alle
Momente symmetrisch zueinander gehören, weil diese sich gleichzeitig und parallel
entwickeln. Unter dem Aspekt der spekulativ überlegten Zeitlichkeit versucht Hegel, in der
„Religion“ (tief blickender als im „Geist“) die Reihe der Bewusstseinsgestalten
umzustrukturieren. Während im „Geist“ die Teilung in die zwei Ebenen, also einesteils in
den Geist als das „Wesen“ und andernteils in die Reihe der „Abstraktionen
desselben“ (W3.325), thematisiert wurde, werden die Gesamtgestaltungen in der
„Religion“ gleichsam in einer dreistufigen logischen Struktur angeordnet: 1) die Religion
oder der ganze Geist („Bund“), 2) die Momente der Religion („Knoten“) und 3) die
Vereinzelung dieser Momente.
Die Religion ist der „ganze“ Geist, denn sie hat die vorherigen Bewusstseinsgestalten zu
ihren Momenten, die „sich im allgemeinen als Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und
Geist unterscheiden“ (W3.498; 495). Anders als die Gestalten der Religion steht der Verlauf
ihrer Momente Hegel zufolge außerhalb der Zeit, weil diese allgemeinen Momente (die auch
als „Konten“ bezeichnet werden) die bloße Zusammenfassung der vor-religiösen
Gestaltungen sind; ohne den Zusammenhang mit dem ganzen Geist als der einfachen
Totalität fielen diese Momente bloß auseinander, obgleich man sie vollständig
zusammensetzen könnte. Diese Momente haben, soweit sie Momente sind, keine
Verschiedenheit voneinander, sodass sie nicht in der Dimension der Zeit bestehen können.
Also lässt sich Folgendes sagen: „Der ganze Geist [also der RELIGIÖ SE GEIST] nur ist in der
Zeit“ (W3.498). Neben dem Unterschied zwischen der Religion und den allgemeinen
Momenten lässt sich ein anderer Unterschied entdecken. „Wie der [ganze] Geist von seinen
Was das Verhältnis von „Knoten“ und „Bund“ betrifft, stellt Hoffmann (2009) eine (schon früher von
Franco Chiereghin gedachte) geometrische Konzeption vor: das Verhältnis von „Zykliode“ und „Epizykloide“,
um zu betonen, dass Hegels Gedanke nicht bloß mit einer vagen Metapher, vielmehr mit dem exakt greifbaren
Ausdruck verständlich gemacht werden kann. Die Zeichnung der Epikloide oder auch die Himmelkarte
veranschaulicht Hoffmann zufolge die Struktur der Totalität, in der sich alle Momente zu einem Ganzen
vereinigen. Damit bezweckt er, die Reihe von den verschiedenen Bewusstseinserfahrungen in einem (nicht
mathematischen noch astronomischen, sondern) philosophischen Prinzip (und zwar unter Berufung auf den
neuzeitlichen Gedanken), im „Wissen der Religion“ zusammenzufassen. S. 313 f.
84
101
Momenten unterschieden wurde, so ist […] von diesen [allgemeinen] Momenten selbst ihre
vereinzelte Bestimmung zu unterscheiden“ (W3.498 f.). Jedes der vor-religiösen (also
allgemeinen) Momente unterscheidet sich jeweils in seinem eigenen Verlauf wiederum,
indem es sich als die Reihe der ausdifferenzierten, also „vereinzelte[n]“, Momente gestaltet,
„wie z. B. am Bewußtsein die sinnliche Gewißheit und die Wahrnehmung sich
unterschied“ (W3.499). Diese Gestalten, die sich aus der Vereinzelung der allgemeinen
Momente ergeben, „stellen […] den Geist in seiner Einzelheit oder Wirklichkeit
dar“ (W3.499).
In diesem Zusammenhang lässt sich der ganze Verlauf der vor-religiösen Gestaltungen wie
folgt beschreiben:
Die allgemeinen Momente
„Bewußtsein“
Die Reihe
„Selbstbewußtsein“
der vorreligiösen
Gestaltungen
„Vernunft“
„Geist“
Die Vereinzelung der allgemeinen Momente
- „Die sinnliche Gewißheit“
- „Wahrnehmung“
- „Verstand“
- „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des
Selbstbewußtseins“
- „Freiheit des Selbstbewußtseins“
- „Beobachtende Vernunft“
- „Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins
durch sich selbst“
- „Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“
- „Sittlichkeit“
- „Bildung“
- „Moralität“
Jede Gestalt, die sich aus dieser Vereinzelung ergibt, unterscheidet sich von den
allgemeinen Momenten darin, dass sie, wie der ganze Geist, in der Zeit auszudrücken ist
(W3.499). Um das Verhältnis von den drei Elementen zu erläutern, gibt Hegel Folgendes an:
„[D]er Geist steigt aus seiner Allgemeinheit durch die Bestimmung zur Einzelheit herab. Die
Bestimmung oder Mitte ist Bewußtsein, Selbstbewußtsein usf.“ (W3.499).102 Daraus lässt
sich das logische Gefüge des religiösen Gangs erkennen: Die allgemeinen Momente, von
denen sich „ihre vereinzelte Bestimmung“ unterscheiden, haben zwar keine Verschiedenheit
voneinander, weil sie nur Momente für den ganzen Geist sind, aber mittels dieser Momente
Der obige Satz nimmt seinen Gedanken zur Struktur der begriffsnotwendigen Entwicklung vorweg: „der
allgemeine Begriff“ => „der besondere Begriff“ => „das Einzelne“. W6, S. 273-301. Das zeigt uns auf, dass
die PHG hinsichtlich ihrer Darstellungsmethodik für die Wissenschaft zu qualifizieren ist.
85
102
sind die Allgemeinheit (oder die Ganzheit des RELIGIÖ SEN GEISTES) auf die Einzelheit
bezogen, sodass der ganze Geist (Allgemeinheit) in seiner konkreten Wirklichkeit (Einzelheit)
existiert.
Hegel denkt, dass in den vereinzelten Gestalten der Gang des RELIGIÖ SEN GEISTES konkret
dargestellt wird, aber dadurch auch jedes der allgemeinen Momente im Zusammenhang mit
dem ganzen Geist steht. Hier soll man aber auch Folgendes beachten: Jede der vereinzelten
Gestalten ist zwar jeweils das Moment für die allgemeinen Momente (wie die „sinnliche
Gewißheit“ ein Moment für das „Bewußtsein“ bildet), aber sie ist ebenso das Moment für
den ganzen Geist, das mit dem „besonderen Ganzen“ 103 (W3.499) bezeichnet wird. Die
allgemeinen Momente fungieren als die „Mitte“ zwischen der ersten Bestimmung
(„Allgemeinheit“) und der dritten („Einzelheit“), gleichwohl stellt die Reihe der vereinzelten
Gestalten den ganzen Geist in seiner einfachen Totalität konkret dar; im Verlauf der Religion
stellen eben diese vereinzelten Gestalten als das Korrelat des RELIGIÖ SEN GEISTES „die
daseiende Wirklichkeit des ganzen Geistes“ (W3.499) dar. Jede der drei Religionsgestalten
ist die einzelne Gestalt des ganzen Geistes (also der Allgemeinheit) oder die konkrete
Verwirklichung desselben, wobei die Bestimmtheit der (ursprünglich) unzeitlichen
allgemeinen Momente in die Bestimmtheit einer Religionsgestalt aufgenommen werden
kann.
In Anlehnung an diese Logizität erfolgt die dargestellte Geschichte der Religion (die
natürliche Religion => die Kunstreligion => die offenbare Religion); diese Darstellung
bringt uns zur Einsicht in die doppelsinnige Logizität innerhalb des Entwicklungsgangs in
dem Kapitel „Religion“: 1) Insofern die Religion als solche der ganze Geist ist, werden ihre
Momente zu dem einen „Bund“ vereinigt, in dem sie gleichzeitig und parallel darzustellen
sind. 2) Aber die Religion kann in der Reihe ihrer besonderen Gestalt, d. h. in der Form des
besonderen Ganzen, konkret existieren, dadurch erfolgen diese besondern Gestalten des
ganzen Geistes nacheinander. Weil der RELIGIÖ SE GEIST überdies in einem
Entsprechungsverhältnis zum WELTLICHEN GEIST dargestellt wird, lässt sich folgern, dass
jede „bestimmte Religion“ ihren eigenen „bestimmten wirklichen Geist“ hat (W3.500), wie
z. B. die Kunstreligion den sittlichen Geist in der griechischen Welt zu ihrem wirklichen
Geist hat (W3.512). Dieses „gemeinschaftliche Gepräge“ (W3.500) zeigt uns auf, dass die
Religion in einer Aufeinanderfolge ihrer bestimmten Gestalten angeordnet worden ist, wobei
Dieser Terminus kann für die spekulative Vereinigung von „Allgemeinheit“ und „Besonderheit“, die als
der „Begriff“ in der Wissenschaft der Logik bezeichnet wird, gehalten werden. Die „Einzelheit“ wird nämlich
als die „bestimmte Allgemeinheit“ aufgefasst, weil das (abstrakt) Allgemeine durch die Besonderheit
„gesetzt“ wird, sodass es zu dem Einzelnen oder dem konkret Wahren „heruntersteigt“. W6, S. 296.
86
103
in jeder Gestalt bereits die Reihe der vorherigen Bewusstseinsgestalten jeweils symmetrisch
vereinigt worden ist. Daraus lässt sich erkennen, worin die Ganzheit des RELIGIÖ SEN
GEISTES
von der Ganzheit im Kapitel „Geist“ zu unterscheiden ist; während die
Bewusstseinsgestalten in diesem Kapitel in der bloßen chronologischen, eindimensionalen
Abfolge zusammengefasst wurden, lässt sich im Kapitel „Religion“ Folgendes feststellen:
„Die eine Bestimmtheit der Religion greift durch alle Seiten ihres wirklichen Daseins
hindurch“ (W3.500); der Bestimmtheit einer Religionsgestalt entsprechen nicht nur eine
Bestimmtheit des Geists, sondern auch die anderen – d. h. eine des Bewusstseins, eine des
Selbstbewusstseins und eine der Vernunft und zugleich die obige vereinzelte Bestimmung –
z. B. eine von den drei vereinzelten Bestimmungen des Bewusstseins (also entweder die
„sinnliche Gewißheit“ oder die „Wahrnehmung“ oder der „Verstand“).104 Weil im Kapitel
„Religion“ die verschiedenen Seiten des WELTLICHEN GEISTES gleichzeitig und parallel
verlaufen, hat die Darstellung der Religionsgeschichte in diesem Kapitel die Implikation für
den intensiveren und extensiveren Gedankenhorizont als die geschichtsbezogene
Darstellung im Kapitel „Geist“.
2.6 „Das absolute Wissen“: die Tilgung der Zeit
Im letzten Kapitel zeigt Hegel auf, wie der im Verhältnis von Bewusstsein und Gegenstand
beherbergte Widerspruch endgültig überwunden wird; diese Schlussphase fungiert ihm
zufolge als die Auflösung der religiösen Erfahrung, aus der allerdings die letztendliche
Wahrheit des Bewusstseins in der PHG folgt. Gegen das letzte Kapitel in der PHG wurden
bis jetzt die im Allgemeinen zwei Arten der Polemiken erhoben: 1) Es wird gesagt, diese
Darstellung sei zu kompliziert (zu dunkel oder zu vage), als dass man ihren Inhalt eindeutig
interpretieren könnte, 2) diese Diagnose entwickelt sich manchmal sogar zum Zweifel an
der eigenständigen Funktion dieses Kapitels im Aufbau der PHG weiter, und zwar
angenommen, dass die hier bezweckte endgültige Begründung des begreifenden Wissens
fehlgeschlagen sei. 105 Es ist aber m. E. unleugbar, dass in dem letzten Kapitel „keine
104
Wenn man seine genauere Blicke auf die natürliche Religion richtet, lässt sich Folgendes erkennen: Der
natürlichen Religion entspricht die Bestimmtheit des Bewusstseins. Der ersten Gestalt der natürliche Religion
„Das Lichtwesen“ entspricht die Bestimmtheit der sinnlichen Gewissheit, ihrer zweiten Gestalt „Die Pflanze
und das Tier“ entspricht die der Wahrnehmung und ihrer letzten Gestalt „Der Werkmeister“ entspricht die des
Verstandes.
Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 323 f., Anm. 35.
105
Dazu vgl. Hyppolite (1946), S. 553; Fulda (1965), S. 89-94 u. 99 ff. Diese Bemerkungen der inhaltlichen
87
Erfahrungsgeschichte mehr stattfindet“106 und man kann ebenso wenig behaupten, dass es
in diesem Kapitel nur die Zusammenfassung der vorhergehenden Gestalten (vom sinnlichen
zum religiösen Bewusstsein) gebe. Dieser abschließende Teil soll vielmehr mit der
„Vorrede“ zusammen die Einleitung in das wissenschaftliche System bilden. Im absoluten
Wissen wird auch seine Ansage des zweiten Systemteils – der Philosophie der Natur und der
Philosophie des Geistes – beschrieben.107
Die Stellung der Religion im ganzen Aufbau der PHG kann wie folgt formuliert werden:
Die Religion fungiert schon als die letzte und höchste Bewusstseins-Gestalt, aber noch nicht
als die wahrhafteste Geistes-Gestalt, also die „Begriffsgestalt“ (W3.584). Das Bewusstsein
muss diese Form der Vorstellung, mit der „die Form der Gegenständlichkeit“ verbunden ist,
überwinden, sodass es in den „Begriff“ übergeht (W3.503). Der erscheinende Geist ist
nunmehr in seiner allerhöchsten Gestalt situiert, indem der Geist sein Wesen begrifflich
erfasst. Der absolute Geist, welcher bereits in dem Kapitel „Religion“ dargelegt wurde,
besteht nun in seiner wahren Form; der selbstbewusste, also sich selbst wissende, Geist wird
in dem Kapitel „Das absolute Wissen“ als „der sich in Geistsgestalt wissende Geist“ (W3.582)
geschildert. Das absolute Wissen bedeutet (dem Inhalt nach) das Wissen des Geistes von
sich selbst, der schon das Absolute ist, und zugleich (der Form nach) das (nicht vorstellende,
sondern) begreifende Wissen.108
Dass der Mangel des RELIGIÖ SEN GEISTES überwunden wird, impliziert, dass der Mangel
des Bewusstseins überwunden wird, denn die Religion fungiert bereits als der ganze Geist,
der die vor-religiösen Gestaltungen als Momente in sich enthält. Jede Bewusstseinsgestalt,
inklusive der Religion, erscheint in der noch nicht vollends entwickelten Form. Das
Undeutlichkeit des absoluten Wissens sind grundsätzlich mit der wirklichen Problematik, wie die Funktion der
PHG als Einleitung in die spekulative Philosophie begründet ist, verwoben. Die Kritik, dass die Funktion dieses
Kapitels für die Strukturierung der PHG unklar ist, beruht meines Wissens hauptsächlich auf der Beurteilung,
dass nach dem Kapitel „Religion“ keine inhaltliche Ausführung mehr nötig sei. Bubner (1980), S. 14; Kreß
(1996), S. 267; Schnädelbach (1999), S. 76. Nach dieser Position könne dieses letzte Kapitel den
Gesamtdurchgang des Bewusstseins nicht umfassen, weil Hegel darstelle, dass das absolute Wissen die Stufe
außerhalb des Bewusstseins ausmache (denn das spekulative Wissen sei für das Bewusstsein durch und durch
nicht zugänglich), während die Erfahrung des Bewusstseins schon im Kapitel „Religion“ zu ihrem Ziel
gekommen sei. Die PHG sei somit ein ungelungenes Werk, zumal sie das Resultat, das sich erst aus ihrem
Entwicklungsgang ergeben soll, zu Anfang voraussetze. Habermas (1963), S. 30 ff.; Vos (1983), S: 32 f.;
Düsing (1998), S. 79 f.
Dagegen ist Fulda (2008) der Meinung, das absolute Wissen solle als der eine, letzte Modus des erscheinenden
Wissens aufgenommen werden. Dazu vgl.: „Ich möchte das Kapitel über das absolute Wissen verteidigen als
(nach dem Hegelschen Programm) genuinen Bestandteil einer Darstellung des erscheinenden Wissens; genauer:
als deren Abschluß, in welchem es ebenfalls noch um Erfahrung des Bewußtseins geht.“ S. 603. Auch in
diesem Kapitel könne man ihm zufolge beobachten, wie das Verständnis des Bewusstseins fortschreitet.
106
Siep (2000), S. 244.
107
Dazu vgl. den Teil I, D. 3. „Die begriffene Geschichte“.
108
Zu den ausführlichen Darlegungen des Ü bergangs von der Religion (Vorstellung) in das absolute Wissen
(begreifende Denken) vgl. z. B. Vieweg (2008).
88
Bewusstsein erfasst seinen Gegenstand noch nicht im Begriff; dadurch kommt es noch nicht
zur Einsicht, dass seine Beziehung zu seinem Gegenstand ursprünglich das Verhältnis des
Geistes zu sich selbst impliziert. Aber das bedeutet auch, dass aus der Ü berwindung des
religiösen Denkens erst das endgültige Wissen entsteht; denn die Entgegensetzung der
religiösen Position ist kein Ü bergang zu einer anderen Bewusstseinsgestalt.
Die Ü berwindung der religiösen Form ist auch ein Stadium im Gesamtprozess der
Geistesbildung, d. h. im Weg des Geistes zum Wissen von sich. Aus der „Entäußerung des
Selbstbewußtseins“ ergibt sich „die Dingheit“, indem es „sich als Gegenstand“ setzt
(W3.575). Aber dieser Gegenstand folgt nicht aus der Rückkehr des Bewusstseins in sein
subjektives Einbilden. Indem das Bewusstsein „das Kleid seiner Vorstellung [von
sich]“ (W3.497) ablegt, wird der Inhalt des absoluten Geistes, wie er in Wahrheit ist, erfasst.
Das absolute Wissen des Geistes verhält sich oberflächlich gleich, wie „die sinnliche
Gewißheit“, die Anfangsphase der PHG, sich zu ihrem Gegenstand verhält: Das Objekt wird
aus der subjektiven Vorstellung entlassen und damit, wie es existiert, erfasst. Daraus geht
hervor, dass „nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist“ (W3.585); also kann gesagt
werden, dass hier nichts gewusst wird, was „als gefühlte Wahrheit, als innerlich
geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges“ usw. bezeichnet wird (W3.585). Diese
unmittelbare Erfahrung setzt zuerst voraus, dass das Bewusstsein direkt der Dingheit
überhaupt gegenübersteht. Gleichwohl hat das Bewusstsein ebenso das „geistige
Verhalten“ zu seinem Gegenstand, sodass das Bewusstsein „in seinem Anderssein als
solchem bei sich selbst ist“ (W3.575 f.). Aus seinem geistigen Wesen folgt sein absolutes
Recht, die Gestalt des Begriffes in seinem Gegenstand zu gewinnen, d. h. den Gegenstand
im Begriff, wie er in Wahrheit ist, zu erfassen. In dieser Phase wird das absolute Wesen erst
seiner wahren Form nach (nicht einfach auf der Ebene der Vorstellung, sondern auf der
Ebene des begreifenden Denkens) erkennbar gemacht.
Hegel expliziert dieses absolute Wissen des Geistes von sich mit Hilfe von dem Ansatz der
Tilgung der Zeit. Die Vorstellung der Zeit ermöglicht es, den RELIGIÖ SEN GEIST in der
Aufeinanderfolge seiner Momente darzustellen. Der gesamte Gang der religiösen
Geschichte wird dementsprechend unter Anlehnung an die Vorstellung gedacht, sodass die
lineare Zeit-Perspektive (Vergangenheit => Gegenwart => Zukunft) noch für das religiöse
Denken nötig ist. Daraus lässt sich erkennen, dass die Ü berwindung der religiösen Form
eben die Überwindung der „Zeitform“ selbst bedeutet. Diesen Gedanken erläutert Hegel
folgendermaßen:
89
[Der Geist] erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die
Zeit tilgt […]; indem dieser [Geist] sich selbst erfaßt, hebt er seine Zeitform auf (W3.584).
Die wahre Vereinigung von Begriff und Dasein, oder von Begriff und Anschauung, ergibt
sich aus der Tilgung der Zeit. „Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich
vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen“ (W3.585). Der
Weltgeist, der grundsätzlich in der Zeitlichkeit liegt, umfasst sowohl den WELTLICHEN
GEIST,
zu dem die ganzen vorreligiösen Bewusstseinsgestalten gehören, als auch den
RELIGIÖ SEN GEIST.
Der sich selbst wissende, also selbstbewusste, Geist, der den Inhalt des RELIGIÖ SEN
GEISTES
bildet, besteht nur dann in seiner absoluten Form, wenn er im absoluten Wissen
verankert ist. Aus dem Durchgang des religiösen Gedankens ergibt sich also die Philosophie
des Absoluten, in der das menschliche Denken erst „in der absoluten Freiheit“ (W3.586)
besteht. Die Ebene des absoluten Wissens ist gleichbedeutend mit dem obigen Beisichsein
des Geistes in seinem Anderssein; durch diese begreifende Erfassung des ursprünglichen
Zusammenhangs von Bewusstsein und Gegenstand kann der Geist mit jeder Phase des
Entwicklungsgangs in der PHG, wie sie an sich ist, zusammentreffen, während aus einer
Perspektive in der „Religion“ der Begriff des Geistes und sein Dasein noch abgesondert sind.
Der Einsicht in das absolute Wissen des Geistes lässt sich entnehmen, dass jedes Wissen
vonseiten des Bewusstseins auf seinem Wesen als dem erscheinenden Geist beruht; man
kann somit aus der „Bewegung des Bewußtseins“ eben „die Totalität seiner
Momente“ (W3.575) herauslesen. Die „WISSENSCHAFT DER PHÄ NOMENOLOGIE
DES GEISTES“ ist nichts anderes als die „WISSENSCHAFT DER ERFAHRUNG DES
BEWUSSTSEYNS“ (GW9.51; 444). Jede Erfahrung des Bewusstseins macht daher als
solche den Inhalt des begreifenden Wissens aus; während der absolute Begriff der
Wissenschaft für das Bewusstsein erst in der Schlussphase der PHG auftritt, ist er für uns in
jeder Phase des Bildungsgangs des Bewusstseins in der PHG offenbar. Das Wesen des
Bewusstseins, das nunmehr für es selbst erscheint, wie er an sich ist, wird von Hegel am
intensivsten geschildert. Die Bewusstseinserfahrung betrifft immer einen Gegenstand, aber
sie ist realiter nichts anderes als der Prozess, der zum wissenschaftlichen Standpunkt führt,
dass dieser Gegenstand mehr oder weniger den absoluten Geist expliziert.
90
Der Geist impliziert „an sich die Bewegung, die das Erkennen ist, – die Verwandlung jenes
Ansichs in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstands des Bewußtseins in
Gegenstand des Selbstbewußtseins“ (W3.585); er enthält demgemäß im Wesentlichen die
Dynamik in sich, sich selbst zu manifestieren, wie er in Wahrheit ist. Die Vereinigung von
Ansichsein und Fürsichsein, von Substanz und Subjekt oder von Bewusstsein und
Selbstbewusstsein, ist sowohl das Endziel des erscheinenden Wissens als auch die
Verwirklichung des geistigen Potenzials des Bewusstseins. Daraus lässt sich erkennen, dass
der sich selbst wissende Geist nicht nur als solcher ist, sondern sein Wesen begrifflich weiß.
Der subjektiv-substanzielle Geist erscheint dem Bewusstsein selbst, und zwar, wie er an und
für sich ist. Indem der absolute Geist sich selbst im begreifenden Gedanken erfasst,
„beschließt sich die Phänomenologie des Geistes“, sodass das Bewusstsein erst zum „Punkte
der eigentlichen Wissenschaft des Geistes“ (W3.39; 81) gelangt. Das absolute Wissen
handelt von dem Geist als dem Absoluten. Wie Hegel in seiner Philosophie des Geistes
erwähnt: „Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und
schwerste“ (W10.9), liegt die Schwierigkeit bei der spekulativen Betrachtung des Geistes
nicht in der Zweideutigkeit bzw. Verworrenheit des Geistesbegriffs. Die spekulative
Erkenntnis des Geistes setzt die konkrete Darstellung desselben vor. Dadurch ist das
natürliche Bewusstsein zu seinem Endziel gelangt.
91
3. Rückblick
Der Vollziehungsprozess des natürlichen Bewusstseins fängt auf den ersten Blick mit der
„Gewißheit“ der jeweils jetzigen Position an. Aus seiner Gewissheit ergibt sich zwar die
Einsicht, dass sein Dafürhalten tatsächlich unwahr ist; aber dieser Vorgang erweist sich im
Wesentlichen als der affirmative Prozess, in dem sich das Bewusstsein an die Wahrheit
annähert; nur durch seine vollständige Erfahrung kann das Bewusstsein sein geistiges
Wesen potenzieren. Diese Dialektik der Bewusstseinserfahrung zeigt uns, wie sich ihre
ganze Reihe in der PHG entwickelt. Der Posten einer Bewusstseinsgestalt stellt sich als die
Wahrheit ihrer Vorgängerin heraus; indem das Bewusstsein, mit einer Gewissheit beginnend,
das Verlorengegangensein derselben erfährt, erfolgt wiederum der Posten ihrer Nachfolgerin,
der ebenfalls von einer anderen Gewissheit ausgeht.
Dem Gesamtvollzug des Bewusstseins lässt sich m. E. das folgende Stufenmodell
entnehmen: das Bewusstsein => das Selbstbewusstsein => das allgemeine Selbstbewusstsein.
Die drei zuerst auftretenden Gestalten im „Bewußtsein“ („sinnliche Gewißheit“,
„Wahrnehmung“ und „Verstand“) sind typisch für das gegenstandsbezogene Bewusstsein,
das einen Gegensatz zwischen der Erscheinung und dem Wesen voraussetzt. Im
„Selbstbewußtsein“ („IV. Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“) erfährt das
Bewusstsein zum ersten Mal seine geistige Natur, sodass für es die Erscheinung dem Wesen
entspricht. In dieser Phase tritt der Begriff des Geistes zuerst auf; hier erfährt das
Bewusstsein von dem Prozess der Anerkennung, die substanzielle Grundlage für sein
Zusammenleben herauszufinden. Das Wesen des Bewusstseins ist dennoch bis zu diesem
Atemzug ausschließlich für uns und noch nicht für das Bewusstsein offenbar. Das heißt: Das
Bewusstsein im „Selbstbewußtsein“ erfährt sein geistiges Wesen, aber kommt noch nicht
zur Einsicht, dass seine Erfahrung den absoluten Begriff des Wissens betrifft.
Die Bewegung des Selbstbewusstseins zielt auf ein gegenseitiges Anerkanntsein zwischen
beiden Subjekten ab; seine vollkommene Manifestation ergibt sich daraus, dass die beiden
Subjekte das Phänomen der gegenseitigen Versöhnung erfahren können, dessen Phase als
das allgemeine Selbstbewusstsein aufzufassen ist. Dies tritt in dieser Phase wie „die reine
Einsicht“, „das Gewissen“ und „die offenbare Religion“ auf (W3.396; 478 ff.; 556 ff.). Diese
Allgemeinheit ist in gleicher Weise mit dem Gemeinwesen, also dem Zusammenleben von
Menschen eng verwoben, zumal sie als die „Gemeinde“ bezeichnet wird. Die religiöse
Gemeinde und das sittliche Gemeinwesen werden nämlich in das Prinzip des allgemeinen
Selbstbewusstseins integriert.
92
Das Bewusstsein erreicht gleichwohl nicht einfach mit dieser Phase sein Ziel, sondern
nähert sich durch den Gang von der „Vernunft“ zur „Religion“ das Bewusstsein seinem Ziel
an, um endlich an sein Ziel zu gelangen. 109 Die Phase der Versöhnung erscheint dem
Bewusstsein als die Etappe, in der das allgemeine Selbstbewusstsein von dem einzelnen
Selbstbewusstsein anerkannt und in Erscheinung tritt. Diese Erfahrungen finden sich explizit
in der Kunstreligion, im moralischen Gewissen und letztlich in der offenbaren Religion. Aber
erst im absoluten Wissen kommt das Bewusstsein zur Einsicht in seine Wahrheit; aus dem
endgültigen Ausgleich zwischen dem Bewusstsein des Geistes und seinem Wissen von sich
selbst ergibt sich der Gehalt der vollständigen Erfahrung des Bewusstseins. Daraus lässt sich
feststellen, dass das absolute Wissen des Geistes von sich nichts anderes als das allgemeine
Selbstbewusstsein des Geistes ist.
<Der gesamte Vollziehungsprozess vonseiten des Bewusstseins>
Die Dialektik der
Bewusstseinserfahrung
Das Entwicklungsstadium
der Bewusstseinsgestaltungen
Die unmittelbare Gewissheit
=> die Erfahrung der Unwahrheit
=> der Übergang zur Wahrheit
„Bewußtsein“
=> „Selbstbewußtsein“
=> das allgemeine Selbstbewusstsein („Vernunft“, „Geist“ und
„Religion“)
In der PHG wird „der sich bildende Geist“ (W3.18) thematisiert. Dieser Geist tritt zwar
explizit im „Geist“ auf, aber hier spiegelt sich die Dialektik seiner vorherigen Gestalten
implizit wider. Daher setzt der ganze Bildungsprozess vom „Geist“ bis zur „Religion“ eben
den vorigen Werdegang zum „Geist“ voraus. Die Struktur der Geistesbildung (der Geist
selbst => seine Anderswerdung => die Aufhebung seines Andersseins) kann man, was das
Ein Bericht von Rosenkranz (1844), Hegel habe bereits vor der Abfassung der PHG ihr letztes Kapitel „Das
absolute Wissen“ als die „Einheit des allgemeinen und einzelnen Selbstbewußtseins“ konzipiert, dient als ein
überzeugender Beleg dafür, dass das endgültige Wissen des Geistes in der Synthese von Bewusstsein und
Selbstbewusstsein besteht. S. 213. Sein Bericht wurde von einigen Interpreten als Beweis dafür zitiert, dass
Hegel während der Niederschrift der PHG, was ihren Aufbau, ihre systematische Funktion usf. betrifft,
grundlegend schwankte; es gibt nämlich die Behauptung, Hegel habe zumindest vor ihrer Abfassung die
Kapitel zwischen dem „Selbstbewußtsein“ und dem absoluten Wissen nicht erwartet, denn er habe nur das
absolute Wissen als das allgemeine Selbstbewusstsein konzipiert. Dazu vgl. z. B. Pöggeler (1993), S. 209. Ob
es sich in Wirklichkeit so verhielt, könnte man zwar anhand der philologischen Studien mehr oder weniger
aufspüren. Aber diesen Umständen zum Trotz darf man m. E. „Vernunft“, „Geist“ und „Religion“ mitnichten
für nebensächlich halten. Denn wenn man die Dialektik der Bewusstseinserfahrung ansieht, fungiert jedes
dieser Kapitel, was das Wissen des Bewusstseins von seiner endgültigen Universalität (d. h. von dem
allgemeinen Selbstbewusstsein) angeht, als unentbehrliche Phase.
93
109
gesamte Geistesphänomen betrifft, als den folgenden Verlauf formulieren: der abstrakte
Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare Einheit mit sich selbst => seine Entäußerung =>
seine Rückkehr zu sich.
Zur Bildung des Geistes bedarf es zunächst „des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkeit
des substantiellen Lebens“ (W3.13). Der anfängliche Geist liegt wie bei der altgriechischen
Sittlichkeit in dem festen Zutrauen zu der substanziellen Grundlage, endlich in der daraus
entstandenen Befriedigung; infolgedessen fühlte es sich glückselig. Hier tritt ein Leitmotiv
des hegelschen geistesgeschichtlichen Gedankens auf. Hegel, der neuzeitliche Denker, ist
der Ansicht, seine Gegenwart sei die Zeit „des Übergangs zu einer neuen Periode“ (W3.18).
Die Aufgabe seiner Philosophie ist es ebenso, den Geist seiner Zeit zu begreifen. Dieses
neue Prinzip gilt als die Subjektivität des Geistes, oder deren Freiheit durch seine Reflexion
in sich.110 Hier tritt der selbstbewusste Geist auf. In der Neuzeit zeigt sich, wie dieser Geist
„über das substantielle Leben“ hinausgegangen ist (W3.15). Er wird jedoch zunächst als das
Subjekt der „substanzlosen Reflexion“ (W3.15) bezeichnet, insofern er zunächst nur
gegenüber seiner substanziellen Grundlage gelegen wird. Dieser aus der substanziellen
Unmittelbarkeit heraus in die substanzlose Reflexion getretene Geist darf zunächst
ausschließlich mit dem Verlust seiner Substanz erkauft werden. Sein Wissen um diesen
Verlust ist auch das Wissen um seine Endlichkeit, sodass er unter der „absoluten
Zerrissenheit“ (W3.36) leiden muss. Die Entfremdung des Geistes ist kennzeichnend eben
für diesen Zustand, in dem das substanzielle Leben gescheitert ist; insofern der Geist seinen
Gegenpol für sein Anderes hält, kann der selbstbewusste Geist nicht vermeiden, seinem
Wesen entfremdet zu werden.
Es ist aber sinnvoller, den Verlust der Substanz nicht bloß zu diagnostizieren, sondern eine
Lösung zu finden; wie Hegel schreibt: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben
bleiben“ (W3.492), so muss der Geist durch das wahre Wissen von sich aus seine Potenz für
die Selbstüberwindung herausfinden können, und zwar ohne seinen Gehalt selbst zu
verlieren. Diese Lösung ist ergo die Berichtigung der bisherigen einseitigen Reflexion,
gleichsam die „Reflexion der Reflexion“111 als ihre erneuerte Form; dadurch stellt der Geist
ohne den Verlust seiner Subjektivität seine Substanz wieder her. Das begriffliche Erfassen,
dass „die Substanz an ihr selbst Subjekt ist“, ermöglicht die Einsicht, dass „aller Inhalt seine
eigene Reflexion in sich“ (W3.53) ist. Durch diese erneuerte Reflexion erweist sich der
selbstbewusste Geist als Subjekt, ohne in die Substanz- oder Haltlosigkeit zu geraten. Hegel
110
111
Dazu vgl. Habermas (1985), S. 26 f.
Bubner (1996), S. 128.
94
berührt diesen subjektiv-substanziellen Geist – außer in der „Vorrede“ – in der christlichen
Religion und endgültig im absoluten Wissen (W3.546; 550 ff.; 582; 585 ff.). Das Wesen des
Geistes ist also im religiösen Wissen vom absoluten Geist und im begreifenden Wissen des
Geistes von sich situiert.
<Der gesamte Vollziehungsprozess vonseiten des Geistes>
Die Dialektik der
Erscheinungsformen des
Geistes
Das Entwicklungsstadium
der Geistesbildung
Der abstrakte Zustand des Geiste: die unmittelbare Einheit mit sich
=> seine Entäußerung
=> seine Rückkehr zu sich
Der substanzielle Geist („Sittlichkeit“)
=> der (substanzlose) subjektive Geist („Bildung“ und „Moralität“)
=> der subjektiv-substanzielle Geist („Religion“ und „das absolute
Wissen“)
Aus dem Ü berblick der Gesamtlage in der PHG lässt sich ablesen, wie das Bewusstsein
sein geistiges Wesen im jeweiligen Kapitel Schritt für Schritt entfaltet. Die
Bewusstseinserfahrung und die Offenbarung des Geistes fallen im ganzen Gang der
phänomenologischen Bewegung miteinander zusammen. Die Dialektik dieser Bewegung
kann teils vonseiten des Bewusstseins, teils aus der Perspektive des Geistes angeordnet
werden. Diese beiden Gänge, d. h. der Weg des Bewusstseins zum allgemeinen
Selbstbewusstsein und der Weg des Geistes zu seinem Wissen von sich, decken sich nämlich
miteinander.
In dem absoluten Wissen wird die enge Verschränkung zwischen der Dialektik des
Bewusstseins und der des Geistes dargelegt, indem das Stufenmodell der drei
gegenstandsbezogenen
Bewusstseinsgestalten
(die
„sinnliche
Gewißheit“,
„Wahrnehmung“ und „Verstand“) mit der folgenden Struktur beschrieben wird:
Unmittelbarkeit => Verhältnis => Wesen. Diese liegt in der gleichen Ordnung wie die
Struktur der geistigen Bewegung (der abstrakte Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare
Einheit mit sich selbst => seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich). Dieses Gefüge ist
bis zur letzten Phase des WELTLICHEN GEISTES durchgehalten worden.112
112
Dazu vgl. W3, S. 576 ff. Die Binnenstruktur des RELIGIÖ SEN GEISTES besteht außerdem aus der Dialektik
des Bewusstseins (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => das allgemeine Selbstbewusstsein). Der Grund dafür
ist Folgendes: Der religiöse Geist steht, obgleich er seinem Begriff nach das Wissen des Geistes von sich
impliziert, mit seinem Anfangspunkt noch nicht in seiner Vollendung, sodass der Geist sich durch den
religiösen Gesamtvollzug zum absoluten Wissen im begreifenden Denken weiter entwickelt, um sein
95
D. Die geschichtsbezogene Betrachtung der Phänomenologie des
Geistes
1. Begriff und Geschichte
Die PHG dient als Einführung zum enzyklopädischen System der philosophischen
Wissenschaft, aber fungiert bereits als Wissenschaft, die freilich außerhalb des Systems steht;
damit hat sie ihre eigenständige Funktion im Bezug auf das System. Sie ist als „Voraus“ der
Wissenschaft für das philosophische Subjekt deswegen unumgänglich, weil sie aufzeigt, wie
sich das Bewusstsein zum absoluten Begriff der Wissenschaft emporhebt; das Bewusstsein,
das zwar (momentan) noch nicht wissenschaftlich, aber (potenziell) wissenschaftsfähig ist,
kann (wirklich) sein Wesen als erscheinenden Geist entfalten, sodass das Wahre Hegel
zufolge sowohl Substanz als auch Subjekt ist. Dieser Punkt wird dann nachvollziehbar, wenn
man die Dynamik des Entfaltungsgangs des Bewusstseins, die im engen Zusammenhang von
Begriff und Geschichte besteht, eingehend betrachtet.
Das einzelne Bewusstsein, das seine Empirie in sich hinein nimmt, kann nicht direkt das
System der philosophischen Wahrheit erfassen; der Begriff der Wissenschaft muss durch die
vollständige Erfahrung des Bewusstseins ausgeführt werden. Hegel versucht, mit der
folgenden Analogie zu begründen, warum die geschichtliche Entwicklung des Begriffs nötig
ist:
Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen
ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an Stelle dieser eine
Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem
Anfange vollendet (W3.19).
Wie eine Eichel nicht bereits eine reife Eiche ist, können philosophische Beschäftigungen
nur mit dem bloßen Ansatzpunkt allein nicht zum Abschluss gebracht werden. Hierin
befindet sich ein Leitfaden von Hegels Auffassung der Geschichtlichkeit in der PHG. Die
Bewusstsein und sein Selbstbewusstsein miteinander auszugleichen. Die natürliche Religion hat nämlich die
Form des Bewusstseins und die Kunstreligion hat die Form des Selbstbewusstseins, aber die offenbare Religion
ist der Geist in der Einheit von beiden, die von der Vernunft bis zum absoluten Geist reicht.
96
Geschichte besteht scheinbar aus einer Reihe von kontingenten Ereignissen; dadurch könnte
man denken, dass das bloß zufällige Geschehen von der Philosophie verschieden sei. In der
traditionellen Philosophie wurde die Geschichte demnach nicht eingehend thematisiert,
vorausgesetzt, dass die Geschichte etwas Flüchtiges sei, während die Philosophie, als
rational-begriffsnotwendige Erkenntnis, in einer Absetzung von der Faktizität liege. Hegel
erschließt hingegen in der PHG einen neuen Gedankenhorizont, um die Geschichtlichkeit zu
thematisieren.
Hegel kritisiert sehr scharf die Reihe der (für ihn) unphilosophischen Methoden, und zwar
unter Anlehnung an „Gefühl“ bzw. „Erbauung“ (die in seiner Gegenwart sehr geläufig waren)
oder an „Formalismus“ bzw. „Dogmatismus“ (der von Hegel insgesamt mit
„Unmethode“ tituliert wird) (W3.11-22; 40-53). Dadurch entwirft er seine Philosophie als
das wissenschaftliche System; die Philosophie muss nämlich „die gerechte Forderung des
Bewußtseins“, das der Wissenschaft zugänglich sein will, erfüllen, weil sie sich als
„verständige Form der Wissenschaft“ herausbildet (W3.20). Hegel denkt, die Offenbarung
des Geistes muss mit der Reihe der Bewusstseinserfahrung von der Welt einhergehen; somit
kommt er zur Einsicht in den engen Zusammenhang der Bewusstseinserfahrung und der
Erscheinungsformen des Geistes, den man erst im wissenschaftlichen System erfassen kann.
Die PHG wird also als die letzte Instanz für das philosophische Subjekt konzipiert, damit
man wirklich zur Einsicht in den absoluten Begriff der Wissenschaft kommt. Um diesen
Punkt zu begründen, setzt Hegel die „innere“ und die „äußere“ Notwendigkeit zueinander
in Beziehung.
Die innere Notwendigkeit, daß das Wissen Wissenschaft sei, liegt in seiner Natur, und die
befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der [spekulativen] Philosophie selbst.
Die äußere Notwendigkeit aber, insofern sie, abgesehen von der Zufälligkeit der Person und der
individuellen Veranlassungen, auf eine allgemeine Weise gefaßt wird, ist dasselbe, was die
innere [ist], in der Gestalt nämlich, wie die Zeit das Dasein ihrer Momente vorstellt (W3.14).
Das begreifende Wissen liegt in der inneren Notwendigkeit, die man durch die Reihe der
Darstellungen des Systems der philosophischen Wissenschaft erkennen kann. Diese
„Erklärung“ setzt die wissenschaftliche Darstellung der Sache selbst – also der logischen
Idee, der Natur und des Geistes – voraus; die Notwendigkeit ergibt sich nämlich daraus, dass
97
man zur Einsicht in das Wesen der Sache, wie sie in Wahrheit ist, kommen kann.113 Die
äußere Notwendigkeit kann man dadurch erkennen, dass die (wesentlich innere)
Notwendigkeit im Hinblick auf die Zeitlichkeit – eher auf die Geschichtlichkeit – dargestellt
wird, sodass die Notwendigkeit im Rahmen der Erscheinung (die in der Zeit geschieht)
gedacht wird. Die innere Notwendigkeit ist insofern dem Bewusstsein noch fremd, als sie
ihm im Rücken liegt; soweit es nicht weiß, dass „hinter seinem Rücken“ diese
Notwendigkeit „vorgeht“ (W3.80), ist sie ihm äußerlich. Aber die äußere Notwendigkeit
muss von der bloßen Zufälligkeit der sog. reinen Historie unterschieden werden, weil sie
dadurch die Notwendigkeit hat, dass sie („abgesehen von der Zufälligkeit“) durch die
wissenschaftliche Betrachtung „auf eine allgemeine Weise“ aufgefasst wird. Die bloße
Historie würde dem Augenschein nach durch die Zufälligkeit oder eigentlicher durch die
blinde Notwendigkeit (die man Schicksal nennt) nicht entbunden; aber die wissenschaftliche
Einsicht erlaubt es uns, die darin immanente Gesetz- oder Zweckmäßigkeit zu erkennen. Die
äußere Notwendigkeit ist zwar von der inneren zu unterscheiden, soweit das Bewusstsein
die Notwendigkeit der Wissenschaft nicht erkennen kann, sodass sie ihm noch äußerlich ist.
Die „auf eine allgemeine Weise“ erfasste Notwendigkeit darf dem Subjekt nicht ein für alle
Mal greifbar sein, sondern nur durch seine vollständige Erfahrung. Aus dem gesamten
Bildungsprozess des Bewusstseins (zum absoluten Begriff der philosophischen
Wissenschaft) ergibt sich aber die „Er-Innerung“ 114 (W3.591) der äußerlichen in die
innerliche Notwendigkeit, indem die vollständige Erfahrung des Bewusstseins begriffen
wird.
Indem
der
absolute
Begriff
der
Wissenschaft
eben
in
jeder
Gestalt
der
Bewusstseinserfahrung, d. h. in der Zeit-Dimension, mehr oder weniger erscheint, wird er
Schritt für Schritt entfaltet; in dieser Phase wird das Beisichsein des Geistes in seinem
Anderssein manifestiert. Wo das Schicksal vonseiten des Bewusstseins als Erscheinung der
Freiheit entdeckt wird, da gelangt das Bewusstsein zur Erkenntnis, dass die wissenschaftlich
fundierte innerliche Notwendigkeit in jeder Darstellung des erscheinenden Wissens
(momentan verdeckt) ausformuliert worden ist. Den absoluten Begriff des Wissens kann das
113
Hegel hat seinen eigenen Gedanken der Freiheit (der sich mehr oder minder auf Spinoza zurückführt). Die
Freiheit ist nämlich die „Wahrheit der Notwendigkeit“ oder die wahre „Verhältnisweise des Begriffs“, der für
das philosophische Wissen relevant ist. Die Philosophie kann seiner Einsicht nach als „bewußte Einsicht in die
Notwendigkeit“ aufgefasst werden. W6, S. 246; W18, S. 188. Diese Bezeichnung wird von Engels
folgendermaßen umformuliert: Die „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“. Marx u. Engels, Werke, Bd. 20,
S. 106. Zu den Ausführungen des Zusammenhangs von Freiheit und Notwendigkeit anhand der Philosophie
Hegels vgl. Angehrn (1977), S. 56 ff.
114
In Bezug auf die Erinnerung richtet Hegel sein Augenmerk auf die etymologische Bedeutung von „Sichinnerlich-Machen, Insichgehen“ (W19.44).
98
Bewusstsein erst in der letzte Phase seiner Erfahrung erreichen; dieser Begriff, der in der
Sache selbst immanenten Logos darstellt, kann auch als die logische Idee des Absoluten
bezeichnet werden. Diese „logische Notwendigkeit“ (W3.55) entwickelt Hegel in seiner
Logik. Unter Anlehnung an diese logisch-begriffliche Notwendigkeit wird der Werdegang
des Bewusstseins zu dem wissenschaftlichen Standpunkt dargestellt. Die äußerliche
Notwendigkeit bedeutet die Notwendigkeit der Geschichte in der PHG, solange der absolute
Geist in der Vorstellungsform der Zeitlichkeit liegt; insofern die phänomenologische
Bewegung unter dem Blickwinkel der Zeitlichkeit dargelegt wird, ist im Entfaltungsgang
des Bewusstseins eben die im zeitlichen Geschehen erkannte Notwendigkeit sichtbar. Die
obige „Erklärung“ bedeutet die Deutung der innerlichen Notwendigkeit, in der logisch das
reale Geschehen liegt, während die äußere Bestimmung im Hinblick auf den Bildungsgang
des Bewusstseins in der PHG zu denken ist. Aber mit dem absoluten Wissen kann das
philosophische Subjekt durch die Er-Innerung die beiden zu einem Ganzen
zusammenschließen.
In diesem Zusammenhang soll die Verschränkung von Begriff und Geist betont werden;
derentwegen lässt sich die Geschichtlichkeit115 des Geistes in der PHG erkennen, die nichts
anderes bedeutet, als dass das Selbstbewusstsein des Geistes eben aus konkreten
Erfahrungen des Bewusstseins und deshalb aus einer Reihe der Kontingenz folgt. Diese
geschichtliche
Thematisierung
ist
daher
konstitutiv
für
den
Beweis
ihrer
Wissenschaftlichkeit; es handelt sich bei der PHG um „die wissenschaftliche Geschichte des
Bewußtseins“ (GW13.34), in der das Subjekt allmählich an sein Wesen als Wahrheit
herankommt. Die bisherigen PHG-Interpretationen setzen trotz ihrer Verschiedenheit einen
gemeinsamen Ansatz hinsichtlich der Geschichtlichkeit voraus: Die Gesamtbewegung des
Bewusstseins bildet den geschichtlichen Weg zum absoluten Wissen. Was das Ziel bzw. die
Methodik der geschichtsbezogenen Darstellung betrifft, gibt es natürlich den Unterschied
zwischen der PHG und dem System. Dieser Unterschied resultiert aus dem Unterschied im
Bezug auf die Darstellungsperspektive. In der PHG geht es nämlich um die Geschichte der
Bildung des natürlichen Bewusstseins zum absoluten Wissen, während unter dem
Gesichtspunkt des Systems die Geschichtsphilosophie behandelt wird. Aber man kann
trotzdem nicht sagen, dass ausschließlich die Geschichtsphilosophie die vollkommene
Geschichtsdarstellung sei, denn auch die Weltgeschichte in der PHG nimmt einen
eigentümlichen Rang in der hegelschen Philosophie ein.116 „Die Bewegung, die Form seines
Dazu vgl.: „Das absolute Wissen ist ein geschichtliches Resultat, weil alle Formen des Geistes sich
geschichtlich entwickeln“. Jaeschke (2004), S. 210. Vgl. ebenfalls ders. (2009A), S. 24-27.
116
In Bezug auf diesen Punkt kann man die verschiedenen Versuche mit einem eigenen Ansatz finden.
99
115
Wissens von sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als wirkliche Geschichte
vollbringt“ (W3.586). Die Wirklichkeit des geistigen Vollzugs, die uns an „wirkliches
Wissen“ oder an „das wirkliche Erkennen“ (W3.14; 68) erinnert, liegt darin, dass die
Geschichte des Geistes sein subjektiv-substanzielles Charakteristikum repräsentiert. Damit
versucht Hegel die traditionelle Diskrepanz zwischen der Rationalität (Normativität) und der
Gegebenheit (Faktizität) zu überwinden; das wirkliche Wissen des Geistes bedeutet nämlich
das begreifende Wissen dessen, was in Wahrheit ist, oder, was wirklich und zugleich
vernünftig ist.117 Die wirkliche Geschichte des Geistes stellt seinen Bildungsprozess dar,
um sein Ziel, nämlich wirkliches Wissen, zu erlangen.
Die Wissenschaft stellt sowohl diese bildende Bewegung [des Geistes] in ihrer Ausführlichkeit
[also die Vollständigkeit] und Notwendigkeit als [auch] das, was schon zum Momente und
Eigentum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des
Marcuse (1968) versucht grundsätzlich, von der Position Diltheys ausgehend, die (ungeschichtliche) Idee des
epistemologischen Subjekts (als das „Ich“) und die Idee des Lebens (als Seinsbegriff) in den Begriff der
Geschichtlichkeit zu integrieren, dadurch behandelt er aus dieser Perspektive Hegels P HG. Maurer (1980)
bezweckt mit der Verknüpfung zwischen der Geschichtsphilosophie und der spekulativen Theologie, Diltheys
und Marx’ Position zu überwinden. S. 89f. Weckwerth (2000) entnimmt dem Bildungsgang des Bewusstseins
in der PHG eine Genese der Reihe der kulturellen Phänomene in der Geschichte, und sieht diese als Beweis
dafür an, dass die PHG nicht in Bezug auf ihre Funktion im System sondern als eine Metaphysik in einem
eigenständigen System bestimmt werden solle. S. 11 ff. Falke (1996) findet in der P HG Hegels
Auseinandersetzung mit der philosophischen Geschichte. Es gibt überdies noch eine andere Richtung, in der
man, um die Religion in die Geschichte einzubeziehen, die noch umfangreiche, vollendete Weltgeschichte in
der PHG sehen kann. Dazu vgl. z. B. Maza (1998).
Es gibt zwar die Behauptung, dass die weltgeschichtliche Schilderung in der PHG nicht vollkommen sei. Davon
geht die Position, dass das Kapitel „Geist“ dem objektiven Geist in der Enzyklopädie nicht endgültig entspreche,
aus. Diese Position, die grundsätzlich der These von Lukács oder Haering entgegengesetzt ist, beruht auf
Pöggelers Auffassung. Nach Pöggeler können die geschichtlichen Momente der PHG bestenfalls entweder als
nur partiell haltbar oder als nebensächlich angesehen werden; für ihn muss nämlich z. B das Verhältnis von
Knechtschaft und Herrschaft im Kapitel „Selbstbewußtsein“ nicht dem sozialphilosophischen Thema
zugerechnet, sondern nur als „ein illustrierendes Exempel“ für die jenem Kapitel zugrunde liegende Logizität
betrachtet werden. Er denkt, die gesamten geschichtlichen Darstellungen in der PHG seien nichts anderes als
die Exemplifizierungen der logischen Bestimmungen. Damit könne man die Grundstruktur der P HG (vonseiten
des Bewusstseins) veranschaulichen. Pöggeler (1993), S. 220, 293 u. 354; ders. (1998), S. 130-136. WeisserLohmann betrachtet, unter Anlehnung an Pöggeler, die Geschichte in der PHG als die Geschichte der logischen
Kategorien, nach denen die Reihe der Bewusstseinserfahrungen zur Wissenschaft erhoben werden kann,
vorausgesetzt, dass alle Bewusstseinsgestalten in der PHG nichts anderes als Erscheinungen der
wissenschaftlichen Logizität seien. Dazu vgl. z. B. Weisser-Lohmann (1998), S. 187-191.
Aber das Verhältnis der logischen Grundbestimmungen zu den Geschichtsdarstellungen in der PHG ist auf
keinen Fall das der Substanz zu ihren Akzidenzien. Die Geschichte in der P HG ist nicht einfach als solche
beispielhaften Schilderungen zu verstehen, sondern als die Durchführung selbst des Grundgedankens des
Werkes, durch die die Wahrheit für das philosophische Subjekt zugänglich ist. Auch Maza (1998) ist trotz der
Orientierung an der These Pöggelers der Ansicht, das Bewusstsein erreiche im Kapitel „Religion“ das völlige
Erfassen der Geschichte. S. 157-159.
117
Dazu vgl.: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“. Insofern die
Vernunft grundsätzlich sowohl in „selbstbewußtem Geiste“ als auch in „vorhandener Wirklichkeit“ erkannt
wird, ist die Vernunft sowohl (ihrer Form nach) „begreifendes Erkennen“ als auch (ihrem Inhalt nach) „das
substantielle Wesen“ der Sache. Und diese „Einheit der Form und des Inhalts“ kann als „die philosophische
Idee“ bezeichnet werden. W7, S. 24-27.
100
Geistes in das, was das Wissen ist. Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die
Erreichung des Ziels ohne die Mittel. Einesteils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn
jedes Moment ist notwendig; - andernteils ist bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst
eine individuelle ganze Gestalt und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als
Ganzes oder Konkretes oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet
wird (W3.33).
Diese Notwendigkeit und die Ganzheit machen die Wissenschaftlichkeit der PHG aus; dieser
Bildungsprozess, dessen vollständige Darstellung unter Anlehnung an die Notwendigkeit
(des Ü bergangs einer Bewusstseinsgestalt zu ihrer nächsten) selbst die phänomenologische
Wissenschaftlichkeit ausmacht, ergibt sich aus der langfristigen und standhaften Arbeit des
Geistes. Die Geschichte des Geistes wird dementsprechend von Hegel als „die ungeheure
Arbeit der Weltgeschichte“ geschildert; die „Weltgeschichte“ liegt nämlich in dem
Bildungsprozess, in dem sich „der Weltgeist“ darum bemüht, die Reihe der Erfahrungen „in
der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen“ (W3.33 f.).
Daraus lässt sich hervorheben, wie sich der Begriff, als der Standpunkt der Wissenschaft
oder die logische Idee selbst, zu der Zeit, als Grundlage für das Geschehen des Geistes,
verhält.
Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt;
deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er
nicht seinen reinen Begriff erfaßt (W3.584).
Die Zeit wird von Hegel nicht als die bloße Form der subjektiven Anschauung (wie bei Kant)
sondern (mit dem Raum als der anderen Weise zusammen) als eine Existenzweise dessen,
was ist, mit anderen Worten als der erscheinende Begriff verstanden.118 In der Zeit erscheint
nämlich das geistige Wesen und der Geist muss durch das geistige Verhältnis zu ihm seinen
Begriff, wie er in Wirklichkeit ist, erfassen. Die Bildung des Geistes impliziert den Prozess,
in dem man entdeckt, was in der Reihe der Bewusstseinsgestalten verdeckt worden ist; die
zeitliche Entfaltung des geistigen Begriffs ist nämlich nichts anderes als der allmähliche
Dazu vgl.: „Wenn wir aber gesagt haben, daß das Empfundene vom anschauenden Geiste die Form des
Räumlichen und Zeitlichen erhalte, so darf dieser Satz nicht so verstanden werden, als ob Raum und Zeit nur
subjektive Formen seien. Zu solchen hat Kant den Raum und die Zeit machen wollen. Die Dinge sind jedoch
in Wahrheit selber räumlich und zeitlich“ (W10.253).
101
118
Übergang der „Verborgenheit“ des geistigen Potenzials in die „Offenbarkeit“, sodass der
Geist erst als „das erfüllte Ganze“ erfasst wird (W3.584). Ü ber die Dialektik von Begriff und
Wirklichkeit schriebt Hegel Folgendes:
Was aber das Dasein dieses Begriffs betrifft, so erscheint in der Zeit und Wirklichkeit die
Wissenschaft nicht eher, als bis der Geist zu diesem Bewußtsein über sich gekommen ist. Als
der Geist, der weiß, was er ist, existiert er früher nicht, und sonst nirgends als nach Vollendung
der Arbeit, seine unvollkommene Gestaltung zu bezwingen, sich für sein Bewußtsein die Gestalt
seines Wesens zu verschaffen (W3.583).
Der Geist ist noch mit einer bestimmten Gestalt der Bewusstseinserfahrungen verbunden,
solange er noch auf der zeitlichen Entdeckungsreise ist; die Zeit erscheint nämlich dem
Bewusstsein als das Schicksal, als die blinde Notwendigkeit, indem sie nicht endgültig
begriffen wird. Die Vollendung der geistigen Arbeit fällt daher mit der Ü berwindung der
Zeit-Dimension zusammen (W3.584); indem er seine Zeit-Dimension aufhebt, manifestiert
sich sein subjektiv-substanzielles Wesen: der Ausgleich zwischen dem Bewusstsein des
Geistes und seinem Selbstbewusstsein, das an und für sich seiende Wissen dessen, was er
an sich ist (W3.579); sowie die Emporhebung der bloßen Gewissheit seiner selbst zur
Wahrheit, also die Abwandlung des Schicksals in die erfasste Notwendigkeit (die nichts
anderes als die Freiheit des Geistes ist). Aus der Tilgung der Zeit ergibt sich, dass der Geist
als das ganz Erfüllte in der Unendlichkeit der Zeitfolge immanent ist, weil er sich selbst
begreifen kann.119
Dazu vgl.: „Solange der Geist sich selbst vorstellt, ist Geist: Geschichte; insofern er sich aber vollzieht, ist
er der sich begreifende Begriff: Tilgen der Zeit in historisch erfüllter Gegenwart“. Luckner (1994), S. 228.
102
119
2. Die Geschichte des Bewusstseins und die Geschichte des Geistes
Hegel integriert den Begriff des Geistes und sein zeitliches Dasein in seine geschichtliche
Thematisierung; die PHG ist nämlich im Umfeld der Geschichtlichkeit zu betrachten, sofern
sie den Werdegang zum absoluten Begriff der philosophischen Wissenschaft darstellt. Um
auf diese Thematik einzugehen, muss man sich auf die folgenden Grundkonzeption der PHG
besinnen: Sie ist sowohl die Wissenschaft der Bewusstseinserfahrung als auch die der
Erscheinungsformen des Geistes. Dementsprechend kann man die Geschichte ebenfalls mit
den beiden Momenten, die die Geschichtlichkeit in der PHG ausmachen, bezeichnen; die
Geschichte in der PHG kann zunächst als die Geschichte des Bewusstseins, aber auch als die
Geschichte des Geistes beschrieben werden.
Nicht unbedingt besagt die strukturelle Einheitlichkeit der PHG, dass nur die eine
Gedankenlinie durch den ganzen Hauptteil durchgedrungen ist; denn man findet in diesem
Werk zwei Perspektiven, d. h. die theoretische und die praktische. Aber Hegels
phänomenologisches Unternehmen ist nicht fehlgeschlagen, sondern darin wird die
strukturelle Konformität der ganzen Darstellungen entdeckt; denn die geschichtsbezogene
Betrachtung kommt der Grundidee der PHG entgegen. Um den Darstellungen in der PHG die
geschichtlichen Momente zu entnehmen, muss vorausgesetzt werden, dass man die PHG
(trotz der Veränderung des ursprünglichen Buchplans) als ein einheitlich organisiertes Werk
betrachten kann. Aus der Betrachtung der geschichtlichen Momente folgt, dass sich eine
Ü bersicht über verschiedene Varianten der Geschichte in der PHG findet. Der ersten Hälfte
der PHG (von dem „Bewußtsein“ zur „Vernunft“) lässt sich vor allem die theoretische
Thematik entnehmen, die eher als logische Entwicklung des subjektiven Geistes aufzufassen
ist; trotzdem kann man auch hier hinsichtlich der Geschichtlichkeit die obige Konzeption
eruieren. Das Kapitel „Geist“ handelt eigentlich von der Weltgeschichte von der Antike bis
zur Gegenwart Hegels. Auch die Komposition des Kapitels „Religion“ ist eben der
Entwicklungsgang des Religionsbegriffs, d. h. die Geschichte der Religion, die aber für
Hegel nichts anderes als das höchste geistige Gebilde im Bezug auf die Bildungsgeschichte
des menschlichen Geistes ist.
Es gibt gleichwohl noch umstrittene Punkte hinsichtlich dieser geschichtlichen
Thematisierung anhand der PHG, denn es ist zu erkennen, wie sich die Geschichtlichkeit in
Bezug auf den Aufbau der PHG verhält, oder wie weit sich diese Thematik mit dem Hauptteil
der PHG deckt. Die in dem Jenaer „Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie
(1805/6)“ niedergeschriebene Skizze, was die Gliederung innerhalb der PHG betrifft, gibt
103
uns einen Hinweis. Sie hat das folgende 6-teilige Gefüge: „absolutes Seyn“, „Verhältniß“,
„Leben und Erkennen“, „wissendes Wissen“, „Geist“ und „Wissen des Geistes von
sich“ (GW8.286).
Wenn man sie wirklich auf die Binnenstruktur des Bildungsgangs des Bewusstseins
anwenden darf, lässt sich das Entsprechungsverhältnis der Skizze zur PHG wie folgt
anordnen:120
„absolutes
Seyn“
„Verhältniß“
Vorlesungsmanuskript
zur Realphilosophie
(1805/6)
„Leben und
Erkennen“
„wissendes
Wissen“
„Geist“
„Wissen des
Geistes von sich“
I
II
III
„Die sinnliche
Gewißheit“
„Wahrnehmung“
„Verstand“ und
„Selbstbewußtsein“
IV
„Vernunft“
V
„Geist“
VI
Phänomenologie
des Geistes
(1807)
„Religion“ und das
„absolute Wissen“
Diese Binnenstruktur wird im ganzen Entfaltungsgang des Bewusstseins durchgehalten, d. h.
von dem Wissen von der natürlichen Welt oder dem Wissen von der Anlage zu diesem
Wissen (von der „sinnliche[n] Gewißheit“ bis zur „Vernunft“) durch das Wissen von der
kulturellen Welt oder dem Prinzip von dem Zusammenleben (im „Geist“) bis zum Wissen
des Geistes von seinem Wissen („Religion“ und das „absolute Wissen“ betreffend). Dieses
120
Pöggeler behandelt diese Skizze in Bezug auf das Metaphysik-Konzept (als spekulative Wissenschaft).
Nach Pöggeler entspreche die erste Hälfte der Skizze (I.-III.) der Logik (als Einleitung in die Wissenschaft
oder als Lehre der formallogischen Begriffe des Gedankens), ihre zweite Hälfte (IV.-VI.) hingegen der
traditionellen Metaphysik (zu der Seelen-, Welt- und Gotteslehre gehören). Vgl. Pöggeler (1993), S. 267 ff.;
ders. (1998), S. 132. Damit bezweckt er, Hegels Schwanken im Bezug auf die Niederschrift der PHG zu
begründen. Pöggeler denkt nämlich, Hegel habe ursprünglich geplant, mit der PHG nur die erste Hälfte (nur
„Bewußtsein“ und „Selbstbewußtsein“) abzudecken, aber die Proportionen des Werkes haben sich seinem
Konzept entgegen zu seinen Ungunsten verändert. Vgl. bes. ders. (1973), S. 333 ff.; 348 ff.
Allein man kann m. E. unabhängig von dem wahrscheinlichen Resultat dieses philologischen Studiums die
Skizze sozusagen werk-immanent behandeln. Die Bemerkungen zu dieser Skizze in dieser Arbeit könnten
nämlich nur dazu beitragen, im Hinblick auf die Geschichtlichkeit die Binnenstruktur der PHG zu thematisieren.
Daraus lässt sich feststellen, dass man aus dem ganzen Aufbau der P HG (nicht bloß die formelle
Erkenntnistheorie, sondern auch) den Ansatz zur metaphysischen Bemühung, die das Bewusstsein, seinen
Gegenstand und die spekulative Beziehung von beiden umfasst, entnehmen kann.
104
dreifache Gefüge bildet, mit der traditionellen Metaphysik formuliert, die Lehre von Seele,
Welt und Gott. Man kann einerseits denken, jedes der drei Momente wird zwar als
eigenständiger Verlauf aufgefasst; in diesem Zusammenhang kann „die dreimalige
Wiederholung des Geschichtsablaufs“121 gedacht werden. Aber es ist andererseits möglich,
dass man mit der spekulativ fundierten Zeit-Konzeption auf die Thematisierung der
eigentlichen Geschichtlichkeit erst in der „Religion“ hinzielt; insofern wird angenommen,
dass erst die Geschichte des RELIGIÖ SEN GEISTES zu der realen Weltgeschichte passe, sodass
sich erst in der „Religion“ die eigenständige Dimension der Weltgeschichte ergebe.122 Es
ist aber m. E. noch sinnvoller, diese beiden Richtungen in eine Dimension zu integrieren.
Darüber lässt sich Folgendes ausführen: 1) Der „Weltgeist“ (W3.33) vollzieht in der PHG die
Aufgabe der Gesamtbewegung des Bewusstseins (vom sinnlichen bis zum religiösen
Bewusstsein), 2) die Bewusstseinsgestalten bis zur „Vernunft“ haben jedoch keine
eigenständige Weltgeschichte, sondern machen die Reihe der Momente für die Konstruktion
des Kapitels „Geist“ aus und 3) bloß mit dem WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ zum
„Geist“) vollendet sich seine Bildung deswegen noch nicht, weil sie erst mit der
vollständigen Entfaltung des RELIGIÖ SEN GEISTES (von der natürlichen Religion bis zur
offenbaren Religion) abgeschlossen ist.
Der „Geist“ betrifft zum ersten Mal eingehend die Reihe der „Gestalten einer Welt“ (und
zwar „statt Gestalten nur des Bewußtseins“) (W3.326). Auch bei den Etappen vor dem
„Geist“ könnte man sporadisch (z. B. in Bezug auf den nachklassischen Gedanken der
„Freiheit des Selbstbewußtseins“ im „Selbstbewußtsein“ oder in Bezug auf die
erkenntnistheoretischen „Versicherungen“ vom frühneuzeitlichen „Idealismus“ in der
„Vernunft“) die Momente der wirklichen Geschichte erkennen;123 indem im „Geist“ erst ein
121
Lukács (1967), S. 577. Er versucht, die Komposition der PHG (analog der Philosophie vom Geist in der
Enzyklopädie) in drei Teile aufzugliedern. Dieser Aufbau impliziert ihm zufolge den „Prozeß der Aneignung
der historischen Gattungserfahrungen der Menschheit“. Zur wirklichen Geschichte in ihrer eigentlichen
Bedeutung zähle nur der zweite Kreis („Geist“) unter den geschichtlichen Folgen. Lukács denkt, der erste Kreis
(bis zur „Vernunft“) sei noch nicht die wirkliche Geschichte, weil sich hier die Reihe der schicksalhaften
Erfahrungen vonseiten des individuellen Bewusstseins ergebe; hingegen sei der dritte (d. h. ab der „Religion“)
nicht mehr die wirkliche Geschichte, weil er davon handele, die Reihe der bisherigen geschichtlichen
Bemühungen des Menschen retrospektiv zusammenzufassen und zu begreifen. S. 577 ff.
122
Maza (1998) denkt, dass die Religion „die wesentliche und unentbehrliche Funktion“ für die Komposition
der PHG habe. Im Kapitel „Geist“ werden die historischen Momente behandelt; jedoch sei diese Durchführung
deswegen nur „exemplarisch“, weil es da streng genommen keine spekulative Zeit-Dimension gebe, sodass
darin keine reale Geschichte vorhanden sei, sondern nur zufällige Erscheinungen ausfindig gemacht werden.
Erst die Religion fungiere als „Bund“, der alle vorigen Knotenlinien umfasst, indem sie „idealtypisch“ die
adäquate geschichtliche Erscheinung des ganzen Geistes ausmache. S. 155-159. Vgl. bes.: „[E]rst im Übergang
vom Geist- zum Religionskapitel wird es überhaupt möglich, daß sich der Geist als Ganzes in der Zeit anschaut,
während er bis dahin gleichsam nur in Schattenrissen erschien. Deshalb erscheint der Geist als Weltgeist oder
als Geschichte im vollendeten Sinn nur im Religionskapitel“. S. 158.
123
Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ erblickt Hegel in der „Geschichte des Geistes“ den „Stoizismus“, den
105
„wissendes Wissen“ (GW8.286) des individuellen Bewusstseins in den Umfang des
überindividuellen Zusammenlebens emporgehoben wird, kann man hier durch die eigene
Dimension der Weltgeschichte hindurchsehen. Auch die Gestalten im Kapitel
„Geist“ verliefen von der griechischen Sittlichkeit bis zur neuzeitlichen Moralität, und zwar
der geschichtlichen Chronologie entsprechend. In der „Religion“ wird aber ein noch
größerer geschichtlicher Umfang thematisiert. Die natürliche Religion stellt die
altmorgenländische Religion dar, deren wirklicher Geist nicht im Kapitel „Geist“ behandelt
wurde, und die offenbare Religion impliziert den gedanklichen Inhalt des absoluten Geistes,
der anhand der (von Hegel selbst erneuten) philosophischen Wissenschaft eingehend zu
überprüfen ist. Der RELIGIÖ SE GEIST erschließt somit extensiver und intensiver als die
Gestalten des WELTLICHEN GEISTES die weltgeschichtliche Ebene. Ü ber den
Zusammenhang zwischen dem sich selbst wissenden Geist, der den Begriff der Religion
ausmacht, und dem Weltgeist im Rahmen der PHG schreibt Hegel Folgendes:
Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins [und zwar des
unglücklichen Bewusstseins] gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem
Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein und als Wahrheit
ein (W3.551).
Die vollendete gegenständliche Darstellung ist erst zugleich die Reflexion derselben oder das
Werden derselben zum Selbst. - Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich
vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. Der Inhalt der
Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist (W3.585).
Der Weltgeist kann also erst im Kapitel „Religion“ seine Vollendung erreichen; der
RELIGIÖ SE GEIST ist nichts anderes als das Wissen des Weltgeistes von sich selbst.
Aber die Vollendung des Weltgeistes ergibt sich keinesfalls direkt am Anfang des
RELIGIÖ SEN GEISTES, noch irgendwo innerhalb seines Entfaltungsgangs, sondern erst in
„Skeptizismus“ und das „unglückliche Bewußtsein“. In diesem Zusammenhang erwähnt Hegel explizit den
Ausdruck „Weltgeist“, um den Stoizismus mit dem römischen „Rechtszustand“, der im Kapitel
„Geist“ eingehend dargelegt wird, in Beziehung zu setzen. W3, S. 157.
Aus Hegels Bemerkungen im Kapitel „Vernunft“ lässt sich außerdem konstatieren, dass Hegels Gedanke des
Weltgeistes nicht bloß auf die faktische Geschichte der Menschheit bezogen wird. Hegel schreibt Folgendes:
„Das Bewußtsein wird sein Verhältnis zum Anderssein oder seinem Gegenstande auf verschiedene Weise
bestimmen, je nachdem es gerade auf einer Stufe des sich bewußtwerdenden Weltgeistes steht“ (W3.181). Die
Bildung des Weltgeistes besteht also in dem gesamten Vollzug des wissenden bzw. handelnden Bewusstseins
überhaupt, sodass die Reihe der Bewusstseinsgestalten bis zur Vernunft in die weltgeschichtliche Dimension
mit einbezogen wird.
106
seiner Schlussphase; weil die Vollendung des Weltgeistes realiter mit der Vollendung des
RELIGIÖ SEN GEISTES zusammenfällt, ist es offensichtlich, dass der Weltgeist von der ersten
bis zur letzten Etappe der Bewusstseinserfahrung voranschreiten muss. Den Weltgeist in der
PHG darf man somit nicht unbedingt für den vorreligiös-weltlichen Geist halten; jener
bedeutet gleichsam die Gesamtheit der Bewusstseinsgestalten (einschließlich des
RELIGIÖ SEN GEISTES).
Der geschichtliche Verlauf in der PHG deckt also 1) die Geschichte des Bewusstseins, 2)
der Welt und 3) der Religion umfassend ab, mit anderen Worten: 1) die Geschichte des
Wissens des Menschen von der gegenständlichen Welt, 2) die Geschichte der Praxis um der
Welt-Gestaltung willen, in der der Mensch seinen Willen verwirklicht, und 3) die Geschichte
der affirmativen Offenbarung des Absoluten.
Die Gesamtheit der Geschichte in der PHG kann gemäß ihrer Grundidee gänzlich behandelt
werden. Aus der „Vorrede“ bzw. „Einleitung“ zur PHG lassen sich zwei Ziele ihrer
Darstellung beschreiben. Dem besonderen Individuum steht einesteils die Aufgabe bevor,
seine Perspektive zum wissenschaftlichen Standpunkt zu erheben. Das (momentan)
ungebildete Individuum als Einzelne ist nichts anderes als das natürliche Bewusstsein. Es
nimmt schrittweise seinen Gegenstand „für sich in Besitz“ (W3.33); dieser Prozess ist
schmerzhaft, weil es „sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten“ hat (W3.31). Die
Darstellung dieses Prozesses wird von Hegel mit der „Geschichte der Bildung des
Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“ (W3.73) betitelt; diese Wissenschaft ist eben die
„Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht“ (W3.38). Demzufolge tritt als das
zweite Ziel die Bildung des „allgemeinen Geistes“, der die „Substanz des
Individuums“ (W3.33) ausmacht, auf; dieser Geist, mit anderen Worten „das allgemeine
Individuum“, enthält den gesamten Vollziehungsprozess aller besonderen Individuen in sich.
Ü ber diese Allgemeinheit sagt Hegel Folgendes:
Die Aufgabe, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen,
war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen und das allgemeine Individuum, der selbstbewußte
Geist, in seiner Bildung zu betrachten (W3.31).
Diese Bildung bedeutet die geistige Universalgeschichte der Menschheit überhaupt. Hegel
benennt den Hauptdarsteller in der Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung als den
selbstbewussten, d. h. den sich selbst wissenden Geist, zu dem aber auch der Weltgeist
107
gehört.124 Der Weltgeist macht jeden Augenblick der Bewusstseinserfahrung zum Material
für seine Geschichtsdarstellung, damit sich das absolute Wissen des Geistes von sich selbst
ergeben kann. Also bildet sich die zweite Bezeichnung für den Entwicklungsgang in der PHG
als die „Geschichte der Bildung der Welt“ (W3.32), eigentlicher als die Weltgeschichte,
heraus. Die Vollendung des Weltgeistes ist, wie schon gesagt, durch den gesamten Vollzug
des WELTLICHEN GEISTES hindurch erst in der Phase der Vollendung des RELIGIÖ SEN
GEISTES zu
erreichen.
Wie sich die beiden geschichtlichen Subjekte, d. h. das besondere Individuum und das
allgemeine Individuum, zueinander verhalten, wird folgendermaßen expliziert:
Was das Verhältnis beider betrifft, so zeigt sich in dem allgemeinen Individuum jedes Moment,
wie es die konkrete Form und eigene Gestaltung gewinnt. Das besondere Individuum ist der
unvollständige Geist, eine konkrete Gestalt, in deren ganzem Dasein eine Bestimmtheit
herrschend ist […]. In dem Geiste, der höher steht als ein anderer, ist das niedrigere konkrete
Dasein zu einem unscheinbaren Momente herabgesunken; was vorher die Sache selbst war, ist
nur noch eine Spur; ihre Gestalt ist eingehüllt und eine einfache Schattierung geworden. […] Der
Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen,
aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und
geebnet ist […]. Dies vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen
Geistes, der die Substanz des Individuums und so ihm äußerlich erscheinend seine unorganische
Natur ausmacht (W3.31 ff.).
Indem sich jedes besondere Individuum die allgemeine Geschichte der Menschheit geistig
zu eigen macht, ist sein geistiges Potenzial erkennbar. Aber dieser „Durchbildung des
natürlichen Bewußtseins“ entspricht der fortlaufenden „Umbildung“ des Weltgeistes oder
„der Arbeit seiner Umgestaltung“ (W3.37; 34; 18); mit biologischen Ausdrücken formuliert,
124
Als Hegel kurz vor seinem Tod (1831) die PHG zu revidieren versucht hat, hat er den ursprünglichen
„Weltgeist“ durch diesen Ausdruck „der selbstbewusste Geist“ ersetzt (W3.31; 598). Man könnte auf den ersten
Blick denken, Hegel halte endgültig den Weltgeist nur für den WELTLICHEN GEIST, während der RELIGIÖ SE
GEIST als der „selbstbewußte“, d. h. „sich selbst wissende“ Geist repräsentativ für die ganze Menschheit sei.
Aber man muss in diesem Zusammenhang aufmerksam auf diesen Nebensatz achten: „[w]eil die Substanz des
Individuums, weil sogar der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen in der langen Ausdehnung der Zeit zu
durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte […]“ (W3.33 f.). Hier bedeutet zwar die hiesige
„Substanz des Individuums“ eben das obige „allgemeine Individuum“, aber Hegel sagt, „sogar“ der Weltgeist
muss mit dem selbstbewussten Geist zusammen die langfristige Arbeit der geistigen Bildung vollziehen.
Daraus wird in der vorliegenden Arbeit gefolgert, dass der Bildungsprozess zu dem Wissen des Geistes von
sich wohl als die Geschichte des allgemeinen Geistes, aber auch als die Geschichte des Weltgeistes aufzufassen
ist.
108
entspricht die Ontogenese des Geistes (als eines besonderen Individuums oder des
natürlichen Bewusstseins) eben der Phylogenese des Geistes (als eines allgemeinen
Individuums oder Weltgeistes). Diese Weiterbildung des Weltgeistes folgt aus der
vollständigen Erfahrungsgeschichte, die das Bewusstsein wiederum mit dem historischen
Erbe in seiner Epoche der Bildung beginnt.
Daraus lässt sich folgern, dass der Ü bergang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen
Standpunkt und die weltgeschichtliche Entfaltung des Geistes in Anlehnung an Hegels
phänomenologisches Programm konvergieren. In jedem geschichtlichen Geistesphänomen
erfährt das Bewusstsein sein geistiges Wesen und jede substanzielle Wahrheit des Geistes
erscheint als der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung. Hegels Thematisierung der
Geschichte in der PHG zielt darauf, das Werden des Bewusstseins zur Wissenschaft durch
das Begreifen des geistigen Wesens zu demonstrieren. Also setzen die Geschichte des
Bewusstseins (als des Einzelnen) und die des Geistes (als des Universalen) sich einander
voraus und die beiden machen die beiden Modi der Geschichte in der PHG aus.
109
3. Die „begriffene Geschichte“
Wie bereits dargelegt, ist die PHG ursprünglich als „Weg zur Wissenschaft“ nicht als die
bloße Propädeutik, sondern als „schon Wissenschaft“ zu betrachten (W3.80); ihre
Wissenschaftlichkeit beruht auf der Vollständigkeit der Bewusstseinsgestalten in der PHG
und auf der Notwendigkeit des Ü bergangs einer Gestalt zu ihrer nächsten Phase. Die PHG
thematisiert außerdem sowohl die Erfahrung des Bewusstseins als auch die
Erscheinungsformen des Geistes. Diese Einsicht wird von Hegel in der „Vorrede“ bzw.
„Einleitung“ zur PHG vorläufig125 erläutert, auch im ganzen Gang des Hauptteils wird unter
dem Gesichtspunkt des spekulativen Betrachters, d. h. für uns, – und zwar wie die Sache
noch nicht für das Bewusstsein, sondern nur an sich ist – darauf hingewiesen; dieser Punkt
wird letztlich in dem letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ tiefgründiger geschildert.
Das absolute Wissen des Geistes liegt darin, dass er in jedem Verhältnis des Bewusstseins
zu dem Gegenstand nämlich „das wirkliche Spekulative“ (W3.61) erfasst. Dies begreifende
Wissen, das sich aus dem gesamten Entfaltungsgang des Bewusstseins ergibt, bildet den
Grund für die spekulative Betrachtung der Sache, die anhand des enzyklopädischen Systems
behandelt wird. Die Einsicht in das wissenschaftliche System wird nämlich durch die
gesamte Darstellung des erscheinenden Wissens erreichbar.
Indem Hegel in der „Vorrede“ Folgendes schreibt: „Die wahre Gestalt, in welcher die
Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ (W3.14), denkt
er, dass die philosophischen Bemühungen weder mit der Behauptung ihres Ansatzes noch
mit der einfach tabellarisierten Schlussfolgerung enden. Das philosophische System ist ihm
zufolge kein Resultat von Schematismus oder Formalismus, sondern die logisch-begriffliche
Notwendigkeit wird in den Ausführungen des erscheinenden Wissens sozusagen als
„Rhythmus des organischen Ganzen“ (W3.55) vollzogen; denn der Entwicklungsgang des
Geistes in der PHG ist nichts anderes als der kontinuierliche Ü bergang seiner
„Verborgenheit“ zu seiner vollständigen „Offenbarkeit“, sodass das philosophische Subjekt
das „das erfüllte Ganze“ begreift (W3.584).
Im Hinblick auf die Zeitlichkeit lässt sich die Reihe der Bewusstseinsgestalten darstellen;
zur vollendeten Position des Stufengangs in der PHG bedarf es der Ü berwindung der Zeit-
Die „Vorrede“ wurde zwar chronologisch später als der Hauptteil der PHG geschrieben, dieses Werk ist
aber trotzdem – zumindest unter dem Aspekt des Rezipienten – der Darstellungsordnung nach (d. h. von der
„Vorrede“ bis zum Kapitel „Das absolute Wissen“) zu lesen. Daraus lässt sich erkennen, dass die „Vorrede“ als
vorläufige Bemerkungen hinsichtlich seines phänomenologischen Unternehmens bzw. dessen Ausführungen
aufzufassen ist.
110
125
Dimension. Das absolute Wissen des Geistes von sich, wodurch die obige logischbegriffliche Notwendigkeit als der in der Sache selbst immanente Logos selbst entdeckt wird,
folgt nämlich aus der Ü berwindung der Zeit-Vorstellung. Die denkerische Aufhebung der
Zeitlichkeit bedeutet zwar den Endpunkt des Bildungsprozesses Bewusstseins in der PHG,
aber sie ist nirgends als die Beendigung des geistigen Vollzugs, was geläufig als das Ende
der Geschichte ausgedrückt wird, zu erkennen. Aus der Vollendung des Geistes ergibt sich,
dass das endgültige Wissen des Geistes von sich nicht als seine einfache Introspektion
verstanden wird; denn das Wissen des Geistes besteht, soweit sein Wissen auch ein Wissen
ist, in seinem Verhältnis zum Phänomen und das absolute Wissen ergibt sich daraus, dass
die Gesamtheit der Kenntnisse, die das natürliche Bewusstsein hat, im Ganzen begriffen
wird. Der Schlusspunkt des Bewusstseins in der PHG ist also nicht einfach als eine
Endhaltstelle, in der der geistige Vollzug zu seinem Stillstand kommen würde, anzusehen;
hier fängt der absolute Geist wieder seinen Vollzug an, und zwar in der Form der BegriffsGestalt; die Weiterentwicklung des absoluten Geistes ist nämlich auf das System der
philosophischen Wissenschaft bezogen. Für das spekulative Wissen des Geistes ist die
Vereinigung zwischen der geistigen Intro- und Extrovertiertheit konstitutiv. Der Standpunkt
der Wissenschaft lässt sich aus der Darstellung dieser Vereinigung folgern. Hegel
veranschaulicht die Dialektik der geistigen Bewegung nicht durch eine eindimensionale
Linie, sondern durch eine runde, in sich geschlossene Linie (also den Kreis). Die
wissenschaftliche Entwicklung des Geistes ist nämlich „der in sich zurückgehende Kreis,
der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht“ (W3.585; 23).
Auf die Extrovertiertheit des Geistes hat bereits („1. Begriff und Geschichte“) die Dialektik
von Begriff und Geschichte Hinweise geliefert. Was den Bildungsprozess des Geistes in der
PHG (der abstrakte Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare Einheit mit sich selbst =>
seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich) betrifft, könnte man das zweite Moment der
Geistes-Bildung, d. h. die Entäußerung des Geistes, als die bloße Depotenzierung des
geistigen Wesens ansehen; aber der Entäußerungsprozess des Geistes muss vielmehr als die
gesamte Geschichte der geistigen Entfaltung ausgedrückt werden, in der sich der Geist sein
Wesen aneignet. Das Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand impliziert das
Verhältnis des Geistes zu sich selbst. Indem dieser Inhalt des absoluten Geistes explizit wird,
erreicht das Bewusstsein den wissenschaftlichen Standpunkt. Das Wesen des absoluten
Geistes findet man in der Ausführung seiner Offenbarung, in seiner gesamten Entäußerung.
111
Die Entäußerung des Geistes wird in dem letzten Kapitel „Das absolute
Wissen“ differenziert dargelegt. Die erste Entäußerung des absoluten Geistes wird von
Hegel wie folgt ausgeführt:
Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit, der Form des reinen Begriffs sich zu
entäußern, und den Übergang des Begriffs ins Bewußtsein. Denn der sich selbst wissende Geist,
eben darum, daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche
in ihrem Unterschiede die Gewißheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewußtsein, - der
Anfang, von dem wir ausgegangen [sind] (W3.589 f.).
Dieser erste Modus der Entäußerung betrifft nicht nur die Entäußerung des reinen Logos,
den Hegel in seiner Logik behandelt, sondern auch die wiederholte Betrachtung des (von der
„sinnliche[n] Gewißheit“ ausgehenden) erscheinenden Wissens. Aber dieser Ü bergang von
dem absoluten Wissen zu dem unmittelbaren Bewusstsein ist streng genommen keine
einfache Wiederholung, sondern quasi eine Rückwärtsbewegung, aus der (obgleich für uns
kein Fortschritt hinsichtlich der Wahrheitserkenntnis resultiert) nur für das Bewusstsein die
logische Grundlage für den Bildungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft aufgezeigt
wird. Dieser Zugang zu der Erscheinung vonseiten des Geistes impliziert „die höchste
Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich“ (W3.590). Wie bereits festgestellt, liegt
Hegels phänomenologisches Unternehmen darin, dass die Darstellung des erscheinenden
Wissens auf der begrifflichen Notwendigkeit beruht, sodass die Bewusstseinserfahrung unter
dem spekulativen Blickwinkel, d. h. wie sie für uns erscheint, erkannt wird. In der
Entäußerung der logischen Idee kommt das Bewusstsein selbst nun zur Einsicht, dass der
„hinter seinem Rücken“ (W3.80) liegende Logos im begreifenden Wissen eben durch seine
vollständige Erfahrung erreicht worden ist. Die logische Notwendigkeit, durch die die Reihe
der Bewusstseinsgestalten in eine Gedankenlinie integriert wird, hat sich aber schon aus der
vollständigen Erfahrung des Bewusstseins ergeben. Die logische Notwendigkeit setzt – der
Darstellungsordnung nach – die Erfahrung des Bewusstseins voraus, aber zugleic begründet
die erste – dem logischen Begriff nach – die zweite.
Aber nur mit diesem reduktiven Vollzug ist die Entäußerung des Geistes noch nicht
befriedigt. Der zweite Modus der Entäußerung betrifft das Seiende überhaupt, nämlich
dasjenige, was geschieht; um einen Zusammenhang mit diesem Geschehen zu herstellen,
muss der Geist seine „Grenze“ überschreiten.
112
Seine Grenze wissen heißt sich aufzuopfern wissen. Diese Aufopferung ist die Entäußerung, in
welcher der Geist sein Werden zum Geiste in der Form des freien zufälligen Geschehens darstellt,
sein reines Selbst als die Zeit außer ihm und ebenso sein Sein als Raum anschauend. Dieses
sein letzteres Werden, die Natur, [… d. h.] der entäußerte Geist, ist in ihrem Dasein nichts
[anderes] als diese ewige Entäußerung ihres Bestehens […]. Die andere Seite aber seines
Werdens, die Geschichte, ist […] der an die Zeit entäußerte Geist; aber diese Entäußerung ist
ebenso die Entäußerung ihrer selbst (W3.590).
Der Geist soll nämlich nicht nur sich wissen, sondern auch seine „Grenze“. Aus der
bewussten Einsicht in seine „Grenze“ ergibt sich, dass er, um sich über sie hinaus zu
erweitern, sie überschreitet. Der wissenschaftliche Standpunkt, den das Bewusstsein durch
seine vollständige Erfahrung erreicht hat, erlaubt es uns, „das wirkliche Spekulative“ (W3.61)
zu begreifen. Die Sache selbst existiert in der Form des zufälligen Geschehens. Das wirkliche
Erkennen dessen, was geschieht, entsteht durch das spekulative Wissen, nämlich dadurch,
dass der in der Sache immanente Logos begriffen wird. Damit die Sache selbst zu begreifen
sein kann, soll ergo die Entäußerung dessen, was das wirkliche Spekulative ist, vorausgesetzt
werden und die „Aufopferung“ des Geistes, aus der der Werdegang des Geistes zum
Seienden oder zum zufälligen Geschehens folgt, impliziert die fortschreitende Bewegung
des absoluten Geistes.
In diesem Vollzug des Geistes sieht Hegel den Zusammenhang des Geistes mit dem Raum
bzw. der Zeit. Diese beiden machen ein Geschehen zu dem zu begreifenden Seienden. Aus
dem Werdegang des Geistes zu dem Seienden im Raum ergibt sich die Natur, während „der
an die Zeit entäußerte Geist“ von ihm als die Geschichte bezeichnet wird.126 Der Geist soll
somit auf allumfassende Gebiete, d. h. auf die Sache selbst, wie die natürliche und die
geistige Welt, übergreifen; insofern betrifft diese Vorwärtsbewegung des Geistes eben die
Ausdehnung bis zu seinem Anderen, indem er es zu seinem Reich macht. Der
Zusammenhang des absoluten Geistes mit der natürlichen und geistigen Welt, also sein
Ü bergang in die Natur und in den (zunächst endlichen) Geist betrifft die „Wissenschaften
der Natur und des Geistes“ (W3.593), also die Realphilosophie, in der die Natur und der
Geist in die Realität der absoluten Idee eingegliedert werden.
Diese Auffassung spiegelt sich auch in dem folgenden Satz wider: „Die Weltgeschichte, wissen wir, ist also
überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt“ (W12.96).
113
126
Während die Natur grundsätzlich als der im Element der Räumlichkeit entäußerte Geist
gedacht wird, daher dieser Naturgegenstand keine Geschichte hat, lässt sich die Geschichte
als der Geist im Element der Zeitlichkeit verstehen. Aber Hegel denkt keinesfalls, dass der
Geist und die Natur nur voneinander unabhängig sind; die beiden sollen vielmehr in eine
Gedankenlinie integriert werden: in die Dimension des (natürlichen oder geistigen)
Weltgeschehens. Wie bereits in der Dialektik von Begriff und Geschichte konstatiert, ist in
der natürlichen und geistigen Welt die Existenzweise der logischen Idee dargestellt. Wie die
äußerliche Notwendigkeit als der „hinter dem Bewusstsein“ liegende Logos aufzufassen ist,
so muss auch die Natur aus der Perspektive der Zeitlichkeit in Betracht kommen, damit das
Nebeneinander von Dingen, die Entwicklungen des natürlichen Vorgangs usw. erklärt
werden können.127 Die Entfaltung des Geistes zu seinem Wesen vollzieht sich in Anlehnung
an die Zeitlichkeit, auf die sich die langfristige, aber eindeutig fortschreitende Bewegung
des Geistes stützt.
Aus der spekulativen Sicht, d. h. für uns, fallen die Entäußerung des absoluten Geistes und
die Erinnerung desselben nämlich miteinander zusammen. Die Er-Innerung des absoluten
Geistes wird auch als das „Insichgehen“ desselben bezeichnet.
In seinem Insichgehen ist er [= der absolute Geist] in der Nacht seines Selbstbewußtseins
versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene
Dasein – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt
und Geistesgestalt (W3.590).
Dieses introspektive Begreifen richtet sich vielmehr danach, die Existenz der Sache zu
betrachten, und zwar so, wie die Erscheinung ihrem Wesen gemäß ist. Daraus ergibt sich,
dass die Sache durch die geistige Betrachtung neu geboren ist; denn das Seiende, also das,
was schon geboren ist, ist dadurch neu geboren, dass der in diesem Seienden immanente
Logos begriffen wird.128
In seiner Naturphilosophie beginnt Hegel in diesem Zusammenhang eben mit der Lehre von „Raum und
Zeit“ seine Darstellung. Die Dimension der Zeit bildet nämlich mit der Räumlichkeit zusammen den
Anfangspunkt für die philosophische Betrachtung der Natur. W9, S. 41-60.
128
Hegels Gedanke, dass aus dem introspektiven Vollzug des absoluten Geistes, also aus der Er-Innerung
desselben, das Neu-Geborensein der Sache resultiert, wird in Darstellungen der Realphilosophie festgestellt.
Zum Beispiel schreibt er über die Schönheit, um die es sich bei der Kunstphilosophie handelt, „die
Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit“ (W13.14).
114
127
Die Entäußerung des Logos ist, soweit sie das spekulative Insichgehen des absoluten
Geistes ist, der Grund für das Neu-Geborensein von phänomenologischem, natürlichem und
geistigem Geschehen. In diesem Zusammenhang bemerkt Hegel die „Er-Innerung“ (W3.591)
im spekulativen Sinne. Aber das spekulative Insichgehen des Geistes ergibt sich aus dem
Beisichsein in seinem Anderssein. Die obige Kreisbewegung des Geistes impliziert „das
wechselseitige Ineinandergehen von Ent-Ä ußerung und Er-Innerung“.129 Daraus lässt sich
die vollständige „Offenbarung“ des absoluten Geistes beobachten (W3.591).
Die Reihe der Erinnerung des absoluten Geistes, die der obigen Reihe der Entäußerungen
desselben entspricht, wird in dem letzten Paragraf der PHG folgendermaßen ausdifferenziert:
Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die
Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen.
Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden
Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft
des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung
und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines
Throns (W3.591).
Aus der spekulativen Er-Innerung des absoluten Geistes ergibt sich also die zwei Modi
voraus: das (natürliche und geistige) Weltgeschehen und die wissenschaftliche Darstellung
des erscheinenden Wissens; den Grund dafür kann man folgendermaßen anführen:
1) Das erste historische Gebilde ergibt sich aus der Erinnerung des Geistes, und zwar nach
der Seite des „in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins“. Sie bedeutet alles, was
geschah, geschieht und sogar geschehen wird; die Geschichte ist also nichts anderes als das
Weltgeschehen oder die Gesamtheit der Phänomene in der Welt, die den Gegenstand der
philosophischen Spekulation ausmacht. Hier wird also neben der Natur auch die ganze
Abfolge von Gestalten des obigen an die Zeit äußerten Geistes (W3.590), d. h. die
„Geschichte“ abgedeckt.
Dies Werden [des an die Zeit entäußerten Geistes, also die Geschichte] stellt eine träge
Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit
dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil
129
Baptist (1998), S. 258.
115
das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat
(W3.590).
Die „Geschichte“ wird hier als Produkt der Arbeit des Geistes verstanden, seinen Begriff
vollständig auszuführen; diese Vollständigkeit macht den ganzen Reichtum des geistigen
Wesens aus. Diese „Geschichte“ liegt in einer noch umfassenderen Dimension als bloß die
Weltgeschichte oder Religionsgeschichte. Im geschichtlichen Werdegang des Geistes ist
jede
vorherige
Erfahrung
aufbewahrt,
also
nicht
verloren
gegangen.
„Das
Geisterreich“ (W3.591) besteht aus der Reihe dieser geistigen Gestalten, in denen der Geist
sich selbst erkennt.
2) „Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des
Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht“ (W3.593); die Darstellung der
geistigen Bildung lässt sich als die „Wissenschaft des erscheinenden Wissens“ verstehen, die
die Ontogenese des Geistes (d. h. den Werdegang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen
Standpunkt) und die Phylogenese des Geistes (d. h. den Werdegang des Weltgeistes zum
absoluten Wissen von sich) zu einem Ganzen zusammenschließt. Den allen
Bewusstseinsgestalten in der PHG entspricht die innere Notwendigkeit; aber aus der
Vollendung der wissenschaftlichen Darstellung des erscheinenden Wissens ergibt sich, dass
das absolute Wissen die äußere in die innere Notwendigkeit er-innert, damit das
philosophische
Subjekt
den
ganzen
Bildungsgang
des
Bewusstseins
in
jene
wissenschaftliche Ordnung bringen kann. Zu dieser „begriffenen Organisation“ bedarf man
eines auswählenden Vollzugs; denn die PHG ist nicht auf alles, was geschah, geschieht und
geschehen wird, sondern nur auf die Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes bezogen.
Die Geschichte in der PHG besteht folglich in der Form der „Abbreviatur“, in der „die
einfache Gedankenbestimmung“ (W3.34) um der wissenschaftlichen Betrachtung der
Erfahrungen willen betrachtet werden kann. In der Geschichte des WELTLICHEN GEISTES
wird deshalb die altorientalische Epoche (anders als in der „Philosophie der
Weltgeschichte“ aus dem wissenschaftlichen System) nicht behandelt und zur Religion
gehört z. B. überhaupt keine Thematisierung der römischen Religion, die in der Philosophie
der Religion von Hegel mit der „Religion der Zweckmäßigkeit“ bezeichnet wird. Denn die
Geschichte in der PHG ist unter Berufung auf die systematische Funktion der PHG konzipiert
und ausgeführt worden.
116
3) Wenn die „Geschichte“ als das zufällige Weltgeschehen (das „in der Form der
Zufälligkeit“ besteht) und die PHG als die „Wissenschaft des erscheinenden Wissens“ (das
in
die
„begriffen[e]
Organisation“
gebracht
worden
ist)
zu
einem
Ganzen
zusammengeschlossen werden, ergibt sich die spekulative Betrachtung des Weltgeschehens:
„die begriffene Geschichte“. Der Gegenstand dieser Betrachtung sind die Natur und der
Geist. Der wissenschaftliche Standpunkt, der durch die begriffene Organisation der
gesamten Bewusstseinserfahrung in der PHG entsteht, wird nun auf das Seiende überhaupt
angewandt; dadurch tritt die philosophische Betrachtung des natürlichen und geistigen
Geschehens überhaupt in den Vordergrund. Damit meint Hegel die spekulative Erkenntnis
der Natur und des Geistes, wobei es sich um das Begreifen des in der konkreten Sache
immanenten Logos handelt. Die ewige und unendliche Wahrheit der spekulativen
Philosophie darf nämlich nicht verkannt werden, als ob sie völlig von dem endlichen
Phänomen unabhängig wäre; denn das Unendliche als das Absolute ist keine bloße Antithese
des Endlichen noch eine einfache Abstraktion von der Zeit-Dimension wie die die
Geschichte transzendierende Ewigkeit, sondern ist in dem Weltgeschehen immanent, in dem
man eine ewige Aufeinanderfolge von Kontingenzen, wie sie in Wahrheit sind, begreift.130
In seiner Logik sagt Hegel, dass „es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder
im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung,
so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar […]
zeig[en]“ (W5.66). Seine These der ursprünglichen Einheit von Unmittelbarkeit und
Vermittlung lässt sich verstehen, indem man erkennen kann, wie die Sache neu geboren ist.
Alles, was anscheinend schlechthin da ist, kann de facto erst durch die wissenschaftliche
Betrachtung des absoluten Wissens erwiesen werden; was es eigentlich ist, das kann dadurch
exponiert
werden.
Was
aus
der
PHG
resultiert,
das
bildet
sozusagen
die
„Prinzipienwissenschaft“, 131 die die methodische Grundlage für die wissenschaftliche
Betrachtung
des
Weltgeschehens
überhaupt
oder
„[d]ie
reinen
Begriffe
der
Wissenschaft“ (W3.589) behandelt. Unter Anlehnung an die wissenschaftlichen Kategorien
wird der in der konkreten Sache immanente Logos begriffen.
Dazu vgl.: „Der Begriff der Ewigkeit muß aber nicht negativ so gefaßt werden als die Abstraktion von der
Zeit, daß sie außerhalb derselben gleichsam existiere; ohnehin nicht in dem Sinn, als ob die Ewigkeit nach der
Zeit komme; so würde die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht“ (W9.50).
Zu Hegels Ausführungen der spekulativen Auffassung des Unendlichen im Gegensatz zu der dualistischen
Einstellung (mit z. B. dem perennierenden Sollen oder dem Schlecht-Unendlichen benannt) vgl. W5, S. 125173.
131
Siep (2000), S. 255.
117
130
Der Geist erreicht nun seine völlige Freiheit, denn aus der völligen Entlassung seines
Daseins, d. h. aus seiner „Aufopferung“, ergibt sich vielmehr seine vollständige
„Offenbarung“ (W3.590 f.). Die „begriffene Geschichte“ wird von Hegel zu einem
heilsgeschichtlichen Vergleich herangezogen; sie ist eben „die Erinnerung und die
Schädelstätte des absoluten Geistes“ (W3.591), d. h. Golgota als Kreuzigungsstätte Jesu
Christi; denn hier erlitt dieser Gottmensch seinen tiefsten Schmerz, aber wir können uns auf
diesem Hügel umso tief blickender an den Begriff der Unendlichkeit erinnern, um das
göttliche Wesen philosophisch umzudeuten.
Diese Erinnerung impliziert den Zusammenhang des absoluten Wissens mit dem System
der philosophischen Wissenschaft, aber zunächst zur Logik. Hegel denkt, dass die PHG das
absolute Wissen zum Resultat hat, sodass die Logik das reine Wissen der Wissenschaft (also
das, was aus der PHG resultiert) voraussetzt. Aber zugleich denkt er, dass, weil der absolute
Begriff der Wissenschaft – für uns – dem Bewusstsein vorhergegangen ist, der reine Logos
„hinter seinem Rücken“ liegt. Um das Missverständnis zu vermeiden, dass dieser Gedanke
ein Zirkelschluss sei, soll man beachten, dass die „reinen Begriffe der Wissenschaft“ bei
Hegel nicht nur durch die Ent-Ä ußerung des absoluten Geistes, sondern auch die ErInnerung desselben entsteht. Das absolute Wissen bedeutet die Er-Innerung des absoluten
Geistes in sich selbst oder das Selbst-Erkennen des absoluten Geistes in seiner EntÄ ußerung. Hegels Logik, die die metaphysische Grundlage für die realphilosophischen
Gesamtdarstellungen bildet, lässt sich gleichnishaft als „die Darstellung Gottes“ ausdrücken,
und zwar „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen
Geistes ist“ (W5.44). Die von Gott erschaffene Welt, also alles, was geschah, geschieht und
geschehen wird, ist durch die begreifende Betrachtung neu geboren; das wirkliche
Spekulative ist nichts anderes als der zu begreifende Logos, der in der Schöpfung oder im
Geschehen immanent ist. Aber diese Selbst-Erinnerung des Geistes setzt die SelbstEntäußerung desselben voraus.
Mit dem Verständnis der Unendlichkeit des Geistes kann man den folgenden, letzten Satz
in der PHG, der ursprünglich auf Schiller zurückzuführen ist,132 erfassen:
[A]us dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit (W3.591).
132
Dazu vgl. GW9, S. 523f.
118
Weil für das begreifende Wissen die Vereinigung zwischen der Ent-Ä ußerung des absoluten
Geistes und der Er-Innerung desselben konstitutiv ist, kann man in jedem Gegenstand der
begreifenden Betrachtung die Unendlichkeit im Endlichen erkennen; alles, was das
philosophische Subjekt im Geistreich betrachtet, ist ein zu Begreifende, aber zugleich schon
ein Begriffenes.
Aus dem Obigen lässt sich der Zusammenhang zwischen Hegels Systematik und dem
Entäußerungs- oder Erinnerungs-Prozess des absoluten Geistes wie folgt tabellarisieren:
Die Ent-Äußerung des
Die Er-Innerung des
absoluten Geistes
absoluten Geistes
Natur und Geist: die
Sache der
wissenschaftlichen
Betrachtung
Das Werden des Geistes in der
Form des zufälligen Geschehens:
Natur und Geschichte
Nach der Seite des zufällig
erscheinenden Daseins: (die
Natur und) die Geschichte
Die Phänomenologie des
Geistes
Der Übergang (der Form des
reinen Begriffs) zur sinnlichen
Gewissheit
Die Wissenschaft des
erscheinenden Wissens
Die Realphilosophie:
die spekulative
Betrachtung der Natur und
des Geistes
Natur und Geist
(: das zu begreifende Geschehen)
119
Die begriffene Geschichte
4. Der selbstbewusste Geist als der neue Geist
Nun erblicken wir den Zusammenhang der Geschichtsdarstellung in der PHG mit Hegels
wissenschaftlichem System. Die PHG ist unter Anlehnung an ihre Geschichtlichkeit, die im
ganzen Hauptteil des Werkes zu durchschauen ist, mit dem System eng verwoben. Der
geschichtliche Gesamtablauf des natürlichen Bewusstseins ist nichts anderes als der Prozess
zur völligen Entfaltung des Wissenschaftsbegriffs, aus der das absolute Wissen des Geistes
resultiert. Der Standpunkt des absoluten Geistes oder der logischen Idee ergibt sich aus
diesem geschichtlichen Entwicklungsgang. Hegels phänomenologisches Programm, das
seinem Begriff der Wissenschaft gemäß verstanden werden soll, liegt also darin, aufzuzeigen,
dass die von ihm konzipierte Wissenschaft die Wahrheit auf der erneuerten Ebene behandelt.
Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System
derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft
näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches
Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt [habe]. […]. Daß die Erhebung der Philosophie
zur Wissenschaft an der Zeit ist, dies aufzuzeigen würde daher die einzig wahre Rechtfertigung
der Versuche sein, die diesen Zweck haben (W3.14).
Aus diesem wirklichen Wissen entsteht die Philosophie als die Wissenschaft und das
philosophische Subjekt erreicht das wirkliche Wissen dessen, was in der Tat ist. Hegels
Entwurf des wissenschaftlichen Systems der Philosophie ergibt sich aus seiner Ü berzeugung,
dass die Philosophie nunmehr in einer wissenschaftlichen Form steht. In diesem
Zusammenhang behauptet Hegel, dass man sich in einer ganz neuen Phase in Ansehung der
Gedankensgeschichte befindet.
Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs
zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens
gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit
seiner Umgestaltung (W3.18).
Durch seine Arbeit gestaltet sich der Geist nun ganz neu. Ü ber diese Umgestaltung schreibt
Hegel weiter.
120
Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen
Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und ebenso vielfacher
Anstrengung und Bemühung (W3.19).
Das Produkt dieses „neuen Geistes“ wird von Hegel eben als der selbstbewusste Geist, der
sich selbst als Geist weiß, bezeichnet. Der neue Geist bedeutet weltgeschichtlich den Geist
in der Neuzeit.
133
Wie die allgemeine Bildungsgeschichte des Geistes als der
Entwicklungsgang von dem einfach substanziellen Leben zu seinem Selbstbewusstsein
dargestellt wird, lässt sich die Genese des neuzeitlichen philosophischen Gedankens auch
als
die
Dialektik
von
Substanz
und
Subjekt
verstehen.
Wenn
man
diesen
philosophiegeschichtlichen Durchgang seit der frühen Neuzeit anhand von Hegels
Darlegungen im letzten Kapitel der PHG betrachtet, lässt sich Folgendes zusammenfassen:
Nachdem Descartes unter Anlehnung an das Prinzip des philosophischen Selbstbewusstseins
„die unmittelbare Einheit des Denkens und Seins“ (W3.586) konzipiert hatte, entwickelte
sich der philosophische Kerngedanke in der Neuzeit bis zum Gedanken Hegels; Spinozas
Konzept der „selbstlosen Substantialität“, Leibniz’ Behauptung der „Individualität gegen
sie“, die Auffassung der „Nützlichkeit“ in der Aufklärung, der radikale Vollzug um „der
absoluten Freiheit“ willen in der Französischen Revolution, Kants Bestrebungen, den
menschlichen „Willen“ in „seiner innersten Tiefe“ zu setzen, Fichtes Grundsatz der
Wissenschaftslehre als „Ich = Ich“, der nach Hegel aber nichts anderes als „die sich in sich
selbst reflektierende Bewegung“ ist, letztlich das „Absolute“ Schellings als „die absolute
Einheit“ von Inhalt und Reflexion, das jedoch nach Hegels Meinung de facto nur „das
inhaltsleere Anschauen“ ist, folgten nacheinander und daran schließt sich nun Hegels
wissenschaftliches System an (W3.587).
133
Es ist für Hegel klar, dass sich die Geschichte des Christentums mit der gesamten abendländischen
Geschichte (die von der römischen Welt ausgeht) deckt. Diese geschichtliche Zeitepoche bezeichnet er in seiner
Geschichtsphilosophie mit der christlich-germanischen Welt. Die germanischen Völker nennt er die „Träger
des christlichen Prinzips“; damit denkt er, dass in der christlich-germanischen Welt „ein vollkommen neuer
Geist“ oder „der freie Geist“ eingetreten ist. In dieser Epoche sieht Hegel die Triadik der nachrömischen
Geschichte, die er nach der christlichen Vorstellung folgendermaßen unterscheidet: das Reich des Vaters (bis
zu Karl dem Großen), das Reich des Sohnes (Mittelalter) und das Reich des Geistes (von der Reformation bis
zur Französischen Revolution). Diese Perioden unterscheiden sich Hegel zufolge in dem Verhältnis zwischen
dem Religiösen und dem Weltlichen; der Gegensatz zwischen der Kirche und dem Staat bildet nämlich das
Prinzip der zweiten Periode, während das Prinzip der dritten Epoche als die Versöhnung der beiden aufzufassen
ist. W12, S. 413-418.
Der neue Geist in der PHG ist also der Geist in der Neuzeit, den man erst nach der Reformation betrachten
kann, während jener vollkommen neue Geist in Hegels Geschichtsphilosophie der gesamten christlichgermanischen Welt zugeordnet ist.
121
Was die gedankliche Universalgeschichte der Menschheit betrifft, impliziert die
Entstehung des neuen Geistes, dass der Weltgeist in einen engen Zusammenhang mit dem
philosophischen Denken auf der neuzeitlichen Ebene gesetzt wird. Nun tritt das
philosophische Denken selbst als die höchste Gestalt des Gedankens in der Neuzeit auf.134
Der neue Geist wird in der Philosophie der Weltgeschichte von Hegel als das Produkt aus
dem neuzeitlichen gedanklichen Vollzug präsentiert, das aus der spekulativen Ü berlegung
des Geistes-Begriffs unter Anlehnung an das neuzeitliche Prinzip entdeckt wird.135 Seine
Grundeinsicht, dass die Philosophie nun die höchste geistige Gestalt ist, wird in seiner
Rechtsphilosophie so ausgedrückt:
Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was
das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre
Zeit in Gedanken erfaßt (W7.26).
In der Philosophie wird ihre Zeit dargestellt; man erfasst in dem philosophischen Gedanken
seine Zeit. Alle Bemühungen in dem enzyklopädischen System, wie die Betrachtung der
Naturphänomene, der Beschaffenheit der menschlichen Seele, des Prinzips unseres
Zusammenlebens oder der ganzen Geschichte des absoluten Geistes, beruhen auf diesem
begreifenden Wissen, das aus dem Werdegang des Bewusstseins resultiert.
Dazu vgl. „Nicht mehr in der Kunst, wie im Falle der schönen griechischen Sittlichkeit, und auch nicht
mehr in der Religion, wie im christlichen Mittelalter, sondern in der Form der Philosophie muß sich die
moderne Welt erkennen“. Brauer (1982), S. 185
135
Dazu vgl. W12, S. 491-540.
122
134
TEIL II: Die Hauptmomente fü r die Sittlichkeit in der
neuzeitlichen Welt: Moral und Religion
"[A]lles, was, außer dem guten Lebenswandel,
der Mensch noch tun zu kö nnen vermeint,
um Gott wohlgefä llig zu werden,
ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes"
- I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
123
A. Die Moral: das Moment der Versöhnung im Rahmen des
weltlichen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VI. C. Der seiner
selbst gewisse Geist. Die Moralität“
1. Hegels Begriff der Moral
Als der letzte Abschnitt im Kapitel „Geist“ tut sich „Der seiner selbst gewisse Geist. Die
Moralität“ auf. Die drei Gestalten in diesem Kapitel („Sittlichkeit“, „Bildung“ und
„Moralität“) haben Hegel zufolge ihrerseits „eigentliche Wirklichkeiten“ (W3.326). Diese
Substanz für das wirkliche Leben gilt dem Bewusstsein als eine bestimmte Gestalt in einer
(geschichtlichen) Welt. Die „Sittlichkeit“ wird der altgriechischen Welt zugeordnet, die
„Bildung“ der mittelalterlichen und neuzeitlichen Welt und die „Moralität“ der klassischen
Neuzeit; das moralische Bewusstsein ist nämlich von der unmittelbaren Wahrheit (in der
„Sittlichkeit“) her durch die Vermittlung der Selbst-Entfremdung (in der „Bildung“) bei der
absoluten Gewissheit von sich angekommen. In diesem Zusammenhang kann man einen
Blick auf die Entstehungsgeschichte der Moralität, die das höchste Niveau des WELTLICHEN
GEISTES
(der alle Bewusstseinsgestalten von dem Kapitel „Bewußtsein“ zum Kapitel
„Geist“ betrifft) aufrechterhält und zu dem RELIGIÖ SEN GEIST übergehen muss.
Dem sittlichen Bewusstsein in der antiken Welt erscheint die Grundlage für sein wirkliches
Leben als „das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“ oder als „der unverrückte und
unaufgelöste Grund und Ausgangspunkt des Tuns Aller“, aber dieses absolute Wesen ist
zugleich das „Werk“ jedes einzelnen Individuums, sodass das einzelne Bewusstsein die
Geltung der ethischen Normen in seinem Gemeinwesen anerkennt. (W3.325). Dafür ist
Antigone kennzeichnend, die fraglos die familiäre Pietät für das göttliche Sitten- und
Pflichtgebot hält. Der wahre Geist, die altgriechische Sittlichkeit, besteht also in der
unmittelbaren Ü berzeugung des Bewusstseins, dass sein Vertrauen zu seiner Substanz als
die ewige Wahrheit gelte. Seine Ü berzeugung davon, dass seine Welt mit ihm selbst versöhnt
sei, entpuppt sich jedoch als eine absolute, aber realiter einseitige Vorliebe, die sich aus
seiner reflexionslosen Gesinnung ergibt; der altgriechischen Gesinnung mangelt nämlich
noch der Standpunkt der subjektiven Freiheit. Sein unvoreingenommenes, aber unüberlegtes
Zutrauen zu seiner Substanz prägt sich als nur „ein bestimmter Geist“, der „nur einer der
sittlichen Wesenheiten angehört“ (W3.442). Die Wahrheit vonseiten des sittlichen
124
Bewusstseins basiert somit nur auf dieser Einseitigkeit bzw. Unwissenheit, indem das
Individuum bedenkenlos auf seine Substanz vertraut.136 Sein Dafürhalten gerät dadurch in
einen Konflikt zwischen verschiedenen Charakteren, sodass es im Kontrast zu dem anderen,
aber gleichberechtigten Widerpart stehen muss. Aus dem Untergang der sittlichen Welt
resultiert der römische „Rechtszustand“ (W3.355), in dem die Individualität der rechtlichen
Person jedoch noch im Gegensatz zu dem allgemeinen Gesetz steht.137 An die Schranke des
griechischen Sittlichkeit schließt sich also die folgende Aufgabe im Hinblick auf die
Bildungsgeschichte des Bewusstseins: Man soll diesen „entsittlicht[en]“ (W12.349)
Weltzustand überwinden.
Der sich entfremdete Geist („Bildung“) behandelt den Prozess der Befreiung von der
Entfremdung oder den Weg zur Freiheit. Das Individuum in diesem Abschnitt kommt aber
noch nicht zur Einsicht, dass seine vorgefundene Wirklichkeit in der Tat von ihm selbst
hervorgebracht wird. Weil seiner Persönlichkeit seine Welt als eine ihm fremde
entgegengehalten wird, beginnt das Individuum mit der „Zerreißung seines Selbsts und der
Wirklichkeit“ (W3.442). Der Geist der Entfremdung bemüht sich zwar sehr darum, seine
verlorene Wirklichkeit wieder einzuholen, aber sein Vollzug verursacht endlich „die höchste
Abstraktion“ (W3.441); diese äußerst abstrakte Ü bertreibung hemmt die Verwirklichung
seines freien Willens, sodass sie endlich zur „sich selbst zerstörenden Wirklichkeit“ (W3.441)
führt. Als ein Beispiel dafür bringt Hegel eine Analyse der Französischen Revolution vor,
dass
in
ihrem
Entwicklungsgang
der
Freiheitsanspruch
des
Subjekts
die
Menschenverachtung des jakobinischen Totalitarismus hervorbrächte.
Unter diesem Wahrheitsanspruch vonseiten des sittlichen Bewusstseins versteht Scheier (1986) „die
absolute Vergessenheit seiner vollständigen Vermittlung“. S. 443.
Während die tugendhafte Tätigkeit der Alten (für die Ö dipus charakteristisch ist) in der PHG noch nicht mit
dem moralischen Handeln zu bezeichnen ist, stellt Hegel in seiner Rechtsphilosophie, genauer im ersten
Abschnitt „Der Vorsatz und die Schuld“ innerhalb des Kapitels der „Moralität“ diese antike Tugend anhand
der Thematik der „Tat“ als das erste Moment für die Moralität dar. Die „Tat“ eines moralischen Subjekts ist
zunächst durch seinen „Vorsatz“ (der besagt: Diese Handlung ist die meinige), anschließend durch das
Verhältnis zu mannigfaltigen Umständen und endlich durch die „Schuld“, m. a. W. durch die
Zurechnungsfähigkeit, die das moralische Subjekt an der Auswirkung hat, gekennzeichnet. Die moralische
Handlung besteht darin, dass das handelnde Subjekt die Reihe der Umstände im Bezug auf sein Handeln im
Blick hat (obgleich es nicht in die Zukunft schauen kann), indem es den allgemeinen Zweck – sei es sein
eigenes Wohl oder das allgemeine Gute – beabsichtigt. W7, S. 215 ff.
137
Eine Stelle aus Hegels Kunstphilosophie vermag seinen Gedanken der römischen Welt, die der Periode des
Untergangs der sittlichen Welt zugeordnet wird, zu verdeutlichen: „Der Geist der römischen Welt ist die
Herrschaft der Abstraktion, des toten Gesetzes, […] das Zurückdrängen der Familie als der unmittelbaren,
natürlichen Sittlichkeit, überhaupt die Aufopferung der Individualität, welche sich an den Staat hingibt und im
Gehorsam gegen das abstrakte Gesetz ihre kaltblütige Würde und verständige Befriedigung findet. Das Prinzip
dieser politischen Tugend, deren kalte Härte sich nach außen alle Völkerindividualität unterwirft […], ist der
wahren Kunst[-Religion in der griechischen Welt] entgegen“ (W14.123 f.).
125
136
Indem das Bewusstsein aus der tragischen Wirklichkeit wieder in sich zurückkehrt, indem
es also in das „Land des selbstbewußten Geistes“ übergeht, so tritt die „in das
Selbstbewußtsein eingeschlossene“ (W3.441) Form des erscheinenden Wissens, also der
moralische Geist, auf; das moralische Subjekt stellt das Fürsichsein des Geistes in der PHG
dar. Während in der „Bildung“ des Geistes die Entfremdung hier nicht vollständig
überwunden werden kann, erreicht der seiner selbst gewisse Geist die absolute Gewissheit
von sich selbst. Weltgeschichtlich gesehen wird der moralische Geist der (Hegel
zeitgenössischen) klassischen Neuzeit, zu der der neuzeitliche Geist (der ihm zufolge von
der Reformation ausgeht) 138 gelangt, zugeordnet. Der Geist in der Neuzeit, dessen
Geschichte eben der Weg zur Aneignung der subjektiven Freiheit ist, erscheint in diesem
Abschnitt als die Autonomie des Subjekts.
Das moralische Bewusstsein nimmt an, dass „das reine Wollen und das rein Wollende“,
d. h. der allgemeine Wille und der einzelne Wille, miteinander eins werden. Was es weiß
und handeln will, das scheint für es bereits „seiner Wahrheit vollkommen gleich geworden
zu sein“ (W3.440 f.), wodurch die Diskrepanz zwischen seinem besonderen Grundmotiv
zum Handeln und dem Kriterium für dessen allgemeine Gültigkeit oder zwischen seinem
Ideal und der Wirklichkeit ausgeglichen ist. In diesem Zusammenhang stellt Hegel fest, dass
erst das moralische Subjekt seiner Sache Meister wird, mit anderen Worten, dass es nicht
nur über das ihm entgegengesetzte Objekt herrscht. Sein Wissen und die zu wissende
Wahrheit scheinen somit ihm miteinander eins zu werden. Daraus ergibt sich, dass das
moralische Subjekt seine Grundeinsicht geradezu für das absolut Gültige hält. „Das Wissen
des Selbstbewußtseins ist ihm also die Substanz selbst. Sie ist für es ebenso unmittelbar als
absolut vermittelt in einer ungetrennten Einheit“ (W3.441 f.). Das Bewusstsein ist sich,
indem es fest auf sich selbst vertraut, ganz von seinem Entschluss überzeugt. Nur in dieser
„individuelle[n] Ü berzeugung“ (W3.444) liegt die Annahme des moralischen Subjekts, dass
es sich selbst das Gesetz des moralischen Handelns geben soll. Die Moral besteht wesentlich
in der „subjektiven Freiheit“, die den gedanklichen Ansatzpunkt der „modernen Zeit“ für
Hegel – also in der neuzeitlichen Welt – ausmacht (W7.233); die Bestimmung der Freiheit
macht nämlich das weltgeschichtliche Prinzip in der Neuzeit aus.
138
In seiner Geschichtsphilosophie stellt Hegel fest, dass sich aus der Reformation die Umkehrung des
bisherigen Verhältnisses zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen, also die des Gegensatzes von Kirche
und Staat in die Versöhnung von den beiden, ergibt. Der wesentliche Inhalt der Reformation ist das religiöse
Gewissen des Menschen, das grundsätzlich Folgendes impliziert: „[D]er Mensch ist durch sich selbst bestimmt,
frei zu sein“. Mit der Reformation beginnt ihm zufolge die „neue Zeit“ oder die Neuzeit (von der Reformation
und Aufklärung bis zur Revolution). W12, S. 414-417; 491-497.
126
[Denn diese Bestimmung liegt darin, dass das Subjekt] nicht nur in der gegebenen Sitte und
Gesetzlichkeit, sondern in seinem eigenen Innern frei zu sein den Anspruch macht, insofern es
das Gute und Rechte aus sich selbst in seinem subjektiven Wissen sich erzeugen und zur
Anerkenntnis bringen will. Das Subjekt verlangt das Bewußtsein, in sich selbst als Subjekt
substantiell zu sein (W14.118).
Die Welt des moralischen Bewusstseins ist weder ein vorgefundenes Diesseits (wie bei der
„Sittlichkeit“) noch das denkunabhängige Jenseits (wie bei der „Bildung“, genauer bei dem
„Glauben“); bei dem sich selbst gewissen Geist handelt es sich um die Ü berzeugung, dass
sein Wissen „in seiner Substanz gegenwärtig“ (W3.442) sei. Im moralischen Geist ist seine
reine Gewissheit von sich selbst sein Gegenstand; er hält dafür, dass sein Wissen von sich
schon seine Wahrheit darstelle. Sein Bewusstsein ist daher mit seinem Selbstbewusstsein
bedeutungsgleich, denn sein Gesamtvollzug geht aus dieser Ü berzeugung von sich selbst
hervor. Bei dem Wissen des moralischen Bewusstseins geht es weder um sein Anderes im
Diesseits noch um sein Wesen im Jenseits, sondern darum, das Individuum und seine Welt
miteinander auszugleichen. Ü ber das Verhältnis des Geistes in der absoluten
Selbstgewissheit zu seiner Welt schreibt Hegel Folgendes:
Das absolute Wesen ist daher nicht in der Bestimmung erschöpft, das einfache Wesen des
Denkens zu sein, sondern es ist alle Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit ist nur als Wissen; was
das Bewußtsein nicht wüßte, hätte keinen Sinn und kann keine Macht für es sein; in seinen
wissenden Willen hat sich alle Gegenständlichkeit und Welt zurückgezogen. Es ist absolut frei
darin, daß es seine Freiheit weiß, und eben dies Wissen seiner Freiheit ist seine Substanz und
Zweck und einziger Inhalt (W3.442).
Dass sein Wissen nämlich das Absolute ausmacht, darin fühlt das moralische Bewusstsein
sich „absolut frei“. Die Autonomie des moralischen Subjekts besteht in seiner absoluten
Selbstgewissheit davon, dass seine Entscheidung als solche souverän sei. Darüber schreibt
Hegel in seiner Rechtsphilosophie Folgendes:
Das Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als
gut eingesehen werde und daß ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objektivität tretende
Zweck, nach seiner Kenntnis von ihrem Werte, den sie in dieser Objektivität hat, als rechtlich
oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde (W7.245).
127
Das Subjekt in der neuzeitlichen Welt nimmt an, dass es selbst zu allen seinen Vollzügen
eine Uneingeschränktheit haben könne. Dieses Charakteristikum des moralischen Geistes
qualifiziert sich für die höchste Gestalt des WELTLICHEN GEISTES. Im moralischen Gewissen
erreicht er seinen prägnantesten Ausdruck. Das Subjekt vollzieht mit Berufung auf seine
gediegene Ü berzeugung von sich seinen freien Willen.
Allein das moralische Subjekt kann nicht umhin, in den absoluten Gegensatz zwischen
dem Sein-Sollenden und dem wirklich Seienden zu stürzen. Es verfällt nämlich in folgende
Aporie: Sein Wille verwirklicht sich auf der dualistischen Annahme (Sein vs. Sollen) anders
als er eigentlich will. Die Hauptsache des moralischen Geistes ist die bloße „immanente
dialektische Bewegung der persönlichen Entscheidung“139, nicht etwa die Erörterung der
Institutionen oder des öffentlichen Geltungsbereichs. Der moralische Freiheitsanspruch des
Geistes stützt sich auf seine unumschränkte Herrschaft über seine Gegenstandsbezogenheit,
jedoch genauer gesagt auf die folgende Ü berzeugung: Aller Gegensatz zwischen dem
Wissen und der Wahrheit werde innerhalb seines Gedankens aufgelöst, sodass seine absolute
Freiheit nur in diesem gilt; die Gleichheit der Gewissheit mit ihrer Wahrheit geschieht nur
in dem Inneren des Subjekts. Der moralische Geist impliziert also eine Selbstrelation, und
zwar die Ü berzeugung des Subjekts davon, dass sein Objekt seinem Willen entsprechen
können solle. Daraus ergibt sich, dass jedes Subjekt einen eigenen Maßstab an seinem
moralischen Urteil legen muss; davon ausgehend denkt nämlich Hegel, dass die Moralität
grundsätzlich in der „Selbstbestimmung der Subjektivität“ (W7.199) besteht; „die so für sich
unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts
aus“ (W7.198). Obgleich man allerdings diesen Begriff der Moralität als den grundlegenden
Beleg für die subjektive Freiheit ansieht, bleibt der Gegensatz von Subjekt und Objekt
ständig unversöhnt übrig; sobald das Subjekt sich vornimmt, den moralischen Standpunkt
anzunehmen, gerät es Hegel zufolge in den Gegensatz zwischen dem Gedanken und der
Welt. Dieses fundamental unüberwindliche Hindernis kann von dem Subjekt nicht bewältigt
werden.
Die Freiheit des moralischen Subjekts setzt zwar voraus, dass das allgemein Gültige von
ihm selbst vollzogen werden soll, weil seine Pflicht schlechthin darin liegt, dieses allgemeine
(Moral-)Gesetz zu befolgen. Aber niemand weiß, welches in concreto das unbedingte Gute
ist, weil jedes Subjekt immer im Verhältnis zu besonderen Umständen steht. Weil das
139
Dooren (1976), S. 231.
128
Handelnde immer etwas Besonderes bezweckt, muss das moralisch gut gesinnte Subjekt die
folgende Frage stellen, was meine Pflicht ist (W7.251). Jeder will jedes Mal das allgemein
Gültige vollziehen, aber niemand kann das allgemeine Gesetz selbst vollziehen. Über „das
Abstraktum der Pflicht“ (W7.251) schreibt Hegel an der Stelle im Kapitel „Vernunft“, in der
er an die gesetzgebende Vernunft kritisiert, Folgendes: „Der Maßstab des Gesetzes, den die
Vernunft an ihr selbst hat, paßt daher allem gleich gut und ist hiermit in der Tat kein
Maßstab“ (W3.319). In der inneren Ü berzeugung des moralischen Geistes wird nämlich
schon die Notwendigkeit des Ü bergangs in die absolute Souveränität des Subjekts erwiesen.
Aus dieser Sichtweise behaupten Denker in der klassischen Neuzeit die absolute Autonomie
der praktischen Vernunft.
Wenn man die neuzeitliche Moralphilosophie im Vergleich zu Hegels Sittlichkeitsbegriff
betrachtet, kann der Gehalt der moralischen Weltansicht bei Hegel noch klarer verständlich
gemacht werden. Die „Sittlichkeit“ und die „Moralität“ sind etymologisch gesehen
sinnverwandt. 140 Hegels Vorgänger in der klassischen Neuzeit, wie Kant und Fichte,
verwendeten demgemäß die beiden Wörter deckungsgleich. Hegel will jedoch die
Sittlichkeit von der Moralität scharf absetzen. Diese Grundidee stellt er wie folgt fest:
Moralität und Sittlichkeit, die gewöhnlich etwa als gleichbedeutend gelten, sind hier in wesentlich
verschiedenem Sinne genommen. Inzwischen scheint auch die Vorstellung sie zu unterscheiden;
der Kantische Sprachgebrauch bedient sich vorzugsweise des Ausdrucks Moralität, wie denn die
praktischen Prinzipien dieser Philosophie sich durchaus auf diesen Begriff beschränken, den
Standpunkt der Sittlichkeit sogar unmöglich machen, ja selbst sie ausdrücklich zernichten [sic!]
und empören. Wenn aber Moralität und Sittlichkeit ihrer Etymologie nach auch gleichbedeutend
wären, so hinderte dies nicht, diese einmal verschiedenen Worte für verschiedene Begriffe zu
benutzen (W7.88).
Hegel sieht in der Moralität eine grundlegende Beschränktheit, d. i. den unüberbrückbaren
Riss zwischen der reinen subjektiven Seite (d. h. der Ü berzeugungsfreiheit) und ihrer
umgebenden objektiven Seite (d. h. der Geltung von Normen bzw. Institutionen). Mit der
moralischen Autonomie kann man dem Schicksal nicht ausweichen, dass der einzelne Wille
trotz seiner unverfälschten Gesinnung von seiner tatsächlichen Lebenswelt isoliert wird.
Die Sittlichkeit leitet sich von dem Ausdruck „Sitte“, der den „Gebrauch“, die „Gewohnheit“ usw. bedeutet,
ab. Die Sitte stammt von dem bedeutungsgleichen altgriechischen Wort ἦθος oder ἔθος. Die Moralität stammt
von dem lateinischen Synonym mos, das ebenfalls von dem zuvor genannten altgriechischen Wort abstammt.
Dazu vgl. W7, S. 302; Taylor (1979), S. 83; Ritter, Gründer u. Gabriel (Hg.), Bd. 6, S. 149 ff.; Bd. 9, S. 897 ff.
129
140
Hegels Sittlichkeitsbegriff, der mit der Lehre des sittlichen Staats bezeichnet wird, ist über
diese moralische Weltansicht hinausgegangen.
Obgleich man Hegels Position prima facie wohl als die bloße Konsequenz aus seinem
Erneuungsversuch im Rahmen der praktischen Philosophie in der klassischen Neuzeit
ansehen kann, ist sie auch ein Versuch, den Inhalt der sittlichen Gesinnung in der
antikgriechischen Welt auf der neuzeitlichen Ebene nachzusinnen. Aus diesem Grunde
bezweckt
Hegel
mit
dem
Sittlichkeitsbegriff
moralphilosophischen Standpunkts aufzuheben.
141
die
Schranke
des
vorherigen
Die konkrete Darstellung der
neuzeitlichen Sittlichkeit kann man in Hegels Rechtsphilosophie finden, aber der Begriff der
Moral in der PHG bildet m. E. eins der Hauptmomente für den Sittlichkeitsbegriff in der
Neuzeit.
Hegel setzt sich im ganzen Abschnitt „Moralität“ mit dem Standpunkt des moralischen
Geistes auseinander: sowohl mit der Ethik-Konzeption Kants und Fichtes als auch mit der
romantischen Gewissensbestimmung;142 seine Darstellung ist so gut durchdacht wie seine
intensive Beschäftigung mit der Mangelhaftigkeit der neuzeitlichen Weltansicht überhaupt.
Das handelnde Subjekt erlaubt keine Autonomie seiner gegenständlichen Wirklichkeit; es
zielt nur seinem Willen gemäß auf die Harmonie von Bewusstsein und Welt hin, aber seine
Bemühungen müssen für Hegel fehlschlagen. Als Grund gibt Hegel an, dass sich der
moralische Geist in ein „Selbstmißverständnis“143 verstrickt, durch das sich das moralische
Bewusstsein dualistisch verhält. Das Subjekt will seine Willensbestimmung restlos
vollziehen, aber die Reihe der wirklichen Umstände steht seiner Grundkonzeption im Weg,
da der Sachverhalt, den es antrifft, sich von dem erwarteten unterscheidet. Seine steten
Bemühungen sind zwar fehlgeschlagen; das moralische Bewusstsein strebt dennoch
andauernd danach, seine Schranke zu überwinden. Das Subjekt fordert nämlich von sich
selbst einen unendlichen Progress zur Selbstüberwindung. Diesen Standpunkt thematisiert
Hegel im Umfeld des „perennierenden Sollens“ (W7.253), das die Schranke der Moralität
darstellt.
Für Hegel bedeutet sein Terminus technicus „Aufhebung“ nicht bloß Negieren (einer Sache), sondern auch
Aufbewahren (ihres wahren Gehalts) und zugleich Emporheben (auf eine neue höhere Ebene). Dazu vgl. z. B.
W5, S. 113 ff.
142
Zu dieser Thematik vgl. Tillich (1995), S. 590; Jürgensen (1997), S. 206 f.; Prestel (1998), S. 123 ff.; Siep
(2000), S. 206.
143
Siep (2007), S. 16. Zu dieser Thematik vgl. noch Bitsch (1977), S. 195.
130
141
2. Die moralische Vor- und Verstellung
2.1 Die moralische Vorstellung
Die Freiheit des moralischen Subjekts besteht in seiner absoluten Ü berzeugung von sich. Es
liegt daher nahe, dass es vom axiologischen Standpunkt aus – vor allem betreffs des
Maßstabs, nach dem sein Handeln beurteilt werden soll – seine Willensäußerung als ein
unantastbares Recht im höchsten Maß ansieht; seiner Ü berzeugung nach ergibt sich dies
absolute Gesetz des moralischen Handelns ausschließlich aus seinem eigenen Vollzug.
Diese Autonomie des moralischen Geistes bedeutet zugleich seine absolute Herrschaft über
die von ihm vorgefundene Welt überhaupt. Sein reines Motiv zum moralischen Handeln
prägt sich somit als sein eigenes Urteil über das allgemeine Gute aus. Das Subjekt nimmt an,
dass es selbst nun mit seiner Substanz eins wird, sodass das Sein-Sollende ihm als das SeinKönnende erscheint, soweit das, was das Subjekt weiß und tun will, für allgemeingültig
gehalten wird. In diesem Zusammenhang bedeutet der Standpunkt des moralischen Subjekts
Folgendes:
Das Selbstbewußtsein weiß die Pflicht als das absolute Wesen; es ist nur durch sie gebunden,
und diese Substanz ist sein eigenes reines Bewußtsein; die Pflicht kann nicht die Form eines
Fremden für es erhalten (W3.442).
Das Subjekt des reinen Wissens ist davon, an die ihm nicht fremde Pflicht gebunden zu sein,
überzeugt. Insofern es seine Pflicht als das absolute Wesen ansieht, ist es restlos „in sich
selbst beschlossen“ (W3.442). Die moralische Pflicht wird von dem Subjekt schlechthin für
„reinen Zweck“ gehalten, weil sie nur „um der Pflicht willen“ (W3.445; 489) getan werden
soll. Das seinem moralischen Credo folgende Subjekt nimmt nur seinen eigenen Leitsatz an,
und zwar von den äußerlichen Umständen gänzlich befreit, sodass es sich frei fühlt. Hegel
setzt sich in Bezug auf die Freiheit des moralischen Geistes mit der Pflichtkonzeption. Für
diese ethische Pflichtenlehre ist vor allem Kants praktische Philosophie bezeichnend, die
Hegel im Abschnitt „Moralität“ eingehend behandelt. Hegel denkt, dass Kants Ethik darin
liegt, „die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht
herauszuheben“ (W7.252). Hegels Auffassung der moralischen Pflicht kann man nämlich
mit Kants Lehre von der Pflicht anhand der Analytik in der Kritik der praktischen Vernunft
verdeutlichen:
131
[Der moralisch handelnde Mensch] urteilet [sic!] also, daß er etwas kann, darum, weil er sich
bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische
Gesetz unbekannt geblieben wäre.144
Kant bestimmt die moralische Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft zum Prinzip der
Moralität; er geht von der Ü bernahme der Pflicht, die die Befreiung von jeglicher
Heteronomie impliziert, also von dem obigen „reinen Zweck“, aus. Der Begriff der Pflicht
und die moralische Autonomie nähern sich dem gleichen Punkt an, d. i. dem NotwendigkeitsBegriff im Bezug auf die Moralität; dieser Begriff liegt in der „Kausalität durch Freiheit,
und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur“, und zwar im Gegensatz zu der bloßen
Naturnotwendigkeit als „Kausalität der sinnlichen Natur“.145 Der Mensch erweist sich Kant
zufolge als ein moralisches Subjekt, indem er sich durch die Willensfreiheit, als
Autonomie146 der praktischen Vernunft bezeichnet, an das unbedingte Moralgesetz binden
will. Dieses Gesetz lässt sich als „ein Faktum der Vernunft“ 147 bezeichnen, das für das
Subjekt als das Unbedingte gilt. Ein kategorischer Imperativ148 gebietet ihm, moralisch gut
zu handeln und der moralische Mensch befolgt dieses Gebot durch seine bewusste
Entscheidung. Auf dem „Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das
[Moral-]Gesetz“
basierend,
bezweckt
das
Subjekt
„mit
Ausschließung
aller
Bestimmungsgründe aus Neigung“, d. h. „nur durch eigene Vernunft“ 149 seine absolute
Freiheit. Die vollkommene Freiheit hinsichtlich des moralischen Handelns bedeutet die
bewusste Annahme der Pflicht, mit der die Befreiung von der Heteronomie einhergeht. Aus
diesem Grunde definiert Kant die Pflicht als die „Notwendigkeit einer Handlung aus
Achtung fürs Gesetz“, m. a. W. als die „moralische Nötigung“150; das Gefühl der Achtung
für das Moralgesetz wirkt auf den Menschen so ein, dass nur die Pflicht seine moralische
Handlung bestimmt.
144
I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 140.
Ebd., S. 162. Zu dem Verhältnis der Kausalität aus Freiheit zur Natur-Kausalität vgl. die dritte Antinomie
der reinen Vernunft. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 4, S. 426-433.
146
Dazu vgl. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen
gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit,
sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“ I. Kant, Werkausgabe,
Bd. 7, S. 144.
147
Ebd., S. 141.
148
Das hier erwähnte Gesetz wird von Kant als das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ bezeichnet,
hauptsächlich mit diesem Leitsatz: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Ebd. S. 140. Vgl. noch S. 125 ff; 140 ff.
149
Ebd., S. 202.
150
Ebd., S. 26; 202; 206.
132
145
Was Hegels Auseinandersetzung mit kantischer Pflichtenlehre betrifft, muss man folgende
Punkte der kantischen Moralphilosophie beachten: 1) Die Pflicht soll von gar keinen
äußerlichen Motiven – sei es nach dem Naturgesetz (i. e. der Natur außerhalb des
menschlichen Wesens) oder nach der Neigung (i. e. der Natur innerhalb desselben) –
ausgehen; das moralische Bewusstsein handelt vielmehr „bloß um des Gesetzes willen“,
sodass sich das Handeln des Menschen nicht nur „pflichtmäßig“, sondern „aus Pflicht“151
oder aus dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz ergibt; die den Menschen zum
moralischen Handeln motiviert. 2) Dieses Gefühl gilt nur dem noch unvollkommenen
Vernunftwesen; hingegen sind jene äußerlichen Motive, d. h. die Sinnlichkeit, dem
allerhöchst-allervollkommensten Wesen, d. h. Gott, gar nicht hinderlich, denn das
Moralgesetz gilt diesem absoluten Wesen als das „Gesetz der Heiligkeit“, nicht als das der
Pflicht.152 Diese Bemerkungen erlauben uns wiederum zu folgern, dass Hegel aus diesem
Kontext Folgendes entnimmt: Weil es, insofern es Mensch ist, noch unvollkommen ist, kann
es sein Ziel überhaupt nicht vollständig erreichen, sondern es nimmt an, dass es nur dasselbe
tun können soll; insofern setzt die Moralität den Standpunkt „des Sollens oder der
Forderung“ (W7.206) voraus. Diese Formulierungen ermöglichen uns einen Ausblick auf
Hegels Auffassung der kantischen Ethik im Ganzen.
Das moralische Subjekt zielt darauf ab, mit seiner Substanz oder mit seinem moralischen
Endzweck eins zu werden. Aber sein Gegenstand gehört nur zu seinem Innern, das „rein von
dem Selbst durchdrungen ist“ (W3.443). Daraus lässt sich erkennen, dass seine Wirklichkeit
nicht auf es bezogen ist oder, dass sein Zweck noch nicht verwirklicht ist. Die hier
herausgestellte Dialektik des moralischen Geistes lässt sich den Denkmotiven in dem
vorigen Entwicklungsgang entnehmen. Wie zuerst in dem Abschnitt „Verstand“ die
Wahrheit über das Verhältnis des Verstandes zu der übersinnlichen Welt letztlich „das
Unterscheiden des nicht zu Unterscheidenden oder die Einheit des Unterschiedenen“ war,
aber diese Einheit eben wegen dieser Unterschiedlichkeit durch „ihr Abstoßen von sich
selbst“ (W3.139) von sich unterschieden wurde, so erweist sich das moralische Bewusstsein
dem Begriff gemäß als – nicht nur das sich auf sich beziehende unmittelbare, sondern
zugleich als – das sich von sich abstoßende Wissen, weil es die Reihe der Bewegungen der
„Vermittlung und Negativität“ (W3.443) erfährt. Wie das Subjekt zudem in dem Kapitel
„Selbstbewußtsein“ nach der abstrakten Identität mit sich an seiner absoluten
Selbstständigkeit festhalten wollte, aber sich noch nicht als absolute Selbstbezüglichkeit
151
152
Ebd., S. 203.
Ebd., S. 204.
133
vollziehen konnte, sondern auch die Selbstständigkeit des anderen Selbstbewusstseins
erfahren musste, so ist sich auch das moralische Subjekt der „Beziehung auf ein
Anderssein“ (W3.443) bewusst. Das moralische Bewusstsein ist also nichts anderes als seine
unmittelbare Gewissheit von sich, obgleich es in der Tat auf seine gegenständliche Welt
bezogen werden soll. Daraus ergibt sich Folgendes: Im Resultat aus dem Vollzug des
moralischen Geistes bleibt immer die Gegenstandsbezogenheit übrig, sodass der Prozess zur
Zielsetzung noch nicht vollendet ist.
Das moralische Subjekt, das sein Wissen für absolut hält, muss sich, um moralisch gut zu
sein, immer negativ zu seinem Gegenstand verhalten; es muss trotzdem auf ihn bezogen
werden, um diesen Widerspruch zu beherbergen.153 Diese Gegenstandsbezogenheit auf sich
selbst stellt seine Stellung in seiner Wirklichkeit dar. Wenn seine eigentlich ungetrübte
Vorstellung der Pflicht seine Außenseite von sich ausschließt und wirklich ausschließen
könnte, wäre seine Welt für das Bewusstsein nicht mehr relevant, da es hier kein
Wesentliches gäbe. Wenn das Subjekt meint, seine Welt ist vollkommen in sich beschlossen,
ist die ihm äußere Welt ebenfalls von ihm völlig unabhängig. Hierdurch entsteht aus dem
Freiheitsanspruch vonseiten des moralischen Subjekts die folgende Ironie: „[J]e freier das
Selbstbewußtsein wird, desto freier [wird] auch der negative Gegenstand seines
Bewußtseins“ (W3.443). Dass das moralische Subjekt seine Freiheit verlangt, bedeutet seine
eigene Selbstständigkeit von dem Anderen überhaupt. Das Bewusstsein kann trotzdem nicht
umhin, an seinem Anderen interessiert zu sein; das moralisch gut gesinnte Subjekt ist
keineswegs gleichgültig gegen seine Bemühungen darum, seine Autonomie in Tat und
Handlung zu verwirklichen. Aber sein Anderes ist auch so selbstständig wie es selbst. Diese
Außenseite, die dem Bewusstsein fremd ist, nennt Hegel die „Natur“.
[Der Gegenstand des moralischen Bewusstseins] ist hierdurch eine zur eigenen Individualität in
sich vollendete Welt, ein selbständiges Ganzes eigentümlicher Gesetze sowie ein selbständiger
Gang und freie Verwirklichung derselben, – eine Natur überhaupt, deren Gesetze wie ihr Tun ihr
selbst angehören, als einem Wesen, das unbekümmert um das moralische Selbstbewußtsein ist,
wie dieses um sie (W3.443).
Die „Natur“ hat Kant zufolge die Kausalität als ihr Gesetz. Der Freiheitsanspruch vonseiten
des autonomen Bewusstseins trifft nämlich mit der eigenen Selbstständigkeit dieser Natur
153
Dazu vgl. Bitsch (1977), S. 189; Jürgensen (1997), S. 206.
134
zusammen. Der Mensch muss die „Beziehung des moralischen Anundfürsichseins und des
natürlichen Anundfürsichseins“ (W3.443) voraussetzen, sodass er niemals von dieser
„Beziehung“ entbunden werden kann. Von dem moralischen Standpunkt aus liegt nämlich
das moralische Subjekt von vorneherein in der „Beziehung so ganz widerstreitender
Voraussetzungen“ (W3.443). Seine Einstellung zur Welt, die in der radikalen Vorbedingung
der grundlegenden Trennung von Subjekt und Objekt liegt, bezeichnet Hegel als „eine
moralische Weltanschauung“ oder „Weltvorstellung“ (W3.443; 464); das moralisch gut
gesinnte Subjekt ist nämlich auf seine „Welt“ bezogen.
2.2 Kants Lehre der Postulate der praktischen Vernunft
Um Hegels kritische Analyse der moralischen Weltanschauung oder -vorstellung im
Rahmen der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie genauer zu erfassen, ist es zunächst
nötig, sich mit der kantischen Thematik der Postulate der praktischen Vernunft154 kurz zu
befassen; denn Hegels Darstellung über die Postulate der moralischen Weltansicht beruht
im Grunde auf Kants Konzept, das Hegel aber meines Wissens mehr oder minder erneut.
Die Moral kann zwar mit der Autonomie der praktischen Vernunft oder mit der
Selbstgesetzgebung des subjektiven Willens selbstgenügend sein, aber dies verhält sich in
der Wirklichkeit nicht so. Das moralisch gut gesinnte Subjekt findet sich nicht endgültig
glückselig, insofern es nur in seiner inneren Freiheit bleibt. Der Mensch hat vielmehr die
Bestimmung dazu, zunächst den Endzweck der praktischen Vernunft, also die vollendete
Willensfreiheit, aber anschließend das ihr zugeschriebene Verdienst zu besitzen. Er ist
allerdings mitnichten in der Lage, den Zweck völlig zu erfüllen. Diese tatsächlich
unerreichbare, aber zugleich unverzichtbare Idee stellt eine ursprüngliche Schranke des
Menschen dar. Er muss daher ein Postulat annehmen, durch das dem Menschen ermöglicht
werden könnte, diese Idee zu erreichen.
In der Vereinigung der moralischen Vollendung mit dem ihr entsprechenden Verdienst
besteht der Zweck, den Kant „die Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit“155 nennt.
Anders als bei geläufigen – wie mathematischen – Verwendungen wird der Ausdruck des Postulats von
Kant im Umfeld der praktischen Philosophie als die „subjektive, aber doch wahre und unbedingte
Vernunftnotwendigkeit“ verstanden. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 140.
155
Ebd., S. 239. Dieser Begriff der Glückseligkeit ist darauf zurückzuführen, dass Aristoteles in der
Nikomachischen Ethik die Glückseligkeit als „eine Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen
Tugend“ ansieht. Aristoteles (1991), S. 127. Bei ihm ist nur mit der vollendeten Tugend die Glückseligkeit
135
154
Diese Einheit von beiden bedeutet also genauer den Zustand, in dem das moralisch freie
Subjekt mit der Vollendung seiner Tugend die Glückseligkeit erreicht. Dieses gelungene
Leben, das sich aus der Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit ergibt, ist nichts anderes
als der Endzweck seiner praktischen Philosophie, auf den der handelnde Mensch letztendlich
abzielt, d. h. „das höchste Gut“ 156 , das das Hauptthema der Dialektik in der Kritik der
praktischen Vernunft bildet. Dies ist bei Kant der erreichte Endzweck der praktischen
Vernunft, denn dieser Oberbegriff des moralischen Guten bedeutet „das Ganze, das
vollendete Gut“ 157 , d. h. die vollständige Verwirklichung der dem Subjekt zugehörigen
moralischen Vorstellung in seiner objektiven Welt. Wenn sich die moralische Gesinnung
völlig verwirklichen soll, so folgt, dass sie durch und durch bis zum externen Bereich gelten
soll; der Gedanke des höchsten Guts impliziert, dass die vollendete Tugend mit dem
vollkommenen Genuss der Glückseligkeit zusammenfallen soll. In diesem Zusammenhang
bezeichnet Hegel das absolute Gute, das das moralische Subjekt beabsichtigt, als „die
realisierte Freiheit“ (W7.243).
Das höchste Gut kontrastiert Kant mit dem „oberste[n] Gut“ 158 , um die verwirklichte
Moralität klar zu erläutern. Diese beiden machen die zwei Hauptmomente für den
moralischen Endzweck aus. Soweit die Tugend auf dem Moralgesetz beruht, besteht die
Vollendung der moralischen Gesinnung darin, „[die] Würdigkeit [zu erlangen] glücklich zu
sein“ 159 ; weil diese Glücks-Würdigkeit von dem Menschen für am erstrebenswertesten
gehalten werden soll, bezeichnet sie sich als „die oberste Bedingung“ für den menschlichen
Vollzug, d. h. als das oberste Gut.160 Der Zustand des obersten Guts bedeutet gleichsam nur
die Glückswürdigkeit des Menschen. Das oberste Gut würde nur dann entstehen, wenn der
Mensch der ihm auferlegten moralischen Pflicht völlig nachkommen könnte. Aber der
Mensch ist zu dieser völligen Befolgung des moralischen Gesetzes nicht fähig, sofern er
einesteils ein vernünftiges, aber anderenteils ein bloß sinnliches, von der Neigung
abhängiges Lebewesen ist. Dieser vollendete Moralzustand ist daher eine Idee außerhalb der
Grenze der menschlichen Tugend, denn er könnte sich nur aus der Heiligkeit (des absoluten
Wesens) ergeben. Die vollendete Tugend oder das oberste Gut bildet also das erste Moment
für das höchste Gut. Dieses Postulat setzt einen weiteren Punkt voraus; denn, um der
erreichbar, aber bei Kant überhaupt nicht.
156
I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 239.
157
Ebd., S. 239.
158
Ebd., S. 238.
159
Ebd., S. 239.
160
Ebd., S. 238. Die Moralität ist in diesem Zusammenhang „nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich
machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen.“ S. 261.
136
vollständigen Verwirklichung des moralischen Gesetzes willen, d. h. damit sich der Mensch
seinem Ideal der Vollkommenheit nähern könnte, soll ihm also auch die Unsterblichkeit der
Seele161 vorausgesetzt werden.
Nur mit der vollendeten Tugend oder der Glückswürdigkeit des Menschen, um deren
willen er die Unsterblichkeit der Seele annimmt, kann gleichwohl noch nicht auch die
Glückseligkeit garantiert werden; der Mensch kann nämlich seinen Endzweck nicht
erreichen, nur wenn er nur bei der Errichtung der Glückswürdigkeit bleibt. Auch wenn man
das oberste Gut erringen könnte, wäre die Glückseligkeit dem Menschen nicht zu
gewährleisten, denn man kann in keiner Weise feststellen, dass die vollendete Tugend direkt
die Glückseligkeit verursacht. Ü ber die Glückseligkeit, das zweite Moment für das höchste
Gut, sagt Kant Folgendes: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens, dem
es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruhet also auf der
Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke“.162 Weil der Mensch ihm selbst
diese Ü bereinstimmung nicht garantieren kann, ist es nötig, eine von der Naturkausalität
unabhängige Welt, zu der nur das ganz intellektuelle Subjekt gehört, vermittelst des
Postulats der Freiheit163 anzunehmen und auch das Postulat des Daseins Gottes164 als des
vollkommenen Welturhebers aufzustellen.
Diese Postulate sind bei Kant die Forderungen, die für den moralischen Endzweck
unumgänglich sind; für die Denkbarkeit des höchsten Guts sind die folgenden Postulate
Dazu vgl.: „Da sie [= die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz] indessen
gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden
Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, […] Dieser unendliche Progressus ist aber
nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben
vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich.“ Ebd., S. 252.
162
Ebd., S. 255.
163
Dazu vgl.: „Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin
kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört: so ist die Vorstellung
derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur
nach dem Gesetze der Kausalität unterschieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst
Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum
Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich
unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungsweise
auf einander, gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i.
transzendentalen Verstande. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum
Gesetze dienen kann, ein freier Wille.“ Ebd., S. 138.
164
Dazu vgl.: „Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur,
welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Ü bereinstimmung der Glückseligkeit mit
der Sittlichkeit, enthalte, postuliert. […] Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute
vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der
Natur ist, d. i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt)
zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes. […]
da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht
unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.“ Ebd., S. 255 f.
137
161
aufzustellen: 1) die Unsterblichkeit der Seele (d. h. die psychologische Idee), 2) die Freiheit
(d. h. die kosmologische Idee) und 3) das Dasein Gottes (d. h. die theologische Idee).165
2.3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung
Das moralische Subjekt nimmt an, dass seine Pflicht nur „um der Pflicht willen“ (W3.489)
erfüllt werden soll. Dieser allgemeine Leitsatz kann aber nicht vollkommen verwirklicht
werden, weil sich diese beiden Momente seiner Pflichterfüllung, also das Moment der
Allgemeinheit (als des Grundsatzes des moralischen Handelns) und das der Besonderheit
(als des einzelnen Falls desselben), gegenseitig widersprechenden. Das Bewusstsein hält
sich an seine moralische Einstellung, immer wenn es seine Absicht in seiner Wirklichkeit
realisiert, und zwar darauf abzielend, dass sein einzelnes Handeln in der Wirklichkeit dem
allgemeinen Moralgesetz entspricht. Indem das Bewusstsein die ihm auferlegte Pflicht für
„das reine unvermischte Ansich“ 166 hält, bezweckt es zu gleicher Zeit die „Einheit des
reinen und einzelnen Bewusstseins“ (W3.452; 445), d. h. die Verwirklichung der reinen
Pflicht. Das Bewusstsein kann jedoch die Kluft zwischen der Allgemeinheit und der
Besonderheit nicht überbrücken, sondern steht im Widerstreit zu der harten Wirklichkeit.
Darüber schreibt Hegel Folgendes:
[Das moralische Bewusstsein] erfährt, daß die Natur unbekümmert darum ist, ihm das
Bewußtsein der Einheit seiner Wirklichkeit mit der ihrigen zu geben, und es also vielleicht
glücklich werden läßt, vielleicht auch nicht. Das unmoralische Bewußtsein dagegen findet
vielleicht zufälligerweise seine Verwirklichung, wo das moralische [Bewusstsein] nur
Veranlassung zum Handeln, aber durch dasselbe nicht das Glück der Ausführung und des
Genusses der Vollbringung ihm zuteil werden sieht (W3.443 f.).
Dazu vgl.: „Das erste [Postulat] fließt aus der praktisch notwendigen Bedingung der Angemessenheit der
Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes; das zweite aus der notwendigen
Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens,
nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt, d. i. der Freiheit; das dritte aus der Notwendigkeit der Bedingung
zu einer solchen intelligibelen Welt, um das höchste Gut zu sein, durch die Voraussetzung des höchsten
selbständigen Guts, d. i. des Daseins Gottes“. Ebd., S. 264.
166
Es geht im Kapitel „Vernunft“ (genauer im Abschnitt „Die gesetzgebende Vernunft“) um dieses
„Ansich“ als solches, das Hegel aber im Kapitel „Geist“ eingehend thematisiert, indem er aufzeigt, wie dieses
„Ansich“ in der Weltgeschichte realisiert worden ist. Dazu vgl. Siep (2000), S. 206.
138
165
Das Bewusstsein erfährt nämlich, dass sich die Einheit zwischen seiner Vorstellung und
seiner Welt „zufälligerweise“ verwirklichen lässt. Das moralische Subjekt kann trotzdem
„nicht auf die Glückseligkeit Verzicht tun und dies Moment aus seinem absoluten Zwecke
weglassen“ (W3.444); dem Menschen wird die Hoffnung auf diese Glückseligkeit zur
obersten Aufgabe, deren Erledigung von ihm gefordert wird. Also wird „ein ganzer Kreis
von Postulaten“ (W3.445) in der Entwicklung der moralischen Weltansicht mit folgenden
drei fortlaufenden Momenten zusammen geöffnet: der Zweck als die Pflichtverwirklichung,
die Erfahrung über sein Scheitern und letztlich die wiederholte Forderung der
Verwirklichung.
Der Begriff der Pflicht, die dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz folgt, ist Kant
zufolge schon ein ausreichender Grund für die vollendete Tugend; weil die Pflicht nur um
ihrer selbst willen erfüllt werden soll, nimmt das Subjekt an, dass seine moralische
Gesinnung für die Glückswürdigkeit reicht. Aber die Pflicht soll realiter verwirklicht werden;
das moralische Bewusstsein bezweckt mit seinem Handeln eo ipso die konkrete und
vollendete Verwirklichung des allgemeinen Gesetzes, sodass sich die vollendete Erfüllung
seiner Pflicht ereignen soll. Ü ber diesen Standpunkt schreibt Hegel Folgendes: „[D]ie
Harmonie der Moralität und der Glückseligkeit ist gedacht als notwendig seiend, oder sie ist
postuliert“ (W3.445). Diese Bezeichnung ist auf Kants (im letzten Abschnitt erwähnten)
Gedanken der „Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit“ zurückzuführen, der direkt
auf das höchste Gut bezogen ist. Aus seiner Postulierung des Endzwecks ergeben sich die
drei Postulate. Also macht die Forderung der praktischen Vernunft tatsächlich den
Grundgedanken der Moralität aus, der für das Ideal des höchsten Guts von Kant relevant ist.
Um seine grundlegende Forderung zu erfüllen, stellt das moralische Subjekt die Reihe der
Postulate auf. In diesem Zusammenhang versucht Hegel den Begriff der „Natur“ zu
verdeutlichen.
Die Natur ist nämlich nicht nur diese ganz freie äußerliche Weise, in welcher als einem reinen
Gegenstande das Bewußtsein seinen Zweck zu realisieren hätte. Dieses ist an ihm selbst
wesentlich ein solches, für welches dies andere freie Wirkliche ist, d. h. es ist selbst ein Zufälliges
und Natürliches. Diese [innere] Natur, die ihm die seinige ist, ist die Sinnlichkeit, die in der Gestalt
des Wollens, als Triebe und Neigungen, für sich eigene bestimmte Wesenheit oder einzelne
Zwecke hat, also dem reinen Willen und seinem reinen Zwecke entgegengesetzt ist (W3.445).
139
Wenn der moralisch gut gesinnte Mensch also „die Harmonie der Moralität und der
Natur“ (W3.445) bezweckt, gehört die Natur, auf die seine moralische Vorstellung bezogen
ist, nicht allein der objektiven Welt; sie ist auch in ihm selbst. In diesem Sinne kann man das
erste Postulat mit der Harmonie des Bewusstseins mit seiner äußeren Natur betiteln und im
Gegensatz dazu das zweite als die Harmonie desselben mit seiner inneren Natur.167 Hegel
stellt den Zusammenhang von beiden folgendermaßen dar:
Das erste Postulat war die Harmonie der Moralität und der gegenständlichen [d. h. ganz freien
äußerlichen] Natur, der Endzweck der Welt; das andere die Harmonie der Moralität und des
sinnlichen Willens, der Endzweck des Selbstbewußtseins als solchen; das erste also die
Harmonie in der Form des Ansich-, das andere in der Form des Fürsichseins (W3.447).
Während das erste Postulat die Entsprechung der moralischen Vernünftigkeit mit der
Naturkausalität ist, besagt das zweite, dass die Neigung des Menschen überwunden sein soll.
Das erste besteht darin, dass die Willensfreiheit des Subjekts dem objektiven Weltzustand
entsprechen kann; das zweite besagt, dass seine absolute Unabhängigkeit von der
Sinnlichkeit erreichbar ist.
Das erste Postulat (also der Endzweck der Welt) entspricht dem kantischen Postulat der
Freiheit (d. h. der kosmologischen Idee). Man könnte wohl sagen, das zweite Postulat (also
der Endzweck des Selbstbewusstseins) entspreche Kants Postulat der Unsterblichkeit der
Seele (d. h. die psychologische Idee), das für die Denkbarkeit des obersten Guts
unumgänglich ist. Aber die (hier von Hegel formulierte) zweite Forderung der moralischen
Weltansicht steht m. E. vielmehr im Widerspruch zur Position Kants, was das Verhältnis der
Vernunft (oder Pflicht) zur Sinnlichkeit (oder Neigung) betrifft. Kant sieht den Willen des
moralisch gut gesinnten Menschen als das absolut Gute an 168 , und zwar unter der
Voraussetzung, dass es ohne den guten Willen keine gute Handlung gebe. Die Moral beruht
Kant zufolge ausschließlich auf dem Vernunftwesen in dem Noumenon; die moralische
Tugend liegt nur in der Pflicht aus Vernunft, die von der Neigung scharf zu unterscheiden
ist. Hingegen geht es im Endzweck der Selbstbewusstseins, in dem zweitem Postulat Hegels,
um ein anderes: die Pflicht und die Neigung sollen als ein und dasselbe angesehen werden.
167
Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 235-238.
Dazu vgl.: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7,
S. 18.
140
168
Das heißt: „Beides, das reine Denken und die Sinnlichkeit des Bewußtseins, sind an sich ein
Bewußtsein“ (W3.445).
Gemäß dieser Forderung soll der Gegensatz von reinem Willen und natürlichen Trieben
entschärft werden, denn die beiden gehören zu ein und demselben Bewusstsein. Die
Forderung, dass das reine Denken und die sinnliche Willkür an sich einem Bewusstsein
zugehören, wird allerdings entgegen der Position Kants dadurch herbeigeführt, dass man die
beiden einheitlich betrachtet. Dieser Punkt impliziert, dass Hegels Thematik der Postulate
neben Kants praktischer Philosophie auch die Auseinandersetzung mit den Lehren von
anderen Denkern (vor allem Schiller und Fichte) im Rahmen der Ethik in sich enthält.169
Aus der Erwartung der Identität von beiden Momenten ergibt sich das Postulat des
moralischen Subjekts, das den Ü bergang von „dem gewußten Gegensatze beider“ zur
„wirkliche[n] Einheit“ oder verwirklichten Moralität besagt (W3.446). Daraus ergibt sich,
dass die moralische Pflicht nicht als eine bloße Nötigung gilt, weil die absolute
Selbstständigkeit des moralischen Subjekts in seiner freien Wahl besteht.170
169
Als ein Repräsentant dieser Tendenz, d. h. der einheitlichen Betrachtung, hat Hegel insbesondere Schiller
vor Augen. W7, S. 233. Schiller sieht die moralische Tugend als die Verbindung von Pflicht und Neigung an;
denn „der Mensch soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen“. Das absolute Gebot der Pflicht bewirkt für
Schiller das Gefühl des Abscheus, solange es in der Unterdrückung des sinnlichen Triebes besteht. Um Kants
asketische Tendenz zu kritisieren, konzipiert Schiller das wahre Menschenbild der „gesamten Menschheit“, zu
dem er in seiner Schrift Ü ber Anmut und Würde Folgendes darlegt: „Tugend ist nichts anders »als eine Neigung
zu der Pflicht«. Wie sehr also auch Handlungen aus Neigung und Handlungen aus Pflicht in objektivem Sinne
einander entgegenstehen, so ist dies doch in subjektivem Sinn nicht also, und der Mensch darf nicht nur,
sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen. […] In
der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon
zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und
mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“ F. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 299 f;
Bd. 5, S. 464 f.
Die obige Harmonie zwischen reinem Denken und sinnlicher Willkür herzustellen, ist auch die Hauptaufgabe
von Fichte, die er insbesondere mit dem Interesse an der Ethik lösen wollte. Hegel diagnostiziert offenkundig,
dass die Philosophie von Fichte die Schranke der subjektivistischen Tendenz berherbergt, indem er wie bei F.
Schlegel dem Fichteschen Standpunkt der absoluten Gewissheit von der Ichheit die sog. romantische
„Ironie“ zuschreibt. W7, S. 285 f. u. W13, S. 93 ff. Aber Hegel schätzt Fichtes Leistungen deswegen hoch, weil
Fichte die im bloßen Allgemeinen immanente Negativität als das spekulative Prinzip der begriffsnotwendigen
Entwicklung erblickt. W7, S. 53. In diesem Zusammenhang kann man m. E. die zweite Harmonie in Bezug auf
Fichtes ethisches Programm mit betrachten. Fichtes System der Sittenlehre (von 1798) handelt davon, dass sich
unter der Vorbedingung der Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen absoluten Ich und dem
Selbstbewusstsein das Bewusstsein durch den folgenden „Mechanismus“ entwickelt: die „absolute Identität
des Subjects und Objects im Ich“ => „Trennung beider“ => Hervorbringung der „Vereinigung“. Vgl. auch:
„Mein Trieb als Naturwesen, meine Tendenz als reiner Geist, sind es zwei verschiedene Triebe? Nein, beides
ist vom transscendentalen Gesichtspuncte aus ein und ebenderselbe Urtrieb, der mein Wesen constituirt: nur
wird er angesehen von zwei verschiedenen Seiten. Nemlich, ich bin Subject-Object, und in der Identität und
Unzertrennlichkeit beider besteht mein wahres Seyn.“ Beides besteht nämlich „in einem Wesen, das absolut
Eins seyn soll“. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 1; 130 f.
170
So kann man in gewissem Sinne denken, dass sich diese Forderung der Vernunft nach folgender Einsicht
darstellt: Metz (2006) ist unter Anlehnung an Fichtes System der Sittenlehre (von 1798) der folgenden
Auffassung: „Die Freiheit als Autonomie ist nur da im Element der Wahl-Freiheit, ohne mit dieser identisch zu
sein“. Dieser Punkt sei durch die Thematik des Zusammenhangs von der (aus der moralgesetzlichen
Notwendigkeit hervorgegangenen) Freiheit (als Autonomie oder absolute Selbstbestimmung) und der
141
Auch Hegel erblickt in Kants Konzept das folgende Problem: Das moralische Bewusstsein
kann den Gegensatz zwischen der Vernunft und der Sinnlichkeit nicht auflösen, sofern seine
Sinnlichkeit als sein Anderssein betrachtet wird; dann würde trotz der ursprünglichen Einheit
von beiden die Bemühung um ihre Hervorbringung vielmehr nur zum „Aufheben“ der
Sinnlichkeit führen, indem das Subjekt seine Sinnlichkeit unterdrücken soll, damit „die
Sinnlichkeit der Moralität gemäß sei“ (W3.446). Vom moralischen Standpunkt aus soll die
Sinnlichkeit zu dem Moralgesetz gehören, aber aus der vollendeten Tugend würde sich die
unterdrückte Sinnlichkeit ergeben. Das moralische Bewusstsein setzt gleichwohl das
Moment der Sinnlichkeit voraus, sofern seine Weltansicht in seinem Verhältnis zu seinem
Anderssein besteht, obgleich sich das Bewusstsein negativ zu seinem Gegenstand verhält;
insofern beherbergt der Begriff der vollendeten Moralität den folgenden Widerspruch: Das
Subjekt muss, um seine Pflicht zu erfüllen, seine innere Natur negieren. Obgleich das
moralische Bewusstsein die reine Pflicht als sein absolutes Wesen ansieht, führt diese
Ansicht dazu, dass diese Pflicht ihm unwirklich zu sein scheint. Daraus lässt sich also folgern:
Die Vollendung der praktischen Vernunft ist „ins Unendliche hinauszuschieben“, denn ihre
„absolute Aufgabe“ muss „in der dunklen Ferne der Unendlichkeit“ (W3.446 f.) bleiben.171
Das Bewusstsein bezweckt mit der Verneinung der Sinnlichkeit sein Ziel zu erreichen;
dennoch steht es für immer in der Disharmonie von Pflicht und Neigung; trotzdem kann es
aber nicht darauf verzichten, sich seinem Ziel dauernd anzunähern.
Die Pflicht und die Neigung sind in Wirklichkeit noch gegeneinander abgetrennt. Das
moralische Bewusstsein will jetzt die zwei obigen Postulate, also den Endzweck der Welt in
der Form des Ansichseins und den Endzweck des Selbstbewusstseins in der Form des
Fürsichseins, verbinden. Diese Vermittlung kann durch „die Bewegung des wirklichen
Handelns selbst“ (W3.447) entstehen. „Die hierdurch entstehenden Postulate enthalten, wie
vorher nur die getrennten an sich und für sich seiende Harmonien [enthielten], jetzt an und
für sich seiende“ (W3.447 f.). Hegel denkt nämlich, nur bei dem wirklichen Handeln gehe
es um diese Vermittlung. Im dritten Postulat kann das moralische Bewusstsein durch diesen
Begriff der Handlung auf die Vielfältigkeiten des wirklichen Daseins bezogen werden.
(produktiven bzw. schöpferischen) Reflexion (als Wahl- oder Willkürfreiheit) zu erläutern. S. 23-30. Die
absolute Autarkie des moralischen Subjekts thematisiert Hegel im Rahmen des Gewissens eingehend.
171
Fichte denkt, dass „absolute Freiheit, absolute Unabhängigkeit von aller Natur“ nämlich „ein unendlicher
nie zu erreichender Zweck“ sei. Also geht es ihm um die „Aufgabe“, „anzugeben, wie gehandelt werden müsse,
um jenem Endzwecke sich anzunähern.“ Fichte, a. a. O., S. 131.
142
Das moralische Bewußtsein ist als das einfache Wissen und Wollen der reinen Pflicht im Handeln
auf den seiner Einfachheit entgegengesetzten Gegenstand, auf die Wirklichkeit des
mannigfaltigen Falles bezogen und hat dadurch ein mannigfaltiges moralisches Verhältnis
(W3.448).
Dieses Verhältnis stellt die Trennung zwischen dem Bewusstsein (als der einfachen
Gesinnung) und der Wirklichkeit (als der Mannigfaltigkeit der konkreten Fälle) dar. Es hält
die vielen konkreten Pflichten in Bezug auf seine wirkliche Handlung für geringer als die
reine Pflicht aus dem kategorischen Imperativ Kants, da ihm nur diese Pflicht als absolutes
Wesen gilt. Hingegen müssen jene konkreten Pflichten in der Vielfalt der Wirklichkeit und
in dem dadurch mannigfaltigen Verhältnis des moralischen Bewusstseins zu seiner Welt
liegen – man könnte aber vielmehr denken, dass dieses Verhältnis unbedingt erforderlich ist
–, weil wir dann nach konkreten Vorschriften auf die jeweiligen Umstände irgendwie
reagieren müssen. Statt jener beeinträchtigten reinen Pflicht, doch zugleich auch statt dieser
vielen bestimmten Pflichten, muss das moralische Subjekt einen moralisch an und für sich
seienden Grund suchen, seine bestimmten Handlungen in seiner konkreten Wirklichkeit zur
Geltung zu bringen; dieser Grund würde gleichwohl anderswo als bei sich selbst liegen.
Es ist also postuliert, daß ein anderes Bewußtsein sei, welches sie [= die vielen Pflichten] heiligt
oder welches sie als Pflichten weiß und will (W3.448).
Hier kommt das dritte Postulat, das von Hegel entworfen und formuliert ist, zum Vorschein:
Während das moralische Bewusstsein viele konkrete Fälle von sich ausschließen will, indem
es sich vorsetzt, nur die reine Pflicht anzunehmen, will das hier geforderte andere
Bewusstsein die „Beziehung auf das Handeln und die Notwendigkeit des bestimmten
Inhalts“ in sich einschließen, damit diesem Bewusstsein die vielen bestimmten Pflichten als
solche gelten, sodass „das Allgemeine und das Besondere schlechthin eins ist“ (W3.448).
Nunmehr fordert das Bewusstsein die Harmonie der Moralität und Glückseligkeit; das
höchste Gut liegt nur im Bewusstsein. Dieser moralisch an und für sich seiende Grund ist
aber kein menschliches Bewusstsein, sondern im ganz denkerischen Sinne „ein Herr und
Beherrscher der Welt“, der sowohl die reine Pflicht wie viele bestimmte Pflichten
„heiligt“ (W3.449). In diesem Zusammenhang lässt sich das Dasein (des an und für sich
seienden) Gottes als das letzte Postulat erheben.
143
Der moralisch gesinnte Mensch zielt darauf ab, die reine Pflicht ganz und gar zu
vollbringen; jedoch gehört diese Pflicht streng genommen nicht zu ihm selbst, sondern zu
einem anderen Wesen, das als „der heilige Gesetzgeber der reinen Pflicht“ (W3.449)
bezeichnet wird. Daraus folgt, dass es auf der einen Seite das „Gelten der Pflicht als des an
und für sich Heiligen“ gibt, wogegen das „unvollkommne“ moralische Bewusstsein auf der
anderen Seite steht (W3.449). Aber dieses Bewusstsein will über seine Schranke
hinausgehen. Seine Unfähigkeit, eigenen Forderungen nachzukommen, ist die Ursache für
die Vorstellung über den Gnadenakt Gottes.172
Um seiner [Glücks-]Unwürdigkeit willen kann es [= das moralische Bewusstsein] daher die
Glückseligkeit nicht notwendig, sondern als etwas Zufälliges ansehen und sie nur aus Gnade
erwarten. (W3.450).
Dieses Bewusstsein ist in Wirklichkeit der Glückseligkeit unwürdig, da seine Tugend nicht
in der Lage ist, seine innere Natur, die Sinnlichkeit, zu beherrschen; seine Glückswürdigkeit
wird gefordert, aber nicht erreicht. Daher wird auch postuliert, dass es um seiner
ursprünglichen Unwürdigkeit willen die Glückseligkeit nur auf die Gnade Gottes hoffen
kann. Der moralisch gesinnte Mensch denkt, es könne trotzdem wenigstens in seinem reinen
Denken, also in der Bewusstheit über die reine Pflicht, glückswürdig sein. Es versteht sich
in Kants Aussicht schon von selbst, dass sich das moralische Bewusstsein darum bemüht,
festzustellen, ob die Realisierung des moralischen Endzwecks wirklich vollendet werden
kann. Es will auf die Glückseligkeit als das Resultat dieser Handlung nicht verzichten. Die
Folge davon ist, dass auch das moralisch unvollkommene Bewusstsein die Glückswürdigkeit
verlangen darf und dass die Glückseligkeit ihm mit Recht zum Verdienst anzurechnen ist.
Das Moralbewusstsein ist trotz seiner wirklichen Unwürdigkeit der Glückseligkeit deshalb
würdig, weil es kraft des guten Willens der Gnade würdig ist. Daraus kann man schließen,
dass das dritte Postulat mit dem religiösen Glauben (das Hegel mit der „Religion der
Moralität“ bezeichnet) (W3.496) eng verwoben ist.
172
Dazu vgl. Schick (2009A), S. 290; Halbig (2008), S. 492.
144
2.4 Die Schranke der moralischen Vorstellung
Dem moralischen Bewusstsein gilt sein wirklicher Zustand – sei es die äußere oder die innere
Natur – streng genommen als „das Nichtmoralische“ (W3.450). Aber dieser reine Begriff
der moralischen Pflicht zeigt sich in Wirklichkeit auch als ein besonderes Bewusstsein, das
einer besonderen Pflicht gehorcht. Diese vollständige Einzelheit des wirklichen
Bewusstseins führt zu einer Gegenstellung zu dem, was das moralische Subjekt ursprünglich
beabsichtigte; daraus ergibt sich, dass auch das Subjekt als „das Nichtmoralische“ erwiesen
wird, weil es sein Endziel nicht völlig erreichen kann. Der Mensch ist insofern in der Tat
„das unvollkommne moralische Bewußtsein“ (W3.449). Wer die reine Pflicht und ihre
Wirklichkeit miteinander vereinigen kann, der wird von dem Bewusstsein als das Absolute
gedacht; diese Bezeichnung Gottes als des Absoluten folgt aus dem obigen dritten Postulat
des moralischen Bewusstseins.
Allein die mit dem dritten Postulat bezweckte moralische Vollkommenheit geschieht nur
„in der Vorstellung des absoluten Wesens“ (W3.450), das dem Bewusstsein vollkommen
scheint. Im ersten Postulat ist das geforderte Sein nicht in der Vorstellung des Bewusstseins
enthalten, sondern es liegt außerhalb derselben. Im zweiten erfährt das für sich seiende
Bewusstsein von der ewigen Verschiebung seiner Vollendung. Nun liegen die reine Pflicht
und die Welt in der Vorstellung von Gott als dem an und für sich seienden Wesen. In der
Vorstellung von dem Dasein Gottes hält das moralische Bewusstsein sogar seine objektive
Wirklichkeit, die pflichtwidrig war, für (moralisch) vollkommen; das Bewusstsein sieht
seine Gedankenwirklichkeit als reale Wirklichkeit an. Allerdings stehen das moralische
Bewusstsein und seine Wirklichkeit in der moralischen Weltansicht wesentlich im
widerstreitenden Verhältnis zueinander. Das Subjekt bemüht sich zwar darum, seine
Schranken zu überwinden, und es erreicht endlich in der Vorstellung von dem absoluten
Wesen seinen Höhepunkt. Hier entsteht jedoch erneut die folgende entscheidende Schranke
für das Subjekt: Es kann in seiner moralischen Vorstellung seinen eigenen Begriff nicht
erreichen; daher besteht seine höchste Bestimmung nicht in sich selbst. Dem reinen
Bewusstsein ist in der Wirklichkeit „der Gegenstand seines wirklichen Bewußtseins noch
nicht durchsichtig“, weil es bei jenem reinen Bewusstsein nur um einen „abstrakte[n]
Gegenstand“ im Namen der reinen Pflicht geht (W3.451); das moralische Bewusstsein
„verhält sich also nur denkend, nicht begreifend“ (W3.451). Mangels des begreifenden
Wissens, das von Hegel als das absolute Wissen bezeichnet wird, geschieht die grundlegende
Einheit des Bewusstseins mit seinem Gegenstand gar nicht. Dieser entscheidende Mangel
145
zeigt auf, dass der Gegenstand des moralischen Bewusstseins im Grunde ein Resultat der
äußerlichen „Verbindung des Seins und des Denkens“ oder „ein seiender [Gegenstand], der
zugleich nur gedacht“ (W3.451) ist; sein Denken liegt eo ipso in den vorstellenden
Gedanken.173
Diese Form des vorstellenden Wissens setzt sich bei dem moralischen Bewusstsein durch;
in seiner Vorstellung entwickelt sich die Dialektik der moralischen Vor- und Verstellung
folgendermaßen: 1) Das moralische Subjekt sieht zunächst in seiner konkreten Handlung
nur die der Pflicht entsprechende Wirklichkeit als seinen Zweck an; nur sein unverfälschtes
Wissen macht seinen Gegenstand aus, den das wirkliche Bewusstsein für den Endzweck hält.
Das moralische Bewusstsein sieht seine Wahrheit als Harmonie von Moralität und
Wirklichkeit an; es nimmt an, dass es in Wirklichkeit diese Harmonie gibt. Das wirkliche
Bewusstsein bezweckt nämlich mit seinem guten Willen die ganze Verwirklichung seines
Wesens. 2) Aber diese Vollendung beruht nur auf seiner Vorstellung; es erfährt nämlich,
dass ihm noch die Wirklichkeit als sein Anderssein entgegensteht. 3) Es fordert somit das
Absolute, d. h. denjenigen Begriff, „der die Macht über den Gegenstand als solchen
hat“ (W3.452), die nichts anderes als sein Anderssein ist.
Was dem wirklichen Bewusstsein hiermit übrig bleibt, ist „die Nichtharmonie des
Pflichtbewußtseins und der Wirklichkeit“ (W3.452); „es gibt kein moralisch vollendetes
wirkliches Selbstbewusstsein“ (W3.452). Das moralische Bewusstsein bemüht sich, der
reinen Pflicht vollständig angemessen zu sein. Die Wirklichkeit versagt schon dem
Bewusstsein die vollendete Moralität; das moralische Bewusstsein muss deshalb in die
Aporie geraten, wo sich zwei jeweils gültige Gesetze – d. h. es gebe ein moralisches
Bewusstsein und es gebe zugleich keines – einander entgegengesetzt sind. Daraus lässt sich
Folgendes
erkennen:
Um
diese
widerstreitenden
Urteile
zu
schlichten,
wird
notwendigerweise noch ein Subjekt, das die Moralität vollenden könnte, gefordert, dieses
Wesen ist jedoch jenseits des wirklichen Bewusstseins. Nur in der moralischen Vorstellung
des Bewusstseins kann dieses Subjekt wirklich sein.
In diesem Kontext lassen sich unter dem Wort „Vorstellung“ beide Intentionen verstehen, die allerdings
eigentlich miteinander in Verbindung stehen. Die eine bedeutet nämlich, dass beide heterogene Elemente
unvollkommen miteinander gemischt werden. In diesem Zusammenhang verwendet Hegel den Ausdruck der
Vorstellung als den der „synthetische[n] Verknüpfung des selbstbewußten und des äußeren Daseins“; als „die
synthetische Verbindung des Allgemeinen und Einzelnen oder das Vorstellen“. Die andere bedeutet, dass der
Gegenstand der Vorstellung jetzt nicht mehr sinnlich-äußerlich ist, jedoch noch nicht zu begreifen ist. Dazu
vgl. z. B.: „[D]ie Vorstellung [ist] noch die unüberwundene Seite, von der er [= der Geist] in den Begriff
übergehen muß“. W3, S. 531; 503. Daraus lässt sich feststellen, dass die Vorstellung ein unvollkommenes
Denken über die Synthesis ist, denn das vorstellende Wissen bedeutet noch nicht die begriffliche Einsicht
darüber, was ein Gegenstand ist.
146
173
Es wird hierdurch der erste Satz, daß es ein moralisches Selbstbewußtsein gibt, hergestellt, aber
verbunden mit dem zweiten, daß es keines gibt, nämlich es gibt eines, aber nur in der Vorstellung;
oder es gibt zwar keines, aber es wird von einem andern [also von Gott] doch dafür gelten
gelassen (W3.452).
Das moralische Bewusstsein als Träger des reinen Zwecks zeigt sich in seinem wirklichen
Handeln vielmehr als ein wirklich Unvollkommenes. Der Mensch ist unvollendet, weil er
erstens von seiner objektiven Welt oder seinem sinnlichen Trieb auf gar keinen Fall
unabhängig sein kann, und weil es zweitens immer in konkreten Umständen, d. h. in
vielfältigen moralischen Beziehungen gefangen ist, wo es sogar in ratloser Situation eine
Entscheidung treffen soll, durch die es gleichwohl in Verlegenheit geraten könnte.
2.5 Der vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung: Verstellung
Das moralische Bewusstsein will das Moralgesetz durch sein Handeln realisieren; kraft
seiner moralischen Zielsetzung braucht das Bewusstsein nämlich über seinen Gegenstand
nicht hinauszugehen, weil seine Welt nur in seinem Inneren ist. Aber das moralische Subjekt
erfährt, dass es jenseits seiner Grenze etwas gibt, was seinem Willen entgeht; sein Endziel
des moralischen Vollzugs – mit Kants Formulierungen das Ideal des höchsten Guts – ist
nichts anderes als ein „Gedankending“ (W3.462), d. h. die bloße Gedankenwirklichkeit. Der
moralische Mensch fordert die Existenz Gottes; dieses absolute Wesen besteht aber ebenfalls
nur in der Gedanken-Welt, denn dieser Begriff des Absoluten gründet sich auf die dem
moralischen Subjekt eigene Weltansicht, sodass das Absolute nicht vom moralischen
Subjekt unabhängig ist.
Eine moralische Zielsetzung wird geradewegs an eine andere Stelle verrückt; dadurch wird
ihre Gegenstellung völlig widerlegt. Jede Setzung steht demnach jeweils in Opposition zu
einer anderen Stellung. „Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes
als die Ausbildung dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen
Seiten“ (W3.453). Daraus leitet Hegel her, dass die Postulate des moralischen Subjekts
zusammen mit einer Reihe von Widersprüchen aufkommen. Wenn man auf die Dialektik
147
der moralischen Weltansicht zurückblickt, verschafft diese Rückschau uns m. E. eine
Gesamtsicht über die folgende Reihenfolge der Entwicklung:
Setzung: Das Bewusstsein verharrt auf seiner reinen Vorstellung der Pflicht; diese
Vorstellung gilt ihm als sein Zweck, weil es von der Gediegenheit seiner Haltung ganz
überzeugt ist. Das Subjekt nimmt diese Zielsetzung als das schlechthin allgemein Gültige an.
Entgegensetzung: Allerdings ist die Eigenständigkeit der unverfälschten moralischen
Gewissheit sogleich beeinträchtigt und verschwommen. Das moralische Subjekt erfährt
mithin, dass seine anfängliche Einstellung vereitelt wird.
Aufeinanderfolge von wiederholten Setzungen und deren Misserfolg: Das moralische
Bewusstsein muss seine Ansicht zunichtemachen, um von Neuem einen anderen Versuch zu
unternehmen; es legt nun die zweite Position aufs Neue fest, nachdem es die erste völlig
umgestoßen hat. Jedoch muss sogar diese neue Stellung wieder zerstört werden; jeder
erneute Versuch hat nämlich keinen Erfolg. Es wird also erwiesen, dass die Reihe der
Unternehmungen des moralischen Bewusstseins vergebens ist. Sein unabwendbares
Schicksal ist nämlich, dass es in der Tat keine endgültige Position geben kann; alle
Setzungen müssen vielmehr gegeneinander kämpfen. Seine Stellungen sind überdies
geradezu betrügerisch, weil es bei allem Versuch immer schon weiß, dass es eigentlich gar
keine aufrichtige Haltung gibt.
Das Bewusstsein setzt einen Moment fest, aber geht sogleich zum andern über; dadurch
wird das erste aufgehoben. Sobald es nun das zweite aufstellt, verstellt es auch dasselbe
wieder. Zugleich ist es sich dieser Situation auch bewusst, denn es geht von der Setzung zu
der Entgegensetzung über. Damit bekennt aber das Bewusstsein, dass es ihm in der Tat mit
keinem derselben Ernst ist. Diese Festsetzung ist auf sein Gegenteil bezogen, sodass der
Widerspruch im ersten Moment, das keine Realität mehr hat, ihm bewusst ist. Das Subjekt
geht zu jenem entgegengesetzten Moment über und macht dasselbe aufs Neue zu seiner
Hauptsache, indem es das erste aufhebt. Es behauptet jetzt, dass die zweite Aufstellung das
Wesentliche sei. Die Reihenfolge dieser Entwicklungen ist zum Scheitern verurteilt.
Die Zielsetzung eines Subjekts steht geradewegs vor dem ihr entgegengesetzten Moment.
Das Bewusstsein kann aber diese sich einander entgegengesetzten Momente nicht einheitlich
begreifen; es kann den Widerspruch in ihm selbst gar nicht auflösen, sondern es flüchtet
immer vor demselben. Es bleibt ihm nun nichts anderes übrig, als  nur um von diesmaliger
Befangenheit abzuweichen  anders gesinnt zu sein, wodurch diese Gesinnung dennoch
148
wiederholt mit einem anderen Dafürhalten kollidieren muss. Diese willensschwache und
selbstbetrügerische Haltung nennt Hegel die „Verstellung“ (W3.453).
Mithilfe dieser Thematik intendiert Hegel die Demaskierung der moralischen Vorstellung,
indem er ihre Schranken und auch ihre vorsätzliche Selbsttäuschung aufzeigt. Hegels
Grundgedanke lässt sich folgendermaßen darstellen:
Die moralische Vorstellung liegt in der Kette der Verstellung.
Das Subjekt, das sich jenes Widerspruchs bewusst ist, versucht demselben zu entgehen,
obwohl es in eine andere Stellung zu gelangen versucht. Aus dieser anderen Einstellung
erfolgt ein Ü bergang zu dem ihr entgegengesetzten Moment, in dem darauf hingezielt wird,
die Nichtigkeit des ersten Moments durch die Realität des zweiten zu ersetzen. Aber es tut
dies nicht, sondern verhüllt den Blick auf seinen Grund für diese Widersprüchlichkeit. Seine
Angst vor der Wahrheit verdeckt sogar seine Einsicht in diese Situation. Mit der Ausnahme
seiner Ernsthaftigkeit täuscht es sich, indem es die Absicht hat, die eigene tatsächliche
Unernsthaftigkeit vor sich zu verstecken. Die Bewusstheit über seine Tatsache, die
Unfähigkeit zum Begreifen des wahren Grundes und die Furcht vor dem Urgrund: So sind
die Ursachen der moralischen Verstellung. Und die Veränderung seiner Stelle (VerStellung), die Flucht vor der Wahrheit und Verdeckung dieses Tatbestandes: So sind die
Momente
der
verstellenden
Bewegungen.
Das
Bewusstsein
beabsichtigt
die
Entgegensetzung des ersten Moments, weil es für das Bewusstsein keine Realität mehr gibt.
Mit diesem Ü bergang ist zwar gemeint, dass der ideellen Abstraktheit des ersten Momentes
das Reelle verschafft wird. Aber dieses Unterfangen ist eine vortäuschende Forderung; denn,
damit das Bewusstsein die Wesenheit eines Moments behaupten kann, muss das moralische
Bewusstsein die Wesenheit des entgegengesetzten Moments behaupten.174
Aus dem Obigen kann man eo ipso die Schlussfolgerung ziehen, dass die bewusste
Verstellung als der jeweilige vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung erscheint. Das
Bewusstsein flieht vor Tatsachen in sich zurück und findet hier seine Realität. Hegel führt
in diesem Kontext das doppeldeutige Wort „vorgeben“175 an; er denkt, dass die von dem
Nach der Auffassung von Schmidt hat das Wort verstellen drei verschiedene Nuancen: „(1.) an einen
anderen Ort stellen, (2.) verdecken und (3.) […] Heucheln“. In Hegels Darstellungen „ist das um zu in (3) die
finale Erläuterung des weil in (2), und beide erläutern die nur faktische Entgegensetzung in (1).“ Schmidt
(1997), S. 251.
175
Dazu vgl. z. B.: „Das Wort vorgeben kann, nach den beiden Bedeutungen von vorgeben, zweifach gelesen
149
174
verstellenden Bewusstsein behauptete Wahrheit realiter „eine vorgegebene“ (W3.464) ist.
Das Bewusstsein gibt nämlich vor, dass eine Wahrheit vor sich vorhanden ist. Aber dies ist
eine Irreführung, weil es hier etwas, was nicht Tatsachen entspricht, als Grund vorgibt. Ü ber
diese „Verstellung der Sache“ (W3.456) schreibt Hegel Folgendes:
Es müßte sie [= seine Vorstellung] noch immer für seine Wahrheit ausgeben, denn es müßte sich
als gegenständliche Vorstellung aussprechen und darstellen, aber wüßte, daß dies nur eine
Verstellung ist; es wäre hiermit in der Tat die Heuchelei (W3.464).
Dadurch, dass das Bewusstsein die „Welt der Verstellung“ beibehalten will, entsteht diese
Heuchelei 176 , die auch als Reihenfolge der „schwindelnden Bewegung“ (W3.464; 454)
bezeichnet wird. In diesen wiederholten Schwindeleien (Betrügereien) leidet das
Bewusstsein nämlich unter Schwindel (Taumel).
Hegel analysiert diese Heuchelei, und zwar in Rückblick auf den oben dargestellten Inhalt
der moralischen Weltanschauung überhaupt. Die Verstellung des moralischen Bewusstseins
lässt sich im Hinblick auf die obigen („2. 3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung“)
Postulate wie folgt resümieren:
<Verstellung im ersten Postulat>
In Bezug auf die Annahme, dass es in Wirklichkeit ein moralisches Bewusstsein gibt, legt
Hegel kritisch die Verstellungen des ersten Postulats (d. h. des „Endzweck[s] der Welt“ oder
der „Harmonie der Moralität und der gegenständlichen Natur“) (W3.447) dar.
Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Die Harmonie der Moralität mit der äußeren Natur
wird bezweckt. => Dem wirklichen Bewusstsein erscheint aber diese Harmonie nicht. =>
Das Bewusstsein, das seinen moralischen Zweck verwirklichen will, wird als ein bloß
einzelnes entpuppt, sodass seine Vorstellung der Glückseligkeit ebenfalls auf seine
Besonderheit beschränkt wird. => Kraft dieses Mangels gibt es keine seinem Zweck
angemessene Wirklichkeit, obgleich (zwecks jener Harmonie) das Endziel des Handelns
verwirklicht werden soll. Daraus ergibt sich, dass das Bewusstsein dieses Postulat nicht ernst
werden: als (1.) zuvor vorhanden und (2.) vorgetäuscht.“ Ebd., S. 264.
176
Die „Heuchelei“ bedeutet buchstäblich die Verstellung oder Vortäuschung. Die heuchlerische Handlung ist
charakteristisch für die moralische Weltansicht. Diese Charakter wird im „Gewissen“, und zwar in Bezug auf
die Seite des „Bösen“, noch einmal, aber eingehender thematisiert.
150
meint; durch das Handeln wird nämlich das negiert, was nur ein jenseitiges Ansichsein ist,
sobald es verwirklicht wird.
Die Verstellung der Sache: Die Disharmonie von Moralität und Wirklichkeit ist dem
Bewusstsein per se nicht Ernst, denn in der Handlung scheint ihm diese Harmonie wirklich.
=> Die wirkliche Handlung ist nur eine Handlung des einzelnen Bewusstseins, also nur
etwas Zufälliges oder Beliebiges, wohingegen der Zweck des reinen Bewusstseins der
allgemeine Endzweck ist, indem es das höchste Gut als seinen Zweck anstrebt. Daraus folgt:
„Weil das allgemeine Beste ausgeführt werden soll, wird nichts Gutes getan“ (W3.455); das
moralische Bewusstsein beabsichtigt zwar nur die vollendete Verwirklichung der reinen
Pflicht, aber jedes Handeln des einzelnen Bewusstseins ist trotz seiner guten Absicht als die
Vollbringung der reinen Pflicht unmöglich, weil das Bewusstsein letztlich kein absolut
Gutes ausführen kann. Ü berdies bezweckt die Vollbringung keine reine Pflicht, weil es hier
um das Gegenteil der reinen Pflicht geht. Dem wirklichen Bewusstsein ist es daher mit der
Verwirklichung der reinen Pflicht nicht Ernst. => Die vollendete Verwirklichung der reinen
Pflicht wird folgendermaßen ausgedrückt: „[D]ie absolute Pflicht [soll] in der ganzen Natur
ausgedrückt und das Moralgesetz [soll] Naturgesetz werden“ (W3.456); nach diesem
Postulat sollen das Naturgesetz (als die Kausalität) und das Moralgesetz (als die Freiheit)
gleich werden. Aber sofern diese Gleichheit nun als Endzweck der Welt gilt, kann das
Bewusstsein nicht mehr mit seiner reinen Gesinnung für das Moralgesetz Ernst machen. =>
„Somit fällt das moralische Handeln selbst hinweg“ (W3.456), weil es nur durch die
Annullierung seiner Gesinnung geschehen kann. Das moralische Handeln ist eigentlich der
absolute Zweck; dieser Endzweck ist jedoch selbstwidersprüchlich, denn, soweit das
Bewusstsein die Absicht hat, das höchste Gut auszuführen, wäre das moralische Handeln für
es „überflüssig“ (W3.456). Aus der Selbstwidersprüchlichkeit des moralischen Handelns
resultiert nämlich die Ü berflüssigkeit desselben.
<Verstellung im zweiten Postulat>
Sofern das moralische Bewusstsein seine Willensfreiheit haben soll, führt dies zum zweiten
Postulat (d. h. des „Endzwecks[] des Selbstbewußtseins“ oder der „Harmonie der Moralität
und des sinnlichen Willens“) (W3.447), also der Harmonie des reinen Bewusstseins mit
seiner inneren Natur.
151
Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Das moralische Bewusstsein ist das reine
Bewusstsein, das von dem Sinnlichen wie Neigung, Trieb ganz unabhängig sein soll. =>
Weil es aber seinen Zweck in die Tat umsetzen will, soll diese aufzuhebende Sinnlichkeit
eher die „Mitte zwischen dem reinen Bewußtsein und der Wirklichkeit“ (W3.457) sein. =>
Die Sinnlichkeit soll um der Harmonie willen der Vernunft gemäß sein. Dem reinen
Bewusstsein ist es jedoch nicht ernst mit dem Aufheben dieser Sinnlichkeit; denn nur durch
seine Sinnlichkeit kann der Mensch seine Welt aufnehmen. Das zweite Postulat setzt zwar
voraus, dass seinem reinen Bewusstsein das Sinnliche gemäß sein sollte, aber es soll diese
Gemäßheit verweigern, um seinen reinen oder übersinnlichen Zweck zu verwirklichen. =>
Die gezielte Harmonie zwischen dem reinen Bewusstsein und seiner sinnlichen Willkür ist
in der Tat jenseits des Bewusstseins gesetzt. In der Einheit, die durch die Vermischung der
reinen Pflicht und ihrem Gegensatz entsteht, würde die Moralität vielmehr verletzt. Daraus
ergibt sich, dass die moralische Vollendung dem Bewusstsein nicht ernst ist, solange es die
Moralität für ewig unvollendet hält.
Die Verstellung der Sache: Aus dem Vollzug des moralischen Bewusstseins ergeben sich der
„Zwischenzustand“ der unvollendeten Moralität und das „Fortschreiten“ (W3.458) zur
Vollendung. => Dieses Fortschreiten führt immer zum unvollendeten Zustand der Moralität.
=> Dem Bewusstsein ist es mithin nicht ernst mit der moralischen Vollendung, sondern
vielmehr mit dem „Mittelzustande“, aber eigentlicher mit der „Nichtmoralität“; „[e]s ist
nämlich nicht abzusehen, wie Glückseligkeit für dies moralische Bewußtsein um seiner
Würdigkeit willen zu fordern ist“ (W3.459). => Die Glückseligkeit ist letztlich nur aus
„Gnade“ zu erlangen und nach Zufall und Willkür zu erwarten; insofern geht es aber nicht
um die reine Moralität, weil dieser Gnadenakt nur von Gott, nicht vom Menschen kommt.177
Hier gibt es nur einen willkürlichen Grund. Was mich glücklich machen würde, das wäre
gut und, was nicht, das wäre schlecht.
<Verstellung im dritten Postulat>
Obgleich das moralische Bewusstsein nur das reine sein soll, ist die Moralität im
moralischen Bewusstsein immer unvollendet. Die unvollendete Moralität ist für es so gut
wie die „Immoralität“ (W3.460). Die Moralität entsteht also durch ein anderes Wesen als das
wirkliche Bewusstsein, d. h. durch den heiligen Gesetzgeber der reinen Pflicht (W3.449).
177
Dann wäre es hier möglich, dass das Bewusstsein, ohne das Moralgesetz zu überlegen, glücklich ist, weil
eine derartige Gnade „auch durch nichtmoralische Mittel (Kultus, Opfer) errungen werden“ kann. Siep (2000),
S. 209.
152
Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Die Moralität besteht im wirklichen Bewusstsein
in einer Beziehung zu einem Anderen, aus der viele moralische Gebote geschehen. => Das
reine Bewusstsein hält aber diese vielen Pflichten für unwesentlich. => Diese Pflichten
könnten nur durch den heiligen moralischen Gesetzgeber oder das absolute Wesen geheiligt
werden. => Das moralische Bewusstsein nimmt an, dass seine Pflicht wahr ist, weil sie
sozusagen rein ist. Daraus resultiert, dass das, was ihm nicht heilig ist, auf gar keinen Fall
heilig sein kann, denn das, was an sich nicht heilig ist, kann auch durch den heiligen
Gesetzgeber nicht heilig sein. Also ist es dem Bewusstsein nicht damit ernst, „etwas durch
ein anderes Bewusstsein, als es selbst ist, heiligen zu lassen“ (W3.460), sodass es ihm auch
nicht damit ernst ist, dass dieser Gesetzgeber heilig ist.
Die Verstellung der Sache: Dem hier postulierten Gesetzgeber (Gott) kann nur die reine
Pflicht gelten. Aber das moralische Bewusstsein ist ein natürliches Bewusstsein, das von der
Sinnlichkeit bedingt ist, obgleich in ihm die reine Vorstellung der Moralität allein gelten soll;
der absolute Begriff der höchsten Moralität liegt daher in einem anderen Wesen, d. h. in der
vollendeten Moralität. => Die reine Pflicht darf sich nur in der Natur verwirklichen. Aber
das moralische Bewusstsein hat wesentlich eine negative Beziehung zu seinem Anderen;
denn wenn es um seiner Vollendung willen eine positive Beziehung darauf hat, wird es
unvollkommen. => Der heilige Gesetzgeber ist zwar als das moralische Wesen gesetzt, „weil
es erhaben über den Kampf mit der Natur“ ist, doch er „steht nicht in einer negativen
Beziehung darauf“, sondern es bleibt ihm „die positive Beziehung darauf übrig“ (W3.461),
mit der das Bewusstsein Ernst machen könnte. => Die reine Moralität des heiligen
Gesetzgebers ist einerseits vollständig getrennt von der Wirklichkeit, soll aber ebenso auf
diese bezogen sein, weil es sonst auch in einer solchen Heiligkeit nur eine „bewußtlose,
unwirkliche Abstraktion“ (W3.461) gäbe. Denn wenn der Begriff der reinen Moralität weder
dem wirklichen Bewusstsein bewusst wäre, noch von ihm verwirklicht würde, so wäre dieser
Begriff der Reinheit verschwunden, sodass Gott unwirklich wäre, weil er nicht bewusst ist;
auch wenn er verwirklicht würde, wäre seine Würdigkeit aufgehoben.
Mit der Verstellung geht es um konkrete Entwicklungen des „Synkretismus der
Widersprüche, der in der moralischen Weltanschauung auseinandergelegt ist“ (W3.463). Die
Weltansicht des moralischen Subjekts ist nämlich selbstwidersprüchlich; denn sie plagt sich
fortwährend mit dem herum, „was als widersprechend erscheint“, sodass sie sich „in dessen
Trennung und Wiederauflösung“, aber erfolglos „herumtreibt“ (W3.464). Diese
Selbstwidersprüchlichkeit bedeutet, dass das moralische Bewusstsein, obgleich ihm der
Widerspruch, der sich aus dem moralischen Vollzug ergibt, bewusst wird, an seiner
153
Zielsetzung festhalten will, ohne den Widerspruch grundlegend aufzulösen. In der
Verstellung wird eine Stelle auf gänzlich verschiedene Weise gesetzt, zunächst als das Reelle,
aber geradewegs als das Nichtige, sodass beide einander vollständig entgegenlaufende
Bestimmungen zu einer Setzung gehören. Daraus kann natürlich sichtbar werden, dass es
dem Bewusstsein mit der „Ungleichheit seines Vorstellens mit dem, was sein Wesen
ist“ (W3.463), nicht ernst ist. Aus diesem Grund geht das verstellende Bewusstsein wegen
seiner Widersprüchlichkeit unter, indem es seiner ursprünglichen Bestimmungen gemäß so
in seinen Innenraum zurückkehrt, dass „das, was es als das absolute außer dem Bewußtsein
Seiende aussagt, vielmehr in dem Selbst des Selbstbewußtseins eingeschlossen“ (W3.463)
ist. Das reine Bewusstsein „flieht“ vor dem Widerspruch nämlich „mit Abscheu in sich
zurück“ (W3.463 f.).
Aus der gesamten Dialektik der moralischen Vor- und Verstellung lässt sich erweisen, dass
die moralische Pflicht des Bewusstseins, die sich aus seiner Achtung für das Moralgesetz
ergibt, nicht seiner Selbstwidersprüchlichkeit entgehen kann. Sein Ansatzpunkt für seine
pflichtmäßige Tat beruht völlig auf seiner eigenen Ü berzeugung; indem die reine Pflicht
unüberbietbar als die ihm bekannte Substanz gilt (weil es annimmt, dass die Pflicht nur um
der Pflicht willen erfüllt werden soll), ist diese Substanz sein eigenes Bewusstsein. Das
Subjekt der moralischen Weltansicht darf jedoch zugleich nicht mehr moralisch sein, denn
dieser archimedische Punkt liegt de facto in seinem Jenseits. Deswegen ergibt sich für das
Bewusstsein „das verstellende Spiel der Abwechslung“ (W3.466) der antinomischen
Bestimmungen, dass es moralisch und zugleich nicht moralisch ist. Zwischen beiden
Bestimmungen schwingt es wiederholt, aber trotzdem vergebens hin und her. Das
moralische Bewusstsein entsagt trotz dieser Umstände seinem Ideal des höchsten Guts nicht;
es bezweckt die vollkommene Realisierung des Moralgesetzes und damit den Genuss der
Glückseligkeit. Dieses Ziel ist wohl unerreichbar, weil es über die antinomische Struktur,
auf die die Reihe der moralischen Ansprüche folgt, selbstständig hinausgehen kann. Das
moralische Bewusstsein erhofft und postuliert nichtsdestoweniger das Dasein noch eines
anderen – aber eigentlicher allein wahrhaftigen – Ansichseins, d. h. den heiligen Gesetzgeber
jenseits des Bewusstseins, der aus Nachsicht jenem moralischen (und zugleich nicht
moralischen) Bewusstsein Glück gönnt; es postuliert einen Gesetzgeber, der das dann auch
wirklich tut. Das bedeutet, dass das Bewusstsein die Verantwortung für die Auflösung der
Aporie nicht auf sich nimmt, sondern dass es sich Hilfe von jenem Gesetzgeber erbittet.
Seine Verlegung, d. h. sein „Hinaussetzen dessen, was es als notwendig denken muß, außer
sich selbst“ (W3.464), verursacht endlich die Heuchelei.
154
Die moralische Weltvorstellung oder -anschauung geht nunmehr zu einer neuen
Bewusstseinsgestalt, zum „Gewissen“, über, welches durch die Bewegungen aller
vorherigen Geistesgestalten (der „Sittlichkeit“, der „Bildung“ und auch der moralischen
Vor- und Verstellung) „in das einfache fürsichseiende Selbst des Geistes“ (W3.327)
zurückgeht. Das für sich seiende Subjekt weiß und tut, und zwar „unmittelbar
gewissenhaft“ (W3.464). Das Subjekt des Gewissens verweigert oder vielmehr
„verschmäht“ (W3.464) die bloße moralische Weltansicht; in seiner unmittelbaren
Gewissheit will das Subjekt des Gewissens die Schranke der moralischen Weltanschauung
überwinden, die den Gegensatz zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand noch
voraussetzt. Die moralische Weltvorstellung oder -anschauung geht zu einer neuen
Bewusstseinsgestalt, zum „Gewissen“, über.
155
3. Das moralische Gewissen
3.1 Das Gewissen als die absolute Selbstgewissheit des moralischen
Bewusstseins
Bezüglich der Schranke der moralischen Vor- und Verstellung weist Hegel auf deren
dualistische Weltansicht hin. Das moralische Bewusstsein ist zum einen überzeugt davon,
dass die reine Pflicht restlos seinem Wesen entspricht; darum kommen das moralische
Subjekt (als das Einzelne) und seine Substanz (als das universale Gesetz) in seiner
Gewissheit zu einer Ü bereinstimmung miteinander. Aber es ist zum anderen offensichtlich,
dass die beiden Momente, also die Besonderheit und die Allgemeinheit, in der letzten Instanz
Gegenpole zueinander sind; an jenen moralischen Vollzug schließt sich immer der
grundsätzliche Zwiespalt zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand oder zwischen
der moralischen Tugend und der (inneren oder äußeren) Natur an; das Bewusstsein verfällt
nämlich in den unauflösbaren Gegensatz zwischen dem einzelnen Fall des wirklichen
Handelns und dem universalen Maßstab desselben. Dagegen wendet Hegel das Argument
für das „Selbst des Gewissens“ (W3.465) ein.
Das „Selbst“ fungiert jeweils in vorhergehenden Gestaltungen als der bloße Knotenpunkt,
an dem jede Gestalt des Bewusstseins in ihre nächste Stufe übergeht. Die rechtliche
„Person“ (W3.356) als das erste „Selbst“ des Geistes, die Hegel anhand des römischen
Rechtszustands behandelt, folgte aus der altgriechischen Sittlichkeit; dieses Rechtssubjekt
gelangt zum Geist des moralischen Gewissens.178 Zwischen dem Rechtssubjekt und dem
Gewissenssubjekt traf das zweite „Selbst“ als das Subjekt des sich entfremdeten Geistes auf,
der bei Hegel für die Zeit der „Bildung“ (die sowohl historisch sowohl dem Mittelalter als
auch der Neuzeit zugeordnet wird) steht, es behauptete in dem letzten Teil dieses Abschnitts
seine „absolute Freiheit“ (W3.431). Es gestattete keine andere Wirklichkeit als die von ihm
vollzogene Tatsache, da das Subjekt meinte, die Manifestation seines einzelnen
Freiheitsanspruchs sei gerade „allgemeine Wirklichkeit“ (W3.465). Daraus folgte aber, dass
sich die Allgemeinheit, die sich das Subjekt anzueignen meinte, nur im Ausmaß seiner
Einzelheit auswirkt; die vermeintliche Allgemeinheit entpuppte sich also als die bloße
Besonderheit.
Aus historischer Perspektive kann man diesen Bewegungsablauf des Subjekts wie folgt darstellen: „Das
Rechtssubjekt – der bourgeois –, das politische Subjekt – der citoyen – und das Transzendentalsubjekt sind die
Stufen des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, der Geschichte des Selbstbewußtseins der Freiheit.“ Falke
(1996), S. 318.
156
178
Das Subjekt des Gewissens als das dritte „Selbst“ ist das Resultat der dialektischen
Weiterentwicklung sowohl der Gestaltungen im ganzen Kapitel „Geist“ als auch des
moralischen Geistes. Die vor- und verstellende Ausführung des moralischen Subjekts, das
die Verwirklichung des moralischen Endzwecks erwartet, stützt sich auf den Gedanken, dass
die reine Pflicht als sein Wesen notwendigerweise wirklich sein müsse. Jedoch wird sein
Postulat der Harmonie bzw. Glückseligkeit noch auf das reine Denken beschränkt, sodass es
unvermeidlich die „Trennung des Ansich und des Selbsts, der reinen Pflicht als des reinen
Zwecks und der Wirklichkeit als einer dem reinen Zwecke entgegengesetzten Natur und
Sinnlichkeit“ (W3.466) erfährt. Dagegen bewegt sich das Subjekt des Gewissens über solche
externalisierte Phase hinaus wieder an den Ausgangspunkt der moralischen Zielsetzung
zurück. Im Unterschied zum „Formalismus des Rechts“ (W3.357), in dem das erste
„Selbst“ bestand, macht das moralische Gewissen auch in der Substanz seinen eigenen
Vollzug geltend. Auch gegen „den leeren allgemeinen Willen“ (W3.466) der absoluten
Freiheit, die zu der Zerstörung seiner Wirklichkeit verdammt ist, kann das Gewissen die
positive Seite seines Vollzugs erfassen. Das Subjekt der moralischen Vor- und Verstellung
muss nur „einen leeren Maßstab“, mit dem es die Aufrichtigkeit seiner Verpflichtung messen
wollte, haben, weil dieser Maßstab, d. h. „die leere Pflicht“ (W3.466), immer seiner Natur
zuwiderlaufen würde. Im Unterschied dazu ist das Subjekt des Gewissens zweifellos
überzeugt, dass es selbst „das sich als Wesen wissende Selbst“ (W3.479) ist.
Vom moralischen Standpunkt aus macht die Ü berzeugung, zum moralisch guten Handeln
verpflichtet zu sein, den letzten Geltungsgrund aus, der für das einzelne Bewusstsein das
allgemeine Prinzip der praktischen Vernunft ist; das Moralgesetz aber ist wesentlich der
Gegenstand des Bewusstseins, d. h. das Jenseits außerhalb desselben. Im Unterschied zur
Grundstimmung der ethischen Pflichtenlehre werden auf der Ebene der Gewissensethik die
beiden antinomischen Bestimmungen gleichgesetzt, indem der Geist des Gewissens sowohl
das Ansichsein als auch die Wirklichkeit in sich integriert.179 Das moralische Bewusstsein
ist nun schlechthin davon überzeugt, dass seine Entscheidung allen Vorschriften von anderen
Wesen ursprünglich vorausgeht; das Gewissenssubjekt ist nämlich nicht mehr ein Ansichsein
außer seiner selbst, ebenso kein nur mehr negatives Fürsichsein.
Das Bewusstsein handelt moralisch, und zwar nicht, weil ihm das Gesetz nicht geradewegs
gebietet, sondern, weil aus dem Selbstentschluss des Bewusstseins diese Verpflichtung folgt;
das Gesetz des moralischen Gewissens ist, wenn wir es als Gesetz benennen wollen, lieber
Dazu vgl. z. B.: „[D]er Standpunkt des Gewissens wird geradezu als kritische Reaktion gegen die
Verlagerung der Wirklichkeit des Guten in ein Jenseits des Wirklichen eingeführt.“ Schick (2009A), S. 287.
157
179
mit dem Gesetz des Herzens oder der Willkür zu betiteln. Darüber, wie die Pflicht oder das
Gesetz dem Subjekt des Gewissens erscheint, schreibt Hegel Folgendes:
Die Pflicht ist nicht mehr das dem Selbst gegenübertretende Allgemeine, sondern ist gewußt, in
dieser Getrenntheit kein Gelten zu haben; es ist jetzt das Gesetz, das um des Selbsts willen,
nicht um dessen willen das Selbst ist (W3.469).
Hegel denkt, „die Pflicht besteht in der Ü berzeugung des Gewissens von ihr“ (W3.470). Das
Gewissen ergibt sich, insofern es ein moralisches Gewissen ist, zwar aus dem Begriff der
Pflicht, aber dieses Pflichtgesetz ist nichts anderes als das Recht, das das moralische
Fürsichsein als das Subjekt des Gewissens aus seiner authentischen Ü berzeugung annimmt;
diese Pflicht ergibt sich nun aus seiner Ü berzeugung, dass man das Moralgesetz befolgen
soll, nicht um der Pflicht willen, sondern weil das Gesetz aus der eigenen Selbstbestimmung
des Bewusstseins resultiert. Die oben („2. Die moralische Vor- und Verstellung“)
dargestellte Weltansicht des moralischen Bewusstseins, die den Standpunkt der bloßen
Pflichtenlehre darstellt, liegt zwar in seiner absoluten Gewissheit; dieses Subjekt ist davon
überzeugt, dass das ihm auferlegte Gesetz schon berechtigt sei, weil sogar dieses Gesetz von
ihm selbst auferlegt worden ist. Allein die Gesetzgebung durch das moralische Bewusstsein
ist, obwohl es sich absolut frei fühlt, Hegel zufolge noch nicht völlig autonom, soweit das,
was das Subjekt aus moralischen Gründen tut, nur die Pflicht ist, der es schlechthin
gehorchen soll. Der Standpunkt des Gewissens liegt hingegen nicht in dem Gefühl der
Achtung für das Gesetz noch in der, sondern in seiner Ü berzeugung davon, dass das Subjekt
sich nicht mehr nach dem Gesetz richtet, sondern das Gesetz umgekehrt nach dem Subjekt.
Das Gesetz des moralischen Gewissens ergibt sich – obwohl es die Pflicht betrifft –
keineswegs aus der einseitigen Vorstellung des bloßen allgemeinen Willen, der den
einzelnen Willen nur unterdrückt, sodass der Mensch im Widerstreit zwischen der Pflicht
und der Neigung leben muss; das Moralgesetz vom Standpunkt des Gewissens aus ist
berechtigt, weil die Vorstellung der Pflicht gerade aus seiner freien (konkreter gesagt
beliebigen, sogar willkürlichen) Entscheidung folgt, sodass der Mensch in der Harmonie mit
seiner (inneren und äußeren) Natur leben kann. Ü ber diese Selbstbestimmung des
subjektiven Willens oder über ihre Souveränität schreibt Hegel Folgendes:
158
[D]as Gewissen […] absolviert sich von jeder bestimmten Pflicht, die als Gesetz gelten soll; in
der Kraft der Gewißheit seiner selbst hat es die Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und
zu lösen (W3.476).
Diese „Autarkie“ des moralischen Bewusstseins von sich selbst ist die höchste, aber äußerst
extreme Gestalt, die das moralische Bewusstsein erreichen kann. Das Subjekt nimmt an, dass
an die Stelle des obigen heiligen Gesetzgebers (W3.449) nun seine absolute Autonomie
getreten sei. Das Gewissen ist kein mehr inhaltloser, leerer Gedanke; der Geist des
Gewissens ist nämlich sowohl die den Inhalt ihrer Substanz selbstständig ausfüllende Person,
als auch der den Inhalt seiner Freiheit erfassende Wille. Die entscheidende Kennzeichnung
für das moralische Gewissen ist also ein „konkreter moralischer Geist“ (W3.466).
Der Begriff der Moral ist grundsätzlich durch die Autonomie des subjektiven Willens
gekennzeichnet. Die Autonomie des moralischen Bewusstseins ist zwar ein Beleg für den
Standpunkt der neuzeitlichen Welt in der abendländischen Denkgeschichte,
180
der
Folgendes besagt: „Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich
seiende Wille wirklich sein“ (W7.204). Aber die Freiheit der moralischen Vorstellung liegt
in dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz; das bedeutet noch nicht, dass das Subjekt
selbst das Gesetz erschafft. In dieser moralischen Vorstellung „verhält sich der Wille noch
zu dem, was an sich ist“ (W7.207), sodass dem Subjekt nach der Pflichtenlehre der
Standpunkt des perennierenden Sollens nicht entgehen kann. Das Gewissen besteht
hingegen in dem Selbstbewusstsein der Freiheit, das die zugespitzte Form der neuzeitlichen
Subjektivität darstellt. Dieser Standpunkt des Gewissens erinnert uns, wie bereits von vielen
anderen vorherigen Forschern angedeutet, besonders an die Fichtesche und Jacobische
Ethik 181 , ganz zu schweigen von der Ä hnlichkeit zwischen den Formulierungen dieser
Philosophen und der hegelschen.182
Dazu vgl.: „[D]ie Alten wußten nichts vom Gewissen“. W7, S. 302.
Dazu vgl. Hirsch (1973), S. 253 f.; Falke (1987), S. 134 f.; Jürgensen (1997), S. 211; Köhler (1998),
S. 214 f.; Iber (2002), S. 227. Zur Synopsis der hegelschen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen
ethischen Leitideen vgl. Gram (1998), S. 313-330; Kohl (2003), S. 234-245. Entgegen dieser Ansicht ergibt
sich allerdings die folgende Interpretation, dass auch die kantische Ethik den Begriff des Gewissens betreffe.
Dazu vgl. Bal (2002), S. 220-222; Siep (2012), S. 218.
182
Als typische Beispiele für diese Ä hnlichkeit können gelten: Die Ähnlichkeit zwischen dem „Handeln nach
seinem [= des Bewusstseins] inneren Gesetze und Gewissen“ bei Hegel und dem Handeln „nach deinem
Gewissen“ bei Fichte oder die zwischen Hegels Darstellung über „das Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht
um dessen willen das Selbst ist“, und Jacobis Begriff des Gesetzes, das „um des Menschen willen gemacht ist,
nicht der Mensch um des Gesetzes willen“. W3, S. 469 u. 486; Fichte, Werke, Bd. 4, S. 156; Jacobi, Werke,
Bd. 3, S. 38.
159
180
181
Wenn man den Begriff des Gewissens bestimmt, so lässt sich dies folgendermaßen
umschreiben: „Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung, das, was an und für sich gut ist,
zu wollen“ (W7.254). Das moralische Gewissen liegt einerseits weder in dem Formalismus
des leeren Pflichtbegriffs (wie im kategorischen Imperativ) noch in dem abstrakten Ideal des
höchsten Guts; die absolute Selbstgewissheit des Subjekts besteht andererseits nicht in der
bloßen Besonderheit oder in dem eigennützigen Glücksstreben. Das moralische Gewissen
bedeutet den Willen zum allgemeinen Guten, der auf der Reflexion des Subjekts beruht; das
Subjekt will nämlich das unbedingte Gute vollziehen, das es selbst als die oberste Aufgabe
ansieht. Das allgemeine Gute soll schlechthin vollzogen werden, und zwar nicht einfach,
weil es die ihm auferlegte Pflicht ist, sondern weil das Subjekt selbst es erschafft. Die
Gewissensethik liegt also weder in der Besonderheit des moralischen Zwecks noch in der
Abstraktheit desselben, sondern betrifft die konkrete Bestimmung des handelnden Subjekts.
Das Subjekt des Gewissens steht in einem konkreten „Fall“, der als „eine gegenständliche
Wirklichkeit“ mit dem Bewusstsein konfrontiert wird, insofern das Subjekt den Fall bloß
„auf unmittelbare konkrete Weise“ weiß (W3.466). Die Pflicht und das Gesetz haben,
insofern sie zum Gewissen gehören, selbstverständlich die „Bedeutung des Fürsichseins“,
weil das für das Bewusstsein Verpflichtende in der „unmittelbaren Einheit mit dem
Fürsichsein“ (W3.469) bestehen bleiben kann. Der kritische Punkt, in dem das Gewissen von
bisherigen Stellungen endgültig unterschieden wird, ist nämlich, dass das Subjekt des
Gewissens bemüht ist, den Gegensatz zwischen Ansichsein [d. h. dem Gesetz als dem
Gegenstand der Achtung] und dem Fürsichsein [d. h. der Selbstgewissheit des Subjekts]
aufzulösen. Das Subjekt des Gewissens nimmt die ursprüngliche Harmonie von Pflicht und
Natur an; es betrachtet folglich seine Pflicht als die aus seiner „eigene[n]
Ü berzeugung“ (W3.468) festgesetzte Richtlinie des Handelns – deshalb eigentlicher als sein
inneres Gesetz. Weil der Geltungsbereich seiner Stellung in seiner Gewissheit nicht mehr
sich selbst entgegensteht, gehört zum Subjekt des Gewissens seine Substanz, die nichts
anderes als „das in seiner Zufälligkeit Vollgültige“ (W3.465) ist; obgleich es der
Bestimmung der Pflicht durchaus inne ist, kann es sich die konkrete, dennoch zugleich
absolute Vollmacht für seine jeweilige Handlungsoption erteilen. Also ist das Gewissen die
oberste Instanz der moralischen Entscheidungen.
Die „absolute Befugnis“ (W3.475) des Gewissens, durch die es seinen einzelnen Vollzug
bedenkenlos geradezu zur endgültigen Instanz des moralischen Handelns macht, beruht eben
auf der vollkommenen Gewissheit von sich; auch hier tritt nämlich der „konkrete Inhalt der
sinnlichen Gewißheit“ (W3.82) auf. Das Ansichsein fließt in das Gewissen ein, und diese
160
Ü berzeugung überströmt das allgemeine Moralgesetz. Sein Handeln im einzelnen Fall gilt
„einfach und unvermittelt“ (W3.467) am Ansatzpunkt, als das Allgemeingültige, das vom
Subjekt gewährleistet wird, und zwar versehen mit dem folgenden Siegel: Das sei vom
„Selbst“ getan oder hervorgebracht.
Das Handeln als die Verwirklichung ist […] die bloße Umkehrung der Wirklichkeit als eines
seienden Falls in eine getane Wirklichkeit, der bloßen Weise des gegenständlichen Wissens in
die Weise des Wissens von der Wirklichkeit als einem vom Bewußtsein Hervorgebrachten
(W3.466 f.).
Diese Formulierung erinnert uns an den Fichte‘schen Begriff der Selbstsetzung in seiner
Wissenschaftslehre. 183 Die konkrete Handlung des Gewissens ist keine der ihm bloße
auferlegten Pflicht deckungsgleiche Vollziehung. Die oberste Angelegenheit des Gewissens
ist nun das „konkrete Recht“ (W3.467), nicht einfach die obliegende Pflicht.
Aus dem bis jetzt Gesagten lässt sich feststellen, dass die Ü berzeugung des Subjekts und
das Recht desselben an die Stelle des Gesetzes und der Pflicht treten.184 Das (durch seine
eigene Ü berzeugung entstehende) konkrete Recht des Gewissens ist nämlich das Alpha und
das Omega im Bezug auf die letzte Instanz der Ethik. Eine große Scheidelinie zwischen der
Pflichtenlehre und der Gewissensethik wird in diesem Zusammenhang dargestellt: Mit dem
Gewissen ist eine grundsätzliche Ü berwindung der Schranke der moralischen Weltansicht
gemeint. Falls das einzelne Bewusstsein in konkreten Umständen seine Pflicht befolgen soll,
muss es in den Gegensatz zwischen der Pflicht und der (inneren oder äußeren) Natur geraten.
Dadurch erfährt das einzelne Bewusstsein das Missverhältnis zwischen der Gesinnung und
der Wirklichkeit; und es bemerkt letztlich die Verstellung der Sache, dass das Bewusstsein
nicht mehr moralisch wäre, insofern es moralisch gut handeln will, oder ungekehrt, dass es
nicht mehr moralisch handeln würde, insofern es moralisch gut sein will. Um auf dieses
Schicksal zu reagieren, verstellt das vorstellende Bewusstsein seine Position, aber nur in eine
andere Position vom Standpunkt derselben moralischen Vorstellung aus, durch die sich die
immer fortwährende verstellende Bewegung von einer Stellung zu anderen ereignet. Je
quälender das Bewusstsein prüft, welche unter vielen verschiedenen Pflichten echt ist, desto
weiter entfernt sich die Vollendung der Moralität von ihm. Daher kann das Bewusstsein an
183
184
Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 269.
Dazu vgl. Schick (2009A), S. 288 ff.; Iber (2002), S. 226; Reuter (1977), S. 88 u. 97.
161
keiner Stelle der „hin- und hergehende[n] Ungewißheit“ (W3.467 f.) enthoben werden. Das
Gewissen kehrt dagegen in sich zurück, sodass es eine „unwankend[e] Gewißheit“ (W3.467)
besitzen kann.
Das Subjekt des Gewissens zielt das Ansichsein in sich hinein, damit es keinen Widerstreit
zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand geben könnte. Wie die „Dingheit
überhaupt“ ihrerseits – im Abschnitt „Wahrnehmung“ – ihre „Eigenschaften“ ohne
Lebenskraft, und ohne Beziehung aufeinander versammelte, so galt auch das moralische
Bewusstsein nur als „positives allgemeines Medium“ (W3.95; 467), in dem viele
verschiedene Pflichten jeweils als selbstständige, voneinander verschiedene Substanzen
neutral zusammenbleiben, sodass das moralische Bewusstsein gegen das Resultat seiner
Handlung indifferent ist. Das Gewissen ist hingegen das „negative Eins“, das in der
selbstsicheren Ü berzeugung die Gleichgültigkeit gegen jene Substanzen von Grund auf so
ausrottet, wie jene „Dingheit“ doch andererseits, sich auf entgegengesetzte Eigenschaften
„beziehen[d]“, aber zugleich diese „negierend“, als „ausschließende Einheit“ (W3.467; 95)
galt. Der Geist des Gewissens gibt sich indessen nicht lediglich mit der Negation seines
Anderen zufrieden. Die Allgemeingültigkeit des Gewissens besteht darin, dass es die
Zufälligkeit an seiner einzelnen Entscheidung vernichtet. Indem das Gewissen ein
bestimmtes Negatives an sich selbst negiert, erreicht es ein bestimmtes Positives, das jedoch
von ihm selbst wiederum negiert wird. Durch diese bestimmte Negation überwindet das
Gewissen seine akzidentellen Momente; dieses erneuerte Resultat geht dennoch Mal für Mal
in die Bestimmung des Gewissens zurück. Die Instanz, die die allgemeine Geltung im
Handeln des Gewissens garantiert, liegt nicht in dieser oder jener jeweiligen konkreten
Handlung, sondern darin, dass eine Entscheidung zu jeder Zeit bei jeder konkreten Handlung
ausschließlich durch die Selbstgewissheit des Gewissens getroffen wird. Dass das Subjekt
in jeder Situation des Handelns von sich überzeugt ist und etwas konkret beschließt, ist für
das Bewusstsein der endgültige Grund der Wahrheit. Der Geist des Gewissens negiert zwar
sein Anderes, aber bezeichnet sich als absolute Negation, genauer als die „sich auf sich
beziehende Negation“ (W3.103). In diesem Sinne bezeichnet Hegel das Subjekt des
Gewissens als das „absolute Selbst“ (W3.467).
Das einzelne Bewusstsein selbst macht den „Inhalt des moralischen Tuns“ aus und seine
eigene Ü berzeugung bildet die „Form desselben“ (W3.468); die Entscheidung des
Gewissens selbst folgt keinesfalls aus dem leeren Formalismus der bloßen Pflichtenlehre.
Wenn wir darauf einen Blick werfen, lässt sich erkennen, dass das Fürsichsein der Gehalt
des Gewissens ist.
162
3.2 Der Gehalt des moralischen Gewissens
3.2.1 Die Momente für die Dialektik des Gewissens: das Fürsichsein, das Sein
für Anderes und das Anerkanntsein
Das Subjekt des Gewissens hat eine Macht, sich einen konkreten, zugleich in seiner
Gewissheit verabsolutierten Inhalt zu geben. Der Standpunkt des Gewissens besteht darin,
dass seine Vorstellung der Pflicht auf der konkreten, aber absoluten Ü berzeugung eines
einzelnen Subjekts beruht. Während das Ansichsein für die moralische Vor- und Verstellung
ihr alleiniger Inhalt ist, nimmt das Subjekt des Gewissens an, dass er vielmehr sein
Fürsichsein ist. Das Subjekt des Gewissens soll den Gegensatz zwischen dem an sich
seienden Gesetz und seiner für sich seienden Ü berzeugung auflösen; diese Vereinigung von
beiden beruht auf der absoluten Selbstbestimmung des subjektiven (denkenden) Willens,
d. h. auf dem Fürsichsein des moralisch gut gesinnten Menschen.
Allein diese Pflicht, die sich anscheinend mit der Ü berzeugung des Subjekts deckt, kann
nicht einfach mit dem Fürsichsein konform gehen. Soweit die Pflicht „um des Selbsts
willen“ (W3.469) ist, hat sie auch noch die Bedeutung des bloßen Ansichseins, weil das
„Selbst“ noch nicht zu dem allgemeinen Standpunkt gelangt ist. Die Dialektik des Gewissens
besteht also darin, dass sich das Ziel der Gewissenshandlung mit dem allgemeinen
Ethikmaßstab ausbalanciert, sodass sich die Ü berzeugung eines einzelnen Subjekts durch
seinen Zusammenhang mit dem allgemein anerkannten Standpunkt verbindet.
Das Subjekt des moralischen Gewissens ist ganz davon überzeugt, dass das von ihm selbst
geschaffene Gesetz seine oberste Aufgabe sei; insofern ist aber dieses Gesetz noch das an
sich seiende, also außerhalb seiner selbst seiende, Verpflichtende. Die Ü berzeugung des
Gewissens liegt grundsätzlich in einer unauflösbaren Aporie, die aus dem „doppelten
Anspruch auf Unmittelbarkeit und Authentizität einerseits, auf universale intersubjektive
Verbindlichkeit andererseits“185 folgt. Diese Grenzerfahrung der Gewissensethik resultiert
aus dem „Gegensatz der Einzelheit gegen die anderen Einzelnen“ (W3.484), ebenso auch
aus dem Gegensatz des privat-höchsteigenen Bewusstseins mit seiner öffentlichallgemeinen Gültigkeit.186 Daraus lässt sich erkennen, dass das Subjekt des Gewissens in
185
186
Kreß (1996), S. 248.
Dazu vgl. Siep (2000), S. 214; Halbig (2008), S. 502.
163
die folgende Aporie geraten muss: Soweit sein Fürsichsein (d. h. die absolute
Selbstgewissheit des Gewissens) und sein Anderssein (d. h. die Pflicht oder das Gesetz als
das
Ansichsein)
voneinander
verschieden
sind,
kann
es
„das
schlechthin
Allgemeine“ (W3.469) nicht erreichen; genauer gesagt: Das Ansichsein und das Fürsichsein
sind zwar miteinander identisch, jedoch zugleich voneinander unterschieden. Aus diesem
Grund erweist sich das Ansichsein als das „Sein für Anderes“, d. h. „die Pflicht, die vom
Selbst verlassen ist“ (W3.469).
Aber diese Phase, in der das Ansichsein zum Sein für Anderes wird, ist andererseits darum
„wesentlich“, weil diese an sich seiende Pflicht „nicht mehr bloß das abstrakte reine
Bewußtsein ist“ (W3.469), in dem die moralische Vor- und Verstellung bestanden hat. Wenn
die Pflicht nur als das selbstlose (also nur an sich seiende) Gesetz angesehen würde, hätte
das für das Gewissen Verpflichtende in perpetuum „nur die Bedeutung gehaltloser
Wesenheit überhaupt“ (W3.470). In der Dialektik des Gewissens erblickt man infolgedessen
diese beiden, also 1) das Fürsichsein und 2) das Sein für Anderes. Die Dialektik des
moralischen Gewissens erreicht endlich 3) das Anerkanntsein eines Fürsichseins von
anderen, d. h. „das gemeinschaftliche Element der Selbstbewußtsein[e]“, in dem ein Subjekt
des
Gewissens
den
Augenblick
„des
Anerkanntwerdens
von
den
anderen
[Subjekten]“ (W3.470) erlebt.
3.2.2 Die absolute Selbstgewissheit des aus sich selbst bestimmenden
Gewissens
Das Gewissenssubjekt steht in dem Gegensatz zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für
Anderes, der den Gegensatz zwischen der Besonderheit und der Allgemeinheit impliziert.
„Das zum Handeln schreitende Gewissen bezieht sich auf die vielen Seiten des
Falles“ (W3.472). Das Subjekt des Gewissens hält seinen Vollzug für allgemeingültig,
sodass es versucht, „die vorliegende Wirklichkeit auf uneingeschränkte Weise zu umfassen
und also die Umstände des Falles genau zu wissen und in Erwägung zu ziehen“ (W3.471).
Aber diese Ü berzeugung wird als eine naive Vorstellung dekuvriert, sobald das Bewusstsein
von der „Natur der Sache“ erfährt, dass „sein Vorgeben dieser gewissenhaften Erwägung
aller Umstände nichtig ist“ (W3.472), sodass sein guter Wille ganz und gar das einzelnzufällige Sein betrifft. Das Gewissen gerät also in den Gegensatz zwischen der absoluten
164
Ü berzeugung des Einzelnen und der Vielfalt der Umstände. Aus der „Mannigfaltigkeit des
Falls“ ergibt sich auch eine „Mannigfaltigkeit von Pflichten“ (W3.472), aber keine von dem
Subjekt selektierte Maxime des moralischen Handelns kann der reinen Pflicht entsprechen.
Das Bewusstsein nimmt zwar ungeachtet dieser Tatsache allemal an, dass seine Gesinnung
auf „seiner reinen Ü berzeugung von der Pflicht“ (W3.472) beruht; dennoch soll es diesem
einfältigen Dafürhalten zuwider in Wirklichkeit eine bestimmte Maxime auslesen. Obwohl
das Subjekt des Gewissens aus seiner absolut-reinen Ü berzeugung einen bestimmten
Leitsatz endgültig auswählen würde, wäre dieses Verpflichtende „so leer als die reine
Pflicht“ (W3.472), die das Bewusstsein unter Anlehnung an die moralische Weltansicht
erfüllen wollte. Daraus lässt sich auf einen Gegensatz zwischen der bestimmten
Ü berzeugung des Einzelnen und der allgemeinen Begriff der Pflicht schließen.
Der obige Gegensatz trat auch in der moralischen Vorstellung auf; auch die Antinomie der
moralischen Weltansicht bezog sich auf jene zwei Modi des Gegensatzes. Man müsste
demgemäß zugeben, dass uns das Gewissen keine konkretere Maxime als die reine Pflicht
gebe. Aber der Standpunkt des Gewissens gibt uns eine ganz andere Lösung: Während sich
die moralische Pflichtenlehre mit dem verstellenden Spiel zusammen endlich an ein anderes
Wesen außer sich, den sog. heiligen Gesetzgeber wandte, kehrt die Gewissensethik in das
Innere des Menschen zurück. Der Inhalt des Gewissens soll in der unmittelbaren
Selbstgewissheit des Subjekts ausgewählt werden; seine innere Ü berzeugung beruht auf der
sinnlichen Willkür, wie Trieb, Neigung. Die affirmative Inangriffnahme der Willkürethik,
die eine dezidierende Attitüde des Einzelnen bedeutet, ist ein absolut-konkretes Kriterium
für die Wirklichkeit des Handelns; nur diese sich dem Herzen erschließende Entscheidung
führt ein Handeln aus dem Gewissen herbei.187 Die einzel-willkürliche Ü berzeugung des
Gewissens bildet nun seinen „säkularen Höhepunkt“ 188 , d. h. die höchste Gestalt des
WELTLICHEN GEISTES in der PHG.
Auf dieser Willkür basierend versucht das Subjekt des Gewissens eine Lösung jenes
Gegensatzes; das Bewusstsein ist davon überzeugt, dass seine Willkür der abstrakt-reinen
Pflicht den konkreten, aber substanziellen Inhalt gibt, sodass es „jeden [Inhalt] an diese Form
[= die Willkür] knüpfen und seine Gewissenhaftigkeit an ihn [= den Inhalt] heften
kann“ (W3.473). Ein konkretes Handeln des Einzelnen, der in Beziehung zu anderen
Diese Haltung lässt sich z. B. wie folgt bezeichnen: „ein intuitiver Akt“, „ein direkter Dezisionismus“ oder
„sein Intuitionismus“. Siep (2000), S. 212; Halbig (2008), S. 500; Schick (2009A), S. 294. Diese intuitivunmittelbare Seite des Gewissens zeigt uns den engen Zusammenhang der hegelschen Gewissenslehre mit dem
jacobischen Konzept auf. Falke (1987), S. 134 ff.
188
Eidam (2005), S. 81.
165
187
Einzelnen steht, könnte zwar aus einer anderen Sehweise beurteilt werden; aber abgesehen
von der vielfältigen Beurteilung der Anderen ist dieser Einzelne ganz davon überzeugt, die
Pflicht zu erfüllen. Dafür führt Hegel das folgende Beispiel, nämlich das Argument der
„Vermehrung des Eigentums“ (W3.474) an: Ein Mensch (A) behauptet, seine
Vermehrungshandlung müsse eine gerechte Pflicht sein – sei es vom Prinzip der Selbstliebe
(d. h. aus der Neigung) aus oder um der Glückseligkeit der Mitmenschen willen (d. h. zum
wohltätigen Zweck). Aber ein anderer Mensch (B) kann dieses Handeln für Betrug halten;
denn diese Pflichterfüllung kann dann zur Gewalttätigkeit oder zum Unrecht führen, wenn
jener (A) nur egoistisch, und zwar zu aggressiv gegen die anderen, seine Pflicht vollziehen
wollte; selbst wenn diese Pflicht umgekehrt zu bescheiden erfüllt würde, könnte sie sich
auch als Feigheit erweisen. Es wäre schlimmer, wenn sein Mitmensch (B) sich mit der
Tapferkeit jenem (A) entgegengestellt hätte; denn diese würde den Wert der Handlung von
jenem (A) selbst verletzen. Das Subjekt des Gewissens ist also davon überzeugt, dass Pflicht
und Willkür, d. h. Ansichsein und Fürsichsein, ungetrennt und untrennbar in Verbindung
gebracht werden. Daraus ergibt sich eine entscheidende Phase, in der anstelle der Ethik von
Pflicht bzw. Gesetz nun die von Neigung bzw. Willkür tritt.
3.2.3 Der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Urteilenden
Das Subjekt des Gewissens nimmt an, dass seine Ü berzeugung von sich allgemeingültig ist;
es versucht nämlich seine äußerliche Bezogenheit zu annullieren, und zwar in Anlehnung an
seine ungetrübte Selbstgewissheit, dass es nicht von den es selbst umfassenden konkreten
Umständen abhänge; dadurch beruht der Inhalt des moralischen Handelns ausschließlich auf
seiner eigenständigen Dezision. Die Frage, wie dieser Inhalt konkret und allgemeingültig sei,
ist nachrangig; im Gegenteil besteht die höchste Instanz für das Gewissen darin, wie
aufrichtig ein einzelnes Subjekt nach seiner Ü berzeugung eine Entscheidung trifft. Daraus
folgt, dass die folgende Willkürlichkeit der Selbstbestimmung ans Licht kommt: Für das
Subjekt des Gewissens ist jeder inwendige Inhalt vollgültig. Diese Vollgültigkeit führt dazu,
dass der oben erwähnte Gegensatz zwischen einer bestimmten Pflicht und anderen
Einzelheiten oder der Allgemeinheit überwunden wird. Um diesen Charakter des Gewissens
zu erläutern, bringt Hegel ein Argument der „Handlung für das allgemeine Beste“ (W3.475)
vor. Dieser Gedankengang entwickelt sich folgendermaßen: Das einzelne Subjekt des
166
Gewissens nimmt demgemäß an, dass es selbst von der allgemeinen Pflicht (wie dem
allgemein Besten) schlechthin absolut frei sei. Der obige Gegensatz (der Pflicht gegen das
Einzelne oder gegen das Allgemeine) ist trotzdem keinesfalls invariabel, weil, was ein
Individuum tut, dem System des allgemeinen Guten zugutekommt. Das Leben eines
Einzelnen ist davon abhängig, dass alle Einzelnen nach ihrer Glückseligkeit streben; in der
Pflichterfüllung jedes Einzelnen besteht nämlich die allgemeine Pflicht. Also kann das
Subjekt des Gewissens ohne diese „Erwägung und Vergleichung der Pflichten“ (W3.475) zu
dem moralischen Entschluss kommen.
Allein in dieser Selbstherrlichkeit des Fürsichseins schlummert auch ein anderer Punkt:
Was das Subjekt des Gewissens eigentlich wollte, unterscheidet sich seiner Ü berzeugung
entgegen von dem, was im konkreten Fall wirklich vollbracht worden ist; seine
ursprüngliche Absicht muss nämlich unausweichlich den folgenden „Makel der
Bestimmtheit“ haben: „Aller Inhalt steht darin, daß er ein bestimmter ist, auf gleicher Linie
mit dem anderen“ (W3.474). Die hartnäckige Selbstbehauptung eines Subjekts „gilt“ – mit
Formulierungen in der „Einleitung“ – „gerade soviel als ein anderes“ (W3.71), weil jeder
Vollzug des Gewissens ganz in der Beliebigkeit steht.
Indem alles, was das Subjekt des Gewissens tut, in einem besonderen Entschluss liegt,
führt jeder beliebige Inhalt endlich zu einem Missverhältnis zwischen dem Leitsatz des
Handelnden und seiner wirklichen Tätigkeit. Um diesen Gegensatz zu verdeutlichen,
kontrastiert Hegel nunmehr die beiden Momente für diesen Gegensatz miteinander: Das
„handelnde“ Subjekt (als das Moment der Besonderheit) und das dieses Handeln
„anerkennende“ (W3.477) Subjekt (als das Moment der Allgemeinheit) polarisieren sich mit
der Eigeninitiative, die ihm selbst jeweils immanent ist. Das eine beansprucht, indem es mit
seiner echten Absicht handelt, seine eigene Ernsthaftigkeit, allein den Augen der anderen
erscheint – wie der Behaviorismus besagt – die bloße Außenseite des Handelns, nicht seine
innere Absicht. Dieser Gegensatz zwischen seiner absoluten Ü berzeugung von sich und
seiner konkreten Pflichterfüllung wird wiederum als die folgende Heuchelei des Gewissens
repräsentiert: Was ein handelndes Subjekt mit guter Absicht unternimmt, wird verstellt.
Dieses Handeln hält das andere Subjekt nämlich sogar für böse. Aber auch das Urteilende
wird ebenfalls als böse bezeichnet; denn insofern es ohne seine eigene affirmative Handlung
nur das Handeln des Anderen beurteilen will, spiegelt es sein eigenes Sosein nicht wider,
sondern es wird „nur das Selbst eines anderen [= des Handelnden] ausgedrückt“ (W3.478).
Die Ernsthaftigkeit des Handelnden wird nicht anerkannt; auch das Urteilende verstellt
gleichwohl nochmalig jene Verstellung des Handelnden. Insofern diese beiden Gegenpole
167
eigensinnig auf ihrem eigenen Blickwinkel insistieren, wird notwendigerweise die obige
Heuchelei auf beiden Seiten simultan aufgedeckt. 189 Der Gegensatz zwischen dem
Fürsichsein und dem Sein für Anderes ist also nichts anderes als der Gegensatz zwischen
dem handelnden Gewissen und dem urteilenden.
3.2.4 Die gegenseitige Anerkennung von Subjekten des Gewissens
Der Geist des Gewissens steht, nachdem es den Gegensatz zwischen dem Fürsichsein und
dem Sein für Anderes erfahren hat, schließlich an der Schwelle zu seiner Vollendung. Die
Vollendung des moralischen Gewissens liegt darin, die zwei Momente seinerseits, d. h. vom
Standpunkt des moralischen Geistes aus, zu vereinigen.
Die absolute Ü berzeugung des Subjekts macht den Gehalt des Gewissens aus; nur sie
garantiert ihm selbst die Würdigkeit als die moralische Person. Aber dieses Fürsichsein muss
andernteils auch das Sein für Anderes sein. Weil das Sein-Sollende als die an sich seiende
Pflicht in einer unmittelbaren Selbstbezogenheit bleibt, arrangiert das Subjekt sich mit einem
anderen, um sein wirkliches Dasein zu erhalten. Damit seine reine Vorstellung der Pflicht in
der konkreten Wirklichkeit geltend gemacht werden kann, muss das Fürsichsein für den
Scharfblick des anderen Bewusstseins durchschaubar sein. Dieser Sachverhalt stellt die
Einheit zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes dar, aus der sich die „Selbstheit
Aller“ oder das „allgemeine Selbstbewußtsein“ (W3.476; 478) ergibt. In dieser Phase
gelangen die Subjekte des Gewissens „zur angeschauten Einheit ihrer selbst im
Anderen“ (W3.491).
Das allgemeine Charakteristikum dieser Einheit kann nicht in der externalisierten
Handlung bestehen; denn, falls es sich so verhält, wäre der Inhalt maßgebend nur für das
Fürsichsein. Damit die Zielsetzung eines Subjekts allgemeingültig sei, soll diese auch im
Selbstbewusstsein der anderen Subjekte nachvollziehbar sein. Was dieser zweifachen
Forderung entsprechen kann, das wird von Hegel als die „Sprache“ (W3.478) bezeichnet,
durch die das Selbstbewusstsein des Gewissens sowohl für sich selbst als auch für das
Andere sein kann. Das einzelne Bewusstsein artikuliert seine Ü berzeugung; demnach
vernimmt das andere Bewusstsein die Ä ußerung jenes Bewusstseins; dadurch erkennt dieses
189
Dazu vgl. Speight (2008), S. 509.
168
Vernehmende die Aufrichtigkeit des Handelnden an. Die Seelen der beiden Seiten werden
dementsprechend in eins gebracht.
In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel die Sprache als das „Dasein des
Geistes“ (W3.478); die Aufgabe der Sprache besteht nämlich darin, die subjektimmanente
Selbstgewissheit und den transsubjektiven Geltungsbereich miteinander koexistent zu
machen. Dass das Subjekt „als sich selbst aussprechende Individualität gewußt
wird“ (W3.478), bedeutet für seinen Nachbarn keine oberflächliche Beobachtung über die
Selbstbehauptung eines Bewusstseins, sondern das Wahrnehmen sowohl des Fürsichseins
wie des Seins für Anderes. Das „Aussprechen“ des Subjekts ist schon „die wahre
Wirklichkeit des Tuns und das Gelten der Handlung“ (W3.479), weil seine Ü berzeugung und
deren Betätigung nur in der Sprache geltend gemacht werden können. Es ist unmöglich, dass
sein Mitmensch das von jenem Subjekt gegebene Versprechen, dass seine Ü berzeugung
wahrhaft ist, als Hin-und-her-Schwanken betrachtet; denn, wenn ein Subjekt eine so geartete
Ungewissheit hätte, wäre es von Anfang an kein Gewissen. Das Aussprechen seiner Absicht
ist unüberbietbar die explizite Manifestation des Rechten in seiner Ü berzeugung. Der Grund
dafür ist Folgendes:
Wer also sagt, er handle so aus Gewissen, der spricht wahr, denn sein Gewissen ist das
wissende und wollende Selbst. Er muß dies aber wesentlich sagen, denn dies Selbst muß
zugleich allgemeines Selbst sein (W3.480).
Durch die Sprache des Gewissens wird die Beliebigkeit in seiner Willkürlichkeit
überwunden; dadurch kann das einzelne Subjekt den Charakter der „Allgemeinheit“, die „in
der Sprache wirklich ist“, erblicken (W3.481). Nun kommt das Subjekt des Gewissens an
die Einheit zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes, an die Versöhnung der
Einzelheit mit der anderen Einzelheit oder Allgemeinheit heran. Das Aussprechen des
Subjekts ist demgemäß das Wahrzeichen für die gegenseitige Anerkennung der Subjekte.
Durch dies Aussprechen wird das Selbst zum Geltenden und die Handlung [wird] zur
ausführenden Tat. Die Wirklichkeit und das Bestehen seines Tuns ist das allgemeine
Selbstbewußtsein; das Aussprechen des Gewissens aber setzt die Gewißheit seiner selbst als
reines und dadurch als allgemeines Selbst; die anderen lassen die Handlung um dieser Rede
willen, worin das Selbst als das Wesen ausgedrückt und anerkannt ist, gelten (W3.481).
169
Das sich selbst aussprechende Subjekt nimmt nun die Stelle der „Erhabenheit über das
bestimmte Gesetz und jeden Inhalt der Pflicht“ (W3.481) ein. Indem es seinen beliebigen
Inhalt zum allgemeinen Grundsatz des moralischen Handelns macht, nennt Hegel diese
Fähigkeit zur Spontaneität oder Nomothesie des Subjekts aus seiner Willkür bzw. Tugend
heraus die „moralische Genialität“190 oder die „göttliche Schöpferkraft“ (W3.481).191 Die
hoheitsvolle Würde des Subjekts liegt darin, dass sein unmittelbares Wissen, d. i. sein
intuitives Gewusstes, geradewegs für allgemeingültig gehalten wird; dadurch wird seine
„innere Stimme“ als „göttliche Stimme“ (W3.481) angesehen. Sein Vollzug ist deswegen
mit einem „Gottesdienst“ zu vergleichen, weil das Handelnde die Präsenz seiner „eigenen
Göttlichkeit“ erblicken kann (W3.481).
Aus seinem eigenen Aussprechen ergibt sich die authentische Offenbarung des universalen
Bewertungsmaßstabs für das Handeln; denn das Wesen des Gewissens liegt nicht in seinem
abstrakten Gedanken, sondern im Gemeinwesen oder im allgemeinen Selbstbewusstsein der
moralischen Subjekte. Die Einheit seiner unmittelbaren Ü berzeugung mit den sich
umfassenden Faktoren ist nämlich das Element der Intersubjektivität; seine Willkürhandlung
wird, insofern sie Aussprechen ist, für göttlich gehalten. Das Gewissen ist zwar nichts
anderes als die „tiefste innerliche Einsamkeit mit sich“ (W7.254); das Subjekt des Gewissens
ist trotzdem davon überzeugt, dass es endlich über den Kreis seiner Subjektivität hinaus sei.
Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer
Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das
Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher
Vortrefflichkeit (W3.481).
190
In puncto dieses Begriffes können wir uns z. B. an Fichte bzw. Jacobi erinnern. Fichte nennt die
Spontaneität oder Freiheit des Subjekts „Genie zur Tugend“. Dazu vgl.: „[A]lle diese äusseren Umstände haben
keine Causalität auf ihn [= den Menschen]; sie wirken nicht in ihm und durch ihn, sondern er selbst ist es, der
auf ihren Antrieb sich bestimmt. […] Man könnte es, nach Analogie mit einem vorzüglichen Grade der
intellektuellen Fähigkeit, Genie zur Tugend nennen […] und wer zur Tugend erziehen will, der muss zur
Selbständigkeit erziehen.“ Fichte, Werke, Bd. 4, S. 185. Jacobi bemerkt durch die Analogie zwischen der
Tugend und der Kunst das „sittliche Genie“, das folgendermaßen dargestellt wird: „Tugend wäre eine freie
Kunst; und wie das Kunstgenie, durch That, der Kunst Gesetze gäbe; so das sittliche Genie, dem menschlichen
Verhalten“. Jacobi, Werke, Bd. 5, S. 417.
191
Siep zufolge ist diese Formulierung eigentlich bezogen auf die Romanfragmente von Novalis' Heinrich von
Ofterdingen. Dazu vgl. Siep (2000), S. 212f.; Gram (1998), S. 320f. Gram erwähnt, dass Novalis in diesem
Werk den Zusammenhang des Gewissens mit der künstlichen Meisterschaft beachtet, zumal er über Fichte und
Jacobi hinaus dem Gewissen die tiefere Autorität gibt.
170
Die wahre Selbstanschauung seiner Göttlichkeit folgt daraus, dass das Handelnde seine
„Einsamkeit“ – mit Hegels Terminus – aufhebt, sodass es eine Gemeinsamkeit zwischen
seiner inneren Tiefe und dem Inneren von seinem Anderen (also die Einheit eines
Fürsichseins mit dem Sein für Anderes) gewahrt. 192 In diesem Zusammenhang schreibt
Hegel Folgendes: „[Der] einsame Gottesdienst ist zugleich der Gottesdienst einer
Gemeinde“ (W3.481). Die Gründung der Gemeinde bedeutet die gegenseitige Anerkennung
von Subjekten. Die Phase des Ü bergangs zu dem gemeinsamen Gottesdienst bedeutet die
„Vollendung des Gewissens“ (W3.482). Der moralische Geist durchbricht erst im Gewissen
die Rinde der bloßen Ichbezogenheit, sodass für uns ein allgemeines Element des
gelungenen Zusammenlebens in der Neuzeit erscheint.
In dem Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von Gewissenssubjekten erblickt
Hegel eine Erscheinung der Religion, die aber noch nicht den Begriff der Religion selbst
darstellt.
[Das Subjekt des Gewissens] weiß die Unmittelbarkeit der Gegenwart des Wesens in ihm als
Einheit des Wesens [d. h. des Ansichseins] und seines Selbsts [d. h. des Fürsichseins], sein
Selbst also als das lebendige Ansich und dies sein Wissen als die Religion, die als angeschautes
oder daseiendes Wissen das Sprechen der Gemeinde über ihren Geist ist (W3.482).
Auch dem Gewissenssubjekt erscheint somit ein Element der Religion. Hegel drückt die
Religion im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES als das „Sprechen der Gemeinde über ihren
Geist“ aus; das Subjekt in der Gemeinde des Gewissens erreicht die Versöhnung zwischen
dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes, sodass sich hier eine Parusie des geistigen
Wesens, das das Subjekt des Gewissens in sich enthält, also die unmittelbare „Gegenwart
des Wesens“ ergibt. Aber das anhand des Gewissens dargelegte Moment der Religion wird
von dem RELIGIÖ SEN GEIST selbst, der in dem Kapitel „Religion“ behandelt wird,
unterschieden, denn der wahre Begriff der Religion wird von dem moralischen Bewusstsein
selbst noch nicht durchschaut. Das „Sprechen“ des moralischen Bewusstseins „über“ die
Religion ist noch nicht als der RELIGIÖ SE GEIST selbst zu betrachten, der dem religiösen
Bewusstsein erscheint.
192
Hirsch (1973) denkt, dass Hegels Gedanke des Gewissens an diesem Punkt den (subjektivistischen)
Gedanken von Fichte und Jacobi übertrifft. S. 255.
171
3.2.5 Die dialektische Bewegung des Gewissens
Bis jetzt hat es sich um die notwendigen Momente der Dialektik des Gewissens – meines
Wissens das Fürsichsein, Sein für Anderes und Anerkanntsein – gehandelt. Hegel versucht
weiterhin die dialektische Bewegung der Gewissenshandlung wiederum auszuführen; es
geht nämlich um die möglichen Gestalten der Gewissensentscheidung und -handlung.
Den bisherigen Erörterungen 193 über die Gestalten des Gewissens sind schon Hegels
Auseinandersetzung mit der Reihe der ethischen Leitideen in seiner philosophischen
Gegenwart zu entnehmen. Vor allem vermöge der philologischen Deutungen ist uns eine
vergleichende Untersuchung über die Wesensverwandtschaft hegelscher Formulierungen zu
den Ausdrücken aus den Texten von Jacobi, Novalis, F. Schlegel usw. erst zugänglich.194
Die vorliegende Arbeit hat hingegen zum Ziel, eher auf die Bestätigung der Momente in der
Reihe der Gestalten, also auf die Auflösung dieser Gestalten in jene Momente, zu achten, als
auf die historischen Zusammenhänge, beruhend auf der Annahme, dass uns die Form der
Inszenierung der dialektischen Bewegung der Gewissensgestaltungen – wie „ein modernes
Drama“, das „analog zur griechischen Tragödie“ 195 ist, – d. h. diese Reziprozität von
Gestalten und Momenten offenkundig, ist. Diese Schilderung über diese Umsetzung der
„Szene[n]“ (W3.490) erklärt uns die Dialektik des Gewissens anschaulich: Jede Gestalt des
Gewissens hat jeweils einen eigenen Charakter, derweilen hat sie als ein Gewissenssubjekt
eine von jenen Gestalten zum Inhalt. Es handelt sich nunmehr um die Reihe der vielfältigen,
nebeneinander bleibenden und nacheinander folgenden Unter-Gestaltungen des moralischen
Gewissens: 1) die schöne Seele, 2) das böse Bewusstsein, 3) das Eingeständnis versus das
harte Herz, 4) die Empörung und 5) die Verzeihung. Diese Aufeinanderfolge ermöglicht es,
zum sinnreichen Verständnis für den Gehalt des Gewissens zu gelangen.
193
Dazu vgl. bes. Hirsch (1973); Falke (1987); Gram (1998); Iber (2001).
Während z. B. Falke den ganzen Ablauf – von der schönen Seele zur Versöhnung mit dem Bösen – nur im
Zusammenhang mit Jacobis Woldemar behandelt, betrachten die anderen Forscher (Hirsch, Gram, Iber usw.)
mit Rücksicht auf das novalische Werk Heinrich von Ofterdingen die schöne Seele. Besonders bezieht Hirsch
die jeweilige Gestalt jeweils auf verschiedene Autoren (das Gewissen – Jacobi und Fichte; die schöne Seele –
Novalis; das Böse – F. Schlegel; das harte Herz – Hölderlin).
Hegel selbst führt z. B. die schöne Seele direkt auf Jacobi zurück. Dazu vgl. W13, S. 313.
195
Siep (2012), S. 218.
172
194
3.2.5.1 Die erste Phase (Einleitung): die schöne Seele
Die dialektische Bewegung des Gewissens beginnt mit dem Charakter der „schöne[n]
Seele“ (W3.484). Die schöne Seele ist sowohl die Initialgestalt der Gewissensdialektik als
auch das Paradigma für diese gesamte Dialektik.196 Sie wird von Hegel weiterhin als der
Grundcharakter des subjektiven Willens bezeichnet, der sich – ohne über den
überindividuellen Bezug nachzusinnen – zu seiner Welt verhält.
Wenn wir uns an den obigen Entwicklungsgang des subjektiven Willens im Rahmen des
moralischen Gewissens erinnern, lässt sich diese wie folgt mit zwei Stufen resümieren:
Indem sich das Subjekt zu bestimmten Inhalten der Pflicht negativ verhält, ist es davon
überzeugt, ganz frei von ihnen zu sein; indem es sich aber aus sich selbst entscheidet, hat es
zugleich die positive Ü berzeugung davon, dass es sich nach Belieben den Inhalt gibt. Allein
dieses Fürsichsein muss nach seiner Beliebigkeit anderen Subjekten ihre Autorität erlauben;
seine eigene Ü berzeugung liegt nämlich nur in dem gehaltlosen Sein für Anderes. Sein rein
selbstbezogener Gegenstand ist nur mit seinen Eigenbestimmungen versehen. Dieses
Subjekt des Gewissens muss keinen affirmativ-konkreten Gehalt aufnehmen, denn sonst
wäre seine Ungetrübtheit verschwommen.
Hegel befasst sich in diesem Zusammenhang mit dem unglücklichen Bewusstsein im
Rahmen des Gewissens. Das unglückliche Bewusstsein erschien bereits im Kapitel
„Selbstbewußtsein“ als ein Motiv des beschränkten reinen Gedankens;197 dieses Wissen des
Bewusstseins bemüht sich im Wesentlichen darum, ein jenseitiges Wesen (als das Absolute)
zu erfassen, aber es erfährt, dass seine Bemühung verunglückt ist. Obgleich diese letzte
Bewusstseinsgestalt im Kapitel „Selbstbewußtsein“ das Potenzial des absoluten Begriffes in
sich enthält, kann es seiner Aufgabe nicht nachkommen, denn dieses erscheinende Wissen
kommt noch nicht zur Einsicht in seine Wahrheit: in das geistige Wesen des Bewusstseins,
das erst im absoluten Wissen endgültig expliziert wird. Diese Schönheit der Seele hängt
ebenfalls mit der Unfähigkeit, die Kraft des Geistes 198 zu erkennen, zusammen. Die
Handlung der schönen Seele wird in Wirklichkeit als eine tatlose Tat erwiesen, weil das
Subjekt der schönen Seele beabsichtigt, dass nichts in seiner Gesinnung verändert wird,
m. a. W. weil es „die Angst“ hat, „die Herrlichkeit seines Inneren durch Handlung und
196
Dazu vgl. Köhler (1998), S. 214.
Dazu vgl. W3, S. 155 ff.
Das Motiv des unglücklichen Bewusstseins tritt noch einmal in der einführenden Phase in die Offenbare
Religion im Rahmen der gedanklichen Entstehungsgeschichte des Christentums auf.
198
Dazu vgl.: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Ä ußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner
Auslegung sich auszuarbeiten und sich zu verlieren getraut“. W3, S. 18.
173
197
Dasein zu beflecken“ (W3.483). Es „fehlt“ der unglücklichen schönen Seele also „die Kraft
der Entäußerung“, d. h. „die Kraft, sich zum Dinge zu machen“ (W3.483). „Die kraftlose
Schönheit“199 (W3.36) im Rahmen des Gewissens hat für Hegel die folgende Schranke:
Der hohle Gegenstand, den es [= das Fürsichsein] sich erzeugt, erfüllt es daher nun mit dem
Bewußtsein der Leerheit [des bloßen Ansichseins]; sein Tun ist [nur] das Sehnen, das in dem
Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert und, über diesen Verlust
hinaus und zurück zu sich fallend, sich nur als verlorenes findet; - in dieser durchsichtigen
Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich und
schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst (W3.484).
An dieser Stelle fasst Hegel die grundlegende Schwäche der schönen Seele zusammen. Sie
lässt sich m. E. mit dieser Gedankenlinie ausdrücken: Selbstherrlichkeit => Selbstverlust =>
Selbstverstellung. Die durchsichtige Reinheit ihres Inneren ist die ursprüngliche Aufgabe
der schönen Seele; sie bezweckt, die Tiefe des Inneren zu erkennen. Aus ihrer Vorstellung
der Selbstherrlichkeit im Inneren resultiert aber die Leerheit ihrer Bestimmung, denn,
obgleich sie glaubt, dass sie selbst schön sei, wird sie als eine „wirklichkeitslose“ Seele
(W3.491) entlarvt. Sie kommt somit in den Zustand des Selbstverlusts; was sie dafür tun
kann, das ist nur eine Sehnsucht nach der absoluten Reinheit im Inneren, nämlich nach dem
absoluten Handlungsverzicht. Aus ihrer „eigensinnigen Kraftlosigkeit“ (W3.483) ergibt sich
nun die Selbstverstellung; sie gerät tatsächlich in eine „Verrücktheit“ (W3.491). Sie nimmt
eine absolute Freiheit an, aber diese Annahme wird vorgetäuscht. Die von ihr aufgefasste
Reinheit im Inneren betrifft nur das Wissen von sich selbst, nicht den Zusammenhang mit
anderen Subjekten oder den überindividuellen Weltbezug. Daraus lässt sich erkennen, dass
sie nur „in sehnsüchtiger Schwindsucht“ (W3.491) befangen ist, indem sie die „Eitelkeit aller
Objektivität“ (W7.279) annimmt; ihre Sehnsucht impliziert nichts anderes als ihre Flucht vor
der Wirklichkeit. Diese „absolute Innerlichkeit“200 des Gewissens wäre zwar der Grund der
Selbstherrlichkeit, aber vielmehr „seine ärmste Gestalt“ und die „Armut, die seinen einzigen
Besitz ausmacht“ (W3.482 f.). Seine absolute Selbstbehauptung aus seiner Ü berzeugung
wird nämlich notwendigerweise zur Selbsttäuschung.201
In der „Vorrede“ der PHG wird diese „kraftlose Schönheit“ als die Unfähigkeit, „das Leben des
Geistes“ oder die Kraft bzw. Tiefe desselben zu erfassen, dargestellt. Diese Auffassung ist m. E. der schönen
Seele im Rahmen des Gewissens adäquat.
200
Köhler (1998), S. 212.
201
Dazu vgl. Reuter (1977), S. 92; Auinger (2003), S. 61 f.
174
199
Die schöne Seele tritt zum ersten Mal als das handelnde Bewusstsein auf, aber letztendlich
ergibt sich, dass es sich bei dem Beurteilenden eben so wie bei dem Handelnden verhält. Sie
hält nur an ihrer guten Absicht im Innern fest; dadurch behauptet sie ihren guten Willen,
ohne den Zusammenhang desselben mit dem allgemeinen Willen zu berücksichtigen. Hegel
drückt diese solipsistische Einstellung in seiner Rechtsphilosophie folgendermaßen aus:
„Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“; „der Zweck heiligt die Mittel“ (W7.258; 271).
3.2.5.2 Die zweite Phase (Steigerung): das Böse und die Heuchelei
Für die zwar schöne, aber bloß gebrechliche Seele ist die Wirklichkeit des gelungenen
Lebens nicht so leicht fassbar. Wenn das Subjekt des Gewissens auf seine absolute
Gewissheit, auf deren Anerkanntsein insistiert, verfällt es doch in den Gegensatz zu anderen
Einzelheiten oder zu der Allgemeinheit, weil das Fürsichsein und das Ansichsein noch nicht
miteinander versöhnt sind. Unterdessen beobachtet ein anderes Subjekt den mit großen
Anstrengungen verbundenen Umstand jenes Handelnden und sieht dann es, indem es von
der Allgemeinheit seines Kriteriums ganz überzeugt ist, die moralische Absicht des
Handelnden überhaupt als die böse an.
Dieser innerlichen Bestimmung steht also das Element des Daseins oder das allgemeine
Bewußtsein gegenüber, welchem vielmehr die Allgemeinheit, die Pflicht das Wesen [ist],
dagegen die Einzelheit, die gegen das Allgemeine für sich ist, nur als aufgehobenes Moment gilt.
Diesem Festhalten an der Pflicht gilt das erste Bewußtsein als das Böse, weil es die Ungleichheit
seines Insichseins mit dem Allgemeinen ist (W3.485).
Das böse Bewusstsein bedeutet freilich nicht die Boshaftigkeit des Gewissens; es bildet sich
aus seiner wirklichen Unfähigkeit und Selbsttäuschung heraus. Hier tritt der Grundgegensatz
zwischen dem Handelnden und dem Beurteilenden hervor. Jenes Bewusstsein ist der
Meinung, dass es selbst schon sowohl das einzelne als auch allgemeine Bewusstsein sei;
jedoch liegt für den Beurteilenden der Handelnde nur in der Ungleichheit zwischen dem,
was in Wirklichkeit böse ist, und dem, was nur behauptet, gut zu sein. Das böse Bewusstsein
kann seine Schranke insoweit nicht überwinden, als es in seinem eigensinnigen Fürsichsein
befangen ist.
175
Das Bewusstsein des Bösen gehört zunächst dem Handelnden. Hier ist Folgendes
vorausgesetzt: Das Beurteilende nimmt an, dass es selbst einen allgemeingültigen Maßstab
für sein Urteil in sich enthält, während die Heuchelei des Handelnden entlarvt wird, soweit
es davon überzeugt ist, dass sein Tun nichts anderes als das Ansichsein (d. h. das schlechthin
Allgemeingültige, wie das Gesetz oder die Pflicht) sei. Der Zusammenhang des Gewissens
mit dem Bösen lässt sich in Hegels Rechtsphilosophie wie folgt darstellen:
Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen
Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die
Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch
Handeln zu realisieren - böse zu sein.
Das Gewissen ist als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse
umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit
seiner selbst haben beide, die Moralität und das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel (W7.260 f.).
Das Fürsichsein wird hier als das Selbstbewusstsein, das in der formellen Subjektivität
besteht, bezeichnet. Die „Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen“ (W3.485)
wird hier als der Gegensatz zwischen seinem konkreten, aber besonderen Willen und dem
an und für sich Allgemeinen ausgedrückt. Wie es sich bei der schönen Seele um die
„Eitelkeit aller Objektivität“ (W7.279) gehandelt hat, hat das formelle Fürsichsein (indem
es seine Reinheit im Inneren behauptet, d. h. indem es von der „Eitelkeit aller sonst geltenden
Bestimmungen“ überzeugt ist) eine Möglichkeit, böse zu sein. Die gute Gesinnung für das
Gute und das böse Bewusstsein haben daher eine ursprüngliche Gemeinsamkeit miteinander.
Allein der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Beurteilenden führt dazu, dass
selbst jener Maßstab unsicher wird; insofern das Beurteilende im Gegensatz zu dem Bösen
steht, ist das Kriterium ebenfalls so zufällig wie der Maßstab vom Handelnden.202 Wenn
jenes auf seinem Gesetz, so will auch dieses auf seinem eigenen Gesetz beruhen. Daraus
ergibt sich, dass, was das Beurteilende eigentlich bezweckt hat, also was „allgemein
anerkannt sein soll“, eher „als ein Nichtanerkanntes zu zeigen“ ist, sodass es „dem anderen
202
In diesem Zusammenhang bemerkt Hegel in seiner Rechtsphilosophie die verschiedenen Stufen der
extremen Spitze der formellen Subjektivität. Diese solipsistische Tendenz lässt sich zwar im Ganzen als die
Heuchelei bezeichnen, aber sie wird in die folgenden Stufen aufgeteilt: a) das Handeln mit bösem Gewissen,
b) die Heuchelei in ihrer engeren Bedeutung, c) den Probabilismus als den Grund für die Verkehrung des Guten
ins Bösen oder des Bösen ins Gute, d) den Willen zum abstrakten Guten, e) die Ü berzeugung, welche etwas
für recht hält, und f) die (romantische) Ironie. W7, S. 265-280.
176
das gleiche Recht des Fürsichseins einzuräumen“ hat (W3.487). Der Zwiespalt zwischen
dem Handelnden und dem Urteilenden würde, ohne die Aussöhnung von beiden, die Kette
des sog. schlechten Unendlichen verursachen.
In diesem Zusammenhang gehört der heuchlerische Charakter auch zu dem urteilenden
Bewusstsein. Insofern es – wie wir in der schönen Seele erblickt haben – nach der
Selbstherrlichkeit im Inneren strebt, kann es davon nicht verschont werden.
Es hat gut sich in der Reinheit bewahren, denn es handelt nicht; es ist die Heuchelei, die das
Urteilen für wirkliche Tat genommen wissen will und, statt durch Handlung, durch das
Aussprechen vortrefflicher Gesinnungen die Rechtschaffenheit beweist (W3.487).
Das beurteilende Bewusstsein kann, insofern es sich ausschließlich negativ gegen das
handelnde Bewusstsein verhält, demselben Schicksal wie sein Antipode nicht entgehen; es
intendiert
ernsthaft den Vollzug des
allgemeinen Rechten, richtet sich
aber
nichtsdestoweniger in sein individuelles Interesse oder sein Vorurteil ein, und zwar ohne es
zu merken. Daraus lässt sich Folgendes schließen: „Es kann sich keine Handlung [sogar
keine
scheinbar
unparteiische
Beurteilung]
solchem
[parteiischen]
Beurteilen
entziehen“ (W3.489), weil es nirgends eine vollkommen unparteiische Handlung gibt. Der
Grundsatz der ethischen Pflichtenlehre (vor allem von Kant) hat also im Grunde keinen
Erfolg, „denn die Pflicht um der Pflicht willen, dieser reine Zweck, ist das
Unwirkliche“ (W3.489). Hegel versucht mit einem bekannten französischen Sprichwort
diesen Umstand zu erklären:
Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil
dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender,
Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu
tun hat. So gibt es für das Beurteilen keine Handlung, in welcher es nicht die Seite der Einzelheit
der Individualität der allgemeinen Seite der Handlung entgegensetzen und gegen den
Handelnden den Kammerdiener der Moralität machen könnte (W3.489).203
Diese Formulierungen finden sich auch in Goethes Werk folgendermaßen: „Es gibt, sagt man, für den
Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden
kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen wissen.“ Goethe, Die
Wahlverwandtschaften, Werke, Bd. 6, S. 398.
177
203
Aus diesem Gedanken, dass es keine vollendete moralische Handlung für den Urteilenden
gibt, resultiert, dass auch das beurteilende Bewusstsein, wie das handelnde, in einen
unglücklichen Umstand verfällt; jenes ist sogar nichtswürdig, weil es entgegen dem
handelnden, sogar ohne konkrete Handlung seine Beurteilungshandlung für echtes bzw.
rechtschaffenes Handeln hält, und zwar, indem es vorgibt, dass seine Beurteilung selbst
großartig sei. Ü ber die Heuchelei des Beurteilenden führt Hegel Folgendes aus:
Dies beurteilende Bewußtsein ist hiermit selbst niederträchtig, weil es die Handlung teilt und ihre
Ungleichheit mit ihr selbst hervorbringt und festhält. Es ist ferner Heuchelei, weil es solches
Beurteilen nicht für eine andere Manier, böse zu sein, sondern für das rechte Bewußtsein der
Handlung ausgibt, in dieser seiner Unwirklichkeit und Eitelkeit des Gut- und Besserwissens sich
selbst über die heruntergemachten Taten hinaufsetzt und sein tatloses Reden für eine
vortreffliche Wirklichkeit genommen wissen will. – Hierdurch also dem Handelnden, welches von
ihm beurteilt wird, sich gleich machend, wird es von diesem als dasselbe mit ihm erkannt
(W3.489).
An dieser Stelle lässt sich beobachten, dass sowohl die Handlung als auch die Beurteilung
durch die Heuchelei gekennzeichnet werden müssen. Hegel sieht diese Phase der Heuchelei
als „die höchste Spitze der Subjektivität im moralischen Standpunkte“ (W7.265) an. Insofern
das Subjekt des Gewissens an diesem absoluten (aber formellen) Fürsichsein festhält, lässt
sich die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung nicht beobachten.
3.2.5.3 Die dritte Phase (Höhepunkt): das Eingeständnis versus das harte Herz
Das Subjekt des Gewissens, das sich selbst für das Gute, hingegen sein Anderes für das Böse
hält, ist vielmehr zum Bösen geworden. Dies zeigt uns, dass vom Standpunkt des
Subjektivismus nichts absolut gut, ebenso wenig absolut böse ist. Daraus lässt sich erkennen,
dass auch das Böse eine unentbehrliche Stufe ist. Wie das Bewusstsein, das sich selbst für
schlechthin recht hält, immerdar ins Böse umgewandelt werden kann, so kann auch das so
Beurteilende böse werden; jedes moralische Subjekt kann sowohl böse als auch gut sein. Der
Ü bergang zum Gedanken der „symmetrischen Gleichwertigkeit von gut und böse“204 bringt
204
Lütterfelds (2008), S. 106.
178
das Bewusstsein zur Einsicht in die Ebene der Interpersonalität. Die sich widerstreitenden
Antipoden – als ob das eine der Täter und das andere der Richter wäre – können
dementsprechend einen Versuch unternehmen, sich miteinander auszusöhnen.
Das handelnde Bewusstsein macht zuerst den folgenden Versuch:
Diese Gleichheit anschauend und sie aussprechend, gesteht es sich ihm [= dem Urteilenden] ein
und erwartet ebenso, daß das Andere, wie es sich in der Tat ihm gleichgestellt hat, so auch seine
Rede erwidern, in ihr seine Gleichheit aussprechen und das anerkennende Dasein eintreten
werde (W3.489 f.).
Aber
die
Versöhnung
miteinander
ist
nicht
so
einfach
realisierbar.
Sein
„Eingeständnis“ (W3.490): ich bin böse, ignoriert das andere Subjekt wissentlich, wie folgt
murmelnd: aber ich bin nicht böse, sondern gut. Dieses „harte Herz“ hält alleinig an seinem
Fürsichsein fest, indem es weder irgendeine „Gemeinschaft“ mit anderen noch
„Kontinuität“ (W3.490) aufnimmt. Das harte Herz bringt den Konflikt zur Klimax durch
sein halsstarriges Verhalten: „Hierdurch kehrt sich die Szene um“ (W3.490).205
3.2.5.4 Die vierte Phase (Umkehr): die Empörung
Die obstinate Reaktion des Beurteilenden verursacht überraschenderweise eine abrupte
Umkehrung der Situation. Das Handelnde steht dem Beurteilenden gegenüber; sein
Eingeständnis, gleich wie ein religiöses Sündenbekenntnis, bezweckt de facto, seine
unglückliche Grundstimmung zu besiegen. Das Handelnde erwartet aus tiefstem Herzen,
dass sein freimütiges Bekenntnis günstig aufgenommen wird. Aber dadurch, dass sein
Mitmensch sein Herz überhaupt nicht ausschütten will, fühlt jenes Bekennende sich verraten
und, was es nun jenem Absagenden erwidert, ist daher endlich Ä rger.
205
Hegel bemerkt die Umkehrung der Szenen eben hier zwar explizit nur einmal, also scheint es, als ob er die
gesamte Handlung in zwei Szenen aufgeteilt hätte. Aber das sämtliche Plot wird m. E. noch einleuchtender,
falls wir sie nach impliziten Folgerungen noch mehr parzellieren. In der vorliegenden Arbeit wird die
dialektische Bewegung des Gewissens demgemäß in fünf Phasen aufgeteilt.
179
Dasjenige, das sich bekannte, sieht sich zurückgestoßen und das Andere im Unrecht, welches
das Heraustreten seines Innern in das Dasein der Rede verweigert und dem Bösen die Schönheit
seiner Seele, dem Bekenntnisse aber den steifen Nacken des sich gleichbleibenden Charakters
und die Stummheit […] entgegensetzt. Es ist hier die höchste Empörung des seiner selbst
gewissen Geistes gesetzt (W3.490).
Aus dieser Szene lässt sich aufzeigen, dass sowohl das harte Herz als auch die schöne Seele
als das Beurteilende bezeichnet werden; das beurteilende Bewusstsein ist zwar der Meinung,
es habe einen eigenen Universalmaßstab, aber es kann gar nicht ahnen, was und wie er
wirklich ist. Alles, was es tun kann, ist entweder die Missbilligung gegen das konkrete
Handeln vom Anderen oder die Verweigerung des Einvernehmens mit dem Anderen. Es ist
ein niederträchtigeres Böses als das handelnde Bewusstsein; das beurteilende Bewusstsein
verübt nämlich die „höchste Sünde“206, indem es, ohne tätig zu sein, die Tat von seinem
Anderen verleumdet, sodass es seine Bestrebung um die Gemeinsamkeit ablehnt und
schließlich seine Empörung hervorruft. Diese Phase fasst Hegel als die Klimax der Kollision
zwischen den Subjekten auf.
3.2.5.5 Die letzte Phase (die nochmalige Umkehr und das Finale): die Verzeihung
und die Versöhnung
Die Situation des zugespitzten Konflikts, die als Empörung repräsentiert wird, kehrt sich
dramatisch wieder um, und zwar durch das Urteil, das das harte Herz fällt. Seine
eigensinnige Weltansicht zielt zwar auf „das harte Festhalten seines Fürsichseins“ (W3.491)
ab; daraus erfolgt jedoch ein unheimliches Gefühl: Ich bin Nichts und nirgends, soweit
niemand mich anerkennt. Dieser seelische Zustand bedeutet nicht nur den Konflikt mit
anderen, sondern auch, dass es um ihn herum gar keine Grenze zu anderen Menschen hin
noch eine Tür für irgendeine Begegnung mit ihnen gibt, nachdem das Beurteilende alle
Möglichkeiten dafür schon vermieden hat. Aus seiner eigenen Besorgnis geht nun die
„Verzeihung“ (W3.492) hervor, zu der das Handelnde durch sein Eingeständnis bereits
aufforderte. Sie bedeutet die „selbstbewußte und daseiende Ausgleichung“ (W3.491 f.); die
206
Falke (1996), S. 327.
180
affirmative Aktion zielt auf das „Brechen des harten Herzens“ bzw. auf „seine Erhebung zur
Allgemeinheit“ (W3.492) hin.
Diese affirmative Handlung des Beurteilenden bedeutet wesentlich eine Wiederkehr zum
Geständnis des Handelnden; jene Handlung ist gar keine „Erniedrigung, Demütigung,
Wegwerfung im Verhältnisse gegen das Andere“, sondern ein Aussprechen über seine
„Anschauung der Gleichheit des Anderen“ (W3.490) mit sich selbst. Für uns ist die folgende
Einsicht klar gemacht: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben“ (W3.492).
Wenn das Gewissenssubjekt als das harte Herz bleiben wollte, wäre es noch die schöne Seele,
deren Vollzug wegen des abstrakten Gegensatzes von ihrem eigenen Bewusstsein und der
ihr fremden Wirklichkeit entkräftet und hohl wird. Aus diesem Grunde müssen die Wunden
– damit sie ohne Narben geheilt sein können – eigentlich für Hegel die Wunden des Geistes
sein, nicht von dem beschränkten Fürsichsein. Wenn das Subjekt des Gewissens ganz davon
überzeugt ist, dass der Mensch aus seiner Gemeinde, d. h. Gemeinschaft, in der die
verschiedenen Subjekte des Gewissens miteinander vereinigt sind, nicht ausgeschlossen
werden kann und soll, so kann der Geist des Gewissens seine wahre Wirklichkeit besitzen.
Das Motiv der Heilung des Geistes ohne Narben gibt uns einen Faden, mit dem wir die
Gewissenssubjekte in die Gemeinsamkeit mit anderen Gewissenssubjekten integrieren
können.207
Die sich selbst dialektisch aufhebenden Subjekte erheben sich zum wahrhaftig allgemeinen
Selbstbewusstsein. Das Handeln eines Subjekts, das von dem Beurteilenden als das Böse
angesehen wurde, führt nun zum Bekenntnis durch die Selbstanschauung im Anderen; auch
das Beurteilende hat durch die Selbstanschauung im Anderen von seiner harten
Beharrlichkeit bereits abgelassen. Die Verzeihung desselben ist die „Verzichtleistung auf
sich, auf sein unwirkliches Wesen“ (W3.492); es gibt dadurch sein nur abstraktes Fürsichsein
auf.
Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als
allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich
seienden Einzelheit anschaut, - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist
(W3.489).
207
Dazu vgl. bes. Heidegren (1995), S. 363.
181
Diese „Versöhnung“ ist sowohl die gegenseitige Anerkennung aller moralischen Subjekte
als auch das höchste Dasein des WELTLICHEN GEISTES – nicht allein als das des Gewissens.
Das Konzept der anerkennenden Bewegung, das im Kapitel „Selbstbewußtsein“ auftrat,
erhält durch verschiedene Gestaltungen derselben hindurch erst im Anerkennen zwischen
dem Handelnden und dem Beurteilenden seine wahre Gestalt – diese wird von Hegel als der
absolute Geist bezeichnet. Hegel schreibt über die Bedeutung der Versöhnung im Rahmen
des Gewissens Folgendes:
Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das
Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt und in seiner
vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewißheit seiner selbst hat; – es ist der
erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen (W3.494).
Das Wissen von der rechten Pflicht ist nun kein bloß abstraktes Fürsichsein, das auf der
„absolute[n] Diskretion“ zwischen sich und dem Anderen insistiert, sondern vielmehr
sowohl die „absolut flüssige Kontinuität“ miteinander als auch „der sich gleichbleibende
Charakter seines Sichselbstwissens“ (W3.490; 493). Die Einzelheit und die Allgemeinheit
im Gewissen werden zu allen Momenten des absoluten Begriffs als der Idee der
Wissenschaft, jedoch ist jede Seite ebenso schon jeweils der ganze Begriff, der sich in seiner
Bestimmtheit auch als die Substanz entwickelt. In diesem Begriff erreicht das reine
Selbstwissen „die indiskrete Kontinuität und Gleichheit des Ich = Ich“ (W3.494), d. h. die
Versöhnung der Einzelheit mit anderen Einzelheiten oder mit der Allgemeinheit; daraus
ergibt sich „das wirkliche Ich, das allgemeine Sichselbstwissen in seinem absoluten
Gegenteile“ (W3.494). Hegel erblickt auch im moralischen Geist, genauer in der
Schlussphase der Dialektik des Gewissens, eine Szene der Versöhnung im Rahmen des
seiner selbst gewissen Geistes; diese Phase bedeutet nur die Versöhnung zwischen
moralischen Subjekten, sodass hier der absolute Geist nur „mitten unter ihnen“, „die sich als
das reine Wissen wissen“ (W3.494), erscheint. In der Gemeinde der Gewissenssubjekte
ergibt sich, dass der Mensch das ihm selbst immanente Göttliche betrachtet. Weil ein Subjekt
daher auf jeden Fall in seinem reinen Wissen das Wesen des Geistes ahnt, misst Hegel dem
Zusammenhang des Gewissens mit der Religion große Bedeutung bei.
Allein der Vollzug des Gewissens erreicht noch nicht endgültig den absoluten Begriff der
Wissenschaft selbst, der das Endziel der PHG ist. Der Grund dafür ist, dass der Standpunkt
182
des Gewissens nur seiner eigenen Form nach – aber nicht dem Inhalt nach – mit dem
absoluten Geist vergleichbar ist. Diese Form heißt die absolute Selbstgewissheit, die auf
dem Fürsichsein des Gewissens beruht. Das Subjekt des Gewissens ist über den Standpunkt
der moralischen Vor- und Verstellung hinaus in sich selbst zurückgekehrt; dadurch genießt
es den Einblick in sein Wesen, indem es jede Außenseite negiert, sodass es eine
Spitzenstellung im moralischen Geist einnimmt. Aber diese Vollendung des Gewissens
impliziert vielmehr seinen Untergang (d. h. die volle Beendigung seiner Gültigkeit); in
seinem höchsten Ort befindet sich auch der Grund, in den es selbst endlich zugrunde
gegangen sein muss. Das Subjekt des Gewissens bleibt, soweit sein Fürsichsein im
moralischen Vollzug herrscht, nämlich noch in der selbstbezogenen Position. In dieser Lage
stößt die auf eine Innerseite konzentrierte Grundstimmung des Gewissens wiederum auf eine
Barrikade an seiner egozentrischen Ebene. Das Bewusstsein ist „auf die Spitze seiner
Extreme getrieben“ (W3.482), ohne den konkreten Inhalt seiner Gesinnung zu erringen. Die
allerhöchste Stellung für das Gewissen sei höchstenfalls ein Gebiet, bis zu dessen Grenze, –
nicht in dessen Innenbereich – das Fürsichsein hinaufsteigen könnte. Solange die eigene
Vorstellung des Gewissens noch in der überzeugten Anschauung von sich liegt, d. h. noch
nicht den absoluten Begriff selbst erlangt, ist es noch nur im einfachen „Begriffe seiner
selbst“ oder im „zu Abstraktionen verflüchtigt[en]“ zugespitzten „Extreme“ versunken
(W3.482).
Auch die Einstellung des Gewissens verstrickt sich in der Schranke des moralischen
Standpunkts, weil das Subjekt des Gewissens noch auf der moralischen Ebene steht. Das
Gewissen liegt zwar an der höchsten Spitze des moralischen Geistes, jedoch ist es auch
unleugbar, dass es nur eine andere – aber die letzte und höchste – Variante in der noch
moralischen Einstellung ist. Die Bewegung des moralischen Geistes ereignet sich jetzt nur
innerhalb des Bewusstseins, in dem es genauer gesagt nur noch die verstellende Bewegung
gibt. Sofern er vor dem verstellenden Vorstellen in sich zurückkehrt, wird dieses nichts
anderes als sein Anfangspunkt, d. h. als die moralische Weltansicht.208 Insofern sich das
moralische Gewissen nur im Inneren des Bewusstseins bewegt, kann es noch nicht dem
heuchlerischen Spiel entgehen. Das Gewissen erreicht nur seiner Form nach, d. h. aus seiner
einzelnen Ü berzeugung, die absolute, göttliche Ebene, weil das Subjekt annimmt, dass es
selbst zur absoluten Autonomie gelangen sei.
Das Gewissen ist nämlich „dem Inhalte nach nichts anderes als was es in seiner Weltanschauung vorgestellt
hat“; dadurch „wendet es sich nur gegen sein [eigenes] Vorstellen, aber noch nicht gegen dessen
Wesen.“ Scheier (1996), S. 468.
183
208
B. Die Religion: das Moment der Versöhnung im Rahmen des
religiösen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VII. C. Die offenbare
Religion“
1. Hegels Begriff der Religion
Es wird gesagt, dass in der Religion das Verhältnis des Menschen zum Absoluten, d. h. zur
Grundlage für alles in der Welt, ausgeprägt wird; das gläubige Bewusstsein nimmt an, dass
seine religiöse Weltanschauung prinzipiell auf dem Wissen vom Schöpfergott beruhe.
Insofern wäre aber diese Gottesvorstellung ganz und gar ein bloß Gewusstes, d. h. der
Gegenstand des Bewusstseins, der ihm gegenübersteht; sodann würde dieser Gegenstand
einen Widerspruch bilden, denn er wäre auf den Standpunkt des Bewusstseins beschränkt,
obwohl er für übersinnlich oder übernatürlich gehalten würde. In Hegels philosophischer
Untersuchung der Religion bedeutet das menschliche Wissen von Gott nicht, dass man sich
des Absoluten bewusst ist. Hegel versucht nicht, die Gottesbestimmung als den
Schöpfungsakt der Natur zu behandeln; die Vorstellung von Gott ist ihm zufolge mit
höchsten Bedürfnissen der Menschheit in jeder Phase der Kulturgeschichte eng verwoben.
Im Kapitel „Religion“ bezeichnet Hegel die Religion nicht als das bloße „Bewußtsein des
absoluten Wesens“, sondern als das „Selbstbewußtsein des Geistes“209, das „[d]er sich selbst
wissende Geist“ oder „der sich als Geist wissende Geist“ (W3.495 f.) ist. Jede vor-religiöse
Bewusstseinsgestalt, also die des WELTLICHEN GEISTES (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis
zum Kapitel „Geist“), liegt in der ontologisch-epistemologischen Abtrennung von
Bewusstsein und Gegenstand. Erst auf dem Wissen des Geistes von sich selbst beruht die
Religion; der RELIGIÖ SE GEIST (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion)
Hegel führt in der kurzen Einleitung zum Kapitel „Religion“ die Reihe der vor-religiösen, aber
einigermaßen jenseits- bzw. gott-gläubigen Bewusstseinsgestalten nacheinander auf: 1) der „Verstand“ als das
erste Bewusstsein des Ü bersinnlichen in dem Gegenständlichen dieses Bewusstseins, 2) das unglückliche
Bewusstsein, das sehr unter seiner Unfähigkeit leidet, den von ihm selbst anvisierten Gegenstand (als Göttliches
im Jenseits) zu erreichen, 3) der sittliche Geist als das altgriechische Zutrauen zum göttlichen Gesetz, d. h. zur
Nemesis oder schicksalhaften Notwendigkeit, 4) der „Glaube“ im reinen, aber noch nicht begrifflichen Denken
bzw. dessen Widerlegung als die „Aufklärung“, 5) der Vernunftglauben, mit dem die vollendete
„Moralität“ (das höchste Gut) bezweckt wird, und 6) die gegenseitige gutgläubige Anerkennung unter den
Subjekten des Gewissens. Diese vor-religiösen Momente unterscheidet Hegel dadurch von der wahren Gestalt
der „Religion“, dass in diesen bisherigen vor-religiösen Gestalten der jenseitigen bzw. gottesfürchtigen
Überlegungen das Absolute nur „vom Standpunkte des Bewußtseins aus“ aufgenommen wird, während sich
die „Religion“ als Selbstbewusstsein des Geistes darstellt. W3, S. 495-497.
184
209
impliziert zwei Augenblicke der Versöhnung zwischen dem Subjekt und der Substanz, also
das Volksfest in der altgriechischen Welt und den Gottesdienst in der christlichen Gemeinde.
Die Versöhnung im Rahmen des RELIGIÖ SEN GEISTES folgt daraus, dass das religiöse
Bewusstsein in der Offenbarung des Absoluten zugleich sich selbst anschaut; seine
Selbstanschauung in Gott 210 impliziert das Selbstbewusstsein des Geistes oder das
Selbstverhältnis des Geistes, aber erscheint dem religiösen Bewusstsein selbst als das
Verhältnis des menschlichen (also endlichen) Geist zum göttlichen (also unendlichen) Geist.
Die Religion stellt nämlich unsere Beziehung zu Gott dar, m. a. W.: unser Bewusstsein der
absoluten Wahrheit; Hegels „Begriff der Religion“, der wesentlich das Wissen des Geistes
von sich selbst ist (W3.501), lässt sich dagegen nicht als ein einfaches Bewusstsein von dem
Absoluten beschreiben, weil das Verhältnis des Menschen zu Gott vielmehr die Beziehung
des Geistes auf den Geist bedeutet.
In diesem Zusammenhang lassen sich die Grundzüge, die Hegels Religionsauffassung
sowohl in der PHG als auch in seiner Religionsphilosophie impliziert,211 folgendermaßen
darstellen:
Erstens: Dass Hegel die Religion als die Selbstbeziehung des (absoluten) Geistes und nicht
einfach als einen Glauben an den Schöpfergott erkennt, impliziert eine epochale
Errungenschaft in unserer geistigen Bildungsgeschichte. Aus diesem Grunde bezeichnet
Hegel die Religion als „die höchste, letzte Sphäre des denkenden Bewußtseins“ (V3.79);
210
Zum Verhältnis des menschlichen Gedankens von Gott als Geist zum Selbstbewusstsein Gottes vgl.
Jaeschke (1998), S. 128 f. Und zum des Sich-Wissen des Menschen in Gott vgl. Kruck (2009), S. 59.
211
Um Hegels Begriff der Religion zu verstehen, ist es nötig, seine Darstellung im Kapitel „Religion“ mit
seinen Deutungen der Religion in anderen Werken näher zu vergleichen. Es gibt die Behauptung, dass man in
der PHG Hegels Aufschlüsse des Religionsbegriffes nicht finden kann. Jaeschke (1986), der das bedeutsamste
Argument für diese Behauptung vertritt, denkt aufgrund der umfangreichen Analyse der hegelschen
Religionsauffassung (also im Vergleich zur Darstellung in der Enzyklopädie oder sogar zu Jenaer
Systemkonzeption), dass es sich in Hegels PHG um die Religion nur im Rahmen der Religionsgeschichte
handelt. S. 199-208. Jaeschkes Begründung ist gewissermaßen stichhaltig; man kann zustimmen, dass sogar
die Religionsgeschichte in der PHG, wie er angibt, ihrer Komposition in Hegels Religionsphilosophie nicht
vollständig entspricht (denn in der PHG ist z. B. die „Religion der Zweckmäßigkeit“ in der römischen Welt
nicht thematisiert; die natürliche Religion wird außerdem in der PHG als der „Begriff der Religion“ bezeichnet,
während in seiner Religionsphilosophie der „Begriff der Religion“ im Rahmen der Einleitung zu den ganzen
Darstellungen eingehend und ausführlich dargestellt ist). Auch Wagner (1971) arbeitet die Differenz der
Darstellungs-Logik zwischen der PHG und der Religionsphilosophie heraus. S. 720 ff.
Die vorliegende Arbeit aber beruht auf der Grundüberzeugung, dass die Darstellung der Religion zumindest
mit der Religionsphilosophie im Grunde übereinstimmt. Auch die Position von Splett (1965) steht für diese
Ü berzeugung. S. 52. Hegels Darstellung der Religion in der PHG stützt sich seinem Grundgedanken nach auf
den wahren Begriff der Religion, dass Gott der absolute Geist oder das Selbstbewusstsein des Geistes ist.
Hegels Bezeichnung der natürlichen Religion als des Begriffes der Religion hängt nicht direkt mit seinem
Gedanken des Religionsbegriffes zusammen. Die natürliche Religion fungiert nämlich als der Begriff der
Religion, solange sie als der Anfangspunkt der religiösen Bewusstseinsgestalt dargestellt wird; die natürliche
Religion ist nämlich in der PHG durch den Begriff der Religion deswegen gekennzeichnet, weil die Darstellung
der Religionsgestalten mit dieser Gestalt der morgenländischen Gottesvorstellung anfängt.
185
soweit der Glaube eine Form des menschlichen Wissens ist, kommt der glaubende Mensch
zu der Einsicht in die ewige Wahrheit, indem er über die bloße Erscheinungswelt hinaus geht
und seine Gedankenwelt in die Ebene des Unendlichen erhebt. 212 Hegel konzipiert die
Religion nicht als die Lehre einer besonderen Konfession, sondern als die Gestalt des
absoluten Geistes, weil sie ihrem Inhalt nach die absolute Bestimmung des Geistes betrifft.
Diesen Punkt stellt Hegel in seiner Enzyklopädie folgendermaßen dar: „Die Religion, wie
diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist […] von dem absoluten
Geiste ausgehend zu betrachten“ (W10.366). Hegels Darlegung der Religion betrifft nicht
einfach die bloße Beschreibung des religiösen Glaubens, sondern den absoluten Geist. Die
Philosophie der Religion ist im Grunde als die spekulative Betrachtung des wahren
Religionsbegriffs aufzufassen; insofern unterscheidet sich die Philosophie von der Religion,
weil jene diese begreift. Aber die „höchste Sphäre“, die die Philosophie begreift, ist der
absolute Geist, der eben der Begriff der Religion selbst ist.
Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. - Diese Definition zu
finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz
aller Bildung [wie Kunst, Religion] und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und
Wissenschaft gedrängt (W10.29).
Die griechische Kunst-Religion, die christliche Religion und die Philosophie als
Wissenschaft sind nämlich „nur verschiedene Seiten und Formen ebendesselben Inhalts [d. h.
des absoluten Geistes]“ (W12.69). Die Bemühungen um das Absolute bezeichnet Hegel auch
mit der Formel „der Erhebung des Geistes zu Gott“ (W10.354) – aber streng genommen mit
dem Gedanken, dass Gott Geist ist, oder mit dem Selbstverhältnis des Geistes, also einfach
nicht mit der bloßen „Erhebung der subjektiven Geistes zu Gott“213 –, die die Philosophie
in der klassischen Neuzeit trotz ihrer konkreten Unterschiedenheiten durchdringt – wie Kant
212
Dazu vgl. W8, S. 150-152; V4a, S. 158 f.
Hegel versucht z. B., seine Religionsauffassung von der ihm zeitgenössischen subjektivistischen wie folgt
Auffassung zu unterscheiden: „In Ansehung der Ausgangspunkte dieser Erhebung [des Geistes zu Gott] hat
Kant insofern im allgemeinen den richtigsten ergriffen, als er den Glauben an Gott aus der praktischen Vernunft
hervorgehend betrachtet. Denn der Ausgangspunkt enthält implizit den Inhalt oder Stoff, welcher den Inhalt
des Begriffs von Gott ausmacht. Der wahrhafte konkrete Stoff ist aber […] der Geist […]. Daß die in dieser
Bestimmung geschehende Erhebung des subjektiven Geistes zu Gott in der Kantischen Darstellung wieder zu
einem Postulate, einem bloßen Sollen herabgesetzt wird, ist die früher erörterte Schiefheit, den Gegensatz der
Endlichkeit, dessen Aufheben zur Wahrheit jene Erhebung selbst ist, unmittelbar als wahr und gültig
wiederherzustellen“ (W10.354).
186
213
die Thematik der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft behandelt.214 Der
praktische Gesamtvollzug des objektiven Geistes, also Moral, Sittlichkeit usw., im Rahmen
der neuzeitlichen Philosophie prägt eben im Begriff des christlichen Gottes seinen
Gipfelpunkt aus; damit können sich das Offenbarsein der absoluten Wahrheit und das
Prinzip des freien Selbstbewusstseins in der Neuzeit zusammenschließen. 215 Dieser
Gedanke in der Neuzeit, der mit dem Begriff Gottes als des absoluten Geistes eng verwoben
ist, wird also mit Hegel „in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist
ausspricht“, weil Gott als absoluter Geist „der erhabenste Begriff“ ist, der „der neueren Zeit
und ihrer Religion angehört“ (W3.28). Der gedankliche Inhalt der Religion liegt nicht in der
bloßen Erhebung des subjektiv-endlichen Geistes zum Absoluten als dem unendlichen Geist,
sondern in dem Gedanken, dass Gott Geist ist; der Begriff der Religion impliziert also das
Selbstbewusstsein des Geistes.
Zweitens: Gott manifestiert sich, und damit kann der Mensch ihn anschauen, indem das
Absolute dem Menschen offenbar wird. Gott ist nun nicht jenseitige Substanz, zumal er sich
im Christentum, das sich auf die höchste Form der Offenbarungslehre gründet, direkt als ein
einzelner Mensch, Jesus Christus – obgleich Hegel in der PHG diesen Namen nicht anführt
–, offenbart, und zwar als ein Gottmensch. Wo Gott als dieser Mensch diesseits erscheint,
und hiermit gesehen, gefühlt und gehört wird, dort ist das Absolute gegenwärtig ist. Diese
Offenbarung des göttlichen Wesens ist trotzdem keine banale Erscheinung, denn der Mensch
erreicht durch diese äußerste Herabsetzung Gottes vielmehr die höchste Wahrheit. Der
gedankliche Inhalt der Offenbarung lässt sich so ausdrücken: „Das Niedrigste ist also
zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin
das Tiefste“ (W3.553 f.). Die Offenbarung Gottes gelangt dadurch zu ihrem Gipfelpunkt,
dass der Mensch, d. i. ein Gläubiger, sich auch als Geist erkennt. Weil das Verhältnis des
Menschen zu Gott gerade die Beziehung des Geistes auf sich selbst ist, wird Gott dem
Menschen nicht mehr fremd. Gott als Geist erscheint dem Menschen als Geist, hierdurch
versöhnen Gott und Mensch sich miteinander.
Es liegt wesentlich im Begriffe der wahrhaften Religion […], daß sie geoffenbart und zwar von
Gott geoffenbart sei. […]; der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten
Religion ist es der absolute Geist, der […] sich selbst manifestiert (W10.372 f.).
214
Dazu vgl. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 8, S. 645-879.
Zur Thematik der von Kant versuchten immanenten Erweiterung der praktischen Vernunft zur Religion vgl.
Metz u. Ruhstorfer (Hg.) (2008), Einleitung: Philosophische Perspektive (W. Metz), S. 11.
215
Dazu vgl. Metz (2008), S. 169 ff.
187
Hegels Ansicht kann dementsprechend zu diesem Satz unformuliert werden: Der Geist-Gott
(also der unendliche Geist) ist für den Geist-Menschen (also den endlichen Geist) offenbar.
Diese Zusammengehörigkeit zwischen dem endlichen Geist (Mensch) und dem unendlichen
Geist (Gott) ist zuhöchst für die christliche Lehre kennzeichnend. Das Christentum, das
Hegel „der absoluten Religion“ (W3.552) zuordnet, hat nämlich die Bestimmung zu diesem
Punkt: „Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen
Religion offenbar“ (W12.391).
Die Auffassung der Offenbarung Gottes als des absoluten Geistes lässt sich als die
folgende Einsicht ausdrücken: „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und
ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist“ (W3.554). Um das Offenbarwerden
des Göttlichen aufzunehmen, wird nämlich das spekulative Wissen von dem Wesen des
Geistes unabdingbar. Die Offenbarung liegt in dem Wissen des Menschen, dass Gott als
Mensch erscheint.
Der gläubige Mensch kann sich grundsätzlich im Medium der religiösen Gemeinde (oder
in deren Gottesdienst) mit dem Absoluten versöhnen; wenn Gott Geist ist, nur insofern dieser
Geist nur für den Geist ist, erscheint Gott für das gläubige Bewusstsein als derjenige, der in
der Gemeinde gegenwärtig ist, sodass der Geist-Gott wesentlich für den Geist-Menschen
offenbar ist. Der ewige Inhalt, dass Gott Geist ist, wird in der Religion in ihrem strengen
Sinne, zuhöchst in der christlichen, der die absolute Wahrheit der Religion eigentümlich ist,
ausgeprägt. Weil das gläubige Bewusstsein (soweit es mit dem Gottmenschen zusammen
nicht lebte) Gott nicht unmittelbar anschauen kann, soll sein Wissen von Gott auf die höhere
Ebene emporgehoben werden. Die absolute Wahrheit der christlichen Religion ist dadurch
zu erreichen, dass der Mensch die Gegenwart Gottes in seiner inneren Tiefe erfassen kann,
m. a. W. – mit Hegels Formulierungen in Jenaer Zeit – „den spekulativen Karfreitag […]
wiederherstellen“ (W2.432) kann. Das spekulative Wissen der religiösen Wahrheit, das das
Selbstbewusstsein des Geistes oder den sich selbst wissenden Geist impliziert, erschient dem
religiösen Bewusstsein als die Offenbarung Gottes oder das Verhältnis des menschlichen
zum göttlichen Geist.
Drittens: Aber die religiöse Wahrheit ist zu tiefgründig, als dass sie in der eigentlichen
Form des RELIGIÖ SEN GEISTES, also in dem vorstellenden Wissen, darzustellen wäre. In
diesem Zusammenhang muss man den obigen Satz Hegels („Gott ist allein im reinen
spekulativen Wissen erreichbar“) genauer deuten. Um den Begriff des Religion („Gott ist
188
Geist“) zu wissen, ist das spekulative Wissen zwar nötig, weil das glaubende Bewusstsein
das Tiefste im Niedrigsten akzeptieren soll. Soweit das religiöse Wissen aber noch in der
Form der Vorstellung besteht, erscheint dem Bewusstsein der Inhalt des Absoluten nur als
Ansichsein des Geistes. Der Grund dafür ist Folgendes: Das glaubende Bewusstsein weiß
nur, dass Gott uns seine Güte, Gnade usw. offenbart, aber nicht, was der Inhalt des absoluten
Geistes ist; das Bewusstsein kann diesen Inhalt nur aufnehmen, aber nicht begreifen. Damit
das religiöse Wissen spekulativ sein kann, muss es seine Grenze überschreiten, nämlich über
die Form der Vorstellung hinausgegangen sein. Wenn der Gehalt des religiösen Glaubens
vollends ausgelegt wird, ergibt sich ergo – mit Hegels Formulierungen – Folgendes: „[D]er
religiöse Inhalt flüchtet sich […] in den Begriff“ (V5.174); die philosophische Auslegung
des Geistes der Religion besteht nämlich darin, die wahre Bedeutung der religiösen Lehre
zu begreifen. Indem man die Religion im begreifenden Gedanken erfasst, kann dieses
Begriffene in seiner höchsten Form dadurch dargestellt werden, dass der Inhalt der Religion
in Form der Vorstellung zwar in den Begriff aufgehoben wird, aber ihre ewige Wahrheit
aufbewahrt, wie sie in der Vorstellung ist. Die Schranke der offenbaren Religion und ihre
Ü berwindung lassen sich folgendermaßen darstellen:
Ob er [= der Geist] aber in ihr [= in der offenbaren Religion] wohl zu seiner wahren Gestalt gelangt,
so ist eben die Gestalt selbst und die Vorstellung noch die unüberwundene Seite, von der er in
den Begriff übergehen muß, um die Form der Gegenständlichkeit in ihm ganz aufzulösen, in ihm,
der ebenso dies sein Gegenteil in sich schließt. Alsdann hat der Geist den Begriff seiner selbst
erfaßt, wie wir nur erst ihn erfaßt haben, und seine Gestalt oder das Element seines Daseins,
indem sie der Begriff ist, ist er selbst (W3.502 f.).
Man kann sich deswegen streng genommen nicht vermöge der Religion in ihrem engeren
Sinne, sondern erst anhand ihrer philosophischen Betrachtung selbst mit der religiösen
Wahrheit versöhnen. Die religiöse Manifestation des Absoluten muss sich für Hegel
folgendermaßen zeigen: Die Einsicht, dass Gott als Geist nur im spekulativen Wissen
erreichbar ist, besteht nicht in dem rein historischen Wissen, wie in der religiösen
Begeisterung, im subjektiven Gefühl oder im Wunder; Hegels Gedanke vom spekulativen
Wissen der religiösen Wahrheit impliziert kein bloßes unmittelbares Wissen des religiösen
Bewusstseins, sondern das begreifende Erkennen Gottes (V3.71). Ü ber das Verhältnis
zwischen der vorstellenden und dem begreifenden Wissen schreibt Hegel Folgendes:
189
[D]ie Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott
als Geist zu erkennen zu geben. Dies, was hier der Vorstellung gegeben und was an sich das
Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist die Aufgabe der Philosophie
(W10.29 f.).
Hegels Gedanke, dass Gott Geist ist, m. a. W.: dass der Begriff der Religion das
Selbstbewusstsein des Geistes ist, kann also erst dann in seiner vollendeten Bedeutung
verstanden werden, wenn die ewige Wahrheit der Religion einfach nicht in Form des
vorstellenden Denkens, sondern im Begriff liegt. Hegels Lehre von der christlichen Religion
befasst sich zwar mit der ursprünglichen Lehre von dem christlichen Gott, aber seine
Betrachtung enthält mehr als die bloß historisch-faktische Glaubensbekenntnis (also sogar
mehr als die lutherische) in sich; Hegels Prinzip der Christlichkeit liegt zwar in dem an sich
seienden Wesen, das sich auf die Urkunde der christlichen Wahrheit, d. h. auf die Bibel,
gründet, aber der Kerngedanke der christlichen Wahrheit ergibt sich Hegel zufolge aus der
philosophischen Re-Formation, also aus dem spekulativen Wissen des Religionsbegriffs, das
die Lehren der Konfessionen (die aus der Reformation hervorgegangen sind) voraussetzt,
aber mehr als dieselben umfasst.
Die begreifende Betrachtung des RELIGIÖ SEN GEISTES geht aus dem Begriff der Religion
hervor; dieser Begriff aber kann sich erst durch den gesamten Bildungsgang des religiösen
Bewusstseins vollenden. Die von Hegel entworfene „Vollendung der Religion“ (W3.497)
setzt den Bildungsprozess des Geistes zu seiner wahren Entfaltung (d. h. von dem Prozess:
der abstrakte Zustand des Geistes => seine Anderswerdung oder Entfremdung => die
Aufhebung seines Andersseins oder seine Rückkehr zu sich)216 voraus. Diese Dialektik der
geistigen Bewegung treten Hegels Darstellung der drei Religionsgestalten und seine
Darlegung der Trinität vom christlichen Gottesbegriff hervor.217
Die Vollendung der Religion liegt darin, dass der RELIGIÖ SE GEIST seine vollendete
Gestaltung dadurch erringt, dass sich die vor-christlichen Gestalten (die natürliche Religion
und die Kunstreligion) und die vor-religiösen (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zu dem
Kapitel „Geist“) als miteinander versöhnt darstellen. Insofern der gläubige Mensch den
216
Dazu vgl. W3, S. 28; 38 f. und W10, S. 9-32.
Hegel denkt, „daß Gott dies ist, als lebendiger Geist sich von sich zu unterscheiden, ein Anderes zu setzen
und in diesem Anderen mit sich identisch zu bleiben, in diesem Anderen die Identität seiner mit sich selbst zu
haben.“ V5, S. 234. Aus diesem Gedanken der Entwicklung des Gottesbegriffes (als absoluten Geistes) folgt
Hegels Deutung der traditionellen christlichen Lehre, insbesondere der Lehre von der Liebe Gottes.
190
217
wahren Begriff der Religion im Begriff erfasst, d. h. er „in der Weltgeschichte zu dieser
Versöhnung kommt“ (V5.269), wird diese vollendete Religion aufgehoben, mit anderen
Worten: Sie hört auf, eine religiöse Gestalt zu sein, indem der Geist über die Form der
Vorstellung hinausgegangen und in den begreifenden Gedanken übergegangen ist. Diese
Versöhnung impliziert, dass der wahre Begriff des RELIGIÖ SEN GEISTES in der
Weltgeschichte völlig entfaltet ist. Der Geist der Weltgeschichte wird in dem ganzen Prozess
des erscheinenden Wissens vonseiten der religiösen Wahrheits-Gestalten dargestellt, die das
Bewusstsein in seiner höchsten Form erreicht.
In diesem Zusammenhang enthält Hegels Darstellung der drei Religionsgestalten einen
entscheidenden Punkt: Der Verlauf der drei religiösen Formen in der PHG stellt sowohl die
Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES als auch eine weltgeschichtliche Implikation dar, die
paradigmatisch für Hegels folgende geschichtsbezogene Betrachtungen ist:
[Der wahre Begriff der christlichen Religion] muß also in dem Selbstbewußtsein der Menschen,
im Geiste an sich, im Weltgeiste so vorhanden, der Weltgeist sich so gefaßt haben […]. Dies sich
so Fassen ist aber die Notwendigkeit als der Prozeß des Geistes, der in den vorhergehenden
Stufen der Religion, zunächst der jüdischen, der heidischen [also griechischen und römischen]
sich darstellte […]. So ist die Weltgeschichte die Darstellung dieser Wahrheit als Resultat im
unmittelbaren Bewußtsein des Geistes (V5.80).
Der Entwicklungsgang der Religionsgestalten liegt in dem Prozess, den Unterschied
zwischen der Reihe der real existierenden Religionen und ihrem Begriff, mit Hegels
Formulierungen zwischen dem Bewusstsein des Geistes und dem Selbstbewusstsein
desselben, vonseiten des RELIGIÖ SEN GEISTES aufzulösen (W3.501); die Bewegung der
religiösen Bewusstseinsgestalten richtet sich im Ganzen auf den Prozess der
„Menschwerdung des göttlichen Wesens“, der „Menschwerdung Gottes“ (W3.545; 505)
oder der „Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“ (V5.6), d. h. auf den denkerischen
Zugang des menschlichen zum göttlichen Geist. Der Begriff der Religion, dass sie
wesentlich das absolute Wissen des Geistes von sich ist, macht den Ansatzpunkt des
religiösen Bewusstseins aus, der aber zugleich als sein Endziel vorausgesetzt worden ist, das
aber in der Anfangsphase der Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES schrittweise entfaltet wird.
Seine wesentliche Bestimmung, dass er sich durch seine ganze Entwicklung vollenden kann,
ist nichts anderes als ein Keim zu seinem vollendeten Werden oder noch eine seiner
191
Entwicklungsstufen, solange er noch nicht zu seiner Vollendung gelangt ist. Die Momente
der religiösen Bewegung bestehen deswegen aus der Reihe der besonderen Gestalten des
RELIGIÖ SEN GEISTES, die als solche noch nicht in ihrer vollendeten Form bestehen.
Nachdem sich der RELIGIÖ SE GEIST in der PHG eingangs von der Vergöttlichung der
Naturerscheinungen (in der natürlichen Religion) bis zu der Vermenschlichung Gottes
vermittels der Kunstgebilde (in der Kunstreligion) zog, gestaltet er sich als das Christentum,
d. i. als die auf der Christlichkeit beruhende Religion.
Die beiden vor-christlichen Religionsgestalten beschreibt Hegel zunächst wie folgt:
Die erste Wirklichkeit desselben [= des RELIGIÖ SEN GEISTES] ist der Begriff der Religion selbst
oder sie als unmittelbare und also natürliche Religion; in ihr weiß der Geist sich als seinen
Gegenstand in natürlicher oder unmittelbarer Gestalt. Die zweite aber ist notwendig diese, sich
in der Gestalt der aufgehobenen Natürlichkeit oder des Selbsts zu wissen. Sie ist also die
künstliche Religion [also die Kunstreligion]; denn zur Form des Selbsts erhebt sich die Gestalt
durch das Hervorbringen des Bewußtseins, wodurch dieses in seinem Gegenstande sein Tun
oder das Selbst anschaut (W3.502).
Die natürliche Religion liegt in dem Glauben an die fürchterliche und unverständliche Macht
im Natürlichen. Die erste Form des RELIGIÖ SEN GEISTES ist nämlich nur der „Begriff“ der
Religion, sofern der Entwicklungsgang des religiösen Begriffes mit der unmittelbaren
Gestalt beginnt. In dieser morgenländischen Religion erscheint das Göttliche, das dem
Gläubigen schlechthin fremd ist, sodass hier die Versöhnung zwischen dem Bewusstsein
und dem Absoluten noch nicht zum Vorschein gekommen ist; man findet zwar auch hier
mehr oder weniger den Prozess der Menschwerdung Gottes, streng genommen ergibt sich
aber nur die Vergöttlichung der Natur; die eigentliche Menschwerdung Gottes fängt mit der
Baukunst vom Künstler an; in dem von sich produzierten Werk – nicht in dem Natürlichen
überhaupt – schaut der Mensch sein Wesen an; die Selbstanschauung des einzelnen
Menschen als eines Individuums im allgemeinen oder über-individuellen Werk ist
konstitutiv für Hegels Begriff der Sittlichkeit. In der altgriechischen Kunstreligion entsteht
der erste Augenblick der bedeutsamen Versöhnung im RELIGIÖ SEN GEIST; im Volksfest218
wird das göttliche Wesen dem Polisbürger offenbart, wobei sich seine Andacht in die
Siep (2000) bestimmt diesen Kultus als die typische Gestalt „des politisch-religiösen Gesamtkunstwerks
der griechischen Kultur“. S. 229.
192
218
Begeisterung und seine Hingabe in den Selbst-Genuss verwandelt. Hegel nennt die
Kunstreligion, die der altgriechischen Sittlichkeit angehört, „die absolute Kunst“ (W3.514);
denn die zweite Form der Religion entspricht seinem Begriff der Kunst, dass sich in dem
Kunstwerk die absolute Geistigkeit des Menschen dadurch widerspiegelt, dass man die
Rinde der zufälligen Naturerscheinungen abschält219, sodass das menschliche Bewusstsein
in seinem Werk zur Anschauung der Parusie des Absoluten gelangt.
Die christliche Religion wird auch als die absolute Religion bezeichnet, insofern sich Gott
als der absolute Geist offenbart. Die Kunstreligion ist die Religion der absoluten Kunst,
soweit der absolute Geist in der Gestalt der Kunst oder in der Form der Anschauung
ausgedrückt werden soll; die höchste Wahrheit der Religion liegt nicht in der Kunst, sondern
er selbst ist die Christlichkeit. Die christliche Religion wird in der Religionsphilosophie als
die „vollendete“ Religion angesehen; sie umfasst nämlich die beiden vorherigen Momente,
genauer die Formen der „bestimmten“ Religion, die sich mit der natürlichen Religion und
mit der Kunstreligion deckt.
Die christliche Religion, d. h. die dritte Form der Religion in der PHG, wird nicht nur als
die höchste Religionsgestalt, sondern auch als die höchste der Bewusstseinsgestalten
dargestellt; sie setzt wohl die zwei vor-christlichen Gestaltungen des RELIGIÖ SEN GEISTES
voraus, aber sie schließt auch alle vorherigen Gestaltungen des WELTLICHEN GEISTES in
sich ein.
Das absolute, göttliche Wesen gestaltet sich im Christentum für und durch das religiöse
Bewusstsein, denn Gott wird erkennbar, indem er dem Gläubigen offenbar ist; was für das
Bewusstsein wahrnehmbar wird, das ist ganz und gar als ein sinnliches Dasein nicht einfach
im üblichen Sinne, sondern als der absolute Geist, der als aufnehmbar zu charakterisieren
ist, bestimmt. Ein bloß unirdisch-himmlisches Absolutes befriedigt das religiöse
Bewusstsein nicht mehr. Diese Eigenschaft, göttlich zu sein, liegt nicht darin, dass diese
Gottheit von dem religiösen Bewusstsein bloß allegorisch auf etwas ihm Fremdes übertragen
werden darf; sie ist vielmehr gleichsam die Parusie des Absoluten, indem das Göttliche in
der Erscheinung anwesend ist. Diese allerhöchste Ausformung des RELIGIÖ SEN GEISTES
nennt Hegel die offenbare Religion:
Die dritte [= Wirklichkeit des RELIGIÖ SEN GEISTES] endlich hebt die Einseitigkeit der beiden ersten
[d. h. der natürlichen Religion und der Kunstreligion] auf; das Selbst ist ebensowohl ein
219
Dazu vgl. W13, S. 127 ff.
193
unmittelbares, als die Unmittelbarkeit Selbst ist. Wenn in der ersten der Geist überhaupt in der
Form des Bewußtseins, in der zweiten des Selbstbewußtseins ist, so ist er in der dritten in der
Form der Einheit beider; er hat die Gestalt des Anundfürsichseins; und indem er also vorgestellt
ist, wie er an und für sich ist, so ist dies die offenbare Religion (W3.502).
Die offenbare Religion kommt aus einer tiefgründigen Vermittlung heraus, und zwar
zwischen der „Unmittelbarkeit“ (bzw. dem natürlichen Göttlichen) und dem „Selbst“ (oder
dem künstlichen Göttlichen), d. h. zwischen der Substanz des RELIGIÖ SEN GEISTES und dem
Subjekt desselben. Die letzte Gestalt der Religion bildet bei Hegel die Synthesis der
Substanzialität des Absoluten und der Subjektivität desselben. Hegels philosophischer
Leitgedanke, den er in der „Vorrede“ zur PHG äußert, lautet: Man hat „das Wahre nicht als
Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen“ (W3.23). Die Wahrheit der
offenbaren Religion liegt im Subjekt, in dem die Substanz nicht verschwunden ist.
Aus diesem Entwicklungsgang ergibt sich die „Vollendung der Religion“; diese bedeutet
sowohl die vollendete Verwirklichung des Religionsbegriffes, dass Gott Geist ist, als auch
die volle Beendigung der Form des religiösen Wissens: der Vorstellung. Der Begriff der
Religion, dass Gott Geist ist, erscheint dem Bewusstsein als der Gottmensch und dadurch
entstehen die Vorstellung der Menschwerdung Gottes bzw. der Versöhnung des Menschen
mit dem göttlichen Wesen und die Gründung der Gemeinde. Aber das wahre Wissen von
Gott ist grundsätzlich erst im begreifenden Wissen, nicht im vorstellenden, erreichbar. Wo
die Religion in ihrer Vollendung steht, muss der Geist also „in den Begriff
übergehen“ (W3.503), um in dieser Form des begreifenden Denkens den absoluten Geist
auszuprägen; sodann erreicht das Bewusstsein das absolute Wissen. Soweit der Begriff der
Religion noch in der Vorstellung des glaubenden Bewusstseins besteht, hat der absolute
Geist die Form des Ansichseins; das heißt: Der an und für sich seiende Geist erscheint dem
Bewusstsein nur als das Ansichsein. Indem das Bewusstsein wissen kann, was der absolute
Geist an und für sich ist, gelangt es zum absoluten Wissen, in dem das Bewusstsein zur
Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Versöhnung im moralischen Gewissen (d. h.
der Versöhnung in der Form des Fürsichseins) und der Versöhnung in der offenbaren
Religion (d. h. der in der Form des Ansichseins) (W3.579) kommt.
194
2. Der gedankliche Boden für die offenbare Religion
2.1 Die Entäußerung der Substanz
Hegel erfasst den gedanklichen Inhalt des Christentums, das sich daraus ergibt, dass der
RELIGIÖ SE GEIST die ihm angemessene Gestalt erlangt; sie gilt eben als die letzte und
höchste Stufe des religiösen Bewusstseins, sodass in ihr der wahre Begriff der Religion
vollkommen manifestiert wird. Die natürliche Religion und die Kunstreligion machen
nämlich den gedanklichen Boden für die offenbare Religion; also lässt sich dies derart
ausdrücken, dass der Geist der Religion von der altmorgenländischen Welt (in der
natürlichen Religion) aus durch das altgriechischen Welt (in der Kunstreligion) und
schließlich zum christlichen Prinzip hingeführt wird; die offenbare Religion ist die Synthesis
der altorientalische Substanzialität und der griechischen Subjektivität.
Zur gedanklichen Basis der christlichen Religion in der PHG zählt aber (neben des
RELIGIÖ SEN GEISTES) auch der WELTLICHE GEIST (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zum
Kapitel „Geist“); denn Hegels These des christlichen Wahrheit, die im Grunde auf der
ursprünglichen Urkunde der von seinem Stifter aufgebauten Lehre beruht, setzt
weltgeschichtlich den ganzen Bildungsprozess des menschlichen Geistes (einschließlich des
Hegel selbst zeitgenössischen philosophischen Gedankens) voraus. Daraus ergibt sich, dass
es sich dabei nicht allein eindimensional um die Grundlage für die Herausbildung der
christlichen Religion handeln soll. Die philosophischen Ü berlegungen darüber, welche
Bewandtnis es mit dem „Boden für eine höhere geistige Welt“ (W12.386) oder mit der
„Inkubation des offenbaren Geistes“220 hat, sind nämlich dynamisch beschaffen. Deshalb
kann man erkennen, dass – wenn man den Gedankengang zum Christentum in der PHG mit
Hegels Bezeichnung „Knoten“ und „Bund“ (W3.500 f.) 221 vergleicht, in der offenbaren
Religion vorherige gedankliche Knotenlinien, also sowohl im vor-religiösen oder
WELTLICHEN Geist
als auch in den zwei Gestalten des religiösen Bewusstseins, d. h. in
der natürlichen Religion und in der Kunstreligion, in einem philosophischen Bund, d. h.
Bündel, gleichzeitig und parallel auftreten.
In der Zwischenzeit der Gedankengeschichte nähert sich das erscheinende Wissen
allmählich seiner wahren Ebene an. Erst durch diese graduelle Selbstentwicklung des
Geistes entsteht ein scheinbar abrupter Sprung zu einer gänzlich neuen Periode, wie von
220
221
Scheier (1986), S. 591.
Dazu vgl. den Teil I, C. 2. 5. „Religion: der absolute Geist in Form der Vorstellung“.
195
Hegel als ein „qualitativer Sprung“ benannt, der in der „Vorrede“ folgendermaßen
klargemacht wird:
[W]ie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur
vermehrenden Fortgangs abbricht - ein qualitativer Sprung - und jetzt das Kind geboren ist, so
reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des
Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne
Symptome angedeutet [...]. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen
nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde
der neuen Welt hinstellt (W3.18 f.).
Inzwischen wird das Bewusstsein, das die Geburt der neuen Welt (obwohl sie sich noch
nicht deutlich zeigt) vor Augen hat, unvermeidlich von dem „Leichtsinn“ und von der
„Langweile“ ergriffen, soweit die Entfremdung des Geistes nicht vollständig überwunden
ist. Es erfährt sogar mit Schmerz, dass die bisherigen substanziellen Stützen nicht mehr für
das Bewusstsein einen Anspruch der Wahrheit und Verbindlichkeit erheben können, und
dass seine Hoffnung auf die Geburt der neuen Periode trotzdem noch nicht verwirklicht ist.
Diese Situation drückt im Allgemeinen die Zweischneidigkeit der Ü bergangsperiode aus.
Die
Aufgabe
der
PHG
liegt
darin,
darzulegen,
wie
„Leichtsinn“
und
„Langweile“ überwunden werden.
Der Ü berwindungsprozess geschieht dadurch, dass der sittliche Geist durch seine SelbstEntäußerung endlich zu seiner Wahrheit gelangt. Hegels Darstellung der offenbaren
Religion beginnt mit dem folgenden Satz:
Durch die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten
(W3.545).
Daraus lässt sich folgern, dass die sittliche Kunstreligion den Boden für die Herausbildung
der christlichen Religion ausmacht. Aber es ist an dieser Stelle m. E. auf zwei Punkte
sorgfältiger zu achten:
Der eine ist zunächst die Präposition: „[d]urch“. Die christliche Religion ist einesteils einen
bestimmten Zeitraum (d. h. nach der altgriechischen Zeit in der Weltgeschichte) hindurch
196
aufgetreten. Die offenbare Religion ist erst an demjenigen Zeitpunkt notwendig, wo alle
Gestaltungen in der Kunstreligion hinfällig werden. Indem der RELIGIÖ SE GEIST nämlich
durch die Kunstreligion völlig hindurchgegangen ist, ist er „über“ den Geist der
Kunstreligion „hinaus“ (W3.514), sodass die offenbare Religion zum Vorschein kommt.
Der zweite Punkt ist Hegels Formulierungen: der „aus der Form der Substanz in die des
Subjekts getreten[e]“ Geist. Der RELIGIÖ SE GEIST ist nämlich über die Form der Substanz
hinausgetreten und bereits in die Form des Subjekts hineingetreten. Die Kunstreligion hat
zwar schon die Substanz sich in das Subjekt verwandeln lassen. Die Kunstreligion
charakterisiert Hegel nämlich als die Religion der Subjektivität im Unterschied zur
orientalischen Anschauung des Absoluten als Substanz. Die sittliche Gesinnung in der
altgriechischen Welt war aber das unerschöpfliche Vertrauen, das der Polisbürger seinem
Gemeinwesen entgegengebracht hat. Dieses Ethos ist nun verschwunden; der Geist geht über
seine Substanz hinaus, sodass er in seiner Subjektivität sein absolutes Wesen sieht.
Der Geist in der antiken Welt ist bei Hegel streng genommen selbstlos; die Ursache dafür
ist entweder die Furcht vor der überwältigenden Substanz oder das reflexionslose Vertrauen
zu ihr. In den Gestaltungen der natürlichen Religion (insbesondere im „Lichtwesen“ als ihrer
ersten Stufe) war „das schöpferische Geheimnis“ (W3.505) dem Bewusstsein schlechthin
fremd. Dieses Göttliche heißt „das furchtbare [Wesen] der Naturmacht“ (GW8.280), deren
Furchtbarkeit aus dem Abstand zwischen der Substanz und dem Subjekt resultiert; 222
dadurch war das Selbstbewusstsein „in der furchtbaren Substanz“ (W3.545) noch nicht
gesichert. Sogar die Subjektivität der Kunstreligion ist noch nicht subjektiv. Die antike
Sittlichkeit liegt darin, dass sich das sittliche Volk in der unmittelbaren Einheit mit seiner
Substanz glückselig fühlt. Der griechische Staatsbürger ist vereinigt mit dem göttlichen
Wesen und in Harmonie mit dem Prinzip des Gemeinwesens; dementsprechend tritt die freie
menschliche Gestalt in den griechischen Götter-Statuen heraus. Er konnte sich jedoch als ein
einzelnes Subjekt der Reflexion nicht auffassen. Der Geist der sittlichen Religion in der
griechischen Welt beruhte nämlich nur auf der Sitte, d. i. auf der Gewohnheit, aber nicht auf
seiner besonnenen, selbstbewussten Reflexion; das frühe Bewusstsein der Sittlichkeit, etwa
die Gesinnung von Antigone, war voller Zuversicht, dass ihre „unbefangene Sittlichkeit“,
die gleichwohl noch nicht im Standpunkt der Moralität besteht (W12.137), sogleich die
ewige Wahrheit sei; das Mitglied des sittlichen Gemeinwesens wird daher als das selbstlose
222
Dazu vgl. Häußler (2008), S. 377.
197
Selbst entpuppt, das „an die furchtbare unbekannte Nacht des Schicksals“ (W3.495) fraglos
glaubte.
Allein der explizite Entwicklungsprozess der vorchristlichen Religionsgestalten ist
zeitgleich die Abfolge der impliziten Umgestaltung zur Selbstbewusstwerdung des Geistes.
Der Ü bergang von der blinden Ehrfurcht vor der Naturmacht bis zum „Leichtsinn“ des
Bewusstseins ist nämlich als Prozess der Menschwerdung Gottes zu betrachten. Dieser
Anthropomorphismus geschah schon in der natürlichen Religion, aber eigentlicher in der
Kunstreligion, indem der „geistig[e] Arbeiter“ (W3.512) durch seine Tätigkeit die ihm
eigene Gestalt der Gottheit herstellt hat. Diese eigentliche Menschwerdung macht „den Kreis
der Hervorbringungen der Kunst“ (W3.548) aus. In dem Kunstgebilde meinte das sittliche
Bewusstsein, es sehe bei den Gottesgebilden das, was es selbst ist. Aber in dem „geistigen
Kunstwerk“ als der letzten Stufe der Kunstreligion kamen die „Entvölkerung des
Himmels“ und die „allgemeine Auflösung der gestalteten Wesenheit“ (W3.540; 542) vor;
dadurch hat sich für das Bewusstsein die wirkliche Ohnmacht seines Gottes aufgetan. Das
Bewusstsein der „Komödie“ (im Abschluss der Kunstreligion) sprach aus:
Das Selbst ist das absolute Wesen (W3.545).
Dieses letzte Bewusstsein in der Kunstreligion hat alles Vertrauen zur furchtbaren und
geheimnisvollen Substanz zerstört, indem das „Selbst“ sein absolutes Recht in Anspruch
genommen hat. Die Subjektivität des Geistes bildet nun die Basis für das Wesentliche in der
Welt; diese Wesenhaftigkeit besteht ausschließlich im Zutrauen zu sich bzw. in der
Selbstgewissheit. Der in der Form des Subjekts bestehende Geist ist unter diesen Umständen
das einzelne „Selbst“, das zugleich seine Gesinnung zu seinem Substrat macht.
In diesem Zusammenhang lässt sich die Gesamtbewegung der beiden vor-christlichen
Religionen folgendermaßen ausdrücken: Der RELIGIÖ SE GEIST geht von der extremen
Substanzialität des absoluten Wesens (im „Lichtwesen“ als der ersten Gestalt der natürlichen
Religion) zu der ebenfalls extremen Subjektivität desselben (in der „Komödie“ als der letzten
Gestalt der Kunstreligion) über; dieser Entwicklungsgang wird von Hegel als die
Menschwerdung Gottes bezeichnet, die zur Entäußerung oder Depotenzierung der Substanz
führt, indem der Geist auf die zugespitzte Ebene der Subjektivität gelangt. Wir (also vom
Standpunkt der Wissenschaft aus) können also in der Ausbildungsgeschichte der
vorchristlichen Religionen den notwendigen Ü bergang in die Form des Subjekts erblicken;
198
der gesamte Entwicklungsgang des RELIGIÖ SEN GEISTES impliziert gleichwohl den (für das
Bewusstsein selbst) „bewußtlos[en]“ (W3.549) Ü bergang vom selbstlosen „Selbst“ zum
Selbstbewusstsein des Subjekts. 223 Diesen Umstand nennt Hegel die „Entäußerung der
absoluten Substanz“ oder „ihr Werden zum Selbstbewußtsein“ (W3.548 f.).
2.2 Die Entäußerung des Selbstbewusstseins
Die Struktur des Ü bergangs von der natürlichen Religion zu der Kunstreligion ist nicht
einfach eindimensional; sie ist nicht einfach als die lineare Bewegung, also der bloße
Ü bergang von Substanz des Absoluten zum Subjekt desselben, anzusehen. Oberflächlich
scheint zwar es, als ob es stufenweise erst die Geltendmachung der Substanz, dann deren
Untergang und endlich den allmählichen Aufgang des selbstbewussten Subjekts gäbe. Aber
die
absolute
Selbstgewissheit
des
Subjekts
(also
der
obige
Eigensinn
des
Komödiendarstellers: „Das Selbst ist das absolute Wesen“) bringt das Bewusstsein in eine
komplett andere Phase. Die Entmachtung der Substanz bedeutet vom spekulativen
Standpunkt aus also zugleich die „Entäußerung des Selbstbewußtseins“ (W3.549); je mehr
das Bewusstsein von sich selbst gewiss wird, desto mehr wird die des Geistes von seiner
Substanz geschwächt. Die Entäußerung der Substanz führt zur Entäußerung des
Selbstbewusstseins. Die beiden Entäußerungen verlaufen also aus dem spekulativen
Blickwinkel vielmehr parallel; die Entkräftung der Substanz bedingt jedoch geradezu die
Entkräftung des Selbstbewusstseins, weil die Substanz die Grundlage für den
selbstbewussten Geist bildet. Durch den Entwicklungsgang der beiden vorchristlichen
Religionen entsteht die absolute Religion, deren Wahrheit in dem Subjekt liegt, in dem die
Substanz ebensosehr aufbewahrt ist.
Nachdem sich die Kunstreligion in der „Komödie“ vollendet hat, kommt zum religiösen
Bewusstsein die Einsicht in die Entlastung der Furchtbarkeit bzw. Rätselhaftigkeit; die
Entäußerung der Substanz wird allerdings nun mit der Substanz- bzw. Haltlosigkeit belastet.
Die Hervorhebung des Subjekts, die mit der Entäußerung der absoluten Substanz
zusammenfällt, wirkt sich darauf aus, dass, indem jedes absolute Wesen außerhalb des
Bewusstseins hinfällt, ihm „nichts in der Form des Wesens gegenübertritt“ (W3.545). Daraus
Dazu vgl.: „Religionsgeschichtlich ist mit dem unbewußten Übergang zum Selbstbewußtsein klarerweise
der Schritt von der natürlichen zur Kunst-Religion gemeint.“ Schmidt (1997), S. 400.
199
223
folgt sogleich, dass der Geist „sein Bewußtsein“, genauer seinen Gegenstand,
„verloren“ (W3.545) hat. Dadurch, dass sich die Substanz ihrer Wesenheit entäußert, gibt es
für das Bewusstsein überhaupt keine gegenständliche Substanzialität. Das leichtsinnige
Subjekt, das sich an der Selbstgewissheit erfreute, erfährt sogleich, dass alle Hoffnungen auf
das
glückselige
Leben
vielmehr gescheitert
sind,
weil
die Haltlosigkeit
des
subjektorientierten Geistes dieses schicksalhafte Erlebnis bedingt. Ü ber diesen Umstand
schreibt Hegel:
Indem also das Vertrauen gebrochen, die Substanz des Volks in sich geknickt ist, so ist der Geist,
der die Mitte von bestandlosen Extremen war, nunmehr in das Extrem des sich als Wesen
erfassenden Selbstbewußtseins herausgetreten. Dieses ist der in sich gewisse Geist, der über
den Verlust seiner Welt trauert und sein Wesen, über die Wirklichkeit erhoben, nun aus der
Reinheit des Selbsts hervorbringt (W3.514).
Dieser substanzlose Zustand ereignet sich folgendermaßen: Der wackere Ausspruch des
Selbstbewusstseins: „Das Selbst ist das absolute Wesen“ bedeutet einerseits, dass das
religiöse Bewusstsein restlos verschwunden ist, da es keine Substanz mehr im Bezug auf die
Religion gibt. Wo es keine Substanz in der Außenwelt gibt, da gibt es auch keinen Gott, an
den das Bewusstsein glauben könnte. Das „Selbst“, das unumgänglich den schmerzhaften
Substanzverlust erlebt, stößt einen Seufzer aus, dass „Gott gestorben ist“ (W3.547).
Weil nach der Vollendung der Kunstreligion ihr eigenes Religionsgebilde nicht mehr
beherrschend ist, kann man sagen, dass der RELIGIÖ SE GEIST in der nach-kunstreligiösen
Welt in den „nichtreligiösen“ (W3.545) Geist, der „die götterlose Welt“ (W12.139) darstellt,
zerfallen ist. Dass der sittliche Geist, also der wirkliche Geist in der griechischen Welt,
verloren gegangen ist, bedeutet nicht nur den Tod der griechischen Götter sondern auch den
„Tod des sittlichen Lebens“ (W7.511), den Hegel in der altrömischen Epoche erblickt. Nach
dem Untergang der sittlichen Welt entsteht das einzelne Bewusstsein, das fest auf sein
Wesen vertraut. Jedes Bewusstsein will seine Freiheit in seiner Außenwelt geltend machen;
es will, um seinen freien Willen zu verwirklichen, zunächst von seinem Anderen als ein
rechtliches freies Subjekt anerkannt werden. Dieses Subjekt wird als die rechtliche
„Person“ im römischen „Rechtszustand“ dargestellt, die zwar sagt, „das Selbst als solches,
die abstrakte Person ist absolutes Wesen“ (W3.546). Allerdings ist dieser Rechtsanspruch,
dass jede Person dazu berechtigt sei, etwas zu besitzen und sich anzueignen, wie bereits
200
gesagt, vergebens, denn es gibt auch die Möglichkeit, nichts zu besitzen und sich anzueignen.
Die eigenständige Herrschaft des Kaisers in der römischen Welt ist des Weiteren vielmehr
ein Beleg für die tatsächliche Abhängigkeit der Persönlichkeit. Der Volksgeist in der
sittlichen Welt ist dadurch gescheitert, dass die ontologische Grundlage für ihre Subsistenz
„entsittlicht“ (W12.349) ist. In diesem entsittlichten Rechtszustand kann die Sittlichkeit nicht
mehr vorhanden sein; demgemäß bleibt nun bestenfalls das „geistlose Gemeinwesen“ oder
der „gestorbene Geist“ (W3.355) übrig.
Mit diesem Untergang der griechischen Sittlichkeit fällt der Untergang der Kunstreligion
zusammen. Das Bewusstsein in der nachkunstreligiösen Welt ist nicht mehr in der Lage, die
lebendige Einheit mit dem absoluten Wesen zu erleben. Das Bewusstsein in der
nachsittlichen Welt hofft, dass seine Würde in der Form des reinen Gedankens – als
„Stoizismus“ und „Skeptizismus“ im Kapitel „Selbstbewußtsein“ – unangetastet bestehen
bleiben kann. Der Anspruch darauf, im reinen Gedanken frei zu bleiben, stürzt um der
tatsächlichen Substanzlosigkeit willen wie ein Kartenhaus ein.
Die dieser römischen Welt entsprechende Religionsgestalt wird zwar in der PHG nicht
explizit dargestellt; im Kapitel „Selbstbewußtsein“ kommt neben der obigen hellenistischen
philosophischen Gestaltungen nur das unglückliche Bewusstsein vor. Aber in der
Religionsphilosophie wird hingegen die römische Religion, die mit der Religion der
„Zweckmäßigkeit“ oder des „Verstandes“ bezeichnet wird, in aller Ausführlichkeit
behandelt (V4a.95 ff.; 397 ff.; 579 ff.). Also darf niemand meinen, dass der Geist in der
römischen Welt außerhalb der Religion stehe, weil auch die Substanzlosigkeit in der
römischen Welt par excellence konstitutiv für den Entwicklungsgang des RELIGIÖ SEN
GEISTES
ist. Dessen Erlebnis über den Selbstverlust bringt ihn zur höheren religiösen
Reflexion; die Entäußerung des Selbstbewusstseins macht einen anderen gedanklichen
Boden für die neue Religion aus. Der Inhalt der Entäußerung wurde schon im Kapitel
„Selbstbewußtsein“ bzw. „Geist“ – im Kontext des Untergangs der antiken Sittlichkeit –
dargestellt. Während die dortige Darstellung jedoch den nur an sich notwendigen, also
unbewussten Ü bergang zum Verfall der Sittlichkeit betraf, ist das Selbst an dieser Stelle nun
für sich, also darüber bewusst, wie und warum es sich so verhält. Die Entäußerung des
Selbstbewusstseins besteht in dem Wissen über das „tragische Schicksal“, dass aus der
Entäußerung der Substanz der „Verlust“ des glückseligen Lebens und der ihm nachfolgende
„Schmerz“ (W3.547) resultieren. Dieses tragische Bewusstsein ist m. E. nicht einfach als
das Bewusstsein des Helden in der „Tragödie“, das dem glücklichen Bewusstsein in der
„Komödie“ vorherging, zu verkennen. Das Bewusstsein in der Tragödie beruht noch auf
201
dem Zutrauen zu der Substanz; davon ausgehend glaubt es, die Versöhnung zwischen dem
„Selbst“ und dem „Wesen“ sei immer möglich. Dieses Bewusstsein stellt selbstverständlich
das sittliche Bewusstsein dar. Im Gegensatz dazu bedeutet das Wissen von dem tragischen
Schicksal in der nachsittlichen Welt, dass die Glückseligkeit des sittlichen Lebens nun
verschwunden ist. Diese ganze Abfolge der Bewusstseinsentwicklung in dieser Phase lässt
sich wie folgt beschreiben: das Bewusstsein in der Tragödie => das Bewusstsein in der
Komödie => das tragische Bewusstsein, das zur Einsicht in das Schicksal des kunstreligiösen
Bewusstseins kommt. Das Wissen über diesen Verlust und Schmerz ist also durchwegs das
Wissen über den Selbstverlust.
Aus dem obigen lässt sich folgern: Das „Selbst“ ist sich nun seiner Lage bewusst; dieses
Selbst-Bewusstsein fühlt sich traurig, da ihm etwas Schicksalhaftes widerfahren ist. Es weiß,
dass sein Leben nicht vom Glück begünstigt ist und auch dass es so ungeschickt ist, dass
sein Vollzug missglückt ist. Das sein Unglück wissende „Selbst“ kann man das unglückliche
Bewusstsein (Im Abschluss des Kapitels „Selbstbewußtsein“), aber eigentlicher das
„unglückliche Selbstbewußtsein“ (W3.547) nennen. 224 Das unglückliche Bewusstsein
impliziert, dass die Anschauung des absoluten Wesens verloren gegangen ist. Dieses
Moment des verunglückten Bewusstseins fungiert in der Geburtsphase der offenbaren
Religion als das eine Grundmoment, das sich aus der Entäußerung des Selbstbewusstseins
ergibt. Das unglückliche Selbstbewusstsein weiß, dass die Person doppelsinnig – sei es im
„unmittelbaren“ oder rechtlichen Sinne (bei der römischen Welt) oder im „vermittelten“ oder
„gedachten“ Sinne (bei der hellenistischen Philosophie) – ihren Wert vollständig verloren
hat und dass die Vollziehung seines Willens vielmehr als den vollkommenen Verlust
desselben bedeutet (W3.547); das unglückliche Selbstbewusstsein ist „dieser seiner bewußte
Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich“ (W3.547).
Sein schmerzhafter Ü berblick darüber, dass die griechische Sittlichkeit durch den Tod der
olympischen Götter verunglückt ist, bedeutet gleichfalls die Einsicht in das Verlorengehen
des heiteren, angenehmen Kunstgenusses, durch den sich das Bewusstsein mit seinem
Wesen versöhnte.
Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ bezeichnet Hegel dieses „Selbst“ als das unglückliche Bewusstsein. Der
Ausdruck des unglücklichen Selbstbewusstseins trat in der PHG außer an dieser Stelle schon einmal im
Abschnitt „beobachtende Vernunft“ als erster Abschnitt im Kapitel „Vernunft“ auf. W3, S. 260. Warum es
zwischen dem unglücklichen Bewusstsein und dem unglückliche Selbstbewusstsein einen bedeutsamen
Unterschied gibt, lässt sich folgendermaßen erläutern: Das erste wurde im Grunde „als Gestalt der
substanzlosen Bewegung“ (392) dargestellt, das letzte liegt hingegen im noch tieferen Sinne. Dieses
Selbstbewusstsein ist nämlich nicht nur an sich unglücklich, sondern weiß auch für sich, dass es an sich so ist,
sodass es zur Selbstentäußerung führt. Um diesen Punkt des verunglückten Bewusstseins zu betonen, benutzt
Hegel die Redewendung unglückliches Selbstbewusstsein.
202
224
[Also] ist das Vertrauen in die ewigen Gesetze der Götter, wie die Orakel, die das Besondere zu
wissen taten, verstummt. Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so
wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist, die Tische der Götter ohne geistige Speise
und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtsein nicht die freudige Einheit
seiner mit dem Wesen zurück (W3.547).
Der Augenblick der herrlichen Versöhnung bei der Kunstreligion, also die „Religion der
schönen Kunst“ (W10.368), ist nun hinfällig; in den Kunstwerken ist nämlich die Kraft des
Geistes nicht mehr erkennbar. Das Kunstwerk selbst war für das sittliche Bewusstsein das
Symbol für sein glückliches Schicksal, das ihm seine Schutzgöttinnen, d. h. die Musen,
reichten. Diese Werke der Kunstreligion wurden sozusagen als „schöne Früchte“ (W3.547),
i. e. als ein Paradigma für „die schöne Sittlichkeit“ (W12.138), veranschaulicht. Aber die
schönen Gebilde der Kunstreligion sind nunmehr vergänglich; jene Früchte sind nicht mehr
lebendig, weil sie nur die Relikte der vergänglichen Herrlichkeit sind. Ü ber die Werke der
Kunstreligion schreibt Hegel folgendermaßen:
Sie sind nun das, was sie für uns sind, - vom Baume gebrochene schöne Früchte: ein
freundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert; es gibt nicht
das wirkliche Leben ihres Daseins, nicht den Baum, der sie trug, nicht die Erde und die Elemente,
die ihre Substanz, noch das Klima, das ihre Bestimmtheit ausmachte, oder den Wechsel der
Jahreszeiten, die den Prozeß ihres Werdens beherrschten (W3.547 f.).
Diese vom Baume gebrochenen Früchte sind nämlich von der substanziellen Grundlage für
die Samenreife, d. i. von organischen Pflanzenteilen, von den Naturkräften und von der
Umwelt, abgebrochen worden. Dementsprechend ist auch die Wirklichkeit des sittlichen
Lebens nicht mehr gegenwärtig, sodass es nur die Erinnerung an eine solche vergangene
Wirklichkeit gibt; die Kunsterfahrung ist kein mehr „gottesdienstliche[r]“ Genuss, sich in
die sittliche Welt „hineinzuleben“, sondern eher gibt es die bloß „äußerliche“ Beschäftigung,
nur die vergangene Wirklichkeit „in sich vorzustellen“ (W3.548). Die Glückseligkeit des
sittlichen Lebens bedeutet die Erinnerung an das vergangene Glück.
203
Der „Gedanke der vergangenen Kunst“ 225 liegt im Wissen über den doppelsinnigen
Verlust des – also sowohl WELTLICHEN als auch RELIGIÖ SEN – GEISTES. Das Wissen des
nachsinnenden Bewusstseins setzt sich von dem reflexionslosen „Wohlsein“ (W3.544) des
Bewusstseins, die Kunstwerke zu genießen, deutlich ab. Dieses „Selbst“, das in der Komödie
ausgedrückt wird, vollzog eine endgültige Entäußerung der Substanz, doch es ist sich
gänzlich dessen unbewusst, dass sich seine Substanz für seine Gewissheit von sich geopfert
hat; das unglückliche Selbstbewusstsein, das von seinem tragischen Schicksal (also von der
Tatsache, dass Gott tot ist) weiß, ist sich hingegen durch und durch der Tatsache bewusst,
dass es die ganze Verlorenheit des Wesens gibt. Also kann man sagen, dass dieses Wissen
um seinen Status quo aus der Entäußerung des Selbstbewusstseins folgt. Das Bewusstsein in
der Komödie und das verunglückte Selbstbewusstsein bestehen freilich in demselben
Weltzustand. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass das erste unbewusstglücklich, das zweite bewusst-unglücklich ist. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass sich
aus dem zweiten ein qualitativer Sprung zur neuen Ebene des Geistes ergibt.
2.3 Die Entstehung der offenbaren Religion
Aus der obigen zweifachen Entäußerung ergibt sich die letztendlich-allerhöchste
Weltreligion; diese Entäußerungsgeschichte ist daher die Vorgeschichte der christlichen
Religion. Daran lässt sich eine noch tiefere Einsicht in den Inhalt der offenbaren Religion
ablesen; sie bildet einesteils die Synthesis der natürlichen Religion und der Kunstreligion,
aber andernteils die höchste Synthesis des vorchristlichen RELIGIÖ SEN GEISTES und des
nachsittlichen WELTLICHEN GEISTES, sodass man den Grund dafür feststellen kann, warum
Hegel die Religion als „die einfache Totalität“ ausdrückt, die „den ganzen Ablauf“ der
vorreligiösen Bewusstseinsgestalten voraussetzt (W3.498). Davon ausgehend analysiert
Hegel die Entstehungsgeschichte der offenbaren Religion, die realiter in der römischen Welt
entstanden ist, mit diesen beiden Momenten: dem glücklichen Bewusstsein (als dem
Müller (2004) S. 240. Hier geht es um Hegels These vom „Vergangenheitscharakter der Kunst“. Ebd.
S. 241. In seiner Kunstphilosophie erwähnt Hegel hinsichtlich dieser Thematik Folgendes: „Die eigentümliche
Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus,
Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können. [...] Die schönen Tage der griechischen Kunst
[…] sind vorüber“. W13, S. 24. Seine berühmte – trotzdem nirgends in seinen Schriften explizit formulierte –
Thematik vom „Ende der Kunst“ ist, wie Jaeschke (1982) beweist, erst „im Kontext ihres Verhältnisses zur
Religion zu erörtern“. S. 184. Der Untergang der sittlichen Religion führt im Hinblick auf die Ä sthetik zur
Einsicht der Vergangenheit der (klassischen) Kunst(-form).
204
225
Leichtsinn des Komödiendarstellers), das zum Untergang der sittlichen Welt führt, und dem
unglücklichen Bewusstsein (als dem tragischen Schicksal, dass die olympischen Götter
gestorben sind), das in dem römischen „Rechtszustand“ lebt und aus dem sich die
hellenistische Philosophie ergibt.
Die Erinnerung an die einstige Glückseligkeit ist gleichbedeutend mit Hegels
nachdenklicher Retrospektive darauf, warum der Geist der sittlichen Kunstreligion verloren
ist. Gleichwohl ist diese Reminiszenz nicht einfach als Heimweh nach dem Vergangenen
anzusehen. Die Diagnose, dass die schönen Früchte vergänglich sind, verkörpert
geradewegs Hegels praktisch-philosophische Bemühung darum, auf der Ebene des
christlichen Prinzips das glückliche Leben zu erneuern.226
Mit diesem Zusammenhang versucht Hegel, den Inhalt der obigen Erinnerung denkerisch
umzudeuten. Die Erinnerung bleibt nicht im Rahmen der Rückschau auf die Vergänglichkeit,
sondern besteht „im reinen spekulativen Wissen“ (W3.554). Dadurch kann man die beiden
Bewegungen der Entäußerung – sei es diejenige der Substanz oder die des
Selbstbewusstseins – als dialektisch, doch – nicht bloß im „negativ-vernünftige[n]“, sondern
ebenso sehr im „positiv-vernünftige[n]“ Sinne (W8.168) – als spekulativ interpretieren.
Diese Spekulation bringt uns zu dem Gedanken des sich selbst wissenden, also
selbstbewussten, Geistes. Die nachsittliche Epoche bedeutet nicht bloß das Ende der schönen
Sittlichkeit, sondern eigentlicher die Schwelle zum neuzeitlichen Gedanken. Der Ü bergang
der griechischen Sittlichkeit zur offenbaren Religion besteht darin, durch die spekulative
Umkehrung, welche die substanzlose Reflexion des Bewusstseins (in der „Bildung“) und die
absolute Gewissheit des Subjekts (in der „Moralität“) erneuert, (erst anhand der spekulativen
Ü berlegung des christlichen Prinzips) die Substanzialität des Geistes erringen, und zwar
ohne auf die Subjektivität desselben zu verzichten. Zusammengefasst: Durch den
philosophischen Sinneswandel der Erinnerung erweist sich der neuzeitliche Geist als der
substanziell-subjektive Geist.
Von der Notwendigkeit dieses Ü bergangs ausgehend bemerkt Hegel mit Emphase eine
drastische Umkehrung des Perspektivs: Das unglückliche Selbstbewusstsein, das über sein
Dazu vgl.: „Die Kunstreligion, die allein auf die Antike zu verweisen scheint, ist zugleich eine Figur, die
erst in der Moderne gedacht und entfaltet werden kann.“ Müller (2004), S. 237.; „Hegel beschreibt mit seinen
poetisch-nostalgischen Wendungen kaum das Bewußtsein des frühen Christentums, sondern eher das seiner
Zeit […] Offenkundig schreibt er seiner eigenen Philosophie die Aufgabe zu, auf dem Boden des Christentums,
der Erfüllung des Begriffs der Religion, die glückliche griechische Religion durch eine begreifende Erinnerung
neu zu beleben.“ Siep (2000), S. 235.
205
226
tragisches Schicksal weiß, steht höher als das glückliche Bewusstsein der schönen
Kunstreligion.
[Denn] wie das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist als die in ihre
Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche
sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des
selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfaßt, so ist der Geist des
Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, mehr als das sittliche Leben und Wirklichkeit
jenes Volkes (W3.548).
Der Geist des tragischen Schicksals versenkt sich in seine innigste Tiefe, und zwar mit
seinem „selbstbewußten Auge“. Das Wissen von sich ist ein Kernpunkt für den Ü bergang
zum neuen Geist (W3.19). Hegel proklamiert diese Diagnose in seiner Kunstphilosophie mit
dem folgenden Satz: „Der Gedanke und die Reflexion hat [sic!] die schöne Kunst
überflügelt“ (W13.24). Der Grund dafür ist, dass sich aus der Reflexion des
Selbstbewussteins das Wissen der subjektiven Reflexion ergibt. Diese philosophische
Einsicht des neuzeitlichen Geists nennt Hegel die „Er-Innerung“ (W3.548), also die
denkerische Verinnerlichung. Das Selbstbewusstsein erinnert sich auf der spekulativen
Ebene nun an die bisherigen Bewegungen der Entäußerung. In seinem tiefsten Inneren reift
seine Reflexion in sich endlich zum spekulativen Rückblick auf den schon in der Welt
gewesenen Geist.
Der Schlusspunkt der Entäußerung der Substanz ist eben der Ansatzpunkt der Entäußerung
des Selbstbewusstseins, allerdings ist er in der Tat auch der Ausgangspunkt des christlichen
Prinzips. 227 Die beiden Böden für den neuzeitlichen Geist verschmelzen denkerisch
miteinander, hiermit sind sie als die geistesgeschichtliche Vorarbeit für die Entstehung des
Christentums zu interpretieren.
Alle Bedingungen seines [= des neuzeitlichen Geistes] Hervorgangs sind vorhanden, und diese
Totalität seiner Bedingungen macht das Werden, den Begriff oder das ansichseiende
Hervorgehen desselben aus (W3.548).
Die eine Bedingung ist die Bewegung der Entäußerung der Substanz, die andere ist die der
Entäußerung des Selbstbewusstseins. Die beiden machen zwar jeweils einen eigenen
227
Zu dieser Janusköpfigkeit vgl. z. B. Scheier (1986), S. 589-591.
206
eingeschlossen-eigenständigen „Kreis“ (W3.548) aus. Sie taten sich dem erscheinenden
Bewusstsein anscheinend eindimensional auf, aber die Einseitigkeit von beiden wird
dadurch überwunden, dass sie zu notwendigen Momenten des neuen Geistes werden. Ü ber
diese beiden Bedingungen – die Kunstreligion (in der altgriechischen Welt) und die
rechtliche oder gedankliche Persönlichkeit (in dem römischen „Rechtszustand“ und in der
hellenistischen Philosophie) – schreibt Hegel Folgendes:
[Die sittliche Religion und die nachsittliche Welt] machen die Peripherie der Gestalten aus, welche
erwartend und drängend um die Geburtsstätte des als Selbstbewußtsein werdenden Geistes
umherstehen; der alle durchdringende Schmerz und Sehnsucht des unglücklichen
Selbstbewußtseins ist ihr Mittelpunkt und das gemeinschaftliche Geburtswehe [sic!] seines
Hervorgangs (W3.549).
Wenn man diese Situation mit der Drehbewegung228 eines Körpers in der Physik vergleicht,
lässt sich Folgendes sagen: Diese Peripherien sind mit dem Vektor der Kreisbewegung
vergleichbar; denn sie sind die Resultante, d. i. die Summe, von der Zentripetalkraft
(bestehend aus dem unglücklich-bewussten „Selbst“) und der Zentrifugalkraft (aus dem
glücklichen-unbewussten „Selbst“). Ein eingeschlossener Kreis wird nun zur Peripherie der
gedanklich hochrangigen Gestalt, die sich ebenso kreisförmig, aber auf der höheren Stufe
bewegt. Der Kreis des unglücklichen Selbstbewusstseins liegt zwar in der Bestimmung,
unaufhörlich, doch immer vergebens die Geburt des neuen Geistes (W3.19) herbeizusehnen.
Indem sich das Selbstbewusstsein an diese Peripherie erinnert, muss der neue Geist offenbar
werden. Das traurige, doch nüchterne Selbstbewusstsein, das den Dreh- und Angelpunkt
dieser Bewegung ausmacht, will um jeden Preis auf die Geburt der neuen Religion hinaus.
Dieser ganze Prozess wird durch die spekulative „Er-Innerung“ (W3.548) begrifflich erfasst.
Das unglückliche Selbstbewusstsein beschränkt sich nicht einfach auf die eine bestimmte
Phase, etwa die hellenische Philosophie und die jüdische Religion; es gelangt während der
gesamten Herausbildung der offenbaren Religion in der PHG auf die noch höhere Stufe. Weil
die christliche Religion weiterhin alle dem Kapitel „Religion“ vorangegangenen
Gestaltungen voraussetzt, reihen sich die bisherigen Erfahrungen des Bewusstseins in einer
228
Bei Drehbewegungen bewegt sich der Körper kreisförmig. Diese Kreisbewegung folgt aus irgendeinem
Ergebnisvektor als der Summe zweier sich gegenseitig widersprechender Vektoren: Der erste ist die
Zentripetalkraft, welche zum Mittelpunkt der Bewegung hin gerichtet ist, der andere die (nur theoretisch
vorausgesetzte) Zentrifugalkraft, welche nach außen, d. h. vom Mittelpunkt direkt weg fliehen will.
207
neuen Abfolge auf. Daher kann man sagen, dass zur Peripherie der Gestalt das unglückliche
Selbstbewusstsein – neben der Kunstreligion oder des Rechtszustandes – die zwei letzten
Abschnitte des Kapitels „Geist“, die von der Bildung zur Moralität reicht.229 Obgleich das
Christentum kurz nach der Auferstehung Christi entstand, ist seine Lehre dem damaligen
Weltzustand noch nicht angemessen. Der Geist muss somit die harte geistige Arbeit
übernehmen, den Inhalt der Christlichkeit zu erringen. Der Grund dafür ist Folgendes:
Das Geschäft der Geschichte ist nur, daß die Religion als menschliche Vernunft erscheine, daß
das religiöse Prinzip, das dem Herzen der Menschen inwohnt [sic!], auch als weltliche Freiheit
hervorgebracht werde […]. Für diese Verwirklichung ist jedoch ein anderes Volk oder sind andere
Völker berufen, nämlich die germanischen. Innerhalb des alten Roms selbst kann das
Christentum nicht seinen wirklichen Boden finden (W12.405 f.).
Wenn alle Bedingungen endlich vorhanden sind, so tritt das Christentum „in die Existenz“230;
nachdem es zur Religion von Völkern Europas wurde, wird es zur Weltreligion.
229
Dazu vgl. Scheier (1986), S. 592ff.; Appel (2007), S. 158.
In dem Kapitel „Hervorgang der Sache in die Existenz“ in der Wesenslogik stellt Hegel die Erinnerung an
die Bedingungen der unmittelbaren Sache bzw. die selbstbewusste Einsicht in den Grund der Sache, d. h. die
Bedingung, wodurch die Sache gesetzt ist, dar. Die Sache als das unmittelbare Evenement ist in der Tat schon
gewesen, bevor sie existiert. Durch die „Erinnerung der Bedingungen“ lässt sich erkennen: Eine „Sache geht
aus dem Grunde hervor.“ Das Ansichsein der Sache besteht in ihrem Grund, und die Existenz derselben besteht
darin, dass der Grund selber „zu Grunde gegangen“ ist. Eine Sache existiert also erst durch die Reflexion
darüber, dass ihr Grund die Sache bedingt hat und welche Bedingungen sie gesetzt haben. W6, S. 119-122.
208
230
3. Der Gehalt der offenbaren Religion
3.1 Das Selbstbewusstsein des Geistes
Der selbstbewußte Geist wird von Hegel auch mit dem neuen Geist (W3.15; 19) bezeichnet,
welcher durch die Darstellung des erscheinenden Wissens rechtfertigt wird. Er ist nicht zur
Welt gebracht, ehe die reine und ewige Idee der christlichen Religion spekulativ dargelegt
wird. Hegel denkt, dass ihr wahrer Inhalt dadurch ausgeführt wird, dass sich die
„Entäußerung der Substanz“ und die „Entäußerung des Selbstbewußtseins“ auf spekulative
Weise zusammenschließen, ohne dass die beiden Seiten entzweigerissen werden. Für Hegel
hängt die Genesis des absoluten Geistes mit der zweifachen Entäußerung folgendermaßen
zusammen:
Die Entäußerung der Substanz, ihr Werden zum Selbstbewußtsein drückt den Übergang ins
Entgegengesetzte, den bewußtlosen Übergang der Notwendigkeit oder dies aus, daß sie [= die
Substanz] an sich Selbstbewußtsein ist; umgekehrt die Entäußerung des Selbstbewußtseins dies,
daß es [= Selbstbewusstsein] an sich das allgemeine Wesen ist, oder – weil das Selbst das reine
Fürsichsein ist, das in seinem Gegenteile bei sich bleibt – dies, daß für es es ist, daß die Substanz
Selbstbewußtsein und eben dadurch Geist ist (W3.549 f.).
Hegel erläutert hier unmissverständlich den Geistes-Begriff durch den SelbstbewusstseinsBegriff.231 Das Selbstbewusstsein entäußert sich, ohne sein reines Fürsichsein zu verlieren.
Dieses Beisichsein des Geistes in seinem Anderen impliziert sein Wesen, d. h. die Freiheit;
insofern ist der Geist in jedem Fall potenziell sowohl die Substanz als auch das Subjekt. Die
Entäußerung der Substanz impliziert den Ü bergang zu ihrer Gegenseite, d. h. dem
Selbstbewusstsein, das aus der vollendeten Kunstreligion resultiert; mit anderen Worten: Die
Substanz enthält die Potenz des Selbstbewusstseins in sich, soweit das Absolute seine
Subjektivität in der Substanzialität aufbewahrt. Die Entäußerung des Selbstbewusstseins
liegt partout nicht in dem folgenden Sinne: Sein Selbstwert gehe direkt verloren und er
verflache ins Banale; diese Entäußerung scheint zunächst, dass das Selbstbewusstsein seinen
eigenen Wert verlieren würde, sodass es zur „Dingheit“ degradiert würde, aber diese
Entäußerung ist nicht als Selbstverlust anzusehen, weil es kraft seiner Entäußerung realiter
zum „allgemeinen Selbst“ wird, das sich durch die Versöhnung mit anderen Subjekten
231
Dazu vgl. Kakuschke (1955), S. 136; Pannenberg (1984), S. 151.
209
gerade als „das allgemeine Wesen“ erweist (W3.549). Diese Entäußerung wird nämlich „für
und durch das Selbstbewußtsein selbst“ bewältigt; während die Entäußerung der Substanz
unbewusst vollzogen wird, entäußert sich das Selbstbewusstsein „mit Bewußtsein“ (W3.545)
seiner
Selbstständigkeit.
Aus
dieser
bewussten
Selbst-Entsagung
kommt
das
Selbstbewusstsein zu der Einsicht, dass es an sich die Substanz ist; für und durch es selbst
erscheint das absolute Wesen als das Selbstbewusstsein. Die Substanz ist nicht mehr im
Jenseits ansässig, sondern entsteht aus dem Vollzug des Selbstbewusstseins. Diese wahre
Subjektivität, die in der Substanzialität besteht, ist konstitutiv für den menschlichen Geist.
Solange er sich nunmehr gedanklich zu seinem Anderen verhält, wird auch für das
Bewusstsein diese Identität mit seinem Anderssein offenkundig.232
Dem Selbstbewusstsein ist sein Gegenstand überhaupt sowohl „Sein“ als auch „Selbst“,
weil er geradezu das „geistige Wesen“ ist (W3.550). Es scheint für das Selbstbewusstsein,
dass das, was er an sich ist, „aus dem Begriffe entspringen“ (W3.550) müsse. 233 Er ist
demnach bis jetzt als das unmittelbar gegebene Jenseits, gleichsam als die bloße Substanz
aufgetreten. Diese Substanz wird von nun an als das Selbstbewusstsein gestaltet; „durch das
Erkennen des unmittelbaren Bewußtseins“ ist für uns „der sich selbst wissende Geist
entsprungen“ (W3.550 f.). Aber der christliche Gott, der das Wesen des Geistes in sich
enthält, liegt wesentlich darin, dass das, was er für das Selbstbewusstsein ist, und das, was
er für uns ist, in eins integriert werden; indem die Substanz an sich als auf das
Selbstbewusstsein bezogen erscheint, muss der Unterschied zwischen dem Sein für uns und
dem Sein für das Bewusstsein aufgehoben werden.
Es ist für uns von Belang, den Ü bergang des Bewusstseins zum selbstbewussten Geist
darzustellen; es ist aber unleugbar, dass dieser Ü bergang des Bewusstseins ausschließlich
durch den eigenen Vollzug des natürlichen Bewusstseins ermöglicht wird, denn dieser
Ü bergang des Bewusstseins ist nichts anderes als die Entfaltung seines geistigen Wesens.
Aus der Vereinigung des „unmittelbare[n] Ansich des Geistes“ mit seinem „denkenden
Ansich“, m. a. W. aus der der „seiende[n] Notwendigkeit“ mit dem „Erkennen der
Notwendigkeit“ (W3.551) entsteht der neue Geist. Das Selbstbewusstsein hat nun „sich zu
denjenigen Momenten erhoben, welche zum Begriff des Geistes gehören, und zum Bedürfnis,
232
Dazu vgl. O'Donohue (1993), S. 391.
Bezüglich dieses Punkts ist es die dialektische Bewegung des Bewusstseins bzw. seine Erfahrung in der
„Einleitung“ der PHG erinnern. Für das Bewusstsein ist der neue Gegenstand „durch eine Umkehrung des
Bewußtseins selbst“ entsprungen, indem das Bewusstsein annimmt, dass der eine Gegenstand als das Ansich
nur das „Für-es-Sein“ ist. Das Bewusstsein weiß doch nicht klar, wie ihm selber der neue Gegenstand
entstanden ist, während für uns „hinter seinem Rücken“ die Notwendigkeit des Übergangs begriffen wird. W3,
S. 79 f.
210
233
diese Momente auf eine absolute Weise zu fassen“ (W12.387). Der Stufengang des
erscheinenden Wissens ist das „Werden der angeschauten Notwendigkeit“ (W3.551). Die
Bildungsgeschichte
im
Umfeld
dieser
Vereinigung
ist
für
Hegel
mit
der
Entstehungsgeschichte des Christentums eng verwoben.234
Soweit der Geist als das Absolute in der Gestalt des Selbstbewusstseins explizit wird, ist
das Fürsichsein des Geistes oft einfach zu verkennen; das könnte dann passieren, wenn „das
Selbstbewußtsein einseitig nur seine eigene Entäußerung erfaßt“ (W3.550). Hegel distanziert
sich deutlich von dieser „Schwärmerei“ (W3.550). Diese unwesentliche Bedeutung des
Gegenstandes ist mit dem „Kleid“ vergleichbar, das allerdings „die Blöße der Erscheinung
nicht bedeckt“ (W3.550). Hegels Kritik an dieser psychologischen Ü bertragung des
Bewusstseins ist nichts anderes als seine unwiderrufliche Kritik an der romantischen
Tendenz.235
3.2 Die Dialektik des religiösen Geistes und die Entstehung der offenbaren
Religion
Es zeigt sich, dass der Geist der offenbaren Religion aus dem „unglückliche[n]
Selbstbewußtsein“ (W3.547) kommt. Der Vereinigungsprozess, die Entäußerung des
Subjekts und die Entäußerung der Substanz ineinander zu integrieren, drückt auch den
Gesamtvollzug aus, die Einseitigkeit an den zwei vorherigen Religionen aufzuheben. Die
beiden vorausgegangenen Religionen hatten ihrerseits jeweils die Extremposition, nämlich
das „Lichtwesen“ und die „Komödie“; jenes ist das Extrem der Substanzialität, und diese
das Extrem der Subjektivität. Dieses lässt sich wie folgend formulieren:
Der erste Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES (in der ersten Phase der natürlichen Religion): Die
Substanz ist das absolute Wesen. Sie ist das Subjekt, nicht bloß im satzstrukturalen Sinne,
ebenso auch im ontologischen Sinne. Die absolute Substanz ist aber dem Bewusstsein noch
fremd.
Der zweite Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES (in der letzten Phase der Kunstreligion): Das
Subjekt ist das absolute Wesen. Das Selbst spricht an, dass es selbst die absolute Grundlage
für alles Dasein ist, das Wesen ist hingegen sowohl zum grammatischen Prädikat, als auch
234
235
Dazu vgl. Kakuschke (1955), S. 163.
Dazu vgl. Appel (2008), S. 293.; Schmidt (1997), S. 401; Müller (2004), S. 241.
211
zum belanglosen Akzidens heruntergestiegen. Folglich lässt sich aber für den Menschen gar
keine wesensmäßige Sache übrig, sodass sich das unglückliche Selstbewusstsein dieser
Situation bewusst ist.
Die Bewegung der offenbaren Religion beginnt mit dem unglückliche Selbstbewusstsein,
das annimmt, dass die Aussage der Figur in der Komödie als die einseitig
anthropomorphisierte Ä ußerung (also das Selbst sei das absolute Wesen) tatsächlich seine
Wesens- oder Substanzlosigkeit erweist. Hier ergibt sich entscheidend die Bewegung der
Umkehrung, denn der Satzgegenstand (das „Selbst“) geht zum Prädikat hinab und der
Satzaussage (das absolute Wesen) geht zum Subjekte hinauf. Der Satz der christlichen
Religion heißt nun so: Das absolute Wesen ist das Selbst. Dieser dritte Satz des RELIGIÖ SEN
GEISTES
scheint mit dem ersten gleichbedeutend, solange er anscheinend nur als die direkte
Negation des zweiten Satzes zu verstehen ist. Diese Umkehrung ist dennoch nicht einfach
als die Wiederholung des ersten Satzes zu verstehen. Das absolute Wesen der natürlichen
Religion wird hier nicht so restauriert, wie es existierte. Vielmehr wird diese Substanzialität
des göttlichen Wesens restauriert, indem die Quintessenz der Kunstreligion zugleich
beibehalten wird. Der Ü bergang der Kunstreligion zur offenbaren Religion muss nämlich
durch die Dialektik der „bestimmte[n] Negation“ (W3.74) durchgeführt werden. In diesem
dritten Satz ist die Substanz auf das grammatische Subjekt (das absolute Wesen)
zurückgeführt worden, doch auch das „Selbst“, das nun das Prädikat ist, soll trotzdem nicht
seine Substanzialität verlieren. Also wird die Substanz nun als der selbstbewusste Geist
aufgefasst: Dieses ist die reine und ewige Idee der Christlichkeit.
Diese Idee wird nachvollziehbar, wenn diese Umkehr spekulativ erfasst wird.236 In den
zwei Sätzen bleiben das Subjekt und das Prädikat, oder das Wesen und das Selbst, im
unproportionierten Verhältnis zueinander; in der ersten These (in der natürlichen Religion)
war das Wesen dem Selbst an Macht überlegen, während in der zweiten (in der Kunstreligion)
das Selbstbewusstsein für schlechthin überwiegend gehalten wurde. Diese zweifache
Einseitigkeit soll überwunden werden; dieses Einseitigsein besteht in der gewöhnlichen,
positiv-verständigen Satztheorie, wodurch – z. B. in Aussagen wie Gott ist allwissend,
allgütig usw. – das Subjekt als Wesen, das Prädikat als Akzidens aufgenommen wird, und
zwar mit der Voraussetzung, dass Subjekt und Prädikat fest voneinander getrennt sind. Aber
der Satz ist Hegel gemäß als das Spekulative zu denken, also nicht durch das „geistlose
Ist“ (W3.568), welches die wahre Vereinigung von beiden verhindert. 237 Sie ist nichts
236
237
Dazu vgl. Scheier (1986), S. 588 ff.
Dazu vgl.: „[D]as durch diese Begriffsbewegung gewährleistete Ineins der gegenseitigen Setzung und
212
anderes als die „dialektische Bewegung des Satzes selbst“ (W3.61). Das Subjekt ist zum
Prädikat übergangen, zugleich dieses zu jenem. Der Kernpunkt liegt in der positivvernünftigen Natur, die ganz von dem Subjekt und dem Prädikat durchdrungen ist. Der
Akzent liegt nun sowohl auf dem Subjekt wie auch auf dem Prädikat.238 Die beiden Seiten,
d. i. die Entäußerung der Substanz und die des Selbstbewusstseins gehen also gleichzeitig
zu ihrer Gegenseite über; hieraus ergibt sich, dass daraus „die Vereinigung und
Durchdringung beider Naturen hervorgeht, in der beide mit gleichem Werte ebenso
wesentlich als auch nur Momente sind“ (W3.546). Der dritte Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES
ist meines Wissens folgendermaßen umzuformulieren:
Das absolute Wesen ist das Selbst, insofern das Selbst ebenso das absolute Wesen ist, und die
Substanz ist das Subjekt, insofern das Selbstbewusstsein sowohl Substanz als Subjekt ist.
Die Aussage, die Substanz ist das Subjekt, erinnert uns an die folgende Ä ußerung: „Es
kommt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern
ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (W3.22 f.).239 Aus diesem Grunde
lässt sich feststellen, dass die Gestalt der offenbaren Religion die letztendlich-allerhöchste
Gestalt des Bewusstseins ist und dass in der offenbaren Religion der Geist schon seinen
Inhalt erreicht. Die spekulative Bedeutung des Satzes, dass die Substanz das Subjekt sei, ist
ergo durch die offenbare Religion zu verstehen.240
Sofern das Selbst der archimedische Punkt des christlichen Geistes ist, d. h., sofern dieser
dritte Satz „für und durch das Selbstbewußtsein selbst zustande gebracht wird“ (W3.545),
kann die Substanz als göttliches Wesen auch Subjekt sein. Das Selbstbewusstsein ist an sich,
gleichsam seiner Natur nach, das allgemeine Wesen, weil dieses Wesen nur für und durch
das Bewusstsein selbst als Selbstbewusstsein existiert; die Substanz ist für es
Selbstbewusstsein, und durch es erst Geist. Dieser Geistes-Begriff meint die Substanz, aber
als Selbstbewusstsein, welches „das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung“ ist, und er
ist das absolute Wesen, welches simultan darin liegt, „in seinem Anderssein die Gleichheit
mit sich selbst zu behalten“ (W3.552). Das bedeutet, dass das Selbstbewusstsein durch seinen
Negation von Subjekt und Prädikat wird das statische ist verhindert.“ Heede (1975), S. 281.
238
Dazu vgl. Wohlfart (1981), S. 172.
239
Dieser Gedanke findet sich außer in der „Vorrede“ nur in der offenbaren Religion (W3, S. 546; 550; 552)
und im absoluten Wissen (W3, S. 582; 585; 587).
240
Dazu vgl. Frey (1973), S. 132.
213
eigenen Vollzug das Absolute in sich reflektiert, sodass es das jenseitige Wesen als die auch
für es selbst wahre Wirklichkeit existieren lässt.
Dass das „Selbst“ das absolute Wesen sei, soll das Wesen als solches der Ertrag der
selbstbewussten Tätigkeit sein. Dieses Produkt des Selbstbewusstseins muss jedoch danach
die Depotenzierung seiner Wesensmäßigkeit zur Folge haben, wie in der Entäußerung der
Substanz angedeutet; dass das „Selbst“ als absolutes Wesen erscheint, drückt sogleich seine
aus seiner Endlichkeit resultierende Schranke aus. Denn diese Anwesenheit besagt, dass das
„Selbst“ nicht das unbedingte Absolute ist. Diese spekulative Umkehr, die so auch im dritten
Satz formuliert ist, fängt mit der Entäußerung des Selbstbewusstseins an. Sie soll trotzdem
nicht die abstrakte Rückkehr zur selbstlosen Substanz sein, wie in der natürlichen Religion
hingewiesen. Daher ist es ein einzigartiger Weg, dass sich die Substanz als der
selbstbewusste Geist selbst darstellt; das absolute Wesen muss das „Selbst“ sein, und zwar
das konkrete Selbstbewusstsein als das sinnliche Existierende. In diesem Dasein soll die
Absolutheit des Wesens explizit und sichtbar werden. Das Beisichsein in seinem Anderen,
wodurch sich die Substanz als das Selbstbewusstsein für und durch es selbst offenbart, ist
charakteristisch für das Wesen des Geistes, d. h. für seine Freiheit.
[Dieses sich dynamisch, flüssig bewegende Wesen ist] die Substanz, insofern sie in ihrer
Akzidentalität ebenso in sich reflektiert, nicht dagegen als gegen ein Unwesentliches und somit
in einem Fremden sich Befindendes gleichgültig, sondern darin in sich, d. h. insofern sie Subjekt
oder Selbst ist (W3.552).
Das Selbstbewusstsein des Geistes hat seine Substanz nicht verloren. Sofern sich das
Selbstbewusstsein „mit Bewußtsein aufgibt“, d. h., sofern das Selbst zugleich bewusst auf
seinen Wert verzichtet, wird das Selbstbewusstsein „in seiner Entäußerung erhalten“ und es
zeigt sich als das „Subjekt der Substanz“, welches ontologisch mit der Substanzialität erfüllt
ist (W3.545). Obgleich es „durch seine Aufopferung die Substanz als Subjekt hervorbringt“,
erweist sich dieses Subjekt als „sein [= des Selbstbewusstseins] eigenes Selbst“ und das
Selbstbewusstsein hat also „das Bewußtsein derselben [= der Substanz]“ nicht verloren
(W3.546). Dieser Geistes-Begriff ist die höchste Bestimmung der Religion, wodurch die
zwei einseitigen Gestaltungen, d. i. die selbstlose Substanzialität (in dem Ansatzpunkt der
natürlichen Religion als der Religion des Bewusstseins) und die haltlose Gewissheit des
214
Selbst (in dem Endpunkt der Kunstreligion als der Religion des Selbstbewusstseins)
denkerisch aufgehoben werden (W3.502).241
In der offenbaren Religion zeigt sich der Geist, der für das religiöse Selbstbewusstsein
erkennbar ist. Substanz und Subjekt werden hier, durch die gegenseitige Entäußerung
miteinander vereinigt, sodass die Substanz einerseits das Subjekt, andererseits das reine
Selbstbewusstsein das Wesen als allgemeines Selbstbewusstsein ist. Diese gleichzeitig
geschehende gedoppelte Umkehrung ist eben die Grundstruktur der Bewegung des
RELIGIÖ SEN GEISTES. Der christliche Gott tritt für das religiöse Selbstbewusstsein als der
Vermittler dieser zweifachen Bewegung auf; er ist weder die als furchtbare Macht gedachte
Naturerscheinung noch das von dem Menschen hervorgebrachte Produkt, vielmehr erscheint
er dem Selbstbewusstsein als „ein wirklicher einzelner Mensch“ (W3.552), genauer gesagt
erscheint er in der Gestalt von Jesus Christus als Gottmensch. 242 Dieses Wesen, das
„Fleisch“ (W3.567) wird, ist sowohl Gott als auch Mensch, daher ist in der Form seiner
Erscheinung sein absoluter Inhalt aufbewahrt. Diese Menschwerdung Gottes ist vom
bisherigen Anthropomorphismus deutlich zu unterscheiden. Der christliche Gottmensch
gestaltet sich wohl als ein menschlicher Körper, aber er impliziert auch den absoluten Geist,
welcher sowohl als das allgemeine Wesen wie auch als das Subjekt gedacht wird. Dieser
Mensch ist auch ein Mittler zwischen Substanz und Subjekt, zwischen Gott und dem
gläubigen Bewusstsein. Diese Existenz Gottes ist ein Beleg dafür, dass Gott und Mensch
wesentlich „dasselbe“ sind, und auch ein Grund dafür, wie diese „Einheit“ von dem
Menschen „angeschaut wird“ (W3.553).
3.3 Die Offenbarung Gottes
Der absolute Geist manifestiert sich, sofern er als der christliche Gott für das Bewusstsein
offenbar wird. Im Kapitel „Geist“ wurde zwar der absolute Geist schon erwähnt (W3.329;
407; 410; 481; 493); der Inhalt des Geistes wurde als das Ganze in der objektiven Welt, d. h.
als Gemeinwesen von Individuen dargestellt. Aber der christliche Geist besteht weder in
dem unmittelbar-reflexionslosen Vertrauen, noch in der Flucht in das Jenseits des
Wirklichen, noch im Extrem der subjektiven Gewissheit.
241
242
Dazu vgl. Wohlfart (1981), S. 170; Scheier (1986), S. 590; Auinger (2003), S. 130.
Dazu vgl.: „Christus ist erschienen, ein Mensch, der Gott ist, und Gott, der Mensch ist“. W12, S. 392.
215
In der christlichen Religion hat Gott sich geoffenbart, das heißt, er hat dem Menschen zu
erkennen gegeben, was er ist, so daß er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimes ist (W12.27).
Diese Parusie scheint die Wiederkehr der mystischen Offenbarung im lebendigen Kunstwerk
als der zweiten Gestalt der Kunstreligion deswegen zu sein, weil das Wesen für das
Bewusstsein erkennbar wird. Ü ber diese Offenbarung in der Kunstreligion schreibt Hegel
Folgendes:
[D]as Mystische ist nicht Verborgenheit eines Geheimnisses oder Unwissenheit, sondern besteht
darin, daß das Selbst sich mit dem Wesen eins weiß und dieses also geoffenbart ist. Nur das
Selbst ist sich offenbar, oder was offenbar ist, ist es nur in der unmittelbaren Gewißheit seiner.
In dieser aber ist durch den Kultus das einfache Wesen gesetzt worden; es hat als brauchbares
Ding nicht nur das Dasein, das gesehen, gefühlt, gerochen, geschmeckt wird, sondern ist auch
Gegenstand der Begierde und wird durch den wirklichen Genuß eins mit dem Selbst und dadurch
vollkommen an dieses verraten und ihm offenbar (W3.526 f.).
In diesem Kultus fühlte sich das Individuum vereinigt mit dem göttlichen Wesen und
dadurch glücklich. Die Offenbarung Gottes verbleibt hingegen nicht einfach in einer solchen
Befriedigung aus der Vereinigung von dem „Selbst“ und dem „Wesen“, denn das christliche
Selbstbewusstsein geht über die unmittelbare Einswerdung hinaus zu dem Wissen von sich
über, dass das Wesen eben sein Wesen ist. Diese Offenbarung stellt sich als die Parusie des
Wesens wie folgt dar:
Dem Bewußtsein ist in seinem Gegenstand dann etwas geheim, wenn er ein Anderes oder
Fremdes für es ist und wenn es ihn nicht als sich selbst weiß. Dies Geheimsein hört auf, indem
das absolute Wesen als Geist Gegenstand des Bewußtseins ist; denn so ist er als Selbst in
seinem Verhältnisse zu ihm; d. h. dieses weiß unmittelbar sich darin, oder es ist sich in ihm
offenbar (W3.552)
Der entscheidende Punkt, an dem sich der Geist der christlichen Religion von bisherigen
Gestaltungen scheidet, ist, dass der absolute Geist nun in der Form des Selbstbewusstseins
besteht. Das bedeutet, dass „der absolute Geist sich die Gestalt des Selbstbewußtseins an
sich und damit auch für sein Bewußtsein gegeben“ hat (W3.551). Der Geist erscheint anderen
216
Subjekten als das Selbstbewusstsein, das zugleich als das absolute Wesen erscheint. Dass
Gott als Mensch erscheint, besagt nun, dass Gott als ein wirklicher Mensch, Jesus von
Nazaret, existierte.
243
Für die „unmittelbare Gewißheit“, die das „glaubende
Bewußtsein“ hat, wird die „Göttlichkeit“ sinnlich so aufgenommen, wie es sie „sieht und
fühlt und hört“ (W3.551).244 Der Inhalt des Glaubens ist weder erdachtet noch hergestellt;
dass Gott als ein einzelner, dieser Mensch diesseits erscheint, dies ist entscheidend dafür,
dass die offenbare Religion als „der Glaube der Welt“ (W3.551), also der Glaube, den die
Welt hat, erwiesen wird, während es bislang stets den Glauben an die Ü berirdischen gab.
Der „Glaube der Welt“, der trotzdem gar nicht so banal, eher umso tiefer wird, lässt sich
folgendermaßen ausdrücken: „Vollendung der Realität zur unmittelbaren Einzelheit – der
schönste Punkt der christlichen Religion; erst die absolute Verklärung der Endlichkeit zur
Anschauung gebracht“ (V5.49). Damit ein gläubiger Mensch seinen Glauben für wahrhaft
hält, soll er irgendeine konkrete, sinnliche Erscheinung zur Bewährung erhalten, wodurch
Gott und Mensch sich miteinander versöhnen können.245 Gott impliziert nun „die Tiefe des
seiner selbst gewissen Geistes“, wodurch er als „das Selbst aller“ erscheint, indem diese
Tiefe „zu Tage herausgetreten“ ist (GW8.280 f.).
Der Gott in der christlichen Religion ist auch der Wendungspunkt des weltgeschichtlichen
Prinzips, das „das Heil der Welt“ (W12.386) impliziert, weil der Mensch erkennen kann,
dass er als solcher schlechthin frei ist. Die christliche Lehre liegt in dem folgenden Prinzip
der menschlichen Freiheit:
[D]ie Sklaverei ist im Christentum unmöglich, denn der Mensch ist jetzt als Mensch nach seiner
allgemeinen Natur in Gott angeschaut; jeder Einzelne ist ein Gegenstand der Gnade Gottes und
des göttlichen Endzwecks: Gott will, daß alle Menschen selig werden. Ganz ohne alle
Partikularität, an und für sich hat also der Mensch, und zwar schon als Mensch, unendlichen Wert
(W12.403 f.).
Durch die Erfahrung des gegenwärtig anwesenden Gottes wird die Vorstellung der
menschlichen Freiheit bewahrheitet; im äußerst unmittelbaren Dasein ergibt sich die
243
Dazu vgl. Küng (1970), S. 263 ff.
Dazu vgl.: „Die christliche Religion nennt Hegel die offenbare Religion schlechthin, weil erst in ihr Gott
selber offenbar geworden sei, und zwar durch die Menschwerdung Christi. Indem Gott in Jesus Christus
Mensch geworden ist, wurde er im Endlichen offenbar. Das schwindende geistige Erkenntnis- und
Anschauungsvermögen des Menschen wurde kompensiert, indem Gott als Mensch der sinnlichen Anschauung
der Menschen sichtbar wurde“. Dellbrügger (1998), S. 326.
245
Dazu vgl. Bialas (1993), S. 110; Klimatsakis (1997), S. 228.
217
244
allerhöchste, ungetrübte Seele. Diese reine Seele macht simultan die fundierte Grundlage für
das gemeinschaftliche Prinzip aus. In der antiken Welt fühlte das Bewusstsein sich glücklich
in der direkten Einheit mit der wirklichen Substanz. Im Gegensatz dazu sucht das religiöse
Bewusstsein in der Ebene der Allgemeinheit seine innerliche Befriedigung.246 Darüber führt
Hegel Folgendes aus:
[Die antikgriechische] Sittlichkeit ist die unreflektierte Gewohnheit; das christliche Prinzip ist aber
die für sich stehende Innerlichkeit, der Boden, auf dem das Wahrhafte aufwächst. Eine
unreflektierte Sittlichkeit kann nunmehr gegen das Prinzip der subjektiven Freiheit nicht
stattfinden. Die griechische Freiheit war die des Glücks und des Genies; sie war noch durch
Sklaven und durch Orakel bedingt; jetzt aber tritt das Prinzip der absoluten Freiheit in Gott auf.
Der Mensch ist jetzt nicht mehr im Verhältnis der Abhängigkeit, sondern der Liebe, in dem
Bewußtsein, daß er dem göttlichen Wesen angehört (W12.404).
Die Menschwerdung Gottes, die von dem Anthropomorphismus in den früheren
Religionen prinzipiell zu unterscheiden ist, drückt das essenzielle Charakteristikum des
Christentums aus. Der anthropomorphisierte Gott in der Kunstreligion lässt sich mit
Schillers Formulierungen folgendermaßen ausdrücken:
Da die Götter menschlicher noch waren,
Waren Menschen göttlicher.247
Die in der griechischen Religion erreichte Versöhnung kann Hegel mit der Anschauung
bezeichnen, „für welche die ganze Natur belebt und voll Götter [sei]“ (W14.114); so
menschlich die olympischen Götter waren, so göttlich waren Menschen. Allerdings bedeutet
dieser Anthropomorphismus eine bloße Versöhnung des Menschen mit den Göttern, die
gleichwohl noch nicht zu seiner wahren Form (die als der Gottmensch selbst bezeichnet
werden soll) gelangt ist. Die „Klage“ (namens Schillers) über den „Untergang des
246
Bialas (1993), S. 111.
F. Schiller, Die Götter Griechenlandes, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 169. Bei Schiller ist dies aber Ausdruck
seiner Anerkennung der griechischen Welt, der er – anders als Hegel – einen Vorzug vor der christlichen gibt.
Ü ber die Bedeutung dieser Formulierungen legt Hegel in seiner Kunstphilosophie dar, damit er sich mit einer
von den ihm zeitgenössischen Tendenzen, also einigermaßen mit der Nostalgie – wie Schillers – nach dem
klassischen Griechentum auseinandersetzt. W14, S. 113 ff.
218
247
klassischen Altertums“ ergibt sich für Hegel aus der Einsicht in den Gegensatz zwischen der
lebendigen
Fantasie
in
der
antiken
Welt
und
dem
Verfahren
der
„Verstandesabstraktionen“ in der Aufklärung (W14.113 ff.). Dagegen denkt Hegel, dass
Schiller selbst schließlich Folgendes zugeben musste: „[D]ie griechischen Götter hätten
ihren Sitz nur in der Vorstellung und Phantasie“ (W14.115). Aus diesem Grunde stellt er den
Mangel an der Offenbarung in der Kunstreligion folgendermaßen dar:
Dem Anthropomorphismus der griechischen Götter fehlt dadurch das wirkliche menschliche
Dasein, das leibliche wie das geistige. Diese Wirklichkeit im Fleisch und Geist bringt erst das
Christentum als Dasein, Leben und Wirken Gottes selber herein. Dadurch ist nun diese
Leiblichkeit, das Fleisch […] zu Ehren gebracht und das Anthropomorphistische geheiligt worden
(W14.112).
Das christliche Prinzip liegt nämlich nicht in der bloßen Antithese der altgriechischen
Gottesauffassung, also nicht einfach in der deistischen Weltansicht der Aufklärung, sondern
in der wahren Synthesis von beiden, „den Geist zur höheren Freiheit und Versöhnung mit
sich selbst kommen zu lassen“, die „die Griechen nicht kannten“ (W14.115). Im Unterschied
zu dem Anthropomorphismus im alten Griechentum schreibt Hegel über die wahre
Bedeutung des christlichen Gottes Folgendes:
Das Christentum hat den Anthropomorphismus viel weiter getrieben; denn der christlichen Lehre
nach ist Gott nicht ein nur menschlich gestaltetes Individuum, sondern ein wirkliches einzelnes
Individuum, ganz Gott und ganz ein wirklicher Mensch […]. [D]amit Gott als Geist sei, dazu gehört
sein Erscheinen als Mensch, als einzelnes Subjekt […]. In der christlichen Anschauung nämlich
liegt die unendliche Bewegung, sich bis zum Extrem des Gegensatzes hinzutreiben und erst als
Aufhebung dieser Trennung in sich zur absoluten Einheit zurückzukehren. In dies Moment der
Trennung fällt das Menschwerden Gottes, indem er als wirkliche einzelne Subjektivität in den
Unterschied gegen die Einheit und Substanz als solche tritt, in dieser gemeinen Zeitlichkeit und
Räumlichkeit die Empfindung, das Bewußtsein, den Schmerz der Entzweiung durchmacht, um
durch diesen ebensosehr wieder aufgelösten Gegensatz zur unendlichen Versöhnung zu
kommen (W14.23 f.).
219
Die Menschwerdung Gottes entsteht auch im Christentum, aber hier offenbart sich der
anthropomorphisierte Gott. Das göttliche Wesen existiert nun „wesentlich und
unmittelbar“ (W3.552),248 gleichsam als subjektiv-substanzieller Geist. Worin das Wesen
des absoluten Geistes „endgültig und abschließend“ und deshalb „ein für allemal“ offenbar
ist, da fungiert die Religion als seine letztendlich-wahrhafte Gestalt.249 Gott ist Geist, der in
einem einzelnen (trotzdem auf der allgemeinen Bestimmung beruhenden) Individuum
verankert ist; daher wird er als Gottmensch selbst bezeichnet. Die im Christentum gedachte
Menschwerdung ist eben ein Beleg dafür, dass Hegel das Christentum die absolute Religion
nennt. Der Gegenstand des andächtigen Bewusstseins ist nicht ein ihm fremdes Anderes; er
hat vielmehr die Gestalt des Selbstbewusstseins als eines einzelnen Menschen.250 Hierdurch
ist der Gott als ein Mensch durchgängig für andere Menschen erfassbar. Diese
anthropomorphisierte Gottheit ist nicht nur trivial, gleichsam nicht einfach als ein zufälliges
Geschehen aufzunehmen, denn diese Parusie Gottes bedeutet keine einfache Inkarnation
Gottes.251 Die offenbare Religion besteht nicht bloß in dem Bewusstsein von Gott in der
menschlichen Gestalt; der christliche Gott ist nicht allein ein zu glaubender Gegenstand des
gläubigen Bewusstseins. Das Verhältnis des christlichen Bewusstseins zu seinem Wesen ist
nicht das Verhältnis zu seinem Anderen. Das Bewusstsein Gottes bedeutet nicht nur, dass
das Bewusstsein sich des göttlichen Wesens (gleichsam als seines Anderen) bewusst ist;
dieses Verhältnis muss vielmehr im Grunde ein sich auf sich selbst beziehendes Verhältnis
bedeuten. Die offenbare Religion, in der „das Wesen als Geist gewußt“ wird, ist also „sein
[= des göttlichen Wesens selbst] Bewußtsein über sich, Geist zu sein“ (W3.552). Hiermit
manifestiert sich diese „Natur Gottes, reiner Geist zu sein“ (W12.391).
Das geistige Wesen Gottes verursacht auch das Selbstbewusstsein des andächtigen
Menschen. Der Gläubige hat schon ein Selbstbewusstsein, das sich dessen bewusst ist, dass
es selbst ebenso Geist ist. Der glaubende Geist und der zu glaubende Geist sind alle Geist;
„der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der
absolute Geist“ (W10.373). Die Offenbarung oder das Offenbarsein des göttlichen Wesens
bewährt sich durch die Beziehung des Geistes auf sich selbst. Somit wird das Wesen dem
Bewusstsein nicht mehr fremd, sodass in der Offenbarung Gottes der Geist in seinem wahren
Dazu vgl.: „Der absolute Geist erscheint im konkreten Selbstbewußtsein, und diese unmittelbar äußere
Erscheinung ist ihm so innerlich, so wesentlich, daß er in ihr seinen Selbstbezug besitzt“. Schmidt (1997),
S. 403.
249
Wagner (1971), S. 193.
250
Dazu vgl. Jaeschke (1986), S. 215.
251
Dazu vgl. Jaeschke (1983), S. 64; Suda (2002), S. 254 f.
220
248
Sinne verwirklicht wird. Daraus lässt sich dieser Gedanke der göttlichen Offenbarung
folgendermaßen umformulieren: Der Geist-Gott ist für den Geist-Menschen offenbar.
In diesem Zusammenhang muss akzeptiert werden, dass die Offenbarung in der
christlichen Religion zwei Bestandteile hat. Erstens: „Das endliche Bewußtsein weiß Gott“,
weil „Gott sich in ihm weiß“ (V5.178). Die christliche Religion wird die
„geoffenbarte“ Religion genannt, denn sie wird von Gott „geoffenbart“, sodass „Gott sich
selbst dem Menschen zu wissen gegeben hat, was er ist“ (V5.179); insofern wird sie als „eine
positive Religion“ bezeichnet, weil Gott „dem Menschen von außen gekommen, ihm
gegeben
worden
ist“
(V5.179).
Zweitens:
Die
christliche
Religion
ist
die
Offenbarungsreligion, da ihre Idee „als göttliche Selbstoffenbarung“ (V5.199) betrachtet
wird. Unser Bewusstsein Gottes impliziert dementsprechend das Selbstbewusstsein
Gottes.252 Aus diesen zwei Seiten lässt sich Folgendes festhalten: Im Christentum ist das
vollkommene Erkennen von Gott erreichbar, aber dieses Wissen des gläubigen Bewusstseins
resultiert aus der Dynamik des göttlichen Wesens, das sich selbst im Menschen
manifestieren will.
Diese zweifache Bestimmung ist das Spezifikum der Offenbarung im hegelschen Sinne.
Die Offenbarung Gottes hat keinen supranaturalen Charakter, da der Kontakt des Menschen
mit dem göttlichen Wesen in der sinnlichen Erfahrung aufrechterhalten wird. Diese
Bestimmung erinnert uns an das Konzept Fichtes, dass der absolute Geist in aller Regel auf
die sinnliche Gewissheit des Bewusstseins zu reduzieren ist. 253 Aus diesem Grunde
verbietet es sich weiterhin nicht unbedingt, die positive Offenbarung mit einzubeziehen, weil
der Mensch zunächst und zumeist hierdurch das Wissen von Gott erreichen kann. Diese
Bestimmung ist auch kennzeichnend für die Konzeption Kants, die ursprünglich aus der
Offenbarung der Heiligen Schrift im Sinne Luthers hergeleitet ist; die Offenbarung besteht
Kant zufolge in dem positiven Glauben, in dem die historische Tradition oder die biblische
Autorität beherrschend ist. Jedoch kann man in Hegels Offenbarungstheorie die
begriffsgeschichtliche Kontinuität und Diskontinuität mit der Position von Kant und Fichte
Dazu vgl.: „Religion als diese Beziehung des (einzelnen) Geistes auf den Geist ist somit das, was die
religiöse Tradition als Beziehung auf Gott aussagt. [...] Insofern also wäre Religion – als Bewußtsein Gottes –
Bewußtsein des Geistes. Doch wäre ein solcher Gedanke von Gott bloß der Gedanke eines Objekts. Sofern das
Gewußte nur gewußt wird als eines, das mir gegenübersteht, kann es gerade nicht ein Absolutes sein – es wäre
ja vielmehr ein durch mich Begrenztes. Weil dieses vermeintlich Andere aber nichts anderes ist als mein Wesen
– sofern ich nämlich Geist bin -, ist mein Verhältnis zu ihm ebensosehr sein Verhältnis zu sich selbst und mein
Bewußtsein von Gott ebensosehr das Bewußtsein Gottes von sich: Selbstbewußtsein Gottes.“ Jaeschke (1998),
S. 128 f.
253
Dazu vgl.: „Der Begriff einer Offenbarung ist nemlich ein Begriff von einer Erscheinung in der Sinnenwelt,
welche der Qualität nach unmittelbar durch göttliche Causalität bewirkt seyn soll“. Fichte, Werke, Bd. 5, S. 140.
221
252
aufspüren. Die positive Bestimmung ist für Hegel nicht einfach als das schlechthin
Abzulehnende zu verstehen, das schließlich als Ganzes auf den Vernunftglauben
zurückgeführt sein soll; Offenbarung und Vernunft wirken denkerisch zusammen. In diesem
Zusammenhang divergiert der hegelsche Begriff der Offenbarung von dem Begriff Fichtes;
Gott erscheint nicht bloß als sinnliches Dasein. Hegel betont gewiss wie Kant die
vernünftigen Ü berlegungen über die Offenbarung. Durch seine Geistes-Konzeption setzt
sich die hegelsche Offenbarung freilich vom reflexionsphilosophischen Konzept ab.
Kant bezweckt grundsätzlich, dass der moralische Vollzug des Menschen durch das
Dogma der positiven Religion nicht verfälscht wird. Kant ist der Ansicht, Vernunftglaube
sei der Kerngedanke der Religion, wohin die philosophischen Ü berlegungen über die
historisch-positiven
Religionsphänomene
kommen
sollen.
Kant
zufolge
hängen
Offenbarungsglauben und Vernunftglauben durch die Entwicklung der sichtbaren Kirche
(d. h. der Gemeinde) miteinander zusammen, deren zeitlich-empirische Entfaltung die
Geschichte der Idee der Freiheit von der ganzen Menschheit ist.254 Damit ist die Einheit von
Religion und Moral (bzw. Sittlichkeit) auf der Ebene der Vernunft gemeint. An diesem Punkt
nimmt Hegel die gleiche Position ein. Die Religionsphilosophie in der klassischen Neuzeit
ist
(einschließlich
derjenigen
Fichtes
und
auch
Hegels)
in
toto
mit
ihrer
geschichtsphilosophischen Gesamtüberzeugung eng verschränkt, indem die Freiheit als die
oberste Idee in der Wirklichkeit zustande gebracht werden soll. Es ist bestimmt unbestreitbar,
dass Kant und auch Fichte die Geschichte der Verwirklichung der Freiheit ins Auge fassen,
jedoch die vollkommen realisierte Idee für diese – mit Hegel – Reflexions- bzw.
Bewusstseinsphilosophen gar nicht durch die allmähliche Entwicklung erreichbar ist.
Demgegenüber wird der Gehalt der Religion in Hegels Philosophie durch die
geschichtlichen Religionsgestalten immerwährend konkret realisiert; Hegel denkt, dass die
Offenbarung durch die Vernunft nicht ersetzt werden soll.
Der Geist „wird gewußt als Selbstbewußtsein und ist diesem unmittelbar offenbar, denn er
ist dieses selbst“ (W3.553). Hier gibt es den einschneidenden Punkt der Veränderung, wo
der Anthropomorphismus in der Kunstreligion mit dem tiefen Geistes-Begriff vollendet wird.
Der Inhalt der christlichen Religion ist, dass der Mensch an sich, gleichsam seiner Natur
nach „Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm selbst“ (W12.403) ist. Indem sich
dieses „Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“ offenbart, tritt das
254
Dazu vgl., I. Kant, Werkausgabe, Bd. 8, S. 751 ff.
222
Prinzip „der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven
Wahrheit und Freiheit“, d. h. die „Versöhnung“ des Menschen mit Gott (W7.511), zutage.
Aus dem Obigen lässt sich die Offenbarung Gottes erkennen, dass das Absolute als ein
Mensch existiert, der aber als Geist aufzufassen ist. Dies ist der wahrhafteste Ausdruck der
christlichen Offenbarung. Dieser christliche Geist wird als der wahre und ewige Geist der
Religion verstanden, denn er ist „zugleich seiender Gegenstand, und dieses Sein hat ebenso
unmittelbar die Bedeutung des reinen Denkens, des absoluten Wesens“ (W3.553). Indem das
Absolute als ein Mensch existiert, erreicht das göttliche Wesen nun trotz der äußersten
Herabsetzung seinen Gipfelpunkt:
Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene
Offenbare ist eben darin das Tiefste. Daß das höchste Wesen als ein seiendes Selbstbewußtsein
gesehen, gehört usf. wird, dies ist also in der Tat die Vollendung seines Begriffes; und durch
diese Vollendung ist das Wesen so unmittelbar da, als es Wesen ist (W3.553 f.).
Dass das Offenbarsein für einen Einzelnen die allumfassende Wesenheit mit sich bringt,
hieraus resultiert anschließend, dass die ganz unmittelbare Gewissheit des einzelnen
Bewusstseins sogleich zu der höchsten Wahrheit gelangt. Das unmittelbare Bewusstsein
wird hier erneut interpretiert; sie ist nicht mehr einfach abstakt oder vorgetäuscht, eher nun
– trotz ihrer Schlichtheit bzw. Unbedecktheit – am reichsten, konkretesten und wahrhaftesten.
Diese Denkweise, die Hegel die „absolute“ oder „reine Abstraktion“ (W3.553) nennt, folgt
daraus, dass das Wesen als Geist gewusst wird. Dieses Denken besteht, wie schon erwähnt,
in der Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES.
Gott ist Gott ist also hier offenbar, wie er ist; er ist so da, wie er an sich ist; er ist da, als Geist.
Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst,
denn er ist der Geist, und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion
(W3.554).
Die in der christlichen Religion gedachte Menschwerdung Gottes ist der entscheidende
Grund dafür, warum das Christentum weltgeschichtlich die absolute, vollendete Religion ist.
223
Dass Gott als Geist offenbar ist, führt zu der „Freude“ des Selbstbewusstseins, „im absoluten
Wesen sich zu schauen“ (W3.554).
Die christliche Religion ist charakteristisch dafür, dass das Absolute dem gläubigen
Menschen offenbar ist; Hegels Grundprinzip der Christlichkeit liegt zwar darin, dass Gott
Geist ist. Diese Daseinsweise Gottes ist allerdings dem begreifenden Denken als dem
absoluten Wissen nicht angemessen; das religiöse Bewusstsein bedeutet nämlich das
Bewusstsein von seinem Anderen, sodass sich das göttliche Wesen gleichfalls als der
Gegenstand des Glaubens gestaltet. Insofern der Begriff der Religion in dem Gefühl oder
der Vorstellung besteht, ist der gläubige Mensch noch nicht in der Lage, den ursprünglichen
Zusammenhang von Menschen und Gott begrifflich zu erfassen. Die offenbare Religion
impliziert den wahren Inhalt des absoluten Geistes, aber sie bleibt noch in der Form des
vorstellenden Wissens; der Geist in der Form der Vorstellung ist „noch nicht das zu seinem
Begriffe als Begriffe gediehene Selbstbewußtsein desselben“ (W3.556). Wenn der Geist der
christlichen Religion bereits zu seiner Wahrheit, also zu dem absoluten Wissen, gelangt, liegt
sein Begriff schon in der „Form des Denkens selbst, des Begriffes als Begriffes“ (W3.555).
Dies aber folgt erst aus der Vollendung der Religion.
Nach der Vorstellungswelt der christlichen Religion entsteht die Offenbarung durch die
Ankunft des Gottmenschen, also durch die Geburt Christi. Diese Phase stellt Hegel als die
gedankliche Bedingung für die Entstehung des auf dem neuzeitlichen Prinzip erneuten, i. e.
selbstbewussten Geistes dar. Nachdem Gott als ein einzelner Mensch (Jesus von Nazareth),
dem glaubenden Menschen offenbar geworden war, wurde der Gottmensch als das
erscheinende Absolute gerühmt, aber der Gläubige kam nicht zur Einsicht, dass er selbst
auch Geist ist, denn er schaute noch nur auf die oberflächliche Seite des Offenbarseins. Falls
der Mensch den Gott bloß als den Gegenstand des Glaubens betrachtet, erscheint dieser Gott
einzigartig als das Absolute.
[Insofern] ist der Geist in der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins dieses einzelne
Selbstbewußtsein, dem allgemeinen entgegengesetzt; er ist ausschließendes Eins, das für das
Bewußtsein, für welches es da ist, die noch unaufgelöste Form eines sinnlichen Anderen hat […]
Dieser einzelne Mensch also, als welcher das absolute Wesen offenbar ist, vollbringt an ihm als
Einzelnem die Bewegung des sinnlichen Seins. Er ist der unmittelbar gegenwärtige Gott
(W3.555).
224
Weil das Bewusstsein sich nicht für den Geist hält, sind das Göttliche und das Menschliche
noch nicht denkerisch vereinigt worden; die Gottheit ergibt sich daher aus der
Zusammensetzung von Gott und Mensch (Gott als Geist + Mensch als Bewusstsein), noch
nicht aus ihrer spekulativen Totalität (Gott als Geist = Mensch als Geist).255 Die Identität
des Sinnlichen (oder des Diesseits) mit dem Ü bersinnlichen (oder dem Jenseits), der
Anschauung mit dem Denken oder der Besonderheit mit der Allgemeinheit, ist zwar der
wahrhafte Inhalt der offenbaren Religion. Diese Momente der Einheit geschehen jedoch für
das Bewusstsein noch durch historische, biblische Beispiele, d. h. durch die Vorstellung des
Bewusstseins. In der religiösen Vorstellung geschieht nämlich die unvollkommene
„synthetische Verbindung“ (W3.558) von Sinnlichkeit und Denken; die Vorstellung ist „nur
oberflächlich in das Element des Denkens getaucht“ und „mit der Natur des Denkens selbst
nicht in eins gesetzt“ (W3.556).256
Der unmittelbar gegenwärtige Gott, Jesus Christus, ist vergänglich, weil er auch Mensch
ist; nachdem er tot ist, kann niemand ihn anderweitig wahrnehmen. Aber sein Tod wird zur
Dimension des Denkens erhoben; dieser Tod ist nun keine direkte, abstrakte Negation seiner
Gegenwart, keine bloße Vergangenheit, sondern ist mit dem Perfekt seiner Gegenwart
vergleichbar, denn jenes Faktum der Vergangenheit ist nicht abstrakt annulliert, sondern
vielmehr als das „zeitlos vergangene Sein“ (W6.13) konserviert.257 Die Gegenwart Gottes
(d. h. Gott ist) ist zunächst vergänglich (d. h. Gott war), jedoch ergibt sich hier eine Umkehr
des Gedankens; das religiöse Bewusstsein kommt nämlich zur Einsicht in das
„Gewesensein“ Gottes (W3.555) (d. h.: Gott ist gewesen).
Das Bewußtsein, für welches er [= der Gottmensch] diese sinnliche Gegenwart hat, hört auf, ihn
zu sehen, zu hören; es hat ihn gesehen und gehört; und erst dadurch, daß es ihn nur gesehen,
gehört hat, wird es selbst geistiges Bewußtsein, oder wie er vorher als sinnliches Dasein für es
aufstand, ist er jetzt im Geiste aufgestanden (W3.555 f.).
Dazu vgl.: „Der GOTT+MENSCH (Vorstellung) stirbt, um als GOTT=MENSCH (Geist) aufzuerstehen“.
Schöndorff (1982), S. 561.
256
Zu dieser Thematik z. B. vgl. Schöndorff (1982), S. 551.
257
Diese Situation verhält sich gleich zu der spekulativen Er-Innerung. In seiner Wesenslogik erläutert Hegel
das „Wesen“ nicht als die direkte Negation des Seins. Dazu vgl. Hegels Bemerkung vom „caput mortum der
Abstraktion“. W8, S. 231. Er führt dazu das folgende Beispiel mit dem Verb „sein“ an: „Was nunmehr die
sonstige Bedeutung und den Gebrauch der Kategorie des Wesens anbetrifft, so kann hier zunächst daran
erinnert werden, wie wir uns im Deutschen beim Hilfszeitwort sein zur Bezeichnung der Vergangenheit des
Ausdrucks Wesen bedienen, indem wir das vergangene Sein als gewesen bezeichnen. Dieser Irregularität des
Sprachgebrauchs liegt insofern eine richtige Anschauung vom Verhältnis des Seins zum Wesen zugrunde, als
wir das Wesen allerdings als das vergangene Sein betrachten können, wobei dann nur noch zu bemerken ist,
daß dasjenige, was vergangen ist, deshalb nicht abstrakt negiert, sondern nur aufgehoben und somit zugleich
konserviert ist.“ W8, S. 232.
225
255
Nach dem Tod des Gottmenschen hört der gläubige Mensch zwar auf, ihn zu sehen oder zu
hören, aber Gott lebt in den Gedanken des Menschen fort, insofern auch der gläubige
Mensch ein „geistiges Bewußtsein“ hat. Der Ü bergang der Gegenwart Gottes in das GeWesen-Sein Gottes wird nicht einfach als das Nichtsein Gottes verstanden. Das Gewesensein
Gottes bedeutet eben „das geistige Auferstehen“ (570) desselben.
Der gläubige Mensch ist indessen noch an das vorstellende Bewusstsein gebunden;
insofern nimmt das Bewusstsein an, dass es von seinem Gegenstand, dem absolut Ewigen,
schlechthin different ist. Das Bewusstsein, das diese ontische Differenz voraussetzt, verlangt
nun eine dritte Entität, um diese beiden miteinander zu vermitteln: die religiöse Gemeinde.258
Der gläubige Mensch glaubt, dass es sich in diesem religiösen Gemein-Wesen mit Gott
versöhnen kann.
Die Geburt, der Tod und die Erstehung Gottes sowie in der Folge die Gründung der
Gemeinde sind die Heilsgeschichte der offenbaren Religion. Hegel denkt, dass der Gehalt
des christlichen Gedankens begrifflich erfasst werden soll. Aber das religiöse Bewusstsein
erfasst, weil die Ungleichheit mit dem Gott dadurch noch nicht spekulativ aufgehoben ist,
jeden Moment der Heilsgeschichte solcherart, dass dieser schlechthin geschehen ist.
Diese Form des Vorstellens macht die Bestimmtheit aus, in welcher der Geist in dieser seiner
Gemeine seiner bewußt wird. Sie ist noch nicht das zu seinem Begriffe als Begriffe gediehene
Selbstbewußtsein desselben; die Vermittlung ist noch unvollendet. Es ist also in dieser
Verbindung des Seins und Denkens der Mangel vorhanden, daß das geistige Wesen noch mit
einer unversöhnten Entzweiung in ein Diesseits und Jenseits behaftet ist. Der Inhalt ist der wahre,
aber alle seine Momente haben, in dem Elemente des Vorstellens gesetzt, den Charakter, nicht
begriffen zu sein, sondern als vollkommen selbständige Seiten zu erscheinen, die sich äußerlich
aufeinander beziehen (W3.556).
Die Lehre des Christentums impliziert den in der Form der Vorstellung stehenden Inhalt des
selbstbewussten Geistes. Der christliche Gott muss zu seiner Wahrheit gelangen, die darin
liegt, dass „der wahre Inhalt auch seine wahre Form für das Bewußtsein erhalte“, um „seine
Anschauung der absoluten Substanz in den Begriff zu erheben“ (W3.556). Die Vollendung
der christlichen Religion ergibt sich nämlich erst aus dem absoluten Wissen des Geistes, in
dem der Inhalt der offenbaren Religion begrifflich erfasst wird. Freilich geht es in dem
258
Dazu vgl. Kruck (2009), S. 59-62.
226
Kapitel „Religion“ nur darum, wie der Gehalt der christlichen Lehre, d. h. der absolute Geist,
im vorstellenden Wissen zu erreichen ist. Dieser Punkt wird nun anhand der christlichen
Lehre der Trinität erörtert.
3.4 Die Lehre der offenbaren Religion: Gott ist Geist
3.4.1 Die triadische Struktur des christlichen Gottes
Das göttliche Wesen in der christlichen Religion bleibt weder nur in der übernatürlichen
Transzendenz (in der natürlichen Religion), noch erscheint es als das vom Menschen
Eingebildete (in der Kunstreligion). Der christliche Gott erscheint hingegen dem Menschen,
und zwar als die Substanz, die zugleich als ein wirkliches Subjekt da ist; der vollendete
Begriff der Religion liegt darin, dass Gott als Geist aufgefasst wird. Es ist nämlich der
Ansatzpunkt des christlichen Glaubens, einen einzelnen Menschen als das göttliche Wesen
(d. h. den Gottmenschen) zu erkennen, und dadurch sich vereinigt mit dem absoluten Wesen
zu fühlen. Das Bewusstsein muss den Entfaltungsgang des absoluten Geistes durchwandern,
in dem die christliche Lehre der Trinität für den Inhalt des absoluten Geistes charakteristisch
ist. Das heißt: „Gott wird nur so als Geist erkannt, indem er als der Dreieinige gewußt
wird“ (W12.386). Diese Dreieinigkeit der Göttlichkeit wird im Umfeld der offenbaren
Religion als die ursprüngliche Einheit von drei Personen (Gott Vater, Gott der Sohn und
Heiligem Geist) angesehen. 259 Hegel versucht aber, die christliche Lehre durch seine
spekulative Deutung zu erfassen.260
Der Kernpunkt der christlichen Lehre lässt sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen
formulieren: Der Geist-Mensch kann sich erst, insofern er in der Geist-Gemeinde, d. h. mit
259
Dazu vgl. Ruhstorfer (2008), S. 140-146.
Dazu vgl. z. B. Dooren (1969), S. 96.
Hegel verwendet bei konkreten Darstellungen nicht explizit die üblichen christlichen Worte, wie Adam,
Christus. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch die jeweils angemessenen Ausdrücke ergänzt, um die
christlichen Lehre zu analysieren. Die triadische Struktur, die die Momente der christlichen Offenbarung in
sich enthält, findet sich wohl nicht ausschließlich hier; auch in dem philosophischen Gesamtsystem Hegels,
also in seiner Enzyklopädie, zeigt sie sich topologisch. Es ist selbstverständlich, dass sein Gesamtsystem der
philosophischen Wissenschaft dem dreifachen Aufbau der logischen Idee entspricht. Der Logos als die logischmetaphysische Idee entwickelt sich nämlich zuerst als das reine Insichsein der Idee, dann als das Außersichsein
der Idee und letztlich als die Rückkehr der Idee zu sich. Diese drei Momente der Idee machen die bekannte
Triade von Logik, Natur und Geist aus. Dazu vgl. z. B. W10, S. 17 ff.
227
260
anderen gläubigen Menschen, zusammen da ist, mit dem Geist-Gott versöhnen. Diese Natur
des göttlichen Wesens lässt sich folgendermaßen ausdrücken:
Der Geist ist Inhalt seines Bewußtseins zuerst in der Form der reinen Substanz oder ist Inhalt
seines reinen Bewußtseins. Dies Element des Denkens ist die Bewegung, zum Dasein oder der
Einzelheit herunterzusteigen. Die Mitte zwischen ihnen ist ihre synthetische Verbindung, das
Bewußtsein des Anderswerdens oder das Vorstellen als solches – Das dritte ist die Rückkehr
aus der Vorstellung und dem Anderssein oder das Element des Selbstbewußtseins selbst. –
Diese drei Momente machen den Geist aus (W3.557).
Die Dialektik des Geistes in der christlichen Religion formuliert Hegel in drei Momenten
um: 1) das Wesen als reines Denken, 2) sein Anderswerden als einzelnes Dasein und 3) seine
Rückkehr zum Wesen als dem allgemeinen Selbstbewusstsein. Insofern der absolute Geist
dem religiösen Bewusstsein erscheint, tut sich die offenbare Religion hervor. Der hier
offenbarte Gott besteht in der Form der Vorstellung.
Die Vorstellung macht die Mitte zwischen dem reinen Denken und dem Selbstbewußtsein als
solchem aus und ist nur eine der Bestimmtheiten; zugleich aber, wie sich gezeigt, ist ihr Charakter,
die synthetische Verbindung zu sein, über alle diese Elemente ausgebreitet und ihre
gemeinschaftliche Bestimmtheit (W3.558).
Die Vorstellung stellt sich als das zweite Moment des Geistes dar, soweit das gläubige
Bewusstsein das göttliche Wesen selbst (also das obige reine Denken – sei es der Form nach
die reine Substanz oder dem Inhalt nach das reine Bewusstsein) auffassen soll, um eine
Anschauung von Gott zu haben. Aus diesem vorstellenden Gedanken des Bewusstseins
ergibt sich die anfängliche Aufnahme des Gottesbegriffes; mit der Vermittlung des
menschlichen Bewusstseins mit dem göttlichen Wesen beginnt die religiöse Ü berzeugung.
Insofern ist die Vorstellung das eine, genauer zweite, Moment des Geistes. Aber diese
„synthetische Verbindung“, die gleichwohl anders als die denkerische Aufhebung ist, macht
zugleich den gemeinsamen Charakter des christlichen Glaubens aus, der wesentlich in der
Form des vorstellenden Wissens besteht. Diese religiöse Vorstellung in ihrer weiteren
Bedeutung (also als der Grundcharakter der christlichen Religion) besteht aus den obigen
drei Momenten, also 1) dem reinen Wesen (als dem noch abstrakten Allgemeinen), 2) seinem
228
Anderswerden (als dem Besonderen) und 3) seiner Rückkehr zu sich (als dem konkreten
Allgemeinen).
Diese Weise der Dreieinigkeit Gottes ist der Ausdruck der christlichen Wahrheit vonseiten
Gottes. Aber es gibt auch die Trinität Gottes vonseiten des Menschen; die Wahrheit der
Religion kann das gläubige Bewusstsein dadurch nachvollziehen, dass sie ihm offenbar wird.
Die Offenbarung Gottes ereignet sich durch die Geschichte der Menschwerdung Gottes, in
der 1) die Geburt Christi, 2) sein Kreuzestod und 3) seine Auferstehung und Himmelfahrt
geschildert werden. Die Heilsgeschichte geschah deswegen im Bewusstsein nicht nur
desjenigen, der den Gottmenschen einst persönlich sinnlich anschaute, sondern auch derer,
die diese Heilsgeschichte vorstellen.
Der Verlauf dieser Offenbarung lässt sich aber unter einem noch weiteren Blickwinkel
folgendermaßen darstellen: 1) Der Gott in sich als „das einfache sich selbst gleiche ewige
Wesen“ (W3.558), 2) seine Entäußerung, aus der sich die Erscheinung des Gottesmenschen
ergibt, sodass der Mensch die Passion Christi anschaut, und 3) die Versöhnung Gottes mit
dem Menschen, die also die Verklärung Christi und dadurch die Gründung der religiösen
Gemeinde bedeutet, aber die im die denkerische Aufhebung der religiösen Wahrheit, d. h.
die Erhebung des Glaubens in das begreifende Denken des Geistes, impliziert. Dieser
Verlauf lässt sich wie folgt umschreiben: 1) das Wesen als Ansichsein, 2) sein Fürsichsein
als das Anderssein des Wesens und 3) sein Fürsichsein als Beisichsein in seinem Anderen.
Das an sich seiende Absolute wird als ein einzelnes Fürsichsein als Gottmensch
vergegenständlicht. Gott „schaut nur sich selbst in seinem Fürsichsein an“, aber er ist
dadurch „in dieser Entäußerung nur bei sich“ (W3.559). Daraus lässt sich erkennen, dass die
zwei Weisen der Trinität Gottes miteinander eng verwoben sind.261
3.4.2 Gott im reinen Denken und sein Anderswerden
Gott ist zunächst als die Substanz im reinen Denken, die nur für uns erfassbar ist. Diese
Gottheit ist auch als der vorweltlich-präexistente Logos, als die Basis, die das
Christusgeschehen erst möglich macht, zu interpretieren. Aber dieses absolute Wesen in
261
In diesem Zusammenhang handelt es sich um die zwei Weisen der Trinität, also die immanente und die
ökonomische Trinität. Aber die beiden beruhen wesentlich auf dem gleichen gedanklichen Boden. Zu der These
der Identität zwischen den beiden vgl. Rahner (1967), S. 327 ff.
229
seiner einfachen Bestimmtheit geht notwendigerweise zu seinem Anderssein über; denn das
nur sich selbst gleiche Wesen wäre ein leeres Wort, wenn es nur in dem Moment des reinen
Denkens liegen würde (W3.558). Gott muss daher seinen abstrakten Zustand überwinden,
insofern Gott Geist ist. Die abstrakte Bestimmtheit des göttlichen Wesens führt zur
immanenten Dialektik des Geistes, dessen Negativität den Grund für den Ü bergang zu
seinem Anderssein bildet.
Das einfache Wesen aber, weil es die Abstraktion ist, ist in der Tat das Negative an sich selbst,
und zwar die Negativität des Denkens oder sie, wie sie im Wesen an sich ist; d. h. es ist der
absolute Unterschied von sich oder sein reines Anderswerden (W3.559).
Das Anderswerden des Wesens bedeutet, dass das Wesen vergegenständlicht wird; damit
wird das geistige Wesen Gottes im vorstellenden Gedanken erfasst. Der gläubige Mensch
nimmt also an, dass „das ewige Wesen sich ein Anderes erzeugt“ (W3.559). Als diese
Erzeugung kann man die Geburt Christi denken. Dieses göttliche Geschehen ist eine
bedeutsame Tatsache für das religiöse Bewusstsein. Hegels Gedanke, dass Gott Geist ist,
wird mit dem Begriff Nous oder Logos deutlicher gemacht:
[Das göttliche Wesen] ist das Wort, das ausgesprochen den Aussprechenden entäußert und
ausgeleert zurückläßt, aber ebenso unmittelbar vernommen ist, und nur dieses
Sichselbstvernehmen ist das Dasein des Wortes. So daß die Unterschiede, die gemacht sind,
ebenso unmittelbar aufgelöst, als sie gemacht, und ebenso unmittelbar gemacht, als sie aufgelöst
sind (W3.559).
Für das gläubige Bewusstsein ist dieser Logos nicht vollauf zu begreifen, weil es noch nicht
zum vollkommenen Wissen von sich gelangt ist. Nach christlicher Vorstellung ist freilich
die Vermittlung von Mensch und Gott möglich, denn die Kluft zwischen beiden kann durch
das „Anerkennen der Liebe“ überbrückt werden; die Liebe Gottes ist sein „Anschauen seiner
selbst im Anderen“ (W3.561), wodurch der Unterschied zwischen und seinem Anderen
aufgelöst wird. Die göttliche Wahrheit ist hiermit als Gottes Liebe verstanden, sodass sich
die Einheit zwischen dem Jenseits und dem Diesseits vonseiten des Bewusstseins ergibt.262
Dazu vgl.: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich
in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und
230
262
Allerdings besteht hier noch der Mangel hinsichtlich der Form; also soll die Lehre der
Liebe durch die spekulative Einsicht überprüft werden. Gott als das einfache Wesen ist der
Geist im Element des reinen Denkens; aber sein Wesen muss mit dem Menschen versöhnt
werden. Das Prinzip der göttlichen Liebe ist als der Grund seiner Anderswerdung oder seiner
Welt-Erschaffung zu verstehen.263 Weil Gott zu seiner Heilsgeschichte übergegangen ist,
ist das religiöse Bewusstsein davon überzeugt, dass die Einheit von Gott und Mensch
wesentlich die Wahrheit Gottes ist.
Weil das göttliche Wesen als Ansichsein, um seine Abstraktheit zu überwinden, zu seinem
Anderswerden führt, wird in der Lehre von der christlichen Religion angenommen, dass es
sich durch das Prinzip der Liebe für das Bewusstsein vergegenständlicht. Was diese
Anderswerdung Gottes ist, legt Hegel dar: In dem Element des vorstellenden Bewusstseins
haben die drei Momente des Wesens im reinen Denken nun jeweils ein „substantielles
Dasein“, sodass sie jeweils „Subjekte“ werden (W3.561).
Das Anderswerden Gottes wird von dem religiösen Bewusstsein als die Parusie Gottes
aufgefasst; Gott entäußert sich seines an sich seienden Wesens, sodass sich die Entstehung
der endlichen Welt ereignet. Dieser Prozess der Anderswerdung geschieht in folgender
Weise: 1) die Schöpfung der Natur, 2) der Naturzustand des Menschen bzw. sein
Bösewerden, 3) die Leidensgeschichte Christi und 4) die Erlösung der Menschheit durch das
Wissen von der göttlichen Wahrheit. Jedes dieser Momente hat seinerseits seine eigene
Selbstständigkeit, aber jedes Geschehnis ergibt sich ursprünglich durch die Liebe Gottes.
3.4.3 Die Schöpfung der endlichen Welt
Gott erschuf diese Welt und erschafft sie ewig. Die „Schöpfung und Erhaltung der
Welt“ enthält nämlich die „[r]äumliche Bestimmung, wo der ewige Gott sei“ (V5.24) in sich.
zu besitzen“ (W14.155); „[wenn] in der christlichen Religion Gott als die Liebe gewußt wird, […] so ist damit
gleichfalls ausgesprochen, daß der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität an sich überwunden ist […]
So wie nun die Religion und der religiöse Kultus in der Ü berwindung des Gegensatzes von Subjektivität und
Objektivität besteht, ebenso hat auch die Wissenschaft und näher die Philosophie keine andere Aufgabe als die,
diesen Gegensatz durch das Denken zu überwinden“ (W8.351).
263
Dazu vgl.: „[D]er Geist stellt sich als sein Anderes sich gegenüber und ist aus diesem Unterschiede
Rückkehr in sich selbst. Das Andere in der reinen Idee aufgefaßt ist der Sohn Gottes, aber dies Andere in seiner
Besonderung ist die Welt, die Natur und der endliche Geist: der endliche Geist ist somit selbst als ein Moment
Gottes gesetzt. So ist der Mensch also selbst in dem Begriffe Gottes enthalten, und dies Enthaltensein kann so
ausgedrückt werden, daß die Einheit des Menschen und Gottes in der christlichen Religion gesetzt
sei“ (W12.392).
231
Die erschaffene Welt ist die Natur als Außersichsein der Idee, das, noch „der Innerlichkeit
ermangelnd, passiv oder Sein für Anderes ist“ (W3.561); diese Welt ist der physische Boden
für andere Geschöpfe. Auf diesem Territorium tritt ein Mensch auch als ein Geschöpf Gottes
auf. Die Vermittlung Gottes mit dem Menschen fängt ab diesem Zeitpunkt mit diesem ersten
Menschen, Adam, zusammen an; dieser Naturmensch in der endlichen Welt eröffnet die
„wahrhafte Geschichte des endlichen Geistes“, die auch als die „ewige Geschichte des
Menschen“ (V5.29; 42) bezeichnet wird. Diese liegt der gesamten nachfolgenden
Erlösungsgeschichte zugrunde, die von der Menschwerdung Gottes durch die Geschichte
des religiösen Gemeinwesens hindurch und bis zum Wissen vom Weltgeist wandert. Darüber
schreibt Hegel Folgendes:
Alles Wahre fängt in seiner Erscheinung, d. h. in seinem Sein, von der Form der Unmittelbarkeit
an. Dieser Begriff muß also in dem Selbstbewußtsein der Menschen, im Weltgeiste so vorhanden
[sein] (V5.80).
Das einzelne Subjekt, als erschaffenes, ist „noch nicht Geist für sich; es ist also nicht als
Geist; es kann unschuldig, aber nicht wohl gut genannt werden“ (W3.562); dieser erste
Mensch erkennt nämlich noch nicht, was gut oder böse ist.264 Er wurde „durch das Pflücken
vom Baume des Erkenntnisses des Guten und [des] Bösen“ endlich „aus dem Zustande des
unschuldigen Bewußtseins, aus der arbeitslos sich darbietenden Natur und dem Paradiese,
dem Garten der Tiere, vertrieben“ (W3.562) – so lautet die Darstellung des Sündenfalls. Weil
der erste Mensch Adam mit Tieren zusammenlebte, wurde er als „der bloß natürliche
Mensch“ bezeichnet, weil es sich schickte, „sein natürliches Glück“ (W12.389) zu haben
und mühelos mit Gott und anderen Tieren zusammenzuleben. Aber dieser Naturmensch
schlug in den für sich seienden Geist um. Es gibt das Gute und das Böse, soweit sie erkannt
werden; die Sünde vom Menschen, aus der sich ergibt, dass der Mensch nun zum Verlassen
des Paradieses gezwungen ist, bestehen deshalb nur in dem „Gedanke[n] des Guten und [des]
Bösen“ (W3.562).
Es ist aber bei Hegels Deutung der ursprünglichen Geschichte des Sündenfalls zu beachten,
dass er die Sündhaftigkeit des Menschen in Betracht zieht, um ein Auge auf den
geistesphilosophischen Sinn des Bösewerdens zu werfen. Das Böse ist Hegel zufolge nicht
Dazu vgl.: „Die Unschuld aber, als Mangel sowohl des Guten als des Bösen, ist gleichgültig gegen beide
Bestimmungen, weder positiv noch negativ“ (W6.72).
232
264
bloß als die Privation des Guten zu interpretieren, sondern es hat denselben Selbstwert wie
das Gute: „Das Böse besteht in dem Beruhen auf sich gegen das Gute; es ist die positive
Negativität“ (W6.72). Auch das Böse hat wie das Gute eine ontologische Positivität; um der
Abgrenzung des Bösen vom Guten willen kann auch das Gute vorhanden sein; wo es das
Gute gibt, da gibt es auch das Böse und, falls es dem Bewusstsein noch an dem Bösen
mangeln würde, wäre das Gute ebenso wenig sichtbar. Aber das Böse ist vor allem das
Grundmotiv dazu, das Selbstbewusstsein von dem Naturzustand zu befreien. Indem der
Zustand des unmittelbaren, reflexionslosen Bewusstseins zum Wissen von der Ungleichheit
zwischen sich selbst und dem Anderen übergeht, „so erscheint das Böse als das erste Dasein
des in sich gegangenen Bewußtseins“ (W3.562). Diese Phase ist hinsichtlich der religiösen
Lehre wohl als die Sünde zu verstehen, aber sie ist sowohl die Geburtswehe des
selbstbewussten Geistes als auch der wahrhafte Ansatzpunkt der Vermenschlichung des
Menschen.265 Hegels teleologisches Argument über das Böse findet sich nicht bloß hier,
sondern auch in seinem enzyklopädischen System, in dem stufenweise der Geist jeweils
seine Einseitigkeit überwindet, um seine Absolutheit zu erreichen.266
Solange die Erkenntnis des Guten und des Bösen „der aus der Unmittelbarkeit
herkommende oder bedingte Gedanke“ ist, führt sie dazu, dass die Einheit zwischen dem
Menschen und dem Gott direkt zerstört wird, „weil die Gedanken des Guten und des Bösen
schlechthin entgegengesetzte [sind] und diese Entgegensetzung noch nicht aufgelöst
ist“ (W3.562). Diese Vorstellung über den Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen
hat zur Folge, dass die beiden jeweils als das selbstständige Dasein im religiösen Denken
vorgestellt werden.
Insofern das unmittelbare Dasein in den Gedanken umschlägt und das Insichsein teils selbst
Denken, teils das Moment des Anderswerdens des Wesens damit näher bestimmt ist, so kann
das Bösewerden weiter rückwärts aus der daseienden Welt hinaus schon in das erste Reich des
Denkens verlegt werden (W3.563).
Dazu vgl.: „Das Erkennen als Aufhebung der natürlichen Einheit ist der Sündenfall, der keine zufällige,
sondern die ewige Geschichte des Geistes ist. […] Der Sündenfall ist daher der ewige Mythus [sic!] des
Menschen, wodurch er eben Mensch wird“ (W12.389).
266
Die Thematik des Bösen fungiert als das Leitmotiv des Ü bergangs in die Dialektik der begriffsnotwendigen
Entwicklung. Zu Hegels spekulativer Interpretation des Ursprung des Bösen vgl. W7, S. 261-265 und zu seiner
Teleologisierung des Bösen vgl. Hermanni (2002), S. 220 ff.
233
265
Das Reich des Bösen kommt nämlich vor, wie das des Guten; man denkt aber, dass das Böse
vorher entstanden sei, weil „schon der erstgeborene Lichtsohn, als in sich gehend, es sei, der
abgefallen, aber an dessen Stelle sogleich ein anderer erzeugt worden [sei]“ (W3.563). Der
erste Eingeborene sei Luzifer, den J. Böhme schon erläutert hat.
Es ist am Sohn, an der Bestimmung des Unterschieds, daß die Fortbestimmung zu weiterem
Unterschied fortgeht, daß der Unterschied sein Recht erhält, sein Recht der Verschiedenheit.
Diesen Übergang am Moment des Sohnes hat Jakob Böhme, wie schon gesagt, so ausgedrückt,
daß der erste Eingeborene, Luzifer, der Lichtträger, das Helle, das Klare gewesen, aber sich in
sich hineinimaginiert, d. i. sich für sich gesetzt habe, zum Sein fortgegangen und so abgefallen
sei. Aber unmittelbar sei an seine Stelle getreten der ewige Eingeborene (V5.218).
Dieses Lichtträger-Argument bedeutet, dass das Element des Bösen vor der Geschichte der
Menschheit zum Wesen Gottes gehörte, obgleich nach seinem Abfall von Gott sogleich der
andere, aber dieser ewige Eingeborene, also Jesus Christus, an seine Stelle trat.
Hegel versucht, die herkömmliche christliche Lehre spekulativ aufzuheben. Es ist aber
noch zu überlegen, was Hegel mit seiner philosophischen Einsicht in die Christlichkeit meint.
Das Argument von Böhme ist von geläufigen Lehren deutlich zu unterscheiden. Böhme
vertritt die Meinung, dass „Gott alles ist“, indem er sich darum bemüht, „das Böse im Guten,
den Teufel in Gott zu fassen“ (W20.105). Hegel akzeptiert aber Böhmes Argument nicht
gänzlich, weil Böhme aus Hegels Sicht die Ausdrucksformen der Vorstellung, wie das
Abfallen oder der Sohn Gottes, nicht vollkommen überwinden kann, sodass das Element der
Vorstellung und das des begrifflichen Gedankens chaotisch miteinander vermengt sind. Die
Folge davon ist, dass man die bestimmte Anzahl des göttlichen Wesens annimmt. Aber es
ist Hegel zufolge „gleichgültig“, „dem einfachen Gedanken des Andersseins im ewigen
Wesen noch eine Mannigfaltigkeit anderer Gestalten beizuordnen“ (W3.563); es ist nämlich
im Grunde belanglos, ob die Momente des Anderswerdens Gottes als „Viereinigkeit“, als
„Fünfeinigkeit“ oder anders ausgedrückt werden (W3.563). Es ist ergo unbefriedigend, eine
gewisse Zahl zu nennen und einen bestimmten Unterschied zu beachten, da dieser Versuch
in die schlechte Unendlichkeit geraten muss. 267 Hegel geht nicht darauf ein, ob die
Dazu vgl.: „[…] indem teils das Unterschiedene selbst ebensosehr nur Eines ist, nämlich eben der Gedanke
des Unterschiedes, der nur ein Gedanke ist, als er dieses Unterschiedene, das zweite gegen das erste ist, – teils
aber, weil der Gedanke, der das Viele in Eines befaßt, aus seiner Allgemeinheit aufgelöst und in mehr als drei
oder vier Unterschiedene unterschieden werden muß, – welche Allgemeinheit gegen die absolute Bestimmtheit
des abstrakten Eins, des Prinzips der Zahl, als Unbestimmtheit in der Beziehung auf die Zahl selbst erscheint,
234
267
Bestimmtheit der gewissen Anzahl (Dreieinigkeit, Viereinigkeit, Fünfeinigkeit usw.) richtig
ist oder nicht. Hegel selbst erwähnt zwar die triadische Struktur des göttlichen Wesens,
behauptet aber, dass die begriffliche Totalität nicht mit der abstrakten Allgemeinheit
verwechselt werden sollte. Es geht nicht darum, ob die Momente als dreieinig gezählt
werden oder nicht, sondern vielmehr darum, was Hegel mit der Dreieinigkeit meint, die
durch die philosophische Einsicht erhellt werden soll.
Der Gedanke des Gegensatzes zwischen dem Guten und dem Bösen wird als das
vorweltlich-präexistente Wesen im reinen Denken angenommen. Aber diese beiden
(scheinbar selbstständigen) Momente des Anderswerdens Gottes sind bereits vollzogen; das
Böse erscheint als „das Insichgehen des natürlichen Daseins des Geistes“ und das Gute tritt
als „ein daseiendes Selbstbewusstsein“ auf (W3.564). Das Böse und das Gute im Menschen
werden als das „Selbst“, wie Adam und Christus, charakterisiert.268 Das „Selbst“ ist auf
einer Seite als das Dasein des Bösen, das dem göttlichen Wesen nicht angemessen ist,
verstanden; das böse Bewusstsein wird nämlich „als ein dem göttlichen Wesen fremdes
Geschehen“ (W3.564) angesehen. Es ist somit für das gewöhnliche Bewusstsein
unbegreiflich, das Böse in diesem Wesen selbst zu erfassen; dadurch muss das gläubige
Bewusstsein ein solches Dasein des Bösen als den „Zorn“ (W3.564) Gottes auffassen. Diese
Eigenschaft macht die grundlegende Triebfeder der Geschichte der Menschheit aus, aus der
sich Hegels Theodizee-Konzept ergibt. Aber das andere Selbst tritt nunmehr auf; es ist, als
der ewig-einzigartige Sohn Gottes vorgestellt, der einzelner Mensch, der zugleich sich selbst
als das göttliche Wesen weiß. Die Großmütigkeit des Gottmenschen besteht in der
„Selbsterniedrigung“ seines Wesens, „das auf seine Abstraktion und Unwirklichkeit
Verzicht tut“ (564). Indem dieses höchst gute Dasein Gottes in der Geschichte der
Menschheit existiert, ergibt sich ein Wendepunkt in der Bildungsgeschichte des Geistes; das
tiefste Wesen liegt nämlich in der „Spitze der Entäußerung“ (V5.28), d. h. in der höchsten
„Entfremdung des göttlichen Wesens“ (W3.564), welche die Verwirklichung des an sich
seienden Gottes in dem konkreten Dasein ist.
so daß nur von Zahlen überhaupt, d.h. nicht von einer Anzahl der Unterschiede die Rede sein konnte, also hier
überhaupt an Zahl und ans Zählen zu denken ganz überflüssig, wie auch sonst der bloße Unterschied der Größe
und Menge begrifflos und nichtssagend ist“ (W3.563 f.).
Zu dem Verhältnis von der schlechten Unendlichkeit und der wahrhaften vgl. W8, S. 198-203.
268
Dazu vgl. Schöndorff (1982), S. 557.
235
3.4.4 Geburt, Tod und Auferstehung Christi
Die Entfremdung oder Entäußerung des göttlichen Wesens als die Vergegenständlichung
desselben bedingt die wahrhafte Vereinigung zwischen dem einzelnen „Selbst“ und dem
absoluten Wesen im reinen Denken. Diese Offenbarung Gottes ergibt sich aus der
Entstehung des selbstbewussten Geistes, welche erst durch die spekulative Erinnerung an
die zweifache Entäußerung des Geistes erreichbar ist. Für das religiöse Bewusstsein gilt das
Erscheinen dieses Geistes als die Geburt des Gottmenschen; die Trinitätslehre besteht in der
folgenden Vorstellung: Gott der Sohn sei aus der Einheit von „Mutter“ (als der Wirklichkeit)
und „Vater“ (als dem Ansichsein) geboren (W3.550), wobei die spekulative Vereinigung von
jenem Selbstbewusstsein und dieser Substanz mit dem Gedanken der Jungfrauengeburt
verstanden wird.269
Die ganze Menschheit, als Nachfahr von Adam, steht immerwährend zwischen dem Guten
und Bösen. Das gläubige Bewusstsein hält dafür, dass es wesentlich nicht so wie der
Gottmensch beschaffen sei. Ihm scheint der Vereinigungsversuch vom Guten und Bösen
unvollkommen, da es nicht völlig zum Guten gelangen kann. Das wirkliche „Selbst als der
Glaubende sieht sich selbst als „noch leere Mitte“ zwischen beiden Momenten an, welche
nur die „bloße Gemeinschaftlichkeit der beiden“ (W3.565) bedeutet. Insofern das Gute und
das Böse als komplett selbstständige Wesen gedacht sind, bleibt der Ü berbindungsversuch
dieses Gegensatzes im Inneren des Menschen bei allen Anstrengungen immer vergeblich.
Die Bewegung der Vereinigung zwischen dem Guten und dem Bösen besteht, wie schon
gesagt, wesentlich in der spekulativen Einsicht in die Notwendigkeit der gedoppelten
Entäußerung des Geistes. Die wahrhafte Vereinigung von beiden wird jedoch für das
Bewusstsein zunächst ausschließlich als „ein freiwilliges Tun“ des Gottmenschen (W3.565),
gleichsam als ein außergewöhnliches Christusgeschehen vorgestellt; das göttliche Wesen
leiste wortwörtlich einen freiwilligen Verzicht auf sein Fürsichsein, um sich selber mit Gott
in sich zu versöhnen, aber auch, um hiermit alle Menschen sich mit dem absoluten Wesen
versöhnen zu lassen. Seine Aufopferung hat alle Zeugen schockiert, weil sie ihnen „ein
unbegreifliches Geschehen“ (W3.566) scheint.
Das christliche Bewusstsein hat den Tod des Gottmenschen angeschaut. Weil die
Offenbarung des Gottmenschen im Prinzip das Resultat der Entäußerung des einfachen
Wesens Gottes (als des ersten Moments des absoluten Wesens) war, bedeutet dieser Tod des
Gottmenschen eben das zweite Anderswerden des ersten Anderswerdens Gottes; aus diesem
269
Dazu vgl. Küng (1970), S. 263.
236
Grund wird sein Tod als der nochmalige Tod Gottes bezeichnet, denn der Gottmensch selbst
ist durch die Entäußerung des Gottes in sich entstanden. Der Tod Christi zeigt dem
Bewusstsein, dass das erste Anderssein des Gottes in sich (also der Gottmensch) durch das
zweite Anderswerden (durch seinen Tod) denkerisch aufgehoben wird.
Denn in dieser Bewegung stellt es [= Gott als absolutes Wesen] sich als Geist dar; das abstrakte
Wesen ist sich entfremdet, es hat natürliches Dasein und selbstische Wirklichkeit; dies sein
Anderssein oder seine sinnliche Gegenwart wird durch das zweite Anderswerden
zurückgenommen und als aufgehobene, als allgemeine gesetzt; dadurch ist das Wesen in ihr
sich selbst geworden; das unmittelbare Dasein der Wirklichkeit hat aufgehört, ein ihm fremdes
oder äußerliches zu sein, indem es aufgehobenes, allgemeines ist; dieser Tod ist daher sein
Erstehen als Geist (W3.565 f.).
Aus seinem Tod folgt das „geistige Auferstehen“ (W3.570), weil sich dadurch die
Möglichkeit der Versöhnung des absoluten Wesens mit dem menschlichen Bewusstsein
offenbart. Diese Phase führt Hegel in seiner Religionsphilosophie folgendermaßen aus:
[I]n dem natürlichen Tode [wird] die Endlichkeit als bloß natürliche zugleich verklärt, aber hier
auch […] das Kreuz verklärt, das in der Vorstellung Niedrigste [...] – dieses verkehrt zum
Höchsten […]. So ist das für das Niedrigste, Verachtetste Geltende zum Höchsten gemacht. Hier
liegt der unmittelbare Ausdruck der vollkommenen Revolution gegen das Bestehende, in der
Meinung Geltende (V5.65).
An den Tod Christi schließen sich seine Auferstehung und Verklärung an; diese bleiben
nicht bloß als eine historische Tatsache; ob diese wirklich geschah oder nicht, ist auch kein
wesentliches Thema. Der entscheidende Punkt ist dafür vielmehr, dass dieses Geschehen das
Bewusstsein dazu bewegt, den Tiefsinn des absoluten Begriffs zu erfassen. Deshalb wird es
als die vollkommene Revolution in der Weltgeschichte bezeichnet.
Das Bewusstsein, das Gott sieht, hört usw., spricht nun aus, dass es selbst ihn gesehen,
gehört usw. habe. Dieses Ge-Wesen-Sein des religiösen Denkens, wodurch der Gehalt der
Gegenwart bewahrt wird, gibt dem erscheinenden Bewusstsein einen dezisiven Anlass zum
Ü bergang des Bewusstseins zum absoluten Geist. Hegel stellt diese Umstände wie folgt dar:
237
Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles
Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der
vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden. – Der Verlauf
bleibt aber nicht hier stehen, sondern es tritt nun die Umkehrung ein; Gott nämlich erhält sich in
diesem Prozeß, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben: Es
wendet sich somit zum Gegenteil. – Die Auferstehung gehört ebenso wesentlich dem Glauben
an: Christus ist nach seiner Auferstehung nur seinen Freunden erschienen; dies ist nicht
äußerliche Geschichte für den Unglauben, sondern nur für den Glauben ist diese Erscheinung.
Auf die Auferstehung folgt die Verklärung Christi, und der Triumph der Erhebung zur Rechten
Gottes schließt diese Geschichte, welche in diesem Bewußtsein die Explikation der göttlichen
Natur selbst ist (V5.247).
In diesem Zusammenhang lässt sich sagen, dass dieser Tod des Todes und die Auffahrt
Christi am substanziellsten und essenziellsten unter den Phasen der Entäußerung Gottes
seien.
270
Hierdurch zeigt Gott sich als Geist, und zwar „als dies Negative des
Negativen“ oder „als versöhnter“ (68).
3.4.5 Das Versöhnungsgeschehen des Geistes in der Gemeinde
Das Christusgeschehen – wie Tod und Auferstehung – ist der entscheidende Zeitpunkt für
den christlichen Glauben, weil dadurch der selbstbewusste Geist nicht bloß als ein einzelnes
„Selbst“, sondern eher als „allgemeines Selbstbewußtsein“ erscheint (W3.566); das göttliche
Wesen als ein Einzelnes wird hiermit das absolute Wesen. Der Geist ist nunmehr
gegenwärtig im Selbstbewusstsein des Menschen, und zwar ebenso wesentlich als auch
unmittelbar.
Der Geist ist also in dem dritten Element, im allgemeinen Selbstbewußtsein gesetzt; er ist seine
Gemeinde (W3.568).
Dazu vgl.: „Hegels konzentrierte Darlegungen seiner theologischen Auffassung in der philosophischen
Gesamtkonzeption seiner Phänomenologie des Geistes zeigt aber eindeutig, daß [keine Menschwerdung Gottes,
vielmehr] Tod und Auferstehung Christi für ihn in der Mitte des theologischen und christologischen
Geschehens stehen“. Schöndorff (1982), S. 550.
238
270
Durch die wirkliche Gründung einer Gemeinde kehrt das religiöse Selbstbewusstsein aus der
Vorstellung als dem zweiten Moment des göttlichen Geistes in das dritte Moment, quasi in
das „Selbst“, das zugleich im allgemeinen Wesen besteht, zurück. Im Christentum ist Gott
als Geist offenbar; Gott gilt nämlich für das religiöse Selbstbewusstsein als Gott. Der GeistGott ist sonach wesentlich und unmittelbar in der Gemeinde, und Gott ist nur sofern wahrhaft
wirklich Geist, als er in der Gemeinde, d. h. in der Gemeinsamkeit von Geist-Gott und GeistMenschen ist.271 Die Gemeinde ist die Gemeinde Gottes und zugleich auch die Gemeinde
des Menschen, weil hier die beiden miteinander versöhnt sind; in dieser Gemeinde geschieht
also die „Versöhnung des Geistes mit sich selbst“ (W3.570). Während im Kapitel „Geist“ der
WELTLICHE GEIST die Vermittlung mit sich erreichte, so ereignet sich diese Versöhnung auf
der Ebene des RELIGIÖ SEN GEISTES, im Sinne der wahrhaften Totalität. Die Gemeinde
beweist sich also für das religiöse Selbstbewusstsein als „ein wirkliches, gegenwärtiges
Leben im Geiste Christi“ (W12.397); daraus ergibt sich das allgemeine Selbstbewusstsein.
Wie schon erörtert, wurde das Böse in Gott nie und nimmer anerkannt, also wurde es
ausgesprochen, dass die Entstehung des Bösen nur als ein Abfall vom Gott aufzufassen sei.
Gottmensch wurde außerdem als Personifikation der Identität von göttlicher und
menschlicher Natur gedacht, anders als der Mensch, der zwischen dem Guten und dem
Bösen schweben muss. Allein wenn das Böse de facto dem an sich seienden göttlichen
Wesen selbst fremd wäre, wäre Gott nur ein leeres Wort, nicht ein wahrhafter Logos. Soweit
Gott als der absolute Geist im eigentlichen Sinne zu verstehen ist, werden das Gute und das
Böse als an sich voneinander ungetrennt und untrennbar gedeutet. Aber für das gläubige
Bewusstsein geht es nur um die „Versöhnung des göttlichen Wesens mit dem Anderen
überhaupt“, d. h. mit dem „Bösen“ (W3.567), also nicht um die Versöhnung des absoluten
Wesens mit sich selbst oder um das Verhältnis des Geistes zu sich selbst.
Diese Versöhnung besteht darin, dass das Gute und das Böse an sich dasselbe sind. Aber
das Wissen davon beruht, falls auf „eine ungeistige Weise“ aufgenommen, auf dem
entscheidenden „Mißverständnis“ (W3.567), als ob die beiden, schlechthin getrennt, durch
das Christusgeschehen miteinander eins würden. Nach dem geläufigen Verstand seien die
beiden, sofern sie voneinander unterschieden, also außerhalb der Einheit, sind.272 Aber die
Ausdrucksformen des abstrakten Gedankens – wie dasselbe und nicht dasselbe, die Identität
und die Nichtidentität – müssen überwunden werden; daraus resultiert das spekulative
Wissen. In einer konkret-dynamisch entwickelten Einheit miteinander enthält jedes „sein
271
272
Dazu vgl. Dellbrügger (1998), S. 345; Kohl (2003), S. 276.
Dazu vgl. Ringleben (1977), S. 215 f.
239
Anderes in ihm“ als „sein eigenes Moment“ (W5.158) in sich. „Indem das Böse dasselbe ist,
was das Gute, ist eben das Böse nicht Böses noch das Gute Gutes, sondern beide sind
vielmehr aufgehoben“ (W3.567). Diese „geistige Einheit“ ermöglicht die wahrhafte
Versöhnung, indem sie der „Allgemeinheit des Selbstbewußtseins“ zugehört; diese
„Bewegung der Gemeinde“ zeigt, dass der „gestorbene göttliche Mensch“ in vollem Maße
„das allgemeine Selbstbewußtsein“ (W3.568) ist. Damit das einzelne Bewusstsein freilich
dieses Wissen von der Allgemeinheit erreichen könnte, soll es aufhören, ein vorstellendes
Bewusstsein zu sein, um „sich zum Geiste zu erheben“ (W3.569). Dadurch entsteht die
Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES.
Indem das „Selbst“, wie schon gesagt, in sich geht, wird es erst böse. Aber diese böse Seite,
die „das natürliche Dasein und das einzelne Fürsichsein“ darstellt, ist „schon an
sich“ gegeben (W3.569). Indem das vorstellende Bewusstsein nämlich aus seiner
„Natürlichkeit“ in sich zurückkehrt, wird das an sich seiende Böse jetzt als das „daseiende
Bösewerden“ (W3.569) vorgestellt. Aus diesem Grunde wird das Böse im vorstellenden
Bewusstsein als der „natürliche Geist“ (W3.569) benannt, welcher sich durch die
Ü berzeugung von seiner Natürlichkeit zum Geist erheben kann. Dieser Geist, der
gewissermaßen in seiner Natürlichkeit besteht, muss von der Sinnlichkeit in die wahrhafte
Geistigkeit übergehen. Ein Bösewerden im Element des allgemeinen Selbstbewusstseins
muss das „Werden des Gedankens des Bösen“ (W3.569) sein, sodass sich zwar das
„Absterben der Sünde“ ergibt, aber religionsphilosophisch gesehen erst die wahrhafte
„Versöhnung des Geistes mit sich selbst“ (W3.570) geschieht.
Der Gedanke der Christlichkeit besagt in der Form der Vorstellung, dass „durch das
Geschehen der eigenen Entäußerung des göttlichen Wesens, durch seine geschehene
Menschwerdung und seinen Tod das göttliche Wesen mit seinem Dasein versöhnt
ist“ (W3.570). Diese Versöhnung kommt erst durch den Ü bergang zum allgemeinen
Selbstbewusstsein zustande; durch die Gründung der Gemeinde wird die Bedeutung des
Todes Gottes denkerisch aufgehoben. Der „Tod des Mittlers“ wird nun „von dem Nichtsein
dieses Einzelnen verklärt“, die „Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemeine lebt, in ihr
täglich stirbt und aufersteht“ (W3.571), ist also erreichbar; der Gott-Geist erstirbt und ersteht
zugleich im täglichen Leben des religiösen Selbstbewusstseins. Was täglich tot ist, das ist
nicht irgendein wirkliches Leben, sondern nur das natürliche Dasein des „Selbst“, das vorhin
das Ansichsein des Bösen genannt wurde. Aus dem „Tod des Mittlers“ ergibt sich die
Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES. Also ist das Göttliche nunmehr nicht einfach mit dem
sich fremden Wesen; es steht nicht mehr dem gläubigen Bewusstsein gegenüber. Gott ist
240
vielmehr mit seinem eigenen Wesen versöhnt, weil er als wirkliches „Selbst“ offenbar
gewesen, der Mensch eben so Geist ist; der geistige Gott ist durch die geistige Gemeinde mit
dem geistigen Menschen vermittelt.
Allein es ist zu beachten, dass wir das Geschehen des göttlichen Wesens, d. h. den
geschichtlichen Ablauf der Versöhnung von Gott und Mensch, nicht einfach durch die
Reduzierung auf die historischen Tatsachen, gleichsam durch das einstmalige Leben Christi
erfassen sollten. Der christliche Glaube steht, insofern er die Religion ist, in der Form des
vorstellenden Gedankens; die ewige und absolute Wahrheit der christlichen Lehre kann man
nur vom spekulativen Standpunkt aus, also in Anlehnung an den begreifenden Gedanken der
obigen Dialektik des Geistes, erfassen. Christus ist nicht bloß als eine historische Person
aufzufassen, also dass er z. B. Wunder wirkte oder als moralischer Lehrer seinen Schülern
ein Vorbild gab; denn der gedankliche Inhalt des Christentums ist nicht in dieser „geistlose[n]
Erinnerung“
an
den
„Ursprung
als
das
unmittelbare
Dasein
der
ersten
Erscheinung“ (W3.557), sondern durch die spekulative Er-Innerung erreichbar. Die
ökonomische Trinität Gottes kann also, solange sie von jener Form der sinnlichen
Anschauung bzw. Vorstellung nicht entbunden ist, dem Schicksal der „Vergangenheit und
Entfernung“ (W3.556) nicht entgehen.
241
C. Der Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion in der
Phänomenologie des Geistes
1. Der Ü bergang von der griechischen Sittlichkeit zu dem moralischen Gewissen
Um den Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion anhand der PHG zu betrachten,
muss
man
zunächst
die
Darstellung
des
erscheinenden
Wissens
im
Kapitel
„Geist“ verdeutlichen; dadurch wird die Struktur des Ü bergangs des sittlichen Geistes (in
der altgriechischen Welt) zum moralischen Geist (in der neuzeitlichen Welt) erkennbar.
Die kurze Einleitung zum Kapitel „Geist“ (W3.324 ff.) widmet sich vorzugsweise der
Erörterung des Sittlichkeitsbegriffs. Das resultiert wohl in erster Linie aus Hegels Absicht,
Leser zum Einblick in den ersten Abschnitt in diesem Kapitel (also in die „Sittlichkeit“)
einzuführen. Der hier ausgeführte Begriff der Sittlichkeit aber erlaubt es uns, die gesamte
Dialektik des Kapitels „Geist“ einheitlich aufzufassen; der gesamte Bildungsgang im Kapitel
„Geist“, der vom Geist in seinem unmittelbaren Bewusstsein („Sittlichkeit“) durch den Geist
in seiner abstrakten Entfremdung („Bildung“) endlich zum Geist in seiner absoluten
Selbstgewissheit („Moralität“) reicht, kann als die Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen
Subjekts bezeichnet werden; der „Geist“ behandelt nämlich einen Augenblick des sittlichen
Lebens in der antiken Welt, dessen Untergang, die sukzessive Befreiung von der
Entfremdung und die Autonomie des moralischen Subjekts in der Neuzeit.
Was der „Geist“ in der PHG impliziert, das macht für Hegel das Grundprinzip des
gelungenen Zusammenlebens aus. Dieses Prinzip des Gemeinwesens, also der gegenseitigen
Anerkennung von Individuen oder der Versöhnung eines Einzelnen mit einem anderen bzw.
mit dem Allgemeinen, entdeckt Hegel wohl im alten Griechentum. Die neuzeitliche
Sittlichkeit kann man noch nicht in der PHG finden; aber im Rahmen des moralischen
Gewissens (im Abschluss des Kapitels „Geist“) und weiterhin der offenbaren Religion (im
Abschluss des Kapitels „Religion“) behandelt Hegel die Formen der Versöhnung. Die
Betrachtung der beiden Versöhnungsformen in der PHG erlaubt es uns, Hegels Lehre der
neuzeitlichen Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie genauer und umfänglicher zu deuten.
Hegel fängt im Kapitel „Geist“ damit an, auf den Begriff der „Sittlichkeit“ einzugehen.
Aber bereits im Kapitel „Selbstbewußtsein“ geschah eine Gleichsetzung zwischen dem
Ansichsein und dem Sein für Anderes; „die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das
242
Bewußtsein ist sich selbst das Wahre“ (W3.137). Die Wahrheit dieser Gewissheit besteht in
dem Folgenden: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen
Selbstbewußtsein“ (W3.144). Diese Verbindung eines Subjekts mit einem anderen Subjekt
impliziert
Folgendes:
Die
beiden
„anerkennen
sich
als
gegenseitig
sich
anerkennend“ (W3.147). Hier wurde (aber nur für uns) das sittliche Prinzip als das
Phänomen der „Verdopplung des Selbstbewußtseins“ bezeichnet; „der Begriff des Geistes“,
der auch den absoluten Begriff der Wissenschaft impliziert, wird ausgedrückt: „Ich, das Wir,
und Wir, das Ich ist“ (W3.144 f.). Der Inhalt des Geistes hat die gegenseitige Anerkennung
von Individuen, m. a. W. die Versöhnung des Einzelnen mit anderen oder mit dem
Allgemein dargestellt. Aber mit seiner Bewahrheitung war dieser Begriff noch nicht völlig
zu verwirklichen, sodass die Gleichsetzung zwischen dem Ansichsein und dem Sein für
Anderes für das Bewusstsein noch nicht sichtbar war. Auch das Individuum in der sittlichen
Welt erkennt um seines unwandelbaren Zutrauens zu „seiner einfachen Wahrheit“ (W3.327)
willen das eine bestimmte Gesetz unter den gegensätzlichen Sittengesetzen an. Lapidar
ausgedrückt: Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ wird das Prinzip der Anerkennung, noch nicht
konkret entfaltet, dargestellt.
Im Kapitel „Vernunft“ erschien darüber hinaus für uns die sittliche Substanz; sie impliziert
das Prinzip des sittlichen Lebens in einem Volk, das besagt, dass ein Individuum „in der
Selbständigkeit des Anderen die vollständige Einheit mit ihm anzuschauen“ (W3.264) hat.
Das geistige Phänomen der Sittlichkeit wird aber erst im Kapitel „Geist“ dem Bewusstsein
offenbar. Das von dem sittlichen Prinzip gestützte Gemeinwesen wird „[als der] Grund und
Ausgangspunkt des Tuns Aller und [als] ihr Zweck“ (W3.325) angesehen; dieser Grund ist
zugleich das „durch das Tun Aller und Jeder“ erzeugte Werk, genauer das „allgemeine
Werk“ von jedem einzelnen Individuum (W3.325). Die sittliche Substanz ist das Werk der
einzelnen Individuen; jedes Individuum glaubt, dass sich sein Wille in seinem Gemeinwesen
widerspiegelt, obgleich sie zugleich eine eigene, von dem Individuum unabhängige Ordnung
hat.
Hegel stellt den Geist als „das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“ (W3.325) dar;
die sich selbst tragende Substanz oder das absolute Wesen gehört nicht allein (wie im
Kapitel „Vernunft“) zu einem Einzelnen (d. h. zu dem Subjekt der gesetzgebenden Vernunft),
sondern ist in der Welt schon realisiert. Die sittliche Substanz bildet die Grundlage für das
reale Leben des Bewusstseins, durch das ihm die objektive Wirklichkeit des vernünftigen
Prinzips sichtbar wird. Die Gestaltungen, die zum Kapitel „Geist“ gehören, sind
dementsprechend alle jeweils „Gestalten einer Welt“ (W3.326). Jede Gestaltung, die
243
geschichtlich jeweils einer bestimmten Welt zugeordnet wird, ist alles in allem ein in der
bestimmten Epoche vorhandenes Institutions- oder Gesinnungssystem; zu ihm hat der
Mensch in dieser Epoche ein festes Zutrauen, sodass die Existenz des Sittlichen für das
Bewusstsein als das absolute reale Wesen oder als „der ganze Geist“ (W3.329) anerkannt
wird. Das sittliche Gemeinwesen ist kein bloßes Eingebildetes, sondern „existiert und
gilt“ (W3.329).
Der wahre oder sittliche Geist in dem ersten Abschnitt des Kapitels „Geist“ stellt das zu
einer bestimmten (also in diesem Fall der griechischen) Welt gehörende Prinzip der Sitten
bzw. der Normativität dar, das bei den alten Griechen als das absolute reale Wesen galt; der
sittliche Geist bedeutet sowohl die sittliche Substanz, die in der Welt verwirklicht worden
ist, als auch die sittliche Wirklichkeit, in der die Gesinnung des einzelnen Bewusstseins die
Grundbestimmung seiner Welt repräsentiert. Das erste geschichtliche Phänomen der
Vereinigung der Individualität mit der Allgemeinheit wird als „das sittliche Leben eines [d. h.
des griechischen] Volks“ (W3.326) bezeichnet. Der Grundcharakter der alten Sittlichkeit
liegt allerdings darin, dass jedes Polismitglied mit Sicherheit, ohne tiefe Ü berlegungen, von
der Geltung seines Gemeinwesens ganz überzeugt ist. Das griechische Ethos ist nichts
anderes als „die unmittelbare Gewißheit des realen sittlichen Seins“ oder als „das sichere
Vertrauen zum Ganzen“ (W3.328; 347). Hegel denkt nämlich, dass die alten Griechen ihre
ethische Gesinnung für das unbedingt Wahrhafte halten; das Bewusstsein des Griechen
beruht für Hegel auf der einfachen Ü berzeugung, dass seine Gesinnung schlechthin und
fraglos wahr sei. Aus diesem Grunde sieht er diese traditionelle Sittlichkeit als den Geist des
noch unmittelbaren Bewusstseins an, weil der sittliche Geist noch „in seiner einfachen
Wahrheit“ (W3.327) liegt. Hegel analysiert den Sinn und die Grenze des altgriechischen
Prinzips, und zwar (anders bei seiner Geschichtsphilosophie) anhand von Figuren aus dem
griechischen Mythos. Die familiäre Pietät gilt z. B. für Antigone als die oberste Pflicht; diese
Obliegenheit des Bürgers wird gegenüber dem Staatsgesetz nebensächlich. Diese Gesinnung
ist allerdings de facto von einem unreflektierten, also einseitigen, Urteil bestimmt; die Alten
halten dieses Gesetz für „ewig“, obgleich von diesem Gebot „niemand weiß, von wannen es
erschien“ (W3.520). Hegel ordnet zwar diesen Charakter explizit nur dem Gesetz der unteren
Welt als dem göttlichen Gesetz von Antigone zu, aber auch das Gesetz von Kreon, d. h. das
Gebot zur Befolgung des menschlichen Staatsgesetzes, gehört zu diesem unreflektierten
Ethos. Aus der Tat, die reinen Herzens ist, ergibt sich die „Notwendigkeit des furchtbaren
Schicksals, welche das göttliche wie das menschliche Gesetz […] in den Abgrund seiner
Einfachheit verschlingt“ (W3.342); aus dem eigenen Vorsatz des tätigen Menschen folgt
244
nämlich, dass das Handelnde „seine Schuld anerkennen“ (W3.348) muss, wie König Ö dipus,
der sich die Augen ausstach. Hegel bezeichnet das Prinzip der griechischen Familien- bzw.
Staatsbildung als „die unbefangene Sittlichkeit“ (W12.137); diese Unbefangenheit liegt für
Hegel tatsächlich darin, dass der Geist der griechischen Sittlichkeit – mit dem Titel dieses
Abschnitts „Sittlichkeit“ –„in seiner einfachen Wahrheit“ befangen ist.
Diese Dissonanz zwischen der subjektiven Gesinnung und der objektiven Ordnung kann
man auch in den nachfolgenden Phasen, also im Abschluss des wahren Geistes erblicken:
der Gegensatz zwischen dem rechtlichen Individuum und der formellen Allgemeinheit im
römischen Rechtszustand, d. h. die Enteignung der eigenen Selbstständigkeit vonseiten der
rechtlichen Persönlichkeit, die aus dem „Formalismus des Rechts“ (W3.357) folgt. In dem
zweiten Abschnitt des Kapitels „Geist“ („Bildung“) lassen sich forthin die Erscheinungen
der Abwechslung von dem Ansichsein eines Vollzugs und dem Sein für Anderes desselben
beschreiben; der jeweilige Wahrheitsanspruch stößt sich unvermeidlich an einem anderen,
den das andere Bewusstsein behauptet. Die Erscheinungen der Entgegensetzung in dem sich
entfremdeten Geist heißen also: Der Konflikt zwischen dem Guten und dem Schlechten,
zwischen der Staatsmacht und dem Reichtum, zwischen dem edelmütigen und dem
niederträchtigen Bewusstsein und zwischen dem Glauben und der reinen Einsicht, zwischen
der Aufklärung und dem Aberglauben in der Epoche der Aufklärung und zwischen dem
allgemeinen Willen und dem einzelnen Willen in der Französischen Revolution. 273 Der
Abschnitt „Bildung“ stellt im Ganzen den Prozess der sukzessiven Befreiung von der
Entfremdung dar. Besonders im Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben und in der
absoluten Freiheit der Französischen Revolution kann der Geist seine Entfremdung nicht
vollständig überwinden; erst der Geist der „Moralität“ besteht nicht in der Entfremdung,
sondern in der Selbstgewissheit von sich selbst.
Die „moralische Weltvorstellung“ am Anfang des letzten Abschnitts des Kapitels
„Geist“ („Moralität“) liegt in dem Gegensatz zwischen dem Sein-Sollenden und dem
wirklich Seienden, sodass das moralische Bewusstsein umgehend die „Verstellung der
Sache“ (W3.459) erleidet. Die Welt des moralischen Geistes im Rahmen des Gedankens von
Kant und Fichte ist wohl ein „Gedankending“ (W3.462), das im Grunde zu der Vorstellung
des moralischen Subjekts gehört; diese Welt ist auch auf die sinnliche Welt bezogen, denn
die moralische Vorstellung soll auch in der Natur entfaltet werden, um die vollendete
Moralität zu sein. Aus dem Kontext der Vollendung der Moralität ergibt sich die „Religion
273
Dazu vgl. Auinger (2003), S. 31 ff.
245
der Moralität“ (W3.496); das absolute Wesen wird nämlich postuliert, damit man den
Gegensatz zwischen dem Sollen und dem Wirklichen auflösen kann.
Das moralische „Gewissen“, das Hegel als die letzte Phase des weltlichen Gesamtgeistes
auffasst, ergibt sich aus der folgenden Forderung: Das moralische Subjekt soll, um seine
absolute Selbstständigkeit zu behaupten, eine noch höhere (also die letztendliche) Instanz
der moralischen Entscheidung finden; dieser Anspruch der moralischen Souveränität besteht
nicht in seinem Gefühl der Achtung für das (allgemeingültige) Moralgesetz (das das Subjekt
selbst als individuelles gleichwohl nicht erschaffen hat), sondern in seiner absoluten
Selbstgewissheit. Ausdrücke wie „die moralische Genialität“, die „göttliche Stimme“ und
ein „einsamer Gottesdienst“ implizieren die Souveränität des Gewissenshandelns und urteils oder „die Heiligkeit der moralischen Wesenheit“ (W3.481; 447).
Die Dialektik des Gewissens liegt ebenfalls in dem Prozess, den Gegensatz zwischen der
subjektiven oder individuellen und der objektiven oder intersubjektiven Seite, d. i. zwischen
der Selbstgewissheit vom Subjekt und der (seinem Gemeinwesen zugeordneten)
allgemeinen Normativität, aufzulösen. Diese Dialektik wird von Hegel zwar mit dem
Konflikt zwischen dem handelnden und dem urteilenden Gewissen bezeichnet, aber diese
Entgegensetzung führt endlich zur Verzeihung und Versöhnung, also zum „Moment des
Anerkanntwerdens von den anderen [Subjekten]“ (W3.470). Diese Phase der gegenseitigen
Anerkennung von Subjekten stellt Hegel im Zusammenhang mit der „Gemeinde“, also des
Gemeinwesens in der moralischen Welt, folgendermaßen dar:
[D]er einsame Gottesdienst [d. h. die absolute Selbstgewissheit des Gewissens-Subjekts] ist
zugleich wesentlich der Gottesdienst einer Gemeinde, und das reine innere sich selbst Wissen
und Vernehmen geht zum Momente des Bewußtseins fort. Die Anschauung seiner ist sein
gegenständliches [oder objektiven] Dasein, und dies gegenständliche Element ist das
Aussprechen seines Wissens und Wollens als eines Allgemeinen (W3.481).
Der einsame Gottesdienst im Inneren des Gewissens muss nämlich in den Gottesdienst einer
Gemeinde, in der „nicht nur die Anschauung des Göttlichen [außer dem Menschen], sondern
die Selbstanschauung desselben [innerhalb seiner]“ (W3.580) für uns erkennbar ist,
übergehen. In der Gemeinde des Gewissens lässt sich der Zusammenhang der Moralität mit
der Religion oder der Ü bergang des Gewissens „zum Gottesgedanken“ 274 zeigen; diese
274
Jaeschke (1986), S. 210.
246
Versöhnung im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES, der die vorreligiösen Gesamtgestalten
des Bewusstseins (von dem Kapitel „Bewußtsein“ zum Kapitel „Geist“) umfasst, zeigt einen
Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten auf, aus dem sich „der
erscheinende Gott mitten unter ihnen“ (W3.494) ergibt. Dieser Begriff Gottes besteht nicht
außerhalb der Selbstgewissheit des Subjekts, sodass man den Anschluss des W ELTLICHEN
GEISTES an den RELIGIÖ SEN GEIST verstehen kann. Diese zugespitzte Form der Versöhnung
im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES impliziert, dass der moralisch gut gesinnte (aber
zugleich in seiner absoluten Autonomie beruhende) Mensch – mit Hegels Formulierungen
in seiner Geschichtsphilosophie – „das Gefühl der wirklichen Versöhnung des Geistes in
ihm selbst und ein gutes Gewissen in ihrer Wirklichkeit, in der Weltlichkeit, erlangt“ hat
(W12.488).
Allein der Standpunkt des vollendeten Gewissens enthält für Hegel noch nicht den wahren
Begriff der Religion in sich. Der entscheidende Unterschied zwischen der Moral und der
Religion liegt nämlich darin, dass Hegels Religionsbegriff das Selbstbewusstsein des Geistes
oder das Wissen des Geistes von sich selbst impliziert. Der Geist des Gewissens (das dem
sich selbst gewissen Geist zugeordnet wird) ist zwar ein „bei sich seiendes
Selbstbewußtsein“ (W3.497), aber noch nicht das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes,
sondern nur das des endlichen Geistes, der als das Gewissenshandeln oder -urteil erscheint.
Das Subjekt des Gewissens ist zwar – obgleich das Gewissen eigentlich in der unverfälschten
Ü berzeugung von sich selbst liegt – zur gemeinsamen Ebene erhoben; damit werden jedoch
eigene innere Schwierigkeiten an dem moralischen Gewissen in keiner Weise aufgelöst,
denn die eigene Ebene des Gewissens ist streng genommen subjektivistisch, sodass die
moralische Gesinnung im Grunde nur für das Innere des einzelnen Bewusstseins gilt. Der in
der „Gemeinde“ des Gewissens erscheinende „Gott“ impliziert nur die Souveränität der
Moralität, also noch nicht den Zusammenhang des Endlichen mit dem Unendlichen, der mit
dem Absoluten im Rahmen der Religion vollzogen worden ist. Es ist demgemäß
offensichtlich, dass Hegel diese Form der Versöhnung von den Subjekten zu der Versöhnung
auf der Ebene des WELTLICHEN GEISTES zählt, der weiterhin zum absoluten Geist übergehen
muss.
Aus diesem Kontext relativiert Hegel in dem letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ wie
folgt die Vollendung des Gewissens: Die in der Gemeinde des Gewissens gelungene
Versöhnung liegt nur „in der Form des Fürsichseins“ des Geistes, das deswegen die „Form
freier Wirklichkeit“ (W3.579; 497), also den konkreten Austragungsort der gemeinsamüberindividuellen Geltung, noch nicht umfasst. Hegels Gedanke, dass „die Religion die
247
Vollendung des Geistes ist“, impliziert, dass sich aus der Vollendung des WELTLICHEN
GEISTES
der RELIGIÖ SE GEIST aufschließt, in dem die „Form des Ansichseins“ des Geistes
eingeschlossen ist (W3.499; 579).
248
2. Die Versöhnung zwischen dem weltlichen und dem religiösen Geist
Mit dem religiösen Bewusstsein kann man den Inhalt des absoluten, also sich selbst
wissenden
Geistes
oder das
Selbstbewusstsein
des
Geistes, erreichen.
Hegels
Religionsbestimmung, dass Gott Geist sei, impliziert, dass der Gottesbegriff als das Absolute
die Beziehung des Endlichen auf das Unendliche zum Inhalt hat (W3.28; 497 ff.; 552). Die
in der PHG skizzierte Geschichte der Religion handelt von dem Entfaltungsgang des wahren
Religionsbegriffs, der für Hegel die Reihe der höchsten menschlichen Interessen in der
ganzen Weltgeschichte durchdrungen hat; in dieser geschichtlichen Darstellung wird Hegels
Gedanke wie die Menschwerdung Gottes, die Versöhnung des Menschen mit dem göttlichen
Wesen usw. thematisiert.
Im Kapitel „Religion“ manifestiert sich ein größerer Umfang als die Geschichte des
WELTLICHEN GEISTES, die wohl im Kapitel „Geist“ eingehend anhand der Thematik der
„Gestalten einer Welt“, aber auch in noch vorherigen Gestalten (z. B. in dem
nachklassischen
Gedanken
der
„Freiheit
des
Selbstbewußtseins“
im
Kapitel
„Selbstbewußtsein“) sporadisch thematisiert worden ist; der Weltgeist in der PHG ist nämlich
ein umfangreicherer Begriff als der WELTLICHE GEIST, der von dem „Bewußtsein“ bis zum
„Geist“ reicht. Der RELIGIÖ SE GEIST ergibt sich also daraus, dass „der wirkliche Weltgeist
[d. h. der WELTLICHE GEIST] zu diesem Wissen von sich gelangt ist“ (W3.551). Der Geist
der Weltgeschichte vollendet sich folglich erst mit der Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES
zusammen; der wahre Begriff der Religion kann erst dann erfasst werden, wenn der
Weltgeist zu seiner Vollendung gelangt ist. Hegels Gedanke, dass „die Geschichte der
Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt“ (W10.371), impliziert dementsprechend,
dass die Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES mit dem vollendeten Entfaltungsgang des
WELTLICHEN GEISTES übereinstimmt; dieser enge Zusammenhang von beiden liegt darin,
dass „der wirkliche [also WELTLICHE] Geist so beschaffen ist wie die Gestalt, in der er sich
in der Religion anschaut“ (W3.504). Erst wenn der Entfaltungsgang des WELTLICHEN
GEISTES
durch die Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES denkerisch ergänzt wird, ist der
Weltgeist im Rahmen der PHG ersichtlich. „Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als
Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist [d. h. der RELIGIÖ SE GEIST]
seine Vollendung erreichen“ (W3.585).
Sofern die Weltgeschichte die menschliche Bestimmung zur Freiheit betrifft, ist die Reihe
der Religionsgestalten mit der Verwirklichung des Freiheitsbegriffs eng verwoben. In
Hegels Darstellungen der drei religiösen Gestalten – der natürlichen Religion, der
249
Kunstreligion und der offenbaren Religion – kann man deshalb die geschichtlichen Momente
der verwirklichten Freiheit erblicken, die die höchste Instanz der menschlichen Interessen
darstellen.
Die natürliche Religion in der altmorgenländischen Welt, deren wirklicher Geist noch
nicht im Kapitel „Geist“ auftrat, expliziert nicht direkt die menschliche Freiheit, „weil ihr
wirklicher Geist ohne diese Versöhnung ist“ (W3.505). Die Kunstreligion wird hingegen mit
der „Religion des sittlichen Geistes“, der den wirklichen Geist der altgriechischen
Volksreligion bildet (W3.512 f.), bezeichnet. In der olympischen Götterwelt, d. h. in der
Gottesvorstellung der alten Griechen, spiegelt sich „der Geist des sittlichen Volkes“ (W3.520)
oder seine sittliche Gesinnung wider. Das sittliche Volk erfährt im Kultus, dass seine
„Hingabe“ und sein „Genuß“ eines werden (W3.523 ff.); dadurch fühlt es sich mit den
Göttern versöhnt, indem ihm selbst die Gottheit des Absoluten offenbar ist. Dieses
Offenbarsein ist konstitutiv für das sittliche Leben, weil das sittliche Volk „seinen
[Stadt-]Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst
weiß“, sodass es sich „in seiner Substanz anerkannt“ (W3.525) fühlt.
Die offenbare Religion ergibt sich aus der (in der Religion entstandenen) höchsten
Synthesis von der altorientalischen Substanzialität und der altgriechischen Subjektivität; mit
anderen Worten: Die letzte Gestalt des religiösen Bewusstseins bedeutet „die Gestalt des
Anundfürsichseins“, d. i. die Vereinigung zwischen dem Bewusstsein oder Ansichsein und
dem Selbstbewusstsein oder Fürsichsein (W3.502; 545 ff.). Die Freiheit in der Religion ist
nun zu ihrer höchsten Form gelangt; die Offenbarung Gottes oder die Menschwerdung
Gottes macht den „Inhalt der absoluten Religion“ (W3.552) aus. Dieser Inhalt lässt sich
religiös gesehen als die „Versöhnung des göttlichen Wesens mit dem Anderen überhaupt“,
aber in ihrer spekulativen Bedeutung als die „Versöhnung des Geistes mit sich
selbst“ (W3.567; 570) ausdrücken. Hegel bezeichnet den Austragungsort dieser Versöhnung
als die „Gemeinde“; hier erreichen Individuen in einem Gemeinwesen der Vorstellungswelt
das allgemeine Selbstbewusstsein und dadurch schauen sie sich einen Beweis für ihre
Freiheit an. Die „Gemeinde“ oder „Gemeine“ kann man an einigen Orten der PHG, konkreter
gesagt in dem mediävalen Glauben, in der Aufklärung, in dem Gewissen und in dem dritten
Element des Gottesbegriffes unter Anlehnung an die Lehre der offenbaren Religion (das in
der Religionsphilosophie dem „Reich des Geistes“ entspricht) finden (W3.396; 407 ff.;
481 f.; 557 f.; 566 ff.). Hegel verwendet den Ausdruck, um die Einheit zwischen dem
absoluten (aber zunächst abstrakten) Wesen und dem (an die Absolutheit) glaubenden oder
(die Allgemeinheit) suchenden Bewusstsein, darzustellen. Die „Gemeinde“ wird also von
250
Hegel als die Erscheinung des Gemeinwesens – sei es religiös oder moralisch – betrachtet,
sodass sie als das grundsätzliche Moment des sittlichen Lebens fungiert. Daraus lässt sich
erkennen, dass Hegels Gedanke der Sittlichkeit im engen Zusammenhang zwischen der
Moral und der Religion verstanden werden muss. Im Wesentlichen aber erscheint erst in
dem Kapitel „Religion“ der absolute Geist, der impliziert, dass die Erscheinung der Substanz
de facto nichts anderes als das geistige Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand,
genauer die Beziehung des Geistes auf sich selbst ist (als das absolute Wissen des Geistes
von sich selbst).
Die Religion geht der Darstellungsordnung nach dem absoluten Wissen voraus; denn ihr
absoluter Inhalt impliziert schon den Inhalt des endgültigen Wissens des Geistes. Allein
Hegel stellt trotz der spekulativen Tiefe der Religion Folgendes fest: Die Religion ist zwar
die höchste Bewusstseins-Gestalt, aber noch nicht die wahrhafteste Geistes-Gestalt
(W3.574); der Geist als das Absolute im Rahmen der Religion erscheint nur für uns, wie er
an sich ist, aber nicht für das gläubige Bewusstsein selbst. Die Religion überhaupt, also
selbst die christliche Religion, hat eine noch zu überwindende Schranke: die „Form der
Vorstellung, des Andersseins für das Bewußtsein“, sodass „die Bestimmung des eigentlichen
Bewusstseins des Geistes nicht die Form des freien Andersseins hat“ (W3.580; 497). Hegels
Angabe über die Religion als die letzte Gestalt des Bewusstseins impliziert ihre doppelte
Natur, die dem Kapitel „Geist“ seinen eigentümlichen Rang innerhalb der gesamten
Architektonik der PHG gibt. Die Religion erschließt einesteils den Weg zum absoluten
Wissen, weil sie selbst den Inhalt des absoluten Geistes ausmacht. Ihr Wesen wird durch
Hegels Feststellung in seiner „Selbstanzeige“ deutlich konstatiert. Hier berührt Hegel diesen
Punkt: Die „letzte Wahrheit“ des erscheinenden Wissens findet sich nicht nur „in der
Wissenschaft [d. h. in der Philosophie des Absoluten]“, sondern auch „in der
Religion“ (W3.593). Andernteils aber muss die Religion eine noch endliche Gestalt des
Bewusstseins sein, weil ihr Geist seiner Form nach „das Kleid seiner Vorstellung“ trägt
(W3.497); insofern der sich selbst wissende Geist noch in der Religion steht, hat er sich noch
nicht vollendet.
Mit dem „Kleid“ kann man ebenso die offenbare Religion vergleichen; es gibt auch das
„Kleid der offenbaren Religion“. 275 Der Geist der christlichen Religion ist noch auf die
Form der Vorstellung beschränkt. Das heißt: Diese Form führt dazu, dass das religiöse
Bewusstsein, wenn es den Begriff des absoluten Geists bzw. dessen Werden erfassen will,
275
Appel (2007), S. 155.
251
auf den „aus der natürlichen Zeugung hergenommenen Verhältnisse[n]“ – wie Vater, Mutter,
Geburt, Tod – (W3.550) oder auf der Reihe der Vorstellungen in Anlehnung an die räumlichzeitliche Dimension beruhen muss. Die Religion ist gewiss die allerhöchste
Bewusstseinsgestalt, aber noch eine Gestalt des Bewusstseins, die nicht in der wahrhaftesten
Geistesgestalt, also in der Form des begreifenden Wissens steht. Diese unüberschreitbare
Schranke enthält die Religion in sich, die an der letzten Schwelle zum absoluten Wissen des
Geistes steht, aber noch nicht zu dem begreifenden Wissen selbst gelangt ist. Die Religion
ist also nicht mehr mit der sinnlichen Gegenwart noch mit dem subjektiven Gefühl
verbunden und beherbergt ihrem Inhalt nach den absoluten Geist, aber sie gelangt trotzdem
ihrer Form nach noch nicht zu der wahrhaften Gestalt des Geistes, d. h. zu dem Begriff. Der
absolute Geist in der Form der Vorstellung – das macht also für Hegel den Gehalt des
religiösen, zuhöchst christlichen Bewusstseins aus.
Die Versöhnung in der christlichen Gemeinde ist noch unvollkommen, soweit sie in der
Form der Vorstellung besteht. Aus diesem Grunde gerät das religiöse Bewusstsein in eine
Aporie: Obwohl es sich als ein absolutes Wesen behaupten will, bewährt dies sich nur in
seinem Selbstbewusstsein. Solange ihr Inhalt prinzipiell in der Form der Vorstellung
verankert ist, mangelt dieser Gemeinde des Selbstbewusstseins „das Bewußtsein über das,
was sie ist“ (W3.573). Dass das Wesen für das religiöse Bewusstsein noch in der Form des
ihm vorgestellten Seins liegt, ist der Grund dafür, dass das religiöse Wissen nicht in dem
begreifenden Denken besteht.
Deshalb lässt sich sagen, dass Hegels Religionsbegriff sozusagen zwei Dimensionen hat:
den real existierenden Glauben einerseits und die spekulative Deutung desselben
andererseits, m a. W. die „Dualität von geoffenbartem und vernunftbegründetem
Gottesgedanken“.276 In diesem Zusammenhang schreibt Hegel Folgendes:
Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist
ist; aber diese ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst (W3.585 f.).
Das Christentum als die Offenbarungsreligion zeigt dem gläubigen Menschen zwei Wege
auf, um zur Versöhnung zwischen Mensch und Gott zu gelangen: die christliche Lehre, die
sich ursprünglich aus den Worten der Weisheit, also aus den Heiligen Schriften, ergeben hat,
276
Jaeschke (1998), S. 117.
252
und der Gottesdienst, der den Angehörigen einer Gemeinde ein unverfälschtes Gefühl der
Versöhnung gibt. Aber die geschichtlichen Existenzformen des christlichen Glaubens und
die begreifende Betrachtung der christlichen Offenbarung sind voneinander zu
unterscheiden. In seiner Auslegung der offenbaren Religion fasst Hegel ihren Inhalt als den
absoluten Geist auf, den der gläubige Mensch nicht im begreifenden Gedanken erfassen
kann. Dieser absolute Inhalt liegt noch im Schlummer, sofern er sich nur in der Form des
religiösen Wissens, d. h. des Glaubens oder des vorstellenden Denkens, gestaltet. Das
Absolute ist für das Bewusstsein noch ein Gegenstand, der ihm gegenübersteht, sodass die
Wahrheit in der Religion noch nicht seiner Gewissheit gleich ist. Daraus lässt sich erkennen:
Der Geist der Gemeinde ist […] getrennt von seinem religiösen [Bewusstsein], das zwar es
ausspricht, daß sie an sich nicht getrennt seien, aber ein Ansich, das nicht realisiert oder noch
nicht ebenso absolutes Fürsichsein geworden (W3.574).
Daraus ergibt sich, dass die Versöhnung in der offenbaren Religion als Vorstellung bleibt,
also noch nicht die Gegenwart der Versöhnung gewusst wird. Soweit diese „Handlung einer
fremden Genugtuung“, also die stellvertretende Genugtuung, dem gläubigen Bewusstsein
„als eine Ferne der Vergangenheit erscheint“, muss seine Versöhnung nur „als ein Fernes
der Zukunft“ (W3.573 f.) angesehen werden.
[Die Versöhnung, die sich der gläubige Mensch in der Gemeinde, also in dem allgemeinen
Selbstbewusstsein, vorstellt,] ist daher in ihrem Herzen, aber mit ihrem Bewußtsein noch entzweit
und ihre Wirklichkeit noch gebrochen. Was als Ansich […] in ihr Bewußtsein tritt, ist die jenseits
liegende Versöhnung; was aber gegenwärtig [… ist], ist die Welt, die ihre Verklärung noch zu
gewarten hat. Sie ist wohl an sich versöhnt mit dem Wesen […]. Aber für das Selbstbewußtsein
[des gläubigen Menschen] hat diese unmittelbare Gegenwart noch nicht Geistsgestalt (W3.574).
Das Christusgeschehen wird in der Tat vergänglich, weil die Heilsgeschichte nur in ihrem
historischen Sinne verstanden ist; die Versöhnung mit dem Absoluten wird von dem
vorstellenden Bewusstsein folglich nur eschatologisch gedacht, weil die Wirklichkeit als die
noch in etwas Niedriges oder Schlechtes versunkene irdische Welt gilt, deren Verklärung
man noch zu erwarten hat.
253
Daraus lässt sich folgern, dass die höchste Wahrheit des Geistes nicht in der bloßen
zeitlichen Vorrangigkeit liegt. Der Gesamtgang der „Religion“ ist demnach als der Prozess
zu verstehen, in dem sich der wahre Inhalt des RELIGIÖ SEN GEISTES allmählich verwirklicht,
wodurch das Bewusstsein zur Einsicht in das, was der absolute Geist ist, kommt. Hier ist
aber der nochmalige und abschließende Ü bergang der Bewusstseinsgestalt (zum Wissen des
Geistes in seiner wahren Form) notwendig. Ü ber das Verhältnis zwischen zwei Gestalten
des absoluten Geistes stellt Hegel Folgendes in der Enzyklopädie fest:
[D]urch die christliche Religion ist die in sich selber unterschiedene eine Natur Gottes, die
Totalität des göttlichen Geistes in der Form der Einheit geoffenbart worden. Diesen in der Weise
der Vorstellung gegebenen Inhalt hat die Philosophie in die Form des Begriffs oder des absoluten
Wissens zu erheben, welches, wie gesagt, die höchste Offenbarung jenes Inhalts ist (W10.32).
Die völlige Ü berwindung der religiösen Form fällt ergo mit der „Vollendung der
Religion“ (W3.497) zusammen. Diese endgültige Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES liegt
darin, „das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen“, sodass er endlich „seine
reine, von seiner Erscheinung im Bewußtsein befreite Gestalt“ (W3.589 f.) erringt. Mit der
spekulativen Einsicht in die offenbare Religion kann Hegels These der Absolutheit des
Geistes vollständig bewiesen werden, weil der Inhalt der christlichen Religion den absoluten
Geist in sich birgt. Die philosophische Betrachtung über die Heilsgeschichte bedingt die
wahre Deutung der Weltgeschichte; die spekulative Vereinigung von beiden expliziert die
wahre Wissenschaft. Der wahre Inhalt der christlichen Religion, den Hegel begreifen will,
ist eben der wahre Inhalt seiner Philosophie selbst.
Der RELIGIÖ SE GEIST und der WELTLICHE GEIST sind im Kapitel „Geist“ noch
abgesondert; deshalb sollen sie sich miteinander vereinigen. Diese Trennung zwischen den
religiösen Bewusstseinsgestalten und den vorreligiösen Bewusstseinsgestalten steht im
Gegensatz zu seinem Wesen, dass sich die beiden aus ein und demselben Geist ergeben;
insofern ist das Bewusstsein dazu fähig, weder das Wesen der Welt noch sein eigenes Wesen
zu wissen. Die Versöhnung als die Vollendung der offenbaren Religion bedeutet also, dass
das Wissen des Geistes von sich selbst erst in seiner wahren Wirklichkeit steht. Es ist für das
Selbstbewusstsein offensichtlich, dass der in der Form der Vorstellung erschienene Geist
eben sein wahrer Inhalt ist. Dieser Punkt ist gedanklich zu verstehen, denn hier wird der
RELIGIÖ SE GEIST mit dem WELTLICHEN GEIST zusammen gedacht. Daraus lässt sich
254
erkennen, dass der RELIGIÖ SE GEIST noch insofern die Versöhnung im WELTLICHEN GEIST
voraussetzen muss, als dieser sich als noch außerhalb von jenem bestehend erweist. Für das
höchste religiöse Bewusstsein soll ergo noch der absolute Geist offenbar sein; aus diesem
Grunde ist der Geist der offenbaren Religion noch der endliche Geist. Um der Vollendung
der Religion willen wird nämlich die „Verbindung zwischen der Erfahrung des Gewissens
und seinem Ermöglichungsgrund in der (offenbaren) Religion“277 dringend benötigt. Hegel
stellt diesen Punkt folgendermaßen dar:
Wie uns der Begriff des Geistes geworden war, als wir in die Religion eintraten, nämlich als die
Bewegung des seiner selbst gewissen Geistes, der dem Bösen verzeiht und darin zugleich von
seiner eigenen Einfachheit und harten Unwandelbarkeit abläßt, oder die Bewegung, daß das
absolut Entgegengesetzte sich als dasselbe erkennt und dies Erkennen als das Ja zwischen
diesen Extremen hervorbricht, – diesen Begriff schaut das religiöse Bewußtsein, dem das
absolute Wesen offenbar [ist], an und hebt die Unterscheidung seines Selbsts von seinem
Angeschauten auf (W3.572).
Diese Synchronisation von dem Religiösen und dem Weltlichen ist eben der Punkt, den der
neuzeitliche Geist durch die Erinnerung an seine Entäußerung erreicht. Seit dieser Phase
schließen sich die Weltgeschichte und die Religionsgeschichte miteinander zusammen.
Aus der Vollendung der Religion folgt, dass der Geist seine vollendete Gestaltung erringt,
weil die Religion bereits als die Totalität das Ganze ihrer vorherigen Gestalten bildet. Der
RELIGIÖ SE GEIST und der WELTICHE GEIST stellen sich in dem letzen Kapitel der PHG als
miteinander versöhnt dar, indem das absolute Wissen des Geistes von sich selbst den
WELTLICHEN GEIST und den RELIGIÖ SEN GEIST summa summarum abdeckt. Diese
wahrhafteste Gestalt des Geistes liegt – mit Hegels Formulierungen – darin, „sein
Selbstbewußtsein mit seinem Bewußtsein auszugleichen“ (W3.583).
[Denn die] Versöhnung des Bewußtseins mit dem Selbstbewußtsein zeigt sich hiermit von der
gedoppelten Seite zustande gebracht: das eine Mal im religiösen Geiste, das andere Mal im
Bewußtsein selbst als solchem [insbesondere im moralischen Gewissen]. Sie unterscheiden sich
beide so voneinander, daß jene diese Versöhnung in der Form des Ansichseins, diese in der
Form des Fürsichseins ist […]. Die Vereinigung beider Seiten ist […] es, welche diese Reihe der
277
Appel (2007), S. 156.
255
Gestaltungen des Geistes beschließt; denn in ihr kommt der Geist dazu, sich zu wissen, nicht
nur wie er an sich oder nach seinem absoluten Inhalte, noch nur wie er für sich nach seiner
inhaltslosen Form oder nach der Seite des Selbstbewußtseins, sondern wie er an und für sich ist
(W3.579).
Diese Versöhnung erschien schon zweimal: erstens in der zugespitzten Stellung des
WELTLICHEN GEISTES (d. h. im moralischen Gewissen) und danach in der letzten Phase des
RELIGIÖ SEN GEISTES (d. h. in der offenbaren Religion). Weil diese Formen der Versöhnung
jeweils an das eine Moment für die wahre Versöhnung (d. h. an die Form des Fürsichseins
bei der Moral und an die Form des Ansichseins bei der Religion) gebunden sind, bedarf das
endgültige Wissen des Geistes eben einer wiederholten Versöhnung zwischen den beiden
Versöhnungsgestalten.278
Das absolute Wissen bildet einesteils die Wahrheit der offenbaren Religion, aber
andernteils die höchste Synthesis des RELIGIÖ SEN GEISTES und des vorreligiösen oder
WELTLICHEN GEISTES. In diesem letzten Kapitel gelangt das Bewusstsein also zum
absoluten Wissen, mit dem das Bewusstsein die Offenbarung des absoluten Begriffs
beobachtet. Die Aufgabe der vollkommenen Versöhnung zwischen dem Bewusstsein des
Gewissens und dem der offenbaren Religion übernimmt das absolute Wissen als die
spekulative Wissenschaft. Die Vollendung der Religion, d. i. die Vereinigung zwischen dem
WELTLICHEN GEIST und dem RELIGIÖ SEN GEIST, ist aus der Perspektive des
enzyklopädischen Systems mit dem Zusammenhang zwischen dem objektiven Geist und
dem absoluten Geist zu vergleichen; der Ü bergang des Weltlichen zum Religiösen entspricht
dem Ü bergang des objektiven zum absoluten Geist.
278
Zu der endgültigen Dialektik der Versöhnung anhand des absoluten Wissens vgl. Auinger (2003), S. 9 ff.;
146 ff.
256
TEIL III: Die Sittlichkeit im Vergleich zu dem
enzyklopädischen System
" [...] so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angefü hrt habe,
und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort [...].
Widerrufen kann und will ich nichts,
weil es weder sicher noch geraten ist,
etwas gegen sein Gewissen zu tun."
- Luther auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521
257
A. Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System
1. Geist und Freiheit
Hegels Wissenschaft der Logik (W5 f.) ist als die Wissenschaft des reinen Logos oder als die
philosophische Prinzipienwissenschaft zu fassen; in dieser spekulativen Wissenschaft
offenbart sich ihm zufolge die in der Sache selbst immanente Notwendigkeit. Unter
Anlehnung an die Methodik der philosophischen Wissenschaft, deren Standpunkt – Hegels
Jenaer Systemkonzept nach – aus dem Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG
resultieren soll, wird das enzyklopädische System konstruiert, das aus der (kleinen) Logik
(die den Kernpunkt der Wissenschaft in Form der reinen Idee behandelt) (W8) und aus der
Realphilosophie (in der die „Natur“ und der „Geist“ erfasst werden) (W9 f.) besteht. Insofern
jede Disziplin innerhalb der Realphilosophie (der m. E. die „begriffene Geschichte“ in der
PHG entspricht)279 – auf der spekulativen Methode beruht, prägt sie sich alles in allem als
philosophische Wissenschaft – sei es die Naturphilosophie, die Kunstphilosophie, die
Religionsphilosophie usw. – aus.
<Hegels System (aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft)> (W8-10)
I
Die Wissenschaft der Logik (die logische Idee in ihrem Insichsein)
II
Die Naturphilosophie (das Außersichsein der Idee)
Die Philosophie des Geistes (die Rückkehr der Idee zu sich)
A. Anthropologie: die Seele
III
Die Realphilosophie
1. Der subjektive
Geist
B. Die Phänomenologie des Geistes: das Bewusstsein
C. Psychologie: der Geist
A. Das Recht
2. Der objektive
Geist:
Rechtsphilosophie
B. Die Moralität
C. Die Sittlichkeit
279
Dazu vgl. den TEIL I, D. 3. „Die begriffene Geschichte“.
258
a. Der theoretische Geist
b. Der praktische Geist
c. Der freie Geist
A. Die Kunst
3. Der absolute
Geist
B. Die geoffenbarte Religion
C. Die Philosophie
Hegels Terminus „Geist“ hat zwar theologische Wurzeln, denn er kommt von dem
Ausdruck „der Heilige Geist“, der die dritte Person in der christlichen Dreieinigkeit ist.
Dieser „Geist“ ist aber nicht einfach im Hinblick auf die Tradition der christlichen Lehre zu
deuten; er wird von Hegel als die Anlage zum menschlichen Wissen bzw. Handeln (der
subjektive Geist), und damit als das Selbstprodukt vom Menschen, und zwar in dem von sich
bewirkten Bereich (der objektive Geist), und als die affirmative Offenbarung des Absoluten
oder des Grundes für alles Seiende (der absolute Geist) verstanden.
Hegels Realphilosophie liegt in der Grundeinsicht, dass die Natur zu dem Geist übergehen
muss. Die systematische Stellung des Geistes lässt sich wie folgt ausdrücken: „Der Geist hat
für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes
er ist“ (W10.17). Der Darstellungsordnung nach folgt der Geist zwar aus der Natur; er setzt
nämlich sie voraus. Der Geist, der aus der Natur resultiert, macht aber nach der logischbegrifflichen Bestimmung nach die Wahrheit der Natur aus; er wird als der wahre Grund
dessen, aus dem sich der Darstellungsordnung nach die Folge ergibt, dargestellt. Das
Geistige, das nach dem Entwicklungsgang der logischen Idee von der Natur abgeleitet wird,
ist für uns, also vom Standpunkt der philosophischen Wissenschaft aus, nichts anderes als
das Erste, das die begriffliche Grundlage für die Natur ausmacht.
Der subjektive Geist (W10.38-302) wird von Hegel durch die „Seele“, das
„Bewußtsein“ und wiederum den „Geist“ in seiner engeren Bedeutung gekennzeichnet; die
„Psychologie“ als die Lehre vom „Geist“ im engeren Sinn betrifft den theoretischen Geist
(also die „Intelligenz“) und den praktischen Geist (also den „Willen“). Der objektive Geist
(W10.303-365), der im Ganzen auch mit der Rechtsphilosophie bezeichnet wird, fängt mit
dem Resultat dessen, „was vorhergeht“ (W7.30), d. h. des subjektiven Geistes, an. Wie Hegel
in seiner Logik die Wesenslogik als „die genetische Exposition des Begriffes“ (W6.245) oder
als die logische Voraussetzung der Begriffslogik auffasst, so geht der Rechtsbegriff „seinem
Werden nach“ aus seiner Voraussetzung, also aus dem subjektiven Geist, hervor (W7.30 f.).
Daraus lässt sich formulieren, dass die Lehre vom subjektiven Geist „die genetische
259
Exposition“ des objektiven Geistes ist, weil der objektive Geist „seinem Werden nach“ den
subjektiven Geist voraussetzt.
Hegels „Philosophie des Geistes“ behandelt den Werdegang des Geistesbegriffes (d. h. der
„Freiheit“ 280 ) zu seiner Offenbarung. Der „freie Geist“ weiß sich als frei, indem er die
Freiheit in seinem Gegenstand bestätigt; er existiert grundsätzlich als freier Wille, denn die
Freiheit ist eben „eine Grundbestimmung des Willens (W7.46). Ü ber den Rechtsbegriff, der
die Explikationsform des freien Geistes bedeutet281, schreibt Hegel Folgendes:
Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt
der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht (W7.46).
Daraus lässt sich der Zusammenhang von Geist, Freiheit und Willen folgendermaßen
zusammenfassen:
(Prämisse 1)
Die Substanz des Geistes ist die Freiheit.
(Prämisse 2)
Die Freiheit existiert nur als Wille.
(Prämisse 3)
Das „Dasein des freien Willens“ ist das „Recht“ (W7.80).
(Konklusion)
Also beruht das Recht auf dem freien Geist.
Der Schlusspunkt des subjektiven Geistes oder der Anfangspunkt des objektiven Geistes,
m. a. W. der freie Geist, ist nicht bloß als Wille zu betrachten; denn der Wille ist nur dann
frei, wenn er sich zum Denken erhebt. Damit der freie Geist freier Wille sein kann, soll er
seine Freiheit wissen, sodass er in der Lage ist, sich selbst in seiner Wesentlichkeit zu wissen,
indem er sich sein geistiges Wesen, seine Freiheit, in seinem eigenen Vollzug ausprägt.
Daraus lässt sich feststellen, dass „der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier
Wille ist“ (W7.72).282
Dazu vgl.: „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir sagen, ist die Substanz, das
Wesen des Geistes die Freiheit“. W12, S. 30.
281
Dazu vgl. W10, S. 25; 300 f.
282
Dazu vgl.: „Dieser Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken; der Weg des Willens, sich zum
objektiven Geiste zu machen, ist, sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhalt zu geben, den er
nur als sich denkender haben kann.“ W10, S. 288. Und noch: „Der Unterschied zwischen Denken und Willen
ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen,
260
280
Der freie Geist wird auch als „der Begriff des absoluten Geistes“ (W10.301) bezeichnet.
Die Freiheit des Geistes impliziert nämlich, dass er sich von dem bloß subjektiven Einbilden
und auch von der Objektbezogenheit befreit und sich endlich zu seiner „Manifestation“ oder
„Offenbarung“ selbst entwickelt (W10.25 ff.); der absolute Geist (W10.366-417), welcher
das Resultat des objektiven Geistes ist, macht zugleich den wahren Grund für den
Rechtsbegriff aus. Diese Position Hegels bildet den grundlegenden Begriff der Freiheit.
Hegels Lehre vom objektiven Geist, um die es sich auch bei seiner Rechtsphilosophie
eingehend handelt, befasst sich im Ganzen mit dem Rechtsbegriff. Der objektive Geist wird
demgemäß als freier Wille bezeichnet, der bezweckt, „seinen Begriff, die Freiheit, in der
äußerlich objektiven Seite zu realisieren“ (W10.303). In Hegels Rechtsphilosophie, seiner
philosophischen Wissenschaft des Rechtsbegriffs, soll man das Recht nicht ausschließlich
in seiner strengen Bedeutung unter Anlehnung an den bloßen Rechtsformalismus, wie das
gesetzliche, positive Recht, verstehen.
Wenn wir hier [also in der Rechtsphilosophie] vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß
das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und
Weltgeschichte (W7.90 f.).
Hegels philosophische Untersuchung des Rechts betrifft nämlich nicht bloß das Privatrecht
im juristischen Sinne, d. h. die Gesetzmäßigkeit des bürgerlichen Rechtsanspruchs im
Privatleben, sondern die vernünftige Verwirklichung des freien Willens vom Menschen.
Dieser Begriff des Rechts ist nämlich für die menschliche Freiheit selbst relevant.
Wenn das Verhältnis der Rechtsphilosophie mit der Geschichtsphilosophie angeht, lässt
sich Folgendes darstellen: Wie Hegels Lehre vom objektiven Geist, seine Rechtsphilosophie,
anhand der Grundlinien detailliert dargelegt worden ist, so ist seine Lehre von der
„Weltgeschichte“, die im objektiven Geist ihre Stelle (W10.347-365) einnimmt, in den
Grundlinien ganz kurz (W7.503-512) dargelegt worden. Hegel hat aber auch einige bis ins
Detail gehende Kollegien 283 über die „Philosophie der Weltgeschichte“ gehalten; diese
Vorlesungen enthalten die detaillierten Ausführungen zur „Weltgeschichte“. Weil Hegels
sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens“. W7, S. 46 f.
Zu dem Zusammenhang von Freiheit, Denken und Bildung vgl. Vieweg (2010), S. 14-19.
283
Eduard Gans hat kurz nach Hegels Tod ein Buch gemacht, für das er als Quellen die Reihe der
Nachschriften sowie Hegels eigenhändige Manuskripte benutzt hat. Danach wurde diese Edition von anderen
(Karl Hegel, Georg Lasson und Johannes Hoffmeister) ausgearbeitet. Mehrere Nach- bzw. Mitschriften aus
Vorlesungen wurden außerdem veröffentlicht und werden es noch.
261
„Philosophie der Weltgeschichte“ systematisch dem objektiven Geist zugeordnet ist, so lässt
sich sagen, sie hat als eine Disziplin der philosophischen Wissenschaft ihre systematische
Stellung; seine Geschichtsphilosophie (z. B. W12), die Reihe seiner Vorlesungen über die
Philosophie
der
„Weltgeschichte“,
beruht
auf
demselben
Prinzip
wie
die
„Weltgeschichte“ innerhalb der Rechtsphilosophie.
<Der objektive Geist im System>
Der objektive Geist in der
Heidelberger Enzyklopädie (1817)
Die Grundlinien der Philosophie
des Rechts (1821)
Der objektive Geist in der
Berliner Enzyklopädie (1827/1830)
I. Das Recht
I. Das abstrakte Recht
I. Das Recht
II. Die Moralität
II. Die Moralität
II. Die Moralität
III. Die Sittlichkeit
III. Die Sittlichkeit
III. Die Sittlichkeit
1. Die Familie
1. Die Familie
2. Die bürgerliche Gesellschaft
2. Die bürgerliche Gesellschaft
3. Der Staat
3. Der Staat
1. Das einzelne Volk
3.1 Das innere Staatsrecht
3.1 Das innere Staatsrecht
2. Das äußere Staatsrecht
3.2 Das äußere Staatsrecht
3.2 Das äußere Staatsrecht
3. Allgemeine Weltgeschichte
3.3 Die Weltgeschichte
3.3 Die Weltgeschichte
Die „Weltgeschichte“ wird nicht als die Geschichte eines bestimmten Volkes (wie bei
deutschen oder französischen Geschichte) oder eines bestimmten Faches (wie bei Religions-,
Kunstgeschichte usw.), sondern durch die „allgemeine Weltgeschichte“ (W10.347)
gekennzeichnet. Die allgemeine Weltgeschichte bedeutet die Geschichte der allgemeinen
Verwirklichung des Weltgeistes; die Untersuchung der Weltgeschichte anhand des
enzyklopädischen Systems liegt konkreter gesagt darin, den Gesamtprozess der „wahrhaften
Gestaltung des sittlichen Lebens“, d. h. der Ausbildung des Staats, darzulegen (W7.436).
Weil die Sittlichkeit des Staats der wesentliche Gegenstand der Rechtsphilosophie ist, lässt
sich feststellen, dass Hegels Geschichtsphilosophie und seine Darstellung der
„Weltgeschichte“ innerhalb der Grundlinien einen und denselben Standpunkt zu ihrer
Grundlage machen.
In der „Vorrede“ zu den Grundlinien behandelt Hegel die wahre „Stellung der Philosophie
zur Wirklichkeit“ (W7.24). Hier lässt sich beschreiben, dass die Aufgabe der Philosophie in
der Rechtfertigung der folgenden „Überzeugung“ besteht: „Was vernünftig ist, das ist
262
wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (W7.24 f.). Eine philosophische
Untersuchung hat zunächst etwas Bekanntes, also mit Hegel, nur „das was ist“ (W7.26), zu
ihrem Gegenstand, jedoch muss sie ihn begreifen anders als sonstige Bemühungen. Die
philosophische Methodik, die ursprünglich in der Logik entwickelt worden ist,284 lässt sich
als „spekulative Erkenntnisweise“ (W7.12) ausdrücken; das begreifende Wissen liegt darin,
„das was ist“ selbst, also den Inhalt im systematischen Zusammenhang des Ganzen, durch
die Notwendigkeit der Sache selbst zu begreifen. In der philosophischen (deshalb
wissenschaftlichen) Untersuchung ist der Inhalt insofern an die Form „gebunden“, als sie
sich nicht beliebig ihren Inhalt ausdenkt, sondern „in allen und jeden Einzelheiten die
logische Fortleitung nachzuweisen“ hat, sodass sie „dem schon an sich selbst vernünftigen
Inhalt auch die vernünftige Form“ (W7.14) gewährleisten kann.
Die zwei Belege für die Wissenschaftlichkeit der PHG, die in dem ersten Teil der
vorliegenden Arbeit („I. Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des Geistes“)
dargelegt
worden
ist,
d. h.
die
Vollständigkeit
der
abzuhandelnden
Bewusstseinsgestaltungen und die Notwendigkeit des Ü bergangs (von einer vorherigen
Gestalt zur nachfolgenden) bzw. Zusammenhangs (miteinander), lässt sich auch in Hegels
folgender Einsicht erblicken: Die wahre philosophische Erkenntnis liegt in der
„Notwendigkeit eines Begriffs“, mit dem man „die Notwendigkeit der Sache“ (W7.31) – wie
sie in Wirklichkeit ist, und zwar in ihrer Ganzheit – erfassen kann. Die philosophische
Perspektive liegt ergo in der folgenden Einsicht, dass „nichts wirklich ist als die
Idee“ (W7.25). Die Vernunft ist eben die Idee sowohl im menschlichen Bewusstsein als auch
in
der
Wirklichkeit,
m. a. W.:
Die
wahre
Organisation
des
überindividuellen
Zusammenlebens übernimmt die Garantie für die Freiheit eines Individuums. Diese Einsicht
lässt sich als „die Versöhnung mit der Wirklichkeit“ (W7.27) beschreiben. Die Vernunft ist
ihrer Form nach das begreifende Wissen, und ihrem Inhalt nach die „Notwendigkeit der
Sache“; diese „Einheit der Form und des Inhalts“ lässt sich als „die philosophische
Idee“ (W7.27) bezeichnen.
Die Rechtswissenschaft […] hat daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist,
aus dem Begriffe zu entwickeln oder, was dasselbe ist, der eigenen immanenten Entwicklung der
Sache selbst zuzusehen (W7.30).
Dazu vgl.: „Die Methode, wie in der Wissenschaft der Begriff sich aus sich selbst entwickelt […], ist hier
gleichfalls aus der Logik vorausgesetzt“ (W7.84).
263
284
In der wissenschaftlichen Betrachtung wird der Staat als „die Architektonik seiner
Vernünftigkeit“ oder gleichsam als „eine Hieroglyphe der Vernunft“ (W7.19; 449) betrachtet.
Der Staat steht, auf dieser Vernünftigkeit beruhend, in der Welt, dadurch wird er als die
„wirkliche Vernünftigkeit“ (W7.424) oder das Vernünftige in der Welt dargestellt. Nur der
Staat als sittlicher garantiert nach Hegel, insofern das Recht des Einzelnen in einer gut
organisierten (Staats-)Verfassung verankert ist, dem Staatsbürger die Freiheit; eben für die
wahre Integration des Staats ist das staatstragende Selbstbewusstsein des Individuums, d. h.
die sittliche Gesinnung unentbehrlich (W7.412 f.).
Hegel wendet die in seiner Logik dargestellte Struktur des Begriffs auf den Gegenstand der
Rechtsphilosophie an; deswegen besteht auch der ganze Verlauf seiner Rechtsphilosophie
prinzipiell in dem logischen Schluss des Willens, d. h. im Entwicklungsgang der Idee des
Rechts: 1) die „Allgemeinheit“, die aber nur der abstrakte Begriff oder die Abstraktion von
jeder Bestimmung ist, 2) die „Besonderheit“, also der Gegensatz zwischen dem Begriff und
seinem besonderen Dasein, und 3) die „Einzelheit“, also die konkrete Allgemeinheit oder
die Einheit von dem Begriff und seinem Dasein (W7.49-57). Dieser logische
Entwicklungsgang des Begriffs (als des absoluten Prinzips desselben, was eine Sache in
Wahrheit oder Wirklichkeit ist) ist von der Darstellung des bloß historischen Verlaufs zu
unterscheiden ist. Als Beispiel dafür kann man Folgendes anführen: De Staat setzt die
bürgerliche Gesellschaft voraus, obwohl sie sich im real-zeitlichen Rahmen später als er,
genauer erst in der Neuzeit, herausbildete; die Familie ist gleichfalls zwar der logischen
Darstellungsordnung nach die Folge der Moralität, entstand aber historisch gesehen früher
als diese beiden.285 Wie der Geist (der aus der Natur folgt) der logischen Bestimmung nach
die Wahrheit der Natur ist, so geht die bürgerliche Gesellschaft zu ihrer Wahrheit, dem Staat,
über, obgleich dieser der Darstellungsordnung nach jene voraussetzt.
Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie liegt der rechtsphilosophischen Einsicht („Was
vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“) entsprechend zwar
in der wissenschaftlichen Rechtfertigung der folgenden Ü berzeugung, dass „die Vernunft in
der Welt und ebenso in der Weltgeschichte geherrscht habe und herrsche“ (W12.23). Bei
Hegels Rechtsphilosophie als die gesamte Lehre vom objektiven Geist handelt es sich um
Dazu vgl.: „Diese Entwicklung der unmittelbaren Sittlichkeit [d. h. der Familie] durch die Entzweiung der
bürgerlichen Gesellschaft hindurch zum Staate […] ist der wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staats
[…] [, weil] im Gange des wissenschaftlichen Begriffs der Staat als Resultat erscheint, indem er sich als
wahrhafter Grund ergibt. […] [Dagegen:] In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste,
innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet […]“ (W7.397f.); „[d]ie
bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die
Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt“ (W7.339).
264
285
die Darstellung des logischen Entwicklungsgangs des Rechtsbegriffs, des freien Geistes.
Seine Geschichtsphilosophie behandelt den Prozess zur real-zeitlichen Verwirklichung des
Freiheitsbegriffs. Die geschichtsphilosophische Begründung der obigen Ü berzeugung ist
dadurch möglich, dass man den historischen Entwicklungsgang des Weltgeistes im
begreifenden Wissen erfasst. Die begreifende Betrachtung der „Weltgeschichte“ wird aber
zugleich als Schilderung der real-zeitlichen Entwicklung des Weltgeistes gedacht; denn sie
lässt sich im Grunde als „die Auslegung des Geistes in der Zeit“ (W12.96 f.) beschreiben.
Die Geschichtsphilosophie hat somit den anderen Zusammenhang zwischen der realzeitlichen Entwicklung und logisch-begrifflichen Bestimmung als die Rechtsphilosophie; in
der Philosophie der „Weltgeschichte“ sind Begriff und Geschichte zu einem Ganzen
zusammengeschlossen.
Wer seinen Blick auf den von Hegel gedachten Zusammenhang des Systems mit der
„Weltgeschichte“ richtet, kann seinen Grundgedanken über die Geschichte also
folgendermaßen
feststellen:
Die
„Weltgeschichte“
wird
von
Hegel
zwar
der
Rechtsphilosophie zugeordnet, aber sie spielt bei seiner gesamten Philosophie eine große
Rolle. Hegels Lehre der „Weltgeschichte“ hat nämlich diese systematische Stellung: Die
allgemeine Weltgeschichte befindet sich im Ü bergang vom objektiven in den absoluten Geist.
Im Zusammenhang mit der Weltgeschichte behandelt Hegel die Geschichte der Kunst, der
Religion, der Philosophie sowie die Bildungsgeschichte des Bewusstseins zur Wissenschaft
in der PHG, insbesondere die wirkliche Geschichte anhand des Kapitels „Geist“ und des
Kapitels „Religion“.
Wie bereits festgestellt, beginnt Hegels Rechtsphilosophie mit dem Begriff des freien
Geistes, als des Schlusspunkts des subjektiven Geistes, wobei die Freiheit das Wesen des
Gesamtgeistes bildet, sodass sich sagen lässt, dass der freie Geist das Potenzial des absoluten
Geistes in sich enthält. Hegel sieht den Begriff der Freiheit bzw. des freien Willens nicht
bloß im Rahmen des rein subjektiven Moralgesetzes; die menschliche Freiheit liegt
gleichwohl ebenso wenig in dem Gebiet des ganz und gar öffentlichen Zwangsgesetzes. Der
objektive Geist betrifft im Ganzen die konkrete Realisierung des Freiheitsbegriffs. Der
Freiheitsanspruch von einem moralisch gut gesinnten Subjekt muss in unserer konkreten
Lebenswelt verwirklicht werden. Das Recht des wissenden und handelnden Individuums
wird dadurch anerkannt, dass das Interesse des Einzelnen mit dem Zweck des Gemeinwesens
versöhnt wird; das Recht eines Individuums wird nämlich durch die Instanz der
überindividuellen Geltung, zuhöchst durch den Staat, anerkannt. Der Staat bezweckt, dem
besonderen Interesse seines Mitgliedes Geltung zu verschaffen, sodass der Staatsbürger das
265
allgemeine Interesse als ein für alle gemeinsames Werk aufnimmt. Nur in dieser sittlichen
Substanzialität kann die Freiheit eines Menschen bestätigt werden, sein gelungenes Leben
ist demgemäß mit dem Geist eines bestimmten Volks eng verbunden. Der Volksgeist macht
die Grundlage für die Gesamtgesinnung des Staatsbürgers aus.
Der Staat, d. h. die letzte Instanz im Bezugsrahmen des Zusammenlebens, ist bei Hegel
von der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft grundverschieden. Anders als diese
Sphären des Privatlebens, vereinigt der Staat den allgemeinen Willen und den besonderen
Willen miteinander; der Staatsbürger fühlt sich daher verpflichtet, die durch den Staat
auferlegte Pflicht zu erfüllen, damit kann der Mensch sein Recht in diesem Gemeinwesen
geltend machen. „Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, daß das
Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert“ (W7.430). Im Staat als dem
Ganzen sind nämlich die individuelle Freiheit und das überindividuelle Zusammenleben
optimal aufeinander abgestimmt, indem er als das von seinen Angehörigen selbst Gewollte
anerkannt wird.
Allein man muss eine Grenzelinie zwischen diesem sittlichen Ganzen und den Gestalten
des absoluten Geistes erblicken; der Staat ist nichts anderes als der Geist eines Volks in einer
Welt. Dieses eine bestimmte Volk entwickelt sich lediglich in der objektiven Wirklichkeit.
Jedes Volk hat zwar seinerseits eine Geschichte, die zeigt, wie es seinen Freiheitsbegriff
verwirklicht hat. Seine Entwicklung wird jedoch auf eine bestimmte, also auf ein Gebiet
oder einen Zeitraum begrenzte, Kondition beschränkt. Denn jeder Volksgeist ist „ein
bestimmter Geist“, der „nach der geschichtlichen Stufe seiner Entwicklung bestimmt“ wird
(W12.73). Jedem besonderen Volk wird deswegen weltgeschichtlich ein besonderes Prinzips
zugeordnet; jeder Volksgeist hat neben der kulturellen Eigentümlichkeit auch seinen eigenen
geographischen, klimatischen und ethnologischen, sozusagen einen endemischen Charakter,
sodass die ganze Geschichte eines bestimmten Volks überhaupt nicht in der Weltgeschichte
thematisiert wird.
Der bestimmte Volksgeist, da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, hat nach dieser
Naturseite das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit; er ist in der Zeit und hat
dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip und eine dadurch bestimmte Entwicklung
seines Bewußtseins und seiner Wirklichkeit zu durchlaufen (W10.347).
266
Weil ein Staat die einem bestimmten Volksgeist eigentümliche Gestalt ist, fungiert jeder
Staat als ein besonderes Individuum, wenn man ihn im Verhältnis zu anderen betrachtet; ein
Staat muss nämlich versuchen, die gegenseitige Anerkennung der freien staatlichen
Souveränität, also ein Zusammenleben mit anderen, zu erringen. Alle real existierenden
Staaten sind, wie alle Individuen in ihrer objektiven Wirklichkeit, auf ihre Verhältnisse
zueinander beschränkt. Sie sind, um ihrer Besonderheit willen, notwendigerweise gleichfalls
auf eine bestimmte zeitliche und örtliche Kondition beschränkt.286
Der Staat ist nur dann allgemeiner Geist, wenn jedes besondere Volk auf dem sittlichen
Ganzen beruht; er wird nämlich nur dann als allgemeiner Geist angesehen, wenn er im
Rahmen der Weltgeschichte betrachtet wird. Die Wirklichkeit des Weltgeistes liegt in dem
menschlichen Streben nach der Freiheit und in der Reihe der Gebilde aus diesem Vollzug.
Der Weltgeist expliziert sich allerdings im menschlichen Bewusstsein nicht gänzlich; jedes
Individuum glaubt, dass er sich auf eine unbegreifliche Weise in seinem Schicksal ergibt, in
dem aber der Weltzweck bewirkt wird. In Bezug auf die Staaten manifestiert sich das
Absolute negativ, indem auch sie einem endlichen Schicksal übergeben sind; selbst
welthistorische Reiche – sei es das orientalische, das griechische, das römische oder selbst
das germanische Reich (W7.509) – müssen untergehen. In diesem Zusammenhang ist die
Weltgeschichte als das „Weltgericht“ (W10.347) zu bezeichnen. Hegel erläutert die
Hauptmomente der Weltgeschichte und den endgültigen Vereinigungsort von beiden wie
folgt:
Es sind zwei Momente, die in unseren Gegenstand [d. h. in die Weltgeschichte] eintreten; das
eine ist die Idee [des Weltgeistes hinter dem menschlichen Bewusstsein], das andre sind die
menschlichen Leidenschaften [als zweckmäßiges Handeln vom Menschen]; das eine ist der
Zettel, das andre der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte.
Die konkrete Mitte und Vereinigung beider ist die sittliche Freiheit im Staate (W12.38).
Hegel behauptet, dass „nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden
ist“ (W12.38). Das besondere Interesse des Individuums ist für uns, also vom Standpunkt
der Philosophie der Weltgeschichte aus, mit der Idee eng verwoben; die Geschichte des
286
Hegel ist skeptisch, ob der ewige Frieden unter den Staaten in einem Völkerrecht festgelegt werden kann.
Denn der wahre Begriff eines Volkes ist nicht z. B. in der Gründung der „Heiligen Allianz“, als dem auf dem
„Wiener Kongress“ geschaffenen System, sondern begrifflich in der Lehre vom absoluten Geist, aber
geschichtlich in der allgemeinen Weltgeschichte aufzufassen (W7.405 f.).
267
menschlichen Handelns ist die Geschichte der Verwirklichung der Idee. Aus dem ganzen
Vollzug des menschlichen Willens ergibt sich, dass die Idee der Freiheit in unserer
objektiven Welt verwirklicht wird; in dem sittlichen Staat ist die zugespitzte Form der
Freiheit erblickbar. Das ist der Hauptgedanke der Weltgeschichte, der namentlich durch den
Ausdruck der „List der Vernunft“ (W12.49) kenntlich gemacht wird.
Das Geschäft des Weltgeistes stellt im Grunde auch den Prozess zum Wissen des Geistes
von sich dar. Durch die Arbeit der Weltgeschichte kommt der Geist nämlich an die Schwelle
zu seiner Wahrheit hin. Der objektive Geist geht nun in den absoluten Geist über. Der
bisherige Gesamtvollzug des Geistes ist an sein weltliches Dasein gebunden, der absolute
Geist weiß hingegen, dass er erst seine Wahrheit erreicht. Dieses Wissen des Geistes von
seinem Wesen wird als der absolute Geist dargestellt.
Der Weltgeist vollzieht sich jedoch noch in der objektiven Wirklichkeit. Der Begriff der
Freiheit ist im objektiven Geist auf die von Außen gegebene Bedingung bezogen; die Freiheit
im objektiven Geist bedeutet die Freiheit in der Form der Realität des Geistes oder die
„Freiheit als vorhandene Notwendigkeit“ (W10.32). Solange dieser Freiheitsbegriff nur im
Kontext der äußerlichen Notwendigkeit aufgefasst wird, ist er hier noch nicht im wahren
Sinne zu realisieren. Der objektive Geist kommt noch nicht zu der Einsicht in seinen wahren
Begriff, obwohl er schon einen Begriff des absoluten Geistes impliziert.
Aus dem oben gesagten Verhältnis des objektiven Geistes zum absoluten Geist muss man
Folgendes beachten: Der Weltgeist ist zwar auch der allgemeine Geist in der Wirklichkeit
eines Volks, aber die Arbeit der Weltgeschichte bringt den Geist zu einer höheren, endgültig
wahren Stufe, auf der sich sein Prozess zum Wissen von sich vollendet. Das Wissen des
Geistes von sich, m. a. W. die Befreiung des Geistes bedeutet, dass das menschliche Subjekt
selbst zum wahren Wissen von seinem Wesen gelangt ist. Denn der absolute Geist ist nicht
als eine von dem menschlichen Denken absolut unabhängige Substanz, sondern als das dem
Menschen restlos Offenbare zu verstehen. Zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen
hinsichtlich des Freiheitsbegriffs gibt es einen grundlegenden Unterschied. Hegel setzt
nämlich bezüglich dieses Zusammenhangs zugleich noch einen ausdifferenzierten Punkt
voraus, dass der freie Geist zwar ein Begriff des absoluten Geistes, aber streng genommen
nur ein Begriff desselben ist (W10.301). Ü ber die Endlichkeit des objektiven Geistes schreibt
Hegel Folgendes:
268
Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden
der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr
(W10.303).
Dementsprechend wird der objektive Gesamtgeist von Hegel zwar als „die absolute Idee“,
aber genauer als das Potenzial derselben, die nur an sich seiend ist, charakterisiert. Die
Freiheit wird auf der Stufe des objektiven Geistes „zur Wirklichkeit einer Welt
gestaltet“ (W10.303); insofern ist er nicht zu der Einsicht in sein Wesen gelangt.
Der Ü bergang vom Volksgeist (durch den Weltgeist hindurch erst) in den absoluten Geist
impliziert nicht einfach die Ü berwindung seiner Endlichkeit, sondern zugleich den
Ü bergang zur wahren Explikation seines Begriffs, zur Unendlichkeit des Geistes. Insofern
der absolute Geist nichts anderes als diese Explikation seines Freiheitsbegriffs ist, besagt er
die Einheit von Notwendigkeit und Freiheit oder von Zweck und dessen Vollzug. Die
Vollendung des geistigen Prozesses liegt darin, dass der „Begriff“ des Geistes seine
„Realität“ in sich selbst enthält, indem dieser Begriff „die desselben würdige Gestalt“ erringt
(W10.366).
In der Totalität der bisherigen Bemühungen ist die Lehre vom absoluten Geist begriffen.
Die Triadik des absoluten Geistes, also die Kunst, die Religion und die philosophische
Wissenschaft, haben ihre eigene Form, die von der Form des Staats verschieden ist, zu ihrem
Prinzip; sie sind nur verschiedene Seiten und Formen ein und desselben Inhalts. In der Kunst,
der Religion und der Philosophie offenbart sich das Absolute affirmativ, daher gibt es die
Beseligung durch die Kunst und die Religion sowie die höchste Versöhnung durch die
Philosophie.
Bereits in seinen Jenaer Schriften behandelt Hegel die Kunst, die Religion und die
philosophische Wissenschaft zuerst im Hinblick auf den allgemeinen Geist, danach wird in
seiner PHG die Religion, die aus der orientalischen, griechischen und christlichen Religion
besteht, als die höchste Bewusstseinsgestalt dargestellt. In der Heidelberger Enzyklopädie
gehören zum absoluten Geist „die Religion der Kunst“, „die geoffenbarte Religion“ und „die
Philosophie“, aber erst mit ihrer zweiten Fassung wird diese Triadik fertig gestellt. In der
PHG und der Heidelberger Enzyklopädie wird die Kunst offensichtlich als eine Gestalt der
Religion angesehen; es scheint hingegen später, dass die Kunst endgültig als ein
eigenständiges Gebiet anzusehen ist. Wenn man trotzdem Hegels System vom absoluten
Geist überprüft, lässt sich Folgendes erkennen: Die Kunst wird nach wie vor – zumindest in
269
den von Hegel selbst publizierten Werken – der Religion zugeordnet. In der PHG wird die
Sittlichkeit als ein zeitweilig-augenblickliches, aber gedanklich idealisiertes Bild des antiken
Griechentums
dargestellt.
Diese
antike
Sittlichkeit
bedeutet
das
Prinzip
des
Zusammenlebens, in dem der Polisbürger „in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz
lebt“, sodass die Kunstreligion in der PHG eben die „Religion des sittlichen Geistes“ ist
(W3.513). Die griechische Religion ist die Kunst selbst und die griechische Kunst ist die
Religion selbst. Die altgriechische Religion entwickelt sich nämlich in der Kunstform, gleich
„wie in einem schönen Kunstwerke das Sinnliche das Gepräge und den Ausdruck des
Geistigen trägt“ (W12.137). Die frühe Sittlichkeit des alten Griechentums wird demgemäß
von Hegel als die „schöne Sittlichkeit“ (W12.138) bezeichnet.
Überhaupt taten die Griechen alles fürs Ö ffentliche und Allgemeine, in welchem jeder seinen
Genuß, seinen Stolz, seine Ehre fand. In dieser Ö ffentlichkeit nun ist die Kunst der Griechen nicht
bloß ein Schmuck, sondern ein lebendiges, notwendig zu befriedigendes Bedürfnis (W14.429).
Also denkt Hegel, dass in der altgriechischen Welt nicht bloß die Religion, sondern auch
alle anderen geistigen Gebilde als Kunstwerk, als das Eigenwerk vom sittlichen Volk,
gerühmt werden.
Seit der zweiten Auflage der Enzyklopädie (in Berlin) ist an die Stelle der griechischen
Kunst-Religion die „Kunst“ getreten. Aber auch hier kann man Hegels Gedanken der
ursprünglichen Gemeinsamkeit von Kunst und Religion287 finden; denn die altgriechische
Kunst wird noch als die „Religion der schönen Kunst“ (W10.368) dargestellt. Das Kapitel
„Religion“ in der PHG, das auch die Kunstreligion behandelt, und das Kapitel „Das absolute
Wissen“ entsprechen den drei Gestalten des absoluten Geists im enzyklopädischen System
– die Kunst, die Religion und die Philosophie.
287
Um die eigenständigen Beschäftigungen mit der Kunst geht es zwar erst in mehrmals gehaltenen
Vorlesungen über die „Ästhetik“. Aber im Rahmen des enzyklopädischen Systems behandelt Hegel die Kunst
immer, indem er sie in die Thematik der Religion einbezieht. Dazu vgl.: „[D]ie Lehre von der Kunst ist in den
von Hegel selbst publizierten Werken keine eigenständige Ä sthetik (wie etwa in den Vorlesungen über Ä sthetik),
sondern ein Teil der Religionsphilosophie.” Hösle (1987), S. 599.
270
<Die Triade vom absoluten Geist>
Phänomenologie des Geistes
(1807)
Heidelberger Enzyklopädie
(1817)
Berliner Enzyklopädie
(1827/1830)
- Die Kunstreligion
- Die Religion der Kunst
- Die Kunst
- Die offenbare Religion
- Die geoffenbarte Religion
- Die geoffenbarte Religion
- Das absolute Wissen
- Die Philosophie
- Die Philosophie
Die Vollendung der Religion im Rahmen der PHG, d. i. die Versöhnung zwischen dem
WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) und dem RELIGIÖ SEN GEIST (von
der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion), ist mit der Versöhnung zwischen dem
objektiven Geist und dem absoluten Geist im Rahmen der Enzyklopädie zu vergleichen; der
Ü bergang des weltlichen Bereiches zur Religion entspricht dem Ü bergang des objektiven
Geistes zum absoluten Geist. Der objektive Geist ist zwar deutlich von der obigen Triadik
des absoluten Geistes zu unterscheiden; denn dieser Weltgeist ist im Grunde nichts anderes
als Volksgeist jeweils in einer bestimmten geschichtlichen Welt. Dennoch wird es von Hegel
auch nicht geleugnet, dass jeder weltgeschichtliche Vorgang die Reihe von Bemühungen des
Menschen zum „absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt“ (W12.25) ausdrückt; deshalb
spiegelt sich jeder Augenblick der wahren Versöhnung zwischen dem objektiven Geist und
dem absoluten Geist in der jeweiligen Wirklichkeit des Weltgeistes wider.
271
2. Die Harmonie von Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System
2.1 Hegels Kritik an den fehlerhaften Religionsauffassungen
Hegels Gedanke des Verhältnisses von Staat und Religion ist für die systematische
Untersuchung seiner Philosophie von Belang; denn dieses Verhältnis macht einen
Knotenpunkt und zugleich Trennungspunkt zwischen dem objektiven und dem absoluten
Geist aus; das Verhältnisses von Staat und Religion ist deswegen während Hegels ganzer
Zeit eins seiner philosophischen Hauptthemen. Man muss sagen, dass ein Hauptgedanke
seine Ü berlegungen zu dieser Thematik, allmählich entwickelt und oft revidiert, – trotz ihrer
Verschiedenheit voneinander288 – völlig durchdringt. Hegel denkt, dass Missverständnisse
hinsichtlich dieses Themas aus Fehldeutungen der beiden Bereiche – also des Staats und der
Religion – folgen. Also ist es nötig, zunächst vielfältige fehlerhafte Ansichten darüber
auszuführen; um zur wahrhaften Einsicht in das Verhältnis von Religion und Staat zu
kommen, muss man für Hegel diese beiden nämlich in dem – philosophisch entwickelten –
Begriff erfassen können.
Aus der geläufigen Sicht der Religion wird sie als Herzenstrost für unser vergängliches
irdisches Leben empfohlen; überdies meint man, sie könne uns den Weg zur endgültigen
Befriedigung in unserer Seele zeigen. Aber man täuscht sich in seinen solchen Erwartungen,
wenn man glaubt, mit der so gedachten Religion jede Misere in dieser Welt auflösen zu
können. Denn insofern die Heiligkeit und die Weltlichkeit für grundverschieden
288
Schon in Hegels Frühschriften vor der PHG kann man seinen Gedanken über diese Thematik finden. Hegels
Position ist dadurch gekennzeichnet, dass es in seinen Texten neben seiner Konzeption der Unabhängigkeit des
Staates von der Religion auch seine Kritik an der Auffassung gibt, dass der Staat eine den Angehörigen fremde
Macht sein solle. W1, S. 9-103 u. 582-602; W2, S. 470 f. Hegels Ausdruck der „[s]ynthetische[n] Verbindung
des Staats und der Kirche“ (GW8.283) in seinen Jenaer System-Konzeptionen kündigt seinen Gedanken des
engen Zusammenhangs des objektiven mit dem absoluten Geist an. In der PHG und Heidelberger Enzyklopädie
wird diese Thematik nicht explizit dargestellt, während Hegel in seiner Berliner Zeit dieses Verhältnis
eingehend thematisiert.
Interessanterweise hat dieses Thema keine feste Stellung innerhalb von dem enzyklopädischen Systems. Hegel
sagt zunächst in seinen Grundlinien Folgendes: „Das innere Staatsrecht“ ist der Ort, in dem Hegel diese
Thematik, mit dem Titel „das Verhältnis des Staats zur Religion“ (W7.415) bezeichnet, erörtert. Und in der
zweiten Fassung der Enzyklopädie (1827) kann man innerhalb des Abschnittes „Der absolute Geist“, genauer
am Ende des Kapitels „Kunst“ folgende Kennzeichnung finden: „Ihr Verhältnis zum Staat“ (GW19.396),
wohingegen Hegel in ihrer dritte Fassung (1830) das Thema „das Verhältnis von Staat und Religion“ (W10.355)
am Ende der „Weltgeschichte“, also zwischen dem objektiven und absoluten Geist, behandelt. Es gibt
Behauptungen, dass man sogar auch in einem Werk Hegels Schwanken in Bezug auf das Verhältnis des Staates
zur Religion erblicken könne. Dazu vgl. Alvarez-Gomez (2004); Jaeschke (2009B); Schick (2009B).
Aber es gibt, trotz Hegels mehr oder minder ambivalenten Stellungen, was diese Beziehung des Staates auf die
Religion betrifft, zumindest innerhalb des enzyklopädischen Systems bzw. der davon abgeleiteten (rechts-,
geschichts- und religionsphilosophischen) Schriften Hegels eine kohärente Perspektive, die im Ganzen „die
ursprüngliche Harmonie von Religion und Staat“ (GW19.396) besagt. Zu dem diesbezüglichen Argument vgl.
Karásek (2009).
272
voneinander
gehalten
werden,
oder
mit
Hegels
Formulierungen
in
seiner
Religionsphilosophie – insofern unser Leben in „eine Anzahl Werktage“ und „einen
Sonntag“ (V3.11), d. h. in eine profane Angelegenheit und eine Gottseligkeit, aufgeteilt wird
–, ist sie nicht in der Lage, die Erwartungen zu erfüllen. Im Alltagsleben ist unsere
Glaubensgesinnung zwar eine übergeordnete, unter Umständen die oberste Instanz unserer
praktischen Entscheidung, dennoch führt nur dieses religiöse Ethos nicht ohne Weiteres zum
gelungenen Leben, weil die Religion selbst überhaupt nicht geradewegs unseren
Lebensraum verändern kann. Dadurch entsteht sogar eine atheistische, deistische,
pantheistische oder zumindest die historische – oder mit dem nachhegelschen Terminus –
positivistische Einstellung, die uns oft zur Frage führt, ob die Religion deswegen belanglos
sei, weil Gott Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens sei.
Die einseitige Sichtweise der Religion wird besonders in der Religionsphilosophie anhand
der zwei typisch falschen Religionsverständnissen, d. h. anhand der subjektiven
„Frömmigkeit“ und der formellen „Erkenntnis“ (V3.16), eingehend thematisiert. Hegels
Abwertung des so gearteten unphilosophischen Religionsbegriffs ist mit seiner Abschätzung
der unbegründeten Methodiken hinsichtlich der Rechtsphilosophie eng verwoben. In der
„Vorrede“ zu den Grundlinien teilt Hegel sie in die zwei Arten auf: Die eine ist die
„Unzulänglichkeit der Formen und Regeln“ der Formallogik (W7.12), die andere sind
„formlos hin- und hergehenden Betrachtungen“ (W7.13). Unter jener unzureichenden Form
versteht Hegel die bloß formelle „Verstandeserkenntnis“, während er unter dieser
Formlosigkeit die Behauptung derjenigen versteht, die der Ansicht sind, dass die
Wissenschaft nicht erkannt, sondern „gefühlt“ werden solle (W7.12). Aus diesen Positionen
geht hervor, dass alle wissenschaftlichen Bemühungen im Bezug auf den Zweck des Staats
fehlschlagen. Insofern würde der Begriff der Freiheit selbst angefochten. Aus dieser
Fehldeutung des Staats folgt notwendigerweise, dass man den Begriff der Religion verkennt
der in Wirklichkeit eine mit dem Begriff des Staats gemeinsame Grundlage, d. h. den freien
Geist, in sich enthält.
Die fehl geleitete „Frömmigkeit“ aus dem subjektiven Gefühl und die formelle Erkenntnis
unter Anlehnung an das formal-logische Denken, diese beiden Tendenzen sind die
entscheidenden Ursachen für das folgende Missverständnis des Zusammenhangs zwischen
der Religion und dem Staat, auf das Hegel uns hinweist:
273
Fehldeutung 1: Religion und Staat seien völlig auseinandergefallen.
Fehldeutung 2: Die Religion stehe über den Staat oder sie stehe ihm gegenüber.
Diese Fehldeutungen beruhen beide grundsätzlich auf der These der Trennung von Religion
und Staat, also auf der Annnahme, dass sie unverträglich miteinander seien, d. h. die
Religion von dem Staat entfernt sei oder ihm gegenüber überlegen sei.
1) Was die erste Fehldeutung anbelangt, müssen wir zunächst eine große, historische
Tendenz zur fortschreitenden Säkularisierung berühren; diese Tendenz hat bekanntlich zur
Einsicht in das unantastbare Recht des Menschen als solchen, und damit zur Toleranz oder
Gewissensfreiheit geführt. Schon im mittelalterlichen Glauben kann man Hegel zufolge die
Trennung des Weltlichen vom Heiligen betrachten. Diese Trennungsthese besagt dass, dass
der Staat sich selbst keine religiösen Gebote mehr zu erteilen brauche, sodass er keines
kirchlichen Beistandes mehr bedürfe; er könne nämlich selbständig die Rechte der Bürger
garantieren, und zwar ohne die Wirksamkeit des intellektuellen Reichs anzuerkennen. Diese
Position folgt aus der bloßen Ahnung, dass die Religion als absolute Wahrheit und der Staat
als eine Angelegenheit des profanen Interesses voneinander unterschiedlich seien.
Außerdem hänge auch der praktische Vollzug des Einzelnen nicht notwendigerweise von
der Existenz Gottes selbst, sondern vom Prinzip der menschlichen Freiheit als des freien
Willens ab; inzwischen bewege sich der Staat mit fester Absicht in Richtung auf die
Befreiung von der Religion. Daraus könnte man feststellen, der Staat ziele nämlich darauf,
die Welt zu entheiligen, dadurch werde die Religion allmählich in den privaten Bereich
unseres Lebens, genauer gesagt nicht nur in die alltägliche, profane Lebenswelt, sondern
auch in die Innenwelt der absolut unwandelbaren Wahrheit innerhalb des Seelenlebens,
zurückgezogen. So denkt man, dass Staat (Weltlichkeit) und Religion (Heiligkeit) endgültig
auseinandergefallen seien.
Aber Hegel kritisiert diese Trennungsthese. Diese Ansicht hat für Hegel diese folgenden
Probleme:
Es kann zunächst verdächtig scheinen, daß die Religion vornehmlich auch für die Zeiten
öffentlichen Elends, der Zerrüttung und Unterdrückung empfohlen und gesucht und an sie für
Trost gegen das Unrecht und für Hoffnung zum Ersatz des Verlustes gewiesen wird. Wenn es
dann ferner als eine Anweisung der Religion angesehen wird, gegen die weltlichen Interessen,
den Gang und die Geschäfte der Wirklichkeit gleichgültig zu sein, der Staat aber der Geist ist,
274
der in der Welt steht, so scheint die Hinweisung auf die Religion entweder nicht geeignet, das
Interesse und Geschäft des Staats zum wesentlichen ernstlichen Zweck zu erheben, oder scheint
andererseits im Staatsregiment alles für Sache gleichgültiger Willkür auszugeben (W7.416).
Das weltliche Reich bedarf paradoxerweise eben um seiner selbst willen eines ihm genau
entgegengesetzten Punkts; wie die Religion aus dem Bereich der Ö ffentlichkeit
herausgetreten, so ist auch dem Staat kein Zutritt zur Innigkeit des individuellen
Bewusstseins gewährt. Dieser Begriff des Staats, der immer von dem Gewissen und der
Gesinnung des Einzelnen auseinandergefallen ist, wird von Hegel bloß als „die bürgerliche
Gesellschaft“ bezeichnet; sie ist nichts anderes als der „Not- und Verstandesstaat“, d. h. ein
äußerlicher Bund zwischen den Bürgern, die nur davon abweichen, dass öffentliche
Angelegenheiten ihrem eigenen Privatwohl zuwiderlaufen (W7.340; 423 f.). Somit kann das
Individuum nicht zur Einsicht in die „wirkliche Vernünftigkeit“ in seinem Gemeinwesen
kommen, sodass ihm vielmehr der „Verlust der Sittlichkeit“ widerfahren ist, indem die nur
„relative Totalität“ zwischen den Individuen erscheint (W7.338 ff.).
2) Die zweite Fehldeutung hat in der These der Trennung von Staat und Religion
geschlummert. Der geschichtliche Entwicklungsgang der germanischen Welt, die von ihm
weltgeschichtlich der letzten und höchsten Phase zugeordnet wird, hängt mit dem
Entwicklungsgang des Verhältnisses zwischen dem freien Selbstbewusstsein und der
Autorität aus Kirchenlehre, also zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen,
zusammen. 289 In der zweiten Periode der germanischen Welt, d. h. im Mittelalter, sieht
Hegel den Gegenstand zwischen dem Staat und der Religion finden; in diesem Zeitalter
konnten die beiden sich einander überhaupt nicht gleichgültig sein, sondern standen sich
gegenüber. Man könnte denken, diese Fehldeutung könne zwar widerlegt werden, wenn sich
die Kirche darum bemühe, ihre Heiligkeit sogar das Gebiet der Weltlichkeit zu durchdringen.
Diese Meinung aber folgt aus dem Missverständnis der These, dass „die Religion die
Grundlage des Staats sei“ (W7.415); man soll die These der Fundierung des Staats in der
Religion nicht mit der Annahme verwechseln, dass er nur innerhalb der Religion einen Sitz
habe. Wenn Staat und Religion – trotz der Annahme der Unterschiedenheit voneinander –
miteinander vermengt werden, und damit nicht angemessen voneinander ausdifferenziert
werden, so ergibt sich neben der Pervertierung der sittlichen Idee sogar die Verfälschung des
Religionsbegriffes. Diese Verwirrung stützt sich oft darauf, dass die religiöse Gesinnung
289
Dazu vgl. die Anm. 23 im Teil I, D. 4: „Der selbstbewusste Geist als der neue Geist“.
275
endgültig an die Stelle der scheinbar mangelhaften Staatsverfassung treten könnte. Aber
daraus ergibt sich paradoxerweise die Meinung, dass Religion und Staat unvereinbar
miteinander seien, weil dieser Gedanke (die Religion solle als schlechthin gültig angesehen
werden, während der Staat bloß etwas Flüchtiges sei) ursprünglich vorausgesetzt worden ist.
Wenn die Religion auf einer nicht genügend überlegten Kirchenlehre beruht, aber der
Gläubige – sei er Kleriker oder Laie – trotzdem ganz davon überzeugt ist, dass es außerhalb
seiner Kirchengemeinde nirgends in der Welt das universal Gültige gebe, wenn nämlich ein
unüberlegter Geist der Religion nur dem bloßen Dogma folgen würde, könnte die Kirche –
wie sie es z. B. bei Giordano Bruno und Galileo Galilei getan hat – die Freiheit der
Wissenschaft und des Gedankens unterdrücken (W7.426). Infolgedessen wären sowohl die
öffentliche Ordnung als auch das Gewissen des Staatsbürgers einer großen Gefahr ausgesetzt.
Diese Fehldeutung der Religion hat in Bezug auf unser Staatsleben zwei Nebeneffekte:
Der eine ist die Position derjenigen, die glauben, dass die Religion die oberste Instanz im
Bezug auf die Geltung eines wirklichen Staats sei, indem sie „den Gesetzen Stabilität
verschafft“ (W10.361). Wenn man meint, die Religion beherrsche direkt das Staatsgeschäft
in unserem Leben, würde diese Religion nichts anderes tun als für die Theokratie im
orientalischen Despotismus plädieren. Hegel hat in seiner Zeit persönlich die Behauptung
derjenigen gehört, die der Ansicht sind, dass die Konfessionsspaltung eben ein Zeichen für
das Unglück im öffentlichen Leben und deshalb die Einheit des Staats mit einer bestimmten
(also katholischen) Kirchengemeinde nötig sei. Diese restaurative Tendenz bedeutet nichts
anderes als ein unüberbietbares Beispiel dafür, wie die Fehldeutung der Religion die
Sittlichkeit des Staats gefährdet. Unter dem zweiten, aber schlimmeren Nebeneffekt versteht
Hegel die Ansicht des Einzelnen in Anlehnung an seine subjektive Ü berzeugung, dass gar
kein objektives Gesellschafssystem seinem Gewissen zuwider sein solle. Der Fürsprecher
dieser Stellung behauptet Folgendes: „[D]em Gerechten ist kein Gesetz gegeben; seid fromm,
so könnt ihr sonst treiben, was ihr wollt, – ihr könnt der eigenen Willkür und Leidenschaft
euch überlassen“ (W7.418). Er ist der Meinung, „daß der gute Wille darin bestehen soll, daß
er das Gute will“, denn er denkt, „der Zweck heiligt die Mittel“ (W7.269; 271). Diese
subjektive Ü berzeugung, dass die moralische Gesinnung aus einem frommen Herzen
unfehlbar und unantastbar sei, entwickelt sich bis zur Polemik gegen den Staat oder die
„Feindschaft gegen das öffentlich Anerkannte“ (W7.15) weiter.
Hegel tituliert die beiden – die theokratische Instrumentalisierung des Staats und die
subjektivistische Polemik gegen ihn – insgesamt mit dem „Fanatismus“ (W7.50; 418). Der
Unterschied der ersten von den zweiten besteht nur im Folgenden: Die fanatische Gesinnung
276
vonseiten der theokratischen Regierung liegt nur insofern im Schlummer, als sich ein
politischer Konflikt innerhalb ihrer selbst noch nicht ereignet (W10.358). Aus der
fanatischen Unüberlegtheit geht hervor, dass die subjektive Freiheit oder deren Vollziehung
im Staatsleben unterdrückt und verdorben wird.
Diese Tendenz der religiösen Despotie ist mit dem politischen Fanatismus verwoben; was
die politische Durchsetzung des öffentlichen Interesses angeht, werden als Beispiele des
fanatischen Vollzuges von Hegel vor allem die Erfahrungen der Französischen Revolution,
d. h. die Enthauptung des Königs, der gewaltsame Sturz der Regierung und die sog.
jakobinesche Schreckenszeit, angeführt. Diese historischen Ereignisse scheinen zwar nur die
politische Angelegenheit zu sein, weil die Französische Revolution aufzeigt, wie tragisch es
ist, dass der Anspruch der absoluten Freiheit, ohne das Gefüge unseres Zusammenlebens
vernünftig umzubauen, nur die völlige Zerstörung der beständigen Welt verursacht hat
(W3.440 f.). Hegel denkt im Grunde, dass die Polemik gegen die beständige Verfassung
nämlich in dem schlechten Begriff der Religion liegt; deshalb kann man sagen, dass Hegels
Kritik an dieser Revolution eben nicht die Kritik an der politischen Revolution selbst,
sondern nur die Kritik an der fanatischen Gesinnung selbst ist. Diese Kritik ergibt sich
grundsätzlich
aus
seiner
Kritik
am
Katholizismus
als
der
„Religion
der
Unfreiheit“ (W10.359). Die Französische Revolution hatte in ihrer ersten Phase zwar den
Katholizismus selbst bekämpft, aber dieser Kampf selbst beruhte auf dem Prinzip des
Katholizismus. Der Revolution als der politischen Umgestaltung muss nach Hegel eben die
Reformation als die Befreiung des Gewissens vorausgehen. In diesem Zusammenhang
schreibt Hegel Folgendes:
Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren
Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine
Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben (W10.360).
Hegel behauptet nämlich, dass ein beschränkter Begriff der Religion in einem Staat zum
Scheitern der politischen Revolution führt, obwohl die bürgerliche Revolution von der
Religion ganz unabhängig zu sein scheint. Die politische Befreiung ist für Hegel ohne die
moralische und zugleich religiöse Befreiung nicht entstanden (W12.535).
290
Die
Das Gewissen macht – sei es moralisch oder religiös – die geistige Grundlage für den gesamten praktischen
Vollzug des Menschen in der Neuzeit aus..“
277
290
Fehldeutung der Religion bedingt direkt den Fanatismus der politischen Durchsetzung und
zerstört dadurch die Sittlichkeit des Staats.
2.2 Hegels These über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit dem religiösen
Gewissen
Hegel kritisiert, wie in dem letzten Abschnitt dargestellt, die typischen Fehldeutungen des
Verhältnisses von Staat und Religion. Die wahre Deutung der Beziehung von beiden lässt
sich hingegen wie folgt ausdrücken: 1) Der Staat beruht seinem Begriff nach auf der Religion.
2) Die Religion muss um ihrer Existenz in der objektiven Welt willen ausschließlich in dem
so in sich fundierten Staat ihren wahren Sitz haben. 3) Dieses Komplementärverhältnis von
beiden setzt aber voraus, dass die Religion bereits in Anlehnung an ihren wahren Begriff
errichtet worden ist, sonst würde sie die Sittlichkeit des Staats verderben. Staat und Religion
sollen also weder als voneinander getrennt noch als miteinander vermischt angesehen
werden,
sondern
das
Verhältnis
von
beiden
muss
als
„die
ursprüngliche
Harmonie“ (GW19.396) betrachtet werden. Diese Harmonie lässt sich nicht einfach als eine
friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen, sondern als die „vollkommene
Durchdringung“ (W7.30) bezeichnen. Die Versöhnung des Weltlichen mit dem Religiösen
ist Hegel zufolge von der Reformation ausgegangen (W12.414 f.; 504).
Die Religion fungiert als „das Bewusstsein der absoluten Wahrheit“ und macht insofern
die „Substantialität“ des Staats aus (W10.355); daher kann man alles, was dem wahren
Freiheitsbegriff in einem Gemeinwesen gemäß ist, deswegen anerkennen, weil das
Individuum „Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt“ (W10.355),
oder umgekehrt, weil der schlechte Gottesbegriff zum schlechten Staatsbegriff führt. Daraus
folgt, dass Religion und Staat, was die Existenz des freien Willens betrifft, sich zueinander
wie das Innere und das Ä ußere verhalten. Man soll jedoch nicht außer Acht lassen, dass alle
beide nichts anderes als Gestalten des Geistes sind, der als solcher durch eine Totalität
gekennzeichnet wird. Also kann man in jeder geistigen Gestalt bereits eine Vereinigung des
Inneren und des Ä ußeren finden; Religion und Staat enthalten nämlich jeweils die beiden
Seiten, das Innere und das Ä ußere, in sich.
In diesem Zusammenhang wird der Staat eben durch die Gesinnung des Staatsbürgers
unterstützt und das so in dieser sittlichen Tugend von seinen Gliedern fundierte (ebenfalls
278
sittliche) Ganze kann eine seinem Begriff gemäße Verfassung haben. Aber für Hegel ist
diese sittliche Sinnesart des Einzelnen im Staat grundsätzlich mit seiner Glaubensgesinnung
eng verwoben. Aus diesem Grunde lässt sich Hegels folgende Angabe hinsichtlich des
Verhältnisses von Sittlichkeit und Religion verstehen:
Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen.
[…] Beides ist untrennbar; es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte
und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben (W10.355 f.).
Die staatliche Ordnung oder gesetzliche Geltung expliziert das religiöse Selbstbewusstsein
des Einzelnen, das bereits in seiner Vergewisserung über sich selbst impliziert ist. Sein
Glauben an das Absolute und das Gewissen des Subjekts von sich selbst sind inhaltlich
gesehen unzertrennlich.
Hegel denkt selbstverständlich, dass – wie in seiner Rechtsphilosophie ausgeführt – das
moralische Gewissen eine entscheidende Schranke hat. Ü ber die scharfe Abgrenzung
zwischen der Moralität und der Sittlichkeit schreibt er Folgendes:
In den moralischen Standpunkt, wie er in dieser Abhandlung [also in den Grundlinien] von dem
sittlichen unterschieden wird, fällt nur das formelle Gewissen; das wahrhafte ist nur erwähnt
worden, um seinen Unterschied anzugeben und das mögliche Mißverständnis zu beseitigen, als
ob hier, wo nur das formelle Gewissen betrachtet wird, von dem wahrhaften die Rede wäre,
welches in der in der Folge erst vorkommenden sittlichen Gesinnung enthalten ist (W7.256).
Die neuzeitliche Zeit ist für Hegel durch das „Recht der subjektiven Freiheit“ (W7.233)
gekennzeichnet. Das Gewissen des neuzeitlichen Subjekts, also sein Innerstes, ist die oberste
Instanz seiner Entscheidungen dafür, wie es leben soll. Diese Selbstbestimmung des
neuzeitlichen Subjekts wird auch mit der moralischen Freiheit bezeichnet (W10.312); der
moralische Standpunkt bildet nämlich – sei es die Pflichtenethik oder Gewissensethik – das
weltgeschichtliche Prinzip der Neuzeit (W7.254). Die subjektivistische Einstellung der
Moralität ist allerdings mit dem Formalismus des moralischen Vollzugs überhaupt verwoben.
Dieses „formelle“ Gewissen kann deswegen noch nicht als das „wahrhafte“ Gewissen des
279
Subjekts angesehen werden, denn die Wahrheit des moralischen Gewissens ist in der wahren
Gesinnung des sittlichen Volks erblickbar.
Allein der Standpunkt des Gewissens überhaupt ist als die oberste Instanz der subjektiven
Tätigkeit, d. h. als der eigene Vollzug des moralischen Subjekts, aufzufassen; daraus lässt
sich erkennen, dass das für sich seiende Subjekt des Gewissens die Konstante für das Leben
in der Neuzeit ist.
[Denn] die sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und
Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn [d. h. den Menschen] machen, von ihm befolgt
zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung,
Anerkennung oder selbst Begründung haben. Die Subjektivität des Willens in ihm selbst ist
Selbstzweck, schlechthin wesentliches Moment (W10.312 f.).
Wenn der Formalismus des moralischen Gewissens überwunden wird und dadurch das
menschliche Bewusstsein von dem Gerechten und dem Ungerechten oder von dem Guten
und dem Bösen seines eigenen Handelns in dem wahren sittlichen bzw. religiösen Gewissen
verankert ist, kann man den geistigen Boden für den wahren Begriff der neuzeitlichen
Sittlichkeit erkennen.
Beide Momente, aus denen sich der wahre Begriff des sittlichen Staats ergibt, also das
sittliche Gewissen (als das subjektive Sittliche wie die Gesinnung) und die sittliche
Verfassung (als das objektive Sittliche wie die Institution) (W10.293 ff.), können für Hegel
nur dann in der Einheit miteinander stehen, wenn das Gewissen des Menschen alles in allem
auf der wahren religiösen Gesinnung beruht.
[D]ie Rechtschaffenheit wird nur etwas Festes, indem die Religion ihr zu Grunde liegt, indem ihr
Innerstes, das Gewissen, darin erst absolute, wahrhafte Verpflichtung, absolute Sicherheit seiner
Verpflichtung hat (V3.109).
Das wahre religiöse Gewissen macht die Grundlage für die Sittlichkeit aus, die als „die Idee
der Freiheit“ (W7.292) gilt, denn die Religion ihrer Idee nach ist die tiefste und größte
Gestalt der menschlichen Freiheit.
280
Die Religion ist, insofern sie von wahrhafter Art ist, keineswegs eine einfache Polemik
gegen den Staat. Hegels Zitat, „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“ (W7.258) und seine
Bemerkung über die Julirevolution von 1830 in Frankreich (V3.347) sind auf das religiöse
Gewissen bezogen, das wider das wahre Prinzip des Staats steht und sich an Fehldeutungen
der Religion anlehnt. Aus diesem Grunde denkt Hegel, dass das Recht des neuzeitlichen
Subjekts endgültig im Christentum liegt, sodass sich der wahre Begriff des Staats mit dem
wahren Religionsbegriff in Harmonie befindet. Wie sich die religiöse Lehre in dem
Gewissen des freien Selbstbewusstseins entfaltet, so bedarf auch der Staat einer für ihn
relevanten Gesinnung (z. B. Patriotismus), sodass die sittliche Tugend des Staatsbürgers
(z. B. die Treue zu dem Gelöbnis der Ehe) durch die religiöse Gesinnung unterstützt werden
kann. Auf diese Weise dient das religiöse Gewissen, dass eine religiöse Lehre die absolute
Wahrheit ist, zur staatlichen Integration.
So ist die Freiheit im Staate bewährt und bestätigt durch die Religion, indem das sittliche Recht
im Staate nur die Ausführung dessen ist, was das Grundprinzip der Religion ausmacht (W12.405).
Die Gesinnung des Bürgers ist mit der religiösen Gesinnung eng verwoben, die „das Höchste
der Gesinnung“ (W7.417) ist. Wie sich aber der Staat auf den wahren Begriff der Religion
stützt, so ist auch die Religion in gleichem Maße von der auf den Freiheitsbegriff
abgestimmten Verfassung abhängig, denn die Religion bedarf auch im Staatsleben eines
Raumes, in dem sie sich entfalten kann. Insofern eine real existierende Religionslehre in
ihrem bestimmten Glaubenssystem um der Gottesverehrung willen einen Gottesdienst
abhalten soll und deshalb des Eigentums, der Priesterschaft usw. bedarf, tritt sie aus ihrem
innerlichen Bereich hinaus und damit in die Weltlichkeit hinein. Der Staat erlaubt als die
Grundlage für die Existenz unserer Gesamtlebensform auch der Religion einen Sitz in sich,
ohne deswegen ihr Wesen zu depotenzieren. Dank dieses Umstands geht Hegel auf das noch
konkretere Thema „Verhältnis von Staat und Kirchengemeinde“ (W7.420) ein. Darüber sagt
er Folgendes:
Es ist in der Natur der Sache, daß der Staat eine Pflicht erfüllt, der Gemeinde für ihren religiösen
Zweck allen Vorschub zu tun und Schutz zu gewähren, ja, indem die Religion das ihn für das
Tiefste der Gesinnung integrierende Moment ist, von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß
sie sich zu einer Kirchengemeinde halten, – übrigens zu irgendeiner (W7.420).
281
Wenn sich der unwahre Inhalt der Religion in unserem Leben vollzieht, könnte ihre arbiträr
geführte Polemik gegen den Staat zwar für die Stabilität des Staats gefährlich sein. Aber der
gut organisierte Staat kann sich zu dieser Bedrohung sozusagen „liberal“ verhalten und sogar
eine religiöse „Toleranz“ – sogar gegen „Anomalien“, die keine Pflicht gegen den Staat
anerkennen und damit (wissentlich oder unwissentlich) die wirkliche Vernünftigkeit
desselben beschädigen könnten, z. B. Quäker (Mitglieder der Religiösen Gesellschaft der
Freunde), Wiedertäufern (Anabaptisten) oder Juden (W7.420 f.) – üben. Es kommt bei der
Harmonie von Staat und Kirchengemeinde Hegel zufolge insbesondere darauf an, dass „im
Staate alles fest und gesichert ist“, damit er als „die Schanze“ (W7.431) gegen einen
virtuellen Angriff fungieren kann. Indem der Staat außerdem selbst jenen Gläubigen das
bürgerliche Recht verleiht, können sie ihre Pflicht als Staatsbürger – zumindest „auf eine
passive Weise“ – erfüllen und ihr „Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen
Gesellschaft zu gelten“, verhilft ihnen zur Integration in den Staat (W7.421).
Man könnte auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass dieser Gedanke Hegels sich
seiner scharfen Kritik der Fehldeutung der Religion widersetze. Aber unter der Toleranz
sollte man nicht ein einfaches Zusammensein aller Konfessionen, und zwar unabhängig von
der Frage nach dem wahren Religionsbegriff, verstehen. Sein Gedanke weist meines
Erachtens vielmehr hinsichtlich der politischen Toleranz darauf hin, dass der Staat sich
darum bemühen soll, dem Staatsbürger Gewissensfreiheit zu garantieren. Man darf das
keinesfalls so verstehen, dass die Religionsfreiheit gerade die Bejahung aller Konfessionen
– einschließlich der Religion in Anlehnung an die verfälschte Sichtweise – bedeute. Aus
diesem Grunde ist Hegels Position nicht mit der Behauptung des einfachen
Zusammenfallens des Staats mit einer bestimmten Kirchengemeinde zu verwechseln. Der
neuzeitliche Staat braucht keine Staatsreligion mehr, sondern soll einen Abstand zur
wirklichen Gemeinde halten. Wie schon gesagt, macht der Gegensatz zwischen dem Staat
und der Kirche die historische Bedingung in der Neuzeit aus. Diese Distanzierung ist wohl
unvermeidlich, aber auch für die Staatsbildung und die Förderung der Wissenschaft
unentbehrlich (W7.428). Nur unter der Bedingung der Trennung von beiden kann erst das
liberale Verhalten des Staats zu Kirchengemeinden von praktischer Bedeutung sein;
demzufolge gelangt Hegel im Hinblick auf diese Thematik zu der folgenden Ansicht: Staat
und Kirche treffen „zusammen oder gegeneinander“ (W7.423). Spricht man also von der
Einheit von Staat und Religion, soll sie nicht mit der prinzipiellen Gleichförmigkeit
zwischen beiden verwechselt werden.
282
Hegels Gedanke über den Zusammenhang von beiden setzt die Notwendigkeit der
geschichtlichen Entfaltung des Freiheitsbegriffs voraus.
Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat. Dieser eine Begriff ist das Höchste, was der
Mensch hat, und er wird von dem Menschen realisiert. Das Volk, das einen schlechten Begriff
von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetz. Diesen
Zusammenhang zwischen Staat und Religion zu betrachten, dies gehört in seiner ausgebildeten
Ausführlichkeit eigentlich der Philosophie der Weltgeschichte an (V3.340).
Die Weltgeschichte, die den Freiheitsbegriff im Umfeld des objektiven Geistes umfassend
darstellt, hat bei Hegel einesteils mit der Kunst, Religion und Philosophie mehr oder minder
Gemeinsamkeit. Es ist im Prinzip der eine Geist, der freie Geist, der sich durch Staat, Kunst
und Religion hindurch bis zur Philosophie erstreckt; Hegel ist grundsätzlich der Auffassung,
dass „die Verfassung eines Volkes mit seiner Religion, mit seiner Kunst und Philosophie
oder wenigstens mit seinen Vorstellungen und Gedanken, seiner Bildung überhaupt […] eine
Substanz, einen Geist ausmache“ (W12.64 f.) Daraus lässt sich feststellen, dass der Begriff
der Freiheitsthematik von grundlegender Relevanz für Staat und Religion ist.
Aus Hegels Gedanken, dass der freie Geist als der Anfangspunkt des objektiven Geistes
den „Begriff des absoluten Geistes“ (W10.301) ausmacht, lässt sich ein enger
Zusammenhang zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist erkennen, denn „es ist
ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“. Diese Behauptung entspricht nach Hegel
unserer Vorstellung des Wertvollen in der Welt; man glaubt, dass es in der Welt einen
Endzweck, also ein als solcher allgemein gültiges, sogar für göttlich gehaltenes Lebensziel,
gebe. Als Beispiele dafür führt Hegel hauptsächlich die Moral, die Sittlichkeit und die
Religion an; sie sind alle von Hegel unter dem objektiven oder dem absoluten Geist
eingeordnet und als Produkte des freien Geistes geschildert. Diese grundsätzliche Identität
hinsichtlich des Freiheitsbegriffs zeigt uns auf, wie Staat und Religion im Hinblick auf den
praktischen Vollzug des freien Selbstbewusstseins eine affirmative Beziehung zueinander
haben. Also lässt sich Hegels These verstehen, dass Staat auf Religion beruht, oder dass er
in Anlehnung an sie gerechtfertigt werden kann; die Religion erweist sich als der Grund für
den Staat, obwohl der Darstellungsordnung nach sie aus ihm hervorgeht, wie der absolute
Geist einen wahren Grund für den objektiven Geist bildet. Dazu führt Hegel Folgendes aus:
283
Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält.
[...] Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine Grundlage eines Volkes aus. [...] Wie
daher die Religion beschaffen ist, so der Staat und seine Verfassung; er ist wirklich aus der
Religion hervorgegangen und zwar so, daß der athenische, der römische Staat nur in dem
spezifischen Heidentum dieser Völker möglich war, wie eben ein katholischer Staat einen andern
Geist und andere Verfassung hat als ein protestantischer (W12.70 f.).
Das religiöse Prinzip liegt in der Innenwelt des Menschen und hat manchmal für ihn sogar
die höchste Verbindlichkeit, genauer „die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit
stehenden Sittlichkeit“ (W10.356).
Der Staat bildet aber die Basis für das gelungene Zusammenleben, deshalb kann man das
gesamte geistige Eigentum der Menschheit, Moral, Sitte, Religion, Wissenschaft usw., erst
im Staatsleben finden; unser geistiger Gesamtvollzug bedarf um seiner Existenz willen der
Gestalten vom objektiven Gesamtgeist, dessen höchste Gestalt eben der Staat ist. In diesem
Zusammenhang stellt Hegel fest: „In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede
sein, welche einen Staat bilden“ (W12.56), denn „ein Volk ohne Staatsbildung […] hat
eigentlich keine Geschichte“ (W10.350). Die Religion ist aber die Grundlage für denjenigen
Staat, der bereits die Grundlage für die Realisierung unseres geistigen Gesamtvollzuges ist.
Die Religion eines Staats stellt sich als wesentlicher Zweck für jeden Volksgeist, als das
höchste Prinzip im Staatsleben heraus.
Also lassen sich der Unterschied und der Zusammenhang zwischen der immanenten Logik
des Freiheitsbegriffs und der konkreten Exposition desselben, was Staat und Religion betrifft,
wie folgt formulieren: Staat und Religion beruhen grundsätzlich auf ein und demselben
Begriff, aber das Wissen des Geistes von der Freiheit setzt voraus, dass der Begriff der
Freiheit nicht bereits in der Welt verwirklicht worden ist, bis ihr Potenzial völlig entfaltet ist,
m. a. W. bis das menschliche Bewusstsein sein geistiges Wesen erfassen kann. Was das
Verhältnis von Staat und Religion anbelangt, fungiert die Religion als die in unserem Leben
real existierende Religion; sie wird nämlich vom Staatsbürger als Lehre, Kultus und
Priesterschaft gedacht. Aus diesem Kontext lässt sich die folgende Bemerkung Hegels
verstehen:
Die Sittlichkeit des Staates und die religiöse Geistigkeit des Staates sind sich so die
gegenseitigen festen Garantien (W10.365).
284
Insofern kann die sittliche Freiheit mit der Einsicht in die gegenseitige Garantie von Staat
und Christlichkeit ergründet werden. Das religiöse Gewissen des Individuums in einem Staat
ist nämlich im protestantischen Prinzip von dem sittlichen Gewissen in diesem Staat nicht
zu unterscheiden.
Staat und Religion stehen dem Inhalt nach nicht im Gegensatz, aber der Form nach im
Unterschied. Die wahre Betrachtung des Verhältnisses von beiden ergibt sich daraus, dass
man die mit beiden gemeinschaftliche Bestimmung, also den freien Geist, erfasst hat. Die
Philosophie, mit der man zur Einsicht in die vernünftige Wirklichkeit (oder die Vernunft in
der Wirklichkeit) gelangen kann, beruht in dem begreifenden Wissen, mit dem wir die
wahren Formen der Versöhnung (also die Versöhnung der Philosophie mit dem Staat bzw.
ihre Versöhnung mit der Religion) erblicken können. Darüber schreibt Hegel Folgendes:
Nur in dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien […] Geistes ist die
absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien
der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem
Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich
vollbringt (W10.364).
Wie man die wesentliche Bestimmung des Staats bzw. der Religion für Hegel durch die
philosophische Betrachtung darüber erringen kann, so gilt, dass das Verhältnis von beiden
denkerisch verständlich gemacht werden kann. Hegels Gedanke, dass die religiöse
Gesinnung und die staatliche Konstitution wesentlich „unzertrennlich“ sind, sodass beides
„sich gegenseitig nicht entbehren“ kann (V3.346) – denn er denkt, dass die Triadik des
absoluten Geistes dem Inhalt nach in dem engen Zusammenhang mit dem Staat, d. h. mit
der höchsten Gestalt des objektiven Geistes, steht291 –, kann durch das Verhältnis zwischen
der Genesis und der Begründung erklärt werden. Diesen Punkt kann man in dem Folgenden
feststellen:
Dazu vgl.: „Es ist so eine Individualität, die in ihrer Wesentlichkeit, als der Gott, vorgestellt, verehrt und
genossen wird: in der Religion, – als Bild und Anschauung dargestellt wird: in der Kunst, – erkannt und als
Gedanken begriffen wird: in der Philosophie. Um der ursprünglichen Dieselbigkeit ihrer Substanz, ihres Inhalts
und Gegenstandes willen sind die Gestaltungen in unzertrennlicher Einheit mit dem Geiste des Staats; nur mit
dieser Religion kann diese Staatsform vorhanden sein, sowie in diesem Staate nur diese Philosophie und diese
Kunst“. W12, S. 73.
285
291
Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor […]. Nur
aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geist gewusst […]. Aber dieses
Hervorgehen gibt sich zugleich selbst wie überall im Spekulativen die Bedeutung, daß das
zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes Gestellte vielmehr das absolute Prius dessen
ist, durch das es als vermittelt erscheint und hier im Geiste als dessen Wahrheit auch gewußt
wird (W10.354 f.).
Wenn die Aufgabe der Weltgeschichte in der Vereinigung der Idee mit der verschiedenen
Bedürfnissen von Individuellen, m. a. W. des allgemeinen Willens mit dem besonderen
Willen, also in der verwirklichten Vernünftigkeit liegt, macht der Staat das Allgemein-Ganze
in der objektiven Wirklichkeit aus.
Die objektive Existenz dieser Vereinigung ist der Staat, welcher somit die Grundlage und der
Mittelpunkt der andern konkreten Seiten des Volkslebens ist, der Kunst, des Rechts, der Sitten,
der Religion, der Wissenschaft. Alles geistige Tun hat nur den Zweck, sich dieser Vereinigung
bewußt zu werden, d. h. seiner Freiheit (W12.68).
Der Staat, der als die höchste Gestalt des sittlichen Prinzips in einer bestimmten Welt
bezeichnet wird, fungiert als der Existenzgrund für die reale Gestalt eines religiösen
Glaubens; die Religion, die im Grunde das Verhältnis des Menschen zum absoluten Geist
betrifft, existiert als eine besondere Konfession oder Kirchengemeinde, und zwar gründet
sie sich auf die Geltung einer besonderen Staatsform. Die institutionalisierte Gestalt eines
Glaubensbekenntnisses entsteht nämlich aus einer staatlichen Institution. Daraus folgt, dass
der Staat die genetische Grundlage für die Existenz der Religion ausmacht (also kann man
sagen, im gut fundierten Staat kann man eine gut fundierte Religiosität finden).
Aber Hegel spricht explizit an, dass die Religion „als die Substanz des Staats“ (W10.302)
aufzufassen ist; der Staat liegt nämlich in dem wahren Begriff der Religion oder kann durch
sie begründet werden. Seine Angabe, dass der Staat „göttlicher Wille als gegenwärtiger“ ist
(W7.417), gibt uns Hinweise für seine These der Fundierung des Staates in der Religion.292
Dazu vgl.: „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation
einer Welt entfaltender Geist“. W7, S. 417 f. Und noch: „Die Sittlichkeit ist der göttliche Geist als inwohnend
dem Selbstbewußtsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen
desselben“ (W10.355); „[d]er Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist“ (W12.57); „Staaten
und Gesetze sind nichts anderes als das Erscheinende der Religion an den Verhältnissen der
Wirklichkeit“ (W12.497).
286
292
Der Staat gestaltet sich also als die konkrete Explikation des wahren religiösen Gehalts, d. h.
des absolut-freien Geistes.293 Der Ü bergang des Gegensatzes zwischen dem Staat und der
Kirche in die Versöhnung von beiden stelle Hegel zufolge den geschichtlichen Ü bergang
von dem mittelalterlichen in die neuzeitliche Welt dar.
Den Zusammenhang des Staates mit der Religion stellt Hegel folgendermaßen dar: „In der Organisation
des Staates ist es, wo das Göttliche in die Wirklichkeit eingeschlagen, diese von jenem durchdrungen und das
Weltliche nun an und für sich berechtigt ist; denn ihre Grundlage ist der göttliche Wille, das Gesetz des Rechts
und der Freiheit. Die wahre Versöhnung, wodurch das Göttliche sich im Felde der Wirklichkeit realisiert,
besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben“ (V5, S. 264).
287
293
B. System und Geschichte: die geschichtsbezogene Betrachtung
des Sittlichkeitsbegriffes
1. Die Geschichte des weltlichen Geistes und die Geschichte des religiösen Geistes
Mit dem Ü bergang des objektiven zum absoluten Geist vollendet sich der geistige
Gesamtvollzug in dem enzyklopädischen System nicht endgültig; denn der absolute Geist
muss seinerseits den folgenden Entwicklungsgang haben: die Kunst (in Form der
Anschauung), die Religion (in Form der Vorstellung) und die Philosophie (in Form des
begreifenden Gedankens). Jede Gestalt des absoluten Geistes ist jeweils die höchste
Wahrheit, zu der der Geist auf dem Weg des Befreiungsprozesses in einer bestimmten
Zeitperiode schon gelangt ist. So hat z. B. die Kunstreligion die höchste Wahrheit des
Geistes in der antikgriechischen Welt ausgedrückt; jede höchste Gestalt der Kunst wird also
als die absolute Kunst bezeichnet. Diese Beziehung des Geistes auf sich kann nicht in einem
Atemzug in die Welt eintreten, sondern geht aus dem Bildungsprozess des Geistes hervor.
Dieser Prozess muss aber auch dem real-zeitlichen Entwicklungsgang desselben entsprechen;
sowohl der absolute Gesamtgeist als auch jede besondere Gestalt desselben haben nämlich
jeweils eine eigene Geschichte. Dass diese Geschichte des absoluten Geistes die
grundsätzlich die begriffsnotwendige Exposition des Wegs zum Wissen des Geistes von sich
ist, wird dem Entwicklungsgang des Weltgeistes gemäß dargestellt. 294 Wenn in der
Rechtsphilosophie der logische Entwicklungsgang des Rechtsbegriffs dargestellt wird und
seine Geschichtsphilosophie den Prozess zur real-zeitlichen Verwirklichung des
Freiheitsbegriffs thematisiert, so muss man die Lehre vom absoluten Geist als die
denkerische Vereinigung der Logik und deren wirkliche Entwicklung auffassen.
294
Zu der Thematik der Geschichte des absoluten Geistes vgl. Theunissen (1970), S. 60 ff.; Jaeschke (1996),
S. 367 ff.
Jaeschke versucht freilich, die Gültigkeit dieser Thematik einigermaßen einzuschränken; er denkt, Hegels
Konzept der Geschichte anhand seines enzyklopädischen Systems sei nur die Thematik der Weltgeschichte,
die er im Endabschnitt des objektiven Geistes behandelt, im Gegensatz dazu habe Hegel die Geschichte des
absoluten Geistes nicht eingehend im Rahmen des Systems thematisiert. Man kann wohl sagen, Jaeschkes
Darstellung ist einigermaßen schlüssig, aber auch der folgende Punkt soll nicht außer Acht gelassen werden:
Wenn man Hegels System des absoluten Geistes betrachtet, entspricht der Entwicklungsgang jeder Gestalt
desselben (also der Kunst, Religion, Philosophie) dem Prozess der Weltgeschichte, der im Grunde mit der
Dialektik der Geistes-Bewegung eng verwoben ist. Das heißt: In dem geschichtlichen Entfaltungsgang der
Kunst, Religion und Philosophie kann man auch den strukturellen Zusammenhang mit dem geschichtlichen
Prozess des Weltgeistes (vom alten Orient durch das klassische Griechentum bis zur neuzeitlichen Epoche)
ausfindig machen.
288
Der inhaltliche Zusammenhang zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist
impliziert die immanente Dialektik des Geistes; die Dialektik des objektiven Geistes und die
Dialektik des absoluten Geistes hängen inhaltlich gesehen miteinander zusammen, weil die
beiden den Entwicklungsgang des geistigen Wesens oder des freien Geistes darstellen.
Damit dieses Wesen des Geistes aber dem menschlichen Bewusstsein expliziert werden kann,
ist die Arbeit des Geistes unabdingbar; dieser Prozess ist nichts anderes als der Weg zur
„Befreiung des Geistes“ (W10.352), in der die Niveauunterschiede in Bezug auf die Form
ausgeglichen werden können. Der absolute Geist ist der wahre Grund für den geistigen
Gesamtvollzug und setzt zugleich diesen ganzen Bildungsprozess des menschlichen Geistes
voraus. Also lässt sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen der immanenten Logik
eines Begriffs und der konkreten Exposition desselben, was Staat und Religion betrifft, wie
folgt formulieren: Staat und Religion beruhen grundsätzlich auf ein und demselben
Freiheitsbegriff, aber das Wissen des Geistes von der Freiheit setzt voraus, dass die Freiheit
bereits in der Welt verwirklicht worden ist, bis ihr Potenzial völlig entfaltet ist.
Das Wissen davon, wie die Freiheit in der Welt verwirklicht worden ist, entsteht durch die
denkende Betrachtung des geschichtlichen Entwicklungsgangs des Weltgeistes. Hegels
berühmter Satz, „[D]ie Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung
ihren Flug“ (W7.28) kann uns in diesem Zusammenhang verständlich gemacht werden; die
„Eule der Minerva“, die symbolisch als die philosophische Einsicht in die Wirklichkeit
dargestellt wird, entsteht erst mit dem Abschluss des objektiven Geistes, d. h. durch die
Vollendung der Arbeit des Weltgeistes. Die Philosophie ist für Hegel weder eine Vorhersage
oder Prognose, wie die Sache sich entwickeln wird, noch eine Belehrung oder Erbauung,
wie sie sein soll. Ü ber den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit oder von
Philosophie und Geschichte schreibt Hegel nämlich Folgendes:
Als der Gedanke der Welt erscheint sie [= die Philosophie] erst in der Zeit, nachdem die
Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff
lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale
dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in
Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut (W7.28).
Wie der Prozess zum Wissen des Geistes von sich eben den Gegenstand der allgemeinen
Weltgeschichte bildet, so ergibt sich aus der philosophischen Betrachtung der real
289
existierenden Religionen die Darstellung der begrifflichen Entwicklung des Begriffs der
Religion, der sich in der PHG folgendermaßen darstellen: Gott ist Geist. Hegel gibt
dementsprechend an, dass „die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte
zusammenfällt“ (W10.371). Diese Angabe bedeutet wiederum, dass die real existierenden
Religionen jeweils die Religion eines bestimmten Volksgeistes sind.
Der Geist der griechischen Kunstreligion in der PHG ist eben der Geist der Polissittlichkeit,
also ein beschränkter Volksgeist in einer bestimmten Welt. Diese Charakteristik spiegelt sich
in seiner Religion wider. Die Kunstreligion kann insofern den nur ihrer Form angemessenen
Gehalt ausdrücken, als sie sich noch als Kunstform gestaltet. Diese Form wird als „die
konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes“ oder „die konkrete in
sich frei gewordene, noch nicht aber absolute Geistigkeit“ (W10.367; 371) bezeichnet, weil
sie nur in der natürlichen Unmittelbarkeit oder in der sinnlichen Ä ußerlichkeit liegt. Die
christliche Religion erringt dadurch eine weiter entwickelte Form, dass sie die Schranke der
antiken Religion überwindet. Die Ü berwindung fällt damit zusammen, dass das Prinzip des
subjektiven Denkens entsteht und sich entwickelt. Dieses Prinzip, d. h. „das Recht der
subjektiven Freiheit“, macht den „Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des
Altertums und der modernen Zeit“ (W7.233) aus. Das Selbstbewusstsein, das in sich selbst
das absolute Prinzip des Wissens, Handelns usw. sucht, hat nach Hegel im sokratischen
„Dämon“ seinen Ursprung (W7.259; 448), aber es entwickelt sich mit dem christlichen
Freiheitsbegriff, nämlich dass der Mensch als solcher schlechthin frei ist (W10.301 f.;
W12.31 f.), zusammen weiter. Hegel denkt, durch die Reihe der epochalen Ereignisse in der
Neuzeit, namentlich der Reformation und der Französischen Revolution, hindurch erweist
der Weltgeist seine Notwendigkeit und Wahrheit. Der begreifende Gedanke Gottes als des
Geistes wird, mit Formulierungen in der PHG, „in der Vorstellung ausgedrückt, welche das
Absolute als Geist ausspricht“ und dieser absolute Geist ist „der erhabenste Begriff“, der
„der neueren Zeit und ihrer Religion angehört“ (W3.28). Es gab zwar im Kultus der
antikgriechischen Kunst-Religion eine Erfahrung der Offenbarung des Göttlichen, aber
damals konnte man noch nicht erkennen, dass dies Offenbare in dem Verhältnis des Geistes
zu sich selbst liegt. Der Prozess zum „Insichgehen des Geistes“ von Sokrates bis zur
Reformation (W12.418) bringt die wahre Vereinigung des subjektiven Freiheitsanspruchs
mit dem universalen Geltungsanspruch in der Neuzeit hervor.
Es ist gleichwohl selbstverständlich, dass der Begriff der Religion nicht gänzlich direkt in
der Wirklichkeit entfaltet wird; der christliche (aber bei Hegel genauer protestantische) Geist
als die weltgeschichtliche Religion in der Neuzeit ist zwar nur im spekulativen Wissen
290
erreichbar, aber der christliche Glauben selbst bedeutet nicht direkt diese Spekulation. Man
kann nämlich nicht einfach mit einem besonderen Bekenntnis des christlichen Glaubens in
unserem Leben den Begriff der Religion direkt erringen. Die Diskrepanz des
Religionsbegriffs und seiner Gestalt in der Wirklichkeit ist der Grund dafür, wie der religiöse
Geist sich in der Weltgeschichte entfalten muss; infolgedessen bedarf die Vollendung der
christlichen Offenbarung, wie schon gesagt, der langfristigen Arbeit des religiösen Geistes.
Was die Form des religiösen Geistes angeht, gestaltet er sich noch in Form der Vorstellung.
Er muss um seiner Vollendung willen „in den Begriff übergehen“(W3.503), d. h. er muss
seine höchste Wahrheit im Begriff erfassen. Wenn der Geist der Religion begriffen wird,
wird ihre eigene Form im gleichen Atemzug aufgehoben, ohne dass der Gehalt des religiösen
Geistes verloren geht. Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Wie die altgriechische Kunst die
in der sinnlichen Gegenständlichkeit gestaltete Religion ist, so erweist die vollendete
Philosophie sich als der im Begriff erfasste Geist der Religion oder als das begreifende
Wissen der in der Religion enthaltenen absoluten Wahrheit.
Der Begriff der Religion liegt zwar in dem absoluten Wissen des Geistes von sich; insofern
ist das Verständnis Gottes als des Geistes erst im spekulativen Wissen des Absoluten
erreichbar, sodass die Offenbarung des Geistes im Christentum den grundlegenden
Charakter der absoluten Religion bildet. Aber diese Beziehung des Geistes auf sich selbst
entstand nicht in der Anfangsphase des Christentums – sei es die Geburt Christi, sein Tod
am Kreuz, seine Auferstehung oder die Gründung der Kirchengemeinde –, sondern entfaltet
sich allmählich in der Arbeit des Weltgeistes. In unserem Alltagsleben erscheint die
christliche Religion somit als ein Glaube an Gott; insofern hat sie, wie schon gesagt, die
Form des vorstellenden Gedankens noch nicht aufgelöst. Der Mensch glaubt zunächst an
Gott, d. h. an einen ihm gegenüber Stehenden. Die offenbare Religion als die höchste
Definition des Christentums impliziert, dass der Geist (Gott) dem Geist (Menschen) offenbar
ist. Aber wenn man meint, dass die absolute Wahrheit von Gott offenbart sei, d. h. dass „Gott
sich selbst den Menschen zu wissen gegeben hat, was er ist“ (V5.179), kann diese Religion
mit dem Namen der geoffenbarten Religion benannt werden; wenn man meint, dass das
Absolute dem Menschen „von außen gekommen“ (V5.179) worden sei, kann diese Religion
mit dem Namen der positiven Religion benannt werden. Daraus lässt sich Folgendes
feststellen: Hegels Kennzeichnung des Abschnitts „Religion“ in seiner Enzyklopädie als die
„geoffenbarte Religion“ impliziert, dass die Hauptlehre des Christentums durch die
philosophische Betrachtung begriffen werden solle. Die philosophische Auslegung der
291
Christlichkeit liegt darin, die wahre Bedeutung dieser christlichen Religion im Begriff zu
erfassen.
Der Entwicklungsgang des christlichen Prinzips stimmt mit der abendländischen
Geschichte (die von der römischen Welt ausgegangen ist) überein. Die neuzeitliche Welt
fängt Hegel zufolge mit der germanischen Welt, aber genauer mit ihrer dritten Periode, an;
die Neuzeit fängt nämlich mit der Reformation, deren Prinzip in der Forderung liegt, dass
das Weltliche und das Religiöse, d. h. Staat und Kirche, miteinander versöhnt werden soll.
Der Geist in der neuzeitlichen Welt wird von Hegel zunächst als das Prinzip der subjektiven
Freiheit oder der Staatsbildung bezeichnet. Aber diesem Prinzip steht auch ein anderes
Prinzip, d. h. das Reich Gottes auf Erden, gegenüber; dieser Gegensatz bildet die historische
Grundbedingung in der neuzeitlichen Welt. Im Gegensatz zu dieser realen Existenz herrscht
zwischen dem Staat (d. h. dem objektiv-weltlichen Geist) und der Religion (d. h. dem
absolut-religiösen Geist) bereits Harmonie. Hegel bezeichnet die Geschichte in der Neuzeit
als Vereinigungsprozess von beiden, d. h. als Darstellungen der real-zeitlichen Entfaltung
des einen Begriffs.
[In der germanischen Welt] lebte […] ein vollkommen neuer Geist, […] nämlich der freie Geist,
der auf sich selbst beruht, der absolute Eigensinn der Subjektivität. Dieser Innigkeit steht der
Inhalt als absolutes Anderssein gegenüber. Der Unterschied und Gegensatz, der sich aus diesen
Prinzipien entwickelt, ist der von Kirche und Staat. Auf der einen Seite bildet sich die Kirche aus,
als das Dasein der absoluten Wahrheit; denn sie ist das Bewußtsein dieser Wahrheit und zugleich
die Wirksamkeit, daß das Subjekt ihr gemäß werde. Auf der andern Seite steht das weltliche
Bewußtsein, welches mit seinen Zwecken in der Welt steht - der Staat, vom Gemüt, der Treue,
der Subjektivität überhaupt ausgehend. Die europäische Geschichte ist die Darstellung der
Entwicklung eines jeden dieser Prinzipien für sich, in Kirche und Staat, dann des Gegensatzes
von beiden nicht nur gegeneinander, sondern in jedem derselben, da jedes selbst die Totalität
ist, und endlich der Versöhnung dieses Gegensatzes (W12.415).
Dieser vollkommen neue oder freie Geist ist so gleich wie in der PHG als ihr Endziel
herausgefunden wurde. Der absolute Geist ist nämlich sowohl das Resultat aus dem Vollzug
des Bewusstseins als auch das (für Hegel) gegenwärtige Prinzip der Geistigkeit, das in der
wirklichen Weltgeschichte entstanden ist. Also lässt sich daraus Folgendes erkennen: Die
Dialektik von Begriff des Geistes und dessen Geschichte anhand der PHG entspricht eben
der Dialektik im objektiven und absoluten Geist.
292
Der Zusammenhang der Weltgeschichte mit der Lehre vom absoluten Geist bzw. mit der
PHG lässt sich folgendermaßen tabellarisieren:
Geschichtsphilosophie:
welthistorische
Reiche
Die orientalische
Welt
Kunstphilosophie:
besondere Formen
des Kunstschönen
Die symbolische
Kunstform
Die griechische
Welt
Die klassische
Kunstform
Die römische
Welt
Die christlichgermanische Welt
Die Auflösung
der klassischen
Kunstform
Die romantische
Kunstform
Die bestimmte Religion
Religionsphilosophie
Geschichte der
Philosophie
Geschichte des
weltlichen Geistes
(im Kapitel „Geist“)
Geschichte des
religiösen Geistes
(im Kapitel
„Religion“)
Die
unmittelbare
Religion
Die Religion der geistigen Individualität
Die
Religion der
Erhabenheit
Die vollendete
Religion
Die Religion
der Schönheit
Die Religion
der
Zweckmäßigkeit
Die griechische
Philosophie
Dogmatismus,
Skeptizismus und
Neuplatonismus
Die Philosophie des
Mittelalters => die
Neuere Philosophie
-
Der wahre
Geist
(Sittlichkeit):
die sittliche
Welt und die
sittliche Handlung
Der Untergang
des sittlichen
Geistes:
der
Rechtszustand
Der sich entfremdete
Geist (Bildung) => der
seiner selbst gewisse
Geist (Moralität)
Die
natürliche Religion
Die
Kunstreligion
Die orientalische
Philosophie
293
Die
offenbare Religion
2. Die Bildungsgeschichte des Geistes und die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes
Die PHG nimmt, was auch das Hauptthema dieser Arbeit angeht, einen eigenständigen Rang
ein. Die Bemühungen um den Sittlichkeitsbegriff in der PHG qualifizieren sich nämlich dafür,
uns das Verständnis desselben zu gewährleisten. Dadurch bewähren sich PHG und die
wissenschaftliche Systematik gegenseitig, indem jede die Stellung der anderen garantiert.
Die Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes anhand der PHG kann unter dem Blickwinkel der
Bildungsgeschichte des Geistes erledigt werden. Hegels Lehre der Weltgeschichte wird
unmissverständlich in seiner Geschichtsphilosophie als der letzten Sphäre des objektiven
Geistes eingehend thematisiert, allerdings ist er auch in der PHG, zumal die Geschichtlichkeit
der Geistesbildung betreffend, zu behandeln. In dem Durchgang des Bewusstseins findet die
Zeitfolge, d. h. der Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft oder des Geistes zum
Wissen von sich statt, damit wird das absolute Wissen eruiert. Die „begriffene
Geschichte“ (W3.591) repräsentiert die Reihe der philosophischen Bemühungen darum, die
Sache selbst unter Anlehnung an das begreifende Wissen darzustellen.
In der PHG ist neben dem epistemologischen Prozess des Bewusstseins auch der wirklichpraktische Vollzug desselben thematisiert; zu diesem realen Bereich gehören die „Moralität“,
die „Sittlichkeit“ und die „Religion“, die Hegel im Rahmen des objektiven und auch des
absoluten Geistes reichhaltig behandelt. Sie bedeuten, geschichtsphilosophisch gesehen, die
Bereiche, die im weltgeschichtlichen Ablauf jedes Mal von Menschen namentlich als der
„Endzweck der Welt“, das das „wahrhafte Gute“, die „allgemeine göttliche Vernunft“ usw.
(W12.25; 53) aufgenommen werden. Diese Begriffe explizieren die Existenzweisen der Idee,
nach der in jeder Phase der Geschichte das Wollen eines Individuums (der einzelne Wille)
und das Ziel seines Gemeinwesens (der allgemeine Wille) voneinander anerkannt und
miteinander versöhnt werden. Die Formen dieser Anerkennung bzw. Versöhnung stellen
sich auch in der PHG dar, genauer erstens in dem altgriechischen Stadtstaat, zweitens in dem
neuzeitlichen moralischen Gewissen und letztens in der Christlichkeit. Durch die
Betrachtung dieser Thematik kann man zu der Einsicht kommen, dass in der PHG intensiv
und extensiv die höchste Idee der jeweiligen weltgeschichtlichen Stadien in Erwägung
gezogen wird, sodass sich die endgültige Form des neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriffes erst
in seiner Rechtsphilosophie als der sittliche Staat gestaltet.
294
Als ein Beleg dafür Hegels geschichtsbezogene Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes295
dient seine folgende Bemerkung aus einer Nachschrift seiner ersten Berliner Vorlesungen
über die Philosophie des Rechts:
In der Existenz ist die sittliche Substanz zuerst vorhanden, und erst das Zerfallen derselben führt
die unterschiedenen Momente der Moralität und des Rechts herbey [sic!]. – Sie verfällt, wenn
beide selbstständig auftreten.
Sie müssen sich freilich entwickeln, aber immer unterworfen ihrer sittlichen Einheit. […] Nachdem
das sittliche Leben des römischen Volks verloren ging, wurde das Recht gebildet, Die Männer
galten nicht mehr als [Polis-]Bürger, sondern als Personen. – Ebenso wo das Selbstbewußtsein
in der Sitte, in dem Gesetz nicht mehr seine Befriedigung fand, mußte es in sich selbst das Rechte
finden […] – Sokrates bei[m] Verfall der Athener.
In der Sittlichkeit ist die Freiheit. –
Die Gegensätze, die der moralische Standpunkt festsetzt[,] sind hier verschwunden.296
Hieraus lässt sich der folgende Verlauf der geschichtlichen Entwicklung vom hegelschen
Sittlichkeitsbegriff entnehmen: 1) „die sittliche Substanz“, 2) „das Zerfallen derselben“ und
3) die „Sittlichkeit“ als „Freiheit“ durch die Wiedervereinigung von entgegengesetzten
Momenten. Die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes handelt davon, wie sich die Sittlichkeit
der Polis, die auf der Gewohnheit (als Sitte) beruht, durch die Sittlichkeit des moralischen
Subjekts (als Gewissen) hindurch als der erneuerte Begriff der Sittlichkeit (im sittlichen
Staat) gestaltet. Diese Skizze hat ihren Ursprung in dem logischen Schluss des Willens,
mutatis mutandis: 1) die „Allgemeinheit“ als abstrakter Begriff, 2) das „besondere“ Dasein
gegen die Allgemeinheit und 3) die „Einzelheit“ als die zur Allgemeinheit zurückgekehrte
Besonderheit oder als die Einheit des Begriffs und dessen Daseins.297 Die erste Stufe, auf
der die Sittlichkeit in ihrer unmittelbaren Einheit des Volkes mit seiner Substanz steht, ist
gleichbedeutend mit der „Sittlichkeit“ in der PHG, also dem frühen Sittlichkeitsbegriff in der
griechischen Welt. Seit der Auflösung der Polissittlichkeit tritt der römische Rechtszustand
statt des griechischen sittlichen Lebens auf. Dieser Tatbestand impliziert, dass sich nunmehr
eine unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Gebieten, d. h. zwischen der Recht und der
Moral, ergibt. Deren Ü berwindung führt zur Wiederherstellung der sittlichen Einheit;
295
Dieser Gedanke beruht auf dem Aufsatz von Amengual (2002).
Naturrecht und Staatswissenschaft. Vorlesungen 1818/19. Nach der Nachschrift Carl Gustav Homeyers, in:
Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 1, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart 1973, S. 290 f.
297
Auch in seiner Philosophie des objektiven Geistes wendet Hegel diese Struktur z. B. auf die Bewegung des
Begriffes „Wille“ an. W7, S. 29-91, bes. S. 49-57.
295
296
hiermit soll die antike Sittlichkeit erneut umgebaut werden. Dies ist die Aufgabe der Neuzeit.
Hingegen kann man an keiner Stelle in der antiken Welt kann einen solchen
Vereinigungsprozess, weil der besondere Wille eines Polisbürgers ursprünglich von dem
Prinzip seiner Gemeinwesens ungetrennt und untrennbar ist, oder – mit Hegels
Formulierungen – weil „das sittliche Volk in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz
lebt“ (W3.513). Die neu begründete Sittlichkeit besteht nach Hegel in der Ü berzeugung, dass
„mein Wille als dem Begriff gemäß gesetzt sei“ (W7.293); diese Einheit des Begriffes des
Willens und dessen Daseins bedingt die wahrhafte Verwirklichung des Freiheitsbegriffes.
Die Frage stellt sich nun, ob diese Bestimmung der neuzeitlichen Sittlichkeit gerade der
Darstellung in der PHG entspricht. Es ist zunächst nötig, den obigen geschichtlichen
Entwicklungsgang des Sittlichkeitsbegriffes und den Entwicklungsgang des Geistes in der
PHG (genauer im „Geist“ und in der „Religion“) zueinander in Beziehung zu bringen.
In seinem enzyklopädischen System wendet Hegel grundsätzlich die Struktur der obigen
Logik auf das Thema an. Deswegen besteht auch der ganze Verlauf seiner praktischen
Philosophie in dem logischen Schluss des Willens (die Allgemeinheit als abstrakter Begriff
=> das besondere Dasein als der von der Allgemeinheit entzweite Zustand => die
vollständige, d. h. wahrhaft konkrete Verwirklichung des Begriffes). Man kann auch in der
Geschichte des Sittlichkeitsbegriffs die obige Struktur herauslesen kann: die sittliche
Substanz als abstrakte Allgemeinheit => 2) das Zerfallen derselben => 3) die sittliche
Freiheit durch die Wiedervereinigung von entgegengesetzten Momenten.
Daraus lässt sich feststellen, dass der Umfang des Sittlichkeitsbegriffes anhand der PHG
nicht bloß auf die altgriechische Sittlichkeit beschränkt werden soll. Der Ablauf im Kapitel
„Geist“ („Sittlichkeit“ => „Bildung“ => „Moralität“) besteht aus drei folgenden
Gestaltungen: der „wahre Geist“, der mit seinem einfachen Zutrauen zur Substanz zufrieden
ist, => der „sich entfremdete Geist“, der sich von seiner Substanz entfernt, => der „seiner
selbst gewisse Geist“, der vom moralischen Gewissen des Subjekts überzeugt ist. Diese
Reihenfolge entspricht der Bildungsgeschichte des WELTLICHEN GEISTES; dieser Gang
erstreckt sich zuerst von der altgriechischen Welt, dann über die römische und
mittelalterliche Welt, anschließend durch die Aufklärung bzw. die bürgerliche Revolution
und schließlich zur klassischen Philosophie in Deutschland. In dieser Abfolge werden die
Beschäftigungen
sowohl
mit
der
erkenntnistheoretischen
als
auch
mit
der
praktischphilosophischen Geschichte miteinander vereinigt integriert. Aber der Umfang des
Weltgeistes wird nicht nur auf den WELTLICHEN GEIST beschränkt; die Geschichte der
296
Geistesbildung deckt auch den RELIGIÖ SEN GEIST ab. Die Gestaltungen des Geistes bestehen
also
insgesamt
aus
folgender
logischen
Struktur
des
geistesgeschichtlichen
Entwicklungsgangs: Sittlichkeit => Bildung => Moralität => Religion.
Der Übergang des Kapitels „Geist“ zum Kapitel „Religion“ bedeutet gleichwohl überhaupt
nicht einen eindimensionale Entwicklungsgang des Weltgeistes, sondern eine Emporhebung
der geschichtlichen Ebene; mit der Religion ist die umfangreichere Betrachtung der
Geistesbildung erreicht. Ü berdies ermöglicht das absolute Wissen es, die Geschichte des
RELIGIÖ SEN GEISTES und die Geschichte des WELTLICHEN GEISTES zu einem größeren
Ganzen zusammenzuschließen. Mithilfe von diesem Entwicklungsgang lässt sich der
gesamte Aufbau der geistigen Bildungsgeschichte in der PHG wie folgt ausdrücken: Ihre
erste Periode ist die vergangene, aber bedeutsame Existenz der altgriechischen Sittlichkeit,
d. h. die erste (aber vergängliche) Gestalt der Versöhnung zwischen dem WELTLICHEN
GEIST
und dem RELIGIÖ SEN GEIST. Indem es um den römischen „Rechtszustand“ als die
zweite Periode geht, wird der Untergang der antiken Sittlichkeit behandelt. In der dritten
Periode wird anhand des zweiten Abschnitts im Kapitel „Geist“, also der „Bildung“, eine
Reihe von Versuchen dargestellt, um den entfremdeten Zustand des Geistes zu überwinden;
anschließend werden Bemühungen des Geistes, sich die subjektive Freiheit anzueignen,
hauptsächlich mit der Betrachtung des letzten Abschnitts in diesem Kapitel, also der
„Moralität“, erläutert. Der Schlusspunkt des moralischen Geistes wird als die zweite Gestalt
der Versöhnung erklärt, in der aber schon die Ebene der Religion impliziert ist. Dieser
Durchgang schließt sich letztendlich mit der Religion als der vierten Periode ab; hier kann
man vornehmlich mit der Christlichkeit als dem dritten Modell der Versöhnung ins Auge
fassen.
Die Gesamtheit der denkgeschichtlichen Entwicklungsperioden kann man also sowohl in
der PHG als auch in der Enzyklopädie finden. Die Geschichte des Weltgeistes und die
Geschichte des absoluten Geistes entsprechen dem Werdegang zum Wissen des Weltgeistes
von sich anhand der PHG. Diese geistesgeschichtliche Untersuchung des weitsinnigen
Sittlichkeitsbegriffes ist vorteilhaft für die Untersuchung der praktischen Philosophie Hegels.
Dieser Punkt lässt sich folgendermaßen tabellarisieren:
297
Der
Die Dialektik der
Geistesbildung
Die Substanz
Der Verlust
der Substanz
Die Subjektivität
subjektivsubstanzielle
Geist
Geschichtsphilosophie
Die orientalische
Welt => Die
griechische Welt
Die
römische Welt
Die christlich-germanische Welt
Kunstphilosophie
Die symbolische
Kunstform => Die
klassische Kunstform
(Individualität)
Die
Auflösung der
klassischen
Kunstform
Die romantische Kunstform
(Die innere Subjektivität)
Geschichte des
weltlichen Geistes
(im Kapitel „Geist“)
Geschichte des
religiösen Geistes
(im Kapitel
„Religion“)
Der Geist in seiner
einfachen Wahrheit:
das unmittelbare
Vertrauen zur
sittlichen Substanz
Die Kunstreligion
als die absolute
Kunst
Der
Untergang
des sittlichen
Geistes
Die SelbstEntfremdung des
Geistes: die Bildung:
der Prozess der
Befreiung von der
Entfremdung => die
Selbst-Gewissheit des
Geistes: die Moralität
Der Tod der
griechischen
Götter
Der Kampf der
Aufklärung mit dem
Aberglauben =>
Vernunft-Glauben als
die Religion der
Moralität:
-
Die offenbare
Religion als die
absolute
Religion
Hier zeigt sich klar, dass es den Gegenstandsbereich der Rechtsphilosophie, nämlich die
neuzeitliche Sittlichkeit, in der PHG noch nicht gibt, weil die vollendete oder
wiederhergestellte Sittlichkeit, die die Freiheit des menschlichen Geistes in der Neuzeit
darstellt, nicht hier behandelt worden ist; wie bereits erwähnt, wird die konkrete
Bestimmung der sittlichen Freiheit bzw. neuzeitlichen Sittlichkeit, also der sittliche Staat, in
der PHG noch nicht erreicht und dargestellt. Aber hier kann man die Ausführungen der zwei
geistigen Grundlagen für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff, insbesondere für die sittliche
Gesinnung in der Neuzeit, also der Moral und der christlichen Religion, finden; diese zwei
Hauptmomente für die Denkgeschichte in der christlich-germanischen Welt, erlauben es uns,
Hegels Sittlichkeitsbegriff in der Neuzeit noch umfänglicher zu verstehen.
298
SCHLUSSBETRACHTUNG
Um Hegels Sittlichkeitsbegriff in der PHG vollständig zu analysieren, ist es unabdingbar,
dass man seine Darstellung des erscheinenden Wissens gedanklich mit dem
enzyklopädischen System verknüpft; die Untersuchung des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG
trägt nämlich zu dem inhaltlichen Zusammenschluss der PHG mit dem enzyklopädischen
System bei. Das Hauptthema in dieser Arbeit gibt uns außerdem die Einsicht in das
gegenseitige Verhältnis zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist. In der PHG wird
der Ü bergang der antiken Sittlichkeit durch die Moralität zur Religion dargestellt; die
„Moralität“, der letzte Abschnitt im Kapitel „Geist“, geht nämlich direkt zum Kapitel
„Religion“ über; in der Enzyklopädie kann man zunächst den Ü bergang der Moralität zur
Sittlichkeit (im Rahmen des objektiven Geistes) und dann den Ü bergang der Sittlichkeit zur
Religion (die zum absoluten Geist gehört) finden. Es gibt folglich zwei Wege zur
Ü berwindung der Moral: erstens den Ü bergang zur Religion (in der PHG), zweitens zur
Sittlichkeit (in dem enzyklopädischen System). Wenn man den Bildungsprozess des
Bewusstseins mit der „Philosophie des Geistes“ aus dem enzyklopädischen System
vergleicht, kann man eine analoge Gedankenlinie erblicken; in beiden gibt es eine
gemeinschaftliche Darstellungsstruktur: den Ü bergang der Moralität zur Religion. Die
Schranke der Moral wird in der Enzyklopädie durch die Sittlichkeit überwunden, aber
sowohl in der Enzyklopädie als auch in der PHG endgültig durch die Religion. Der
Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion impliziert, was den Sittlichkeitsbegriff
angeht, den inhaltlichen Zusammenschluss der PHG mit dem enzyklopädischen System.
Hegels phänomenologische Darstellung diesbezüglich ist wesentlich auf seinen Gedanken
der Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie anwendbar, die von dem Begriff der
verwirklichten Freiheit auf der neuzeitlichen Ebene handelt. Die Untersuchung der
denkgeschichtlichen Grundlage für den Sittlichkeitsbegriff in der PHG führt dazu, dass wir
den engen Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion eruieren können, und zwar
zur endgültigen Versöhnung zwischen dem WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ bis
zum „Geist“) und dem RELIGIÖ SEN GEIST (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren
Religion), die Hegels These der Harmonie zwischen dem Staat und der Religion in seiner
Enzyklopädie vorwegnimmt.
Es ist zwar historisch offenbar, dass das Christentum nicht in der Neuzeit, sondern schon
in der Römischen Kaiserzeit in die Welt eingetreten ist; die christliche Religion umspannt
299
nämlich die (zweitausend Jahre lange) abendländische Geschichte, die aus der römischen
Welt folgt, also nicht bloß die Neuzeit, die sich zuerst von der Renaissance und Reformation,
dann über die Aufklärung, anschließend durch die Französische Revolution erstreckt. Hegels
Darstellung der christlichen Religion in der PHG sollte man gleichwohl nicht einfach als eine
bloße geschichtliche Ausführung des Christentums auffassen; denn seine Betrachtung der
Christlichkeit beruht auf dem Prinzip des neuzeitlichen Gedankens, das bei Hegel schon über
die Ebene der Reformatoren und seiner Vorgänger des philosophischen Gedankens hinaus
gegangen ist. Hegels Interpretation der Christlichkeit folgt aus der neuzeitlichen
Denkgeschichte (von der Reformation bis zur deutschen klassischen Neuzeit); in seiner
Darstellung ist das Resultat der vorherigen Gedanken schon miteinbezogen, obgleich Hegel
sich nicht explizit in der PHG mit der neuzeitlichen Glaubenserneuerung auseinandersetzt.
Dieser Punkt gilt auch für Hegels Religionsphilosophie. Er behandelt die lutherische
Reformation
nicht
hier,
sondern
in
seiner
Geschichtsphilosophie;
in
der
Religionsphilosophie spiegelt sich sein Gedanke zur neuzeitlichen Christlichkeit implizit
wider, weil seine religionsphilosophische Einsicht selbst aus seiner philosophischen
Ü berlegung des auf der neuzeitlichen Ebene zu erneuernden christlichen Prinzips resultiert.
Hegels Lehre der christlichen Religion in der PHG ist als seine philosophische Betrachtung
über den gedanklichen Inhalt des Christentums zu denken; seine phänomenologische
Darstellung der Christlichkeit setzt die ursprüngliche Lehre derselben Christlichkeit voraus,
aber enthält mehr als etwa die Lehre der lutherischen Konfession, weil Hegels Betrachtung
der Religion auf dem neuen Geist (W3.19) beruht, der beispielsweise das von Luther betonte
Wissen vom „Wort Gottes“ zwar voraussetzt, aber grundsätzlich reformiert hat; der neue
Geist in der PHG beruht also auf der neuzeitlichen Freiheit, die zuletzt die Unterwerfung
unter die Autorität der Bibel in ein Selbstverhältnis der Vernunft verwandeln musste.
Hegel verwendet das „Prinzip des Protestantismus“ im Rahmen der praktischen
Philosophie, um mit dieser Bezeichnung den Zusammenhang der philosophisch überprüften,
also „im Begriffe“ erfassten (W7.27), Christlichkeit mit der Sittlichkeit zu verdeutlichen. In
Hegels Darstellung der neuzeitlichen Welt geht das weltgeschichtliche Prinzip von der
Christlichkeit aus. Indem dieses Prinzip im engen Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff
behandelt wird, findet man die wahre Versöhnung zwischen dem Weltlichen und dem
Religiösen. Diese grundsätzliche Harmonie ergibt sich für Hegel aus dem spekulativen
Wissen des absoluten Geistes, das auf der spekulativen Durchdringung des christlichen
Glaubens beruht; der Protestantismus macht nämlich den endgültigen Wendepunkt in der
Weltgeschichte aus.
300
Hiermit ist das neue, das letzte Panier aufgetan, um welches die Völker sich sammeln, die Fahne
des freien Geistes, der bei sich selbst, und zwar in der Wahrheit ist und nur in ihr bei sich selbst
ist. Dies ist die Fahne, unter der wir dienen und die wir tragen. Die Zeit von da bis zu uns hat kein
anderes Werk zu tun gehabt und zu tun, als dieses Prinzip in die Welt hineinzubilden, indem die
Versöhnung an sich und die Wahrheit auch objektiv wird (W12.496).
Der Protestantismus, der aus der Reformation in der Neuzeit erfolgte, ist der Grund dafür,
warum man das Christentum als die absolute Religion betrachten kann. Aber „das
protestantische Prinzip“ (W12.517) wird von Hegel nicht einfach als die Lehre der aus der
geschichtlichen Reformation entstandenen Konfessionen konzipiert; mit diesem Prinzip
meint er nämlich nicht bloß z. B. das lutherische Bekenntnis des christlichen Glaubens.
Hegels Begriff des Protestantismus besteht darin, „nichts in der Gesinnung anerkennen zu
wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“ (W7.27); deswegen fungiert es
nicht bloß als Glauben, sondern auch als „der weiterhin gereifte Geist“ (W7.27). Dieser mit
dem neuzeitlichen Kerngedanken eng verwobene Begriff bildet das Prinzip des objektiven
Geistes, mit dem man der philosophischen Auslegung zufolge die geschichtliche Entfaltung
des freien Geistes begreifen kann. In der christlich-germanischen Welt sieht Hegel zwar den
neuen Geist, aber der Protestantismus ist ihm zufolge die erste Gestalt des neuzeitlichen
Geistes, der meines Wissens dem gesamten neuen Geist im Rahmen der PHG entspricht. Den
Protestantismus, der das religiöse Gewissen in der frühen Neuzeit impliziert, verwandelt
Hegel nämlich in eine geistige Grundlage für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff, genauer
für das subjektive Sittliche.
Der Kerngedanke des Christentums, der von Hegel durch die Trinität oder Dreieinigkeit
Gottes gekennzeichnet wird, bildet dementsprechend „die Angel, um welche sich die
Weltgeschichte dreht“ (W12.386); die christliche Religion impliziert für Hegel nämlich das
epochale Prinzip in der Weltgeschichte. In der offenbaren Religion wird die protestantische
Glaubenserneuerung, nach der die Christlichkeit im Umfeld des neuzeitlichen Gedankens
erneuert wird, zwar nicht explizit dargelegt; aber der christliche Geist in der PHG impliziert
den gedanklichen Inhalt der Christlichkeit, der sich aus der philosophischen Betrachtung der
Religion ergibt.
Aus den ganzen bisherigen Darstellungen lässt sich die enge Verschränkung von
Sittlichkeit und Religion anhand der hegelschen Philosophie hervorheben; wie die
301
Sittlichkeit eine aufgehobene Gestalt des moralischen Geistes ist, so macht die Religion die
Substanz der Sittlichkeit, die für die subjektive Gesinnung als die Idee der Freiheit gilt, aus.
Die griechische Kunstreligion ist die Religion der sittlichen Freiheit im antiken Rahmen. Die
religiöse Ahnung des Todes der griechischen Götter ist aber mit dem Untergang der antiken
Sittlichkeit eng verwoben. Die Aufklärung fokussiert im Ganzen den Kampf gegen den
Aberglauben und in der deutschen klassischen Neuzeit wird die auf der Moralität basierende
Religion (d. h. der Vernunftglaube im Rahmen der kantischen Philosophie) im Konzept
entworfen. Die Geschichte der Sittlichkeit entspricht nämlich der Geschichte der Religion
und „die Frage nach der Religion ist zugleich die Frage nach der Sittlichkeit“298. Man kann
die denkerische Verschränkung von Religion und Sittlichkeit besonders vom Standpunkt der
(auf der neuzeitlichen Ebene überprüften) Christlichkeit aus erkennen. Die offenbare
Religion wird in der PHG als die zugespitzte Gestalt der Religion dargestellt, in der der Geist
als Gott durch den Geist als die Gemeinde für den Geist als den Menschen offenbar ist.
Indem der RELIGIÖ SE GEIST christlich gestaltet wird, kann auch die „vollständige
Weltlichkeit des Bewußtseins“ (W3.38) als ihre höchste Gestalt kenntlich gemacht werden,
sodass das Bewusstsein die letzte Wahrheit erringen kann.
Der Geist der christlichen Religion ist somit das endgültige Prinzip des neuzeitlichen
Weltgeistes und das Christentum begründet „den letzten Horizont des Abendlandes und der
Neuzeit“. 299 In seiner Geschichtsphilosophie konstatiert Hegel, dass das grundsätzliche
Prinzip der Weltgeschichte geradezu „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (W12.32)
ist. Das Prinzip im christlichen Abendland besagt, dass der Mensch als solcher schlechthin
frei ist. Das christliche Prinzip, das von Hegel mit dem Selbstbewusstsein der Freiheit
bezeichnet wird, ergibt sich aus der langfristigen Arbeit des Geistes, um sein Wesen, d. h.
die Freiheit, zu erreichen und zu realisieren.
Dies Bewußtsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen;
aber dieses Prinzip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe,
welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung erfordert […]. Diese
Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen
Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht
(W12.31 f.).
298
299
Pöggeler (1973), S. 381.
Metz u. Ruhstorfer (Hg.) (2008), Einleitung: Philosophische Perspektive (W. Metz), S. 15.
302
Die Bestimmung zur Freiheit wird Schritt für Schritt in die Welt hineingebildet und dieser
Prozess selbst macht die neuzeitliche Weltgeschichte aus. Man kann somit die Sittlichkeit
des neuzeitlichen Staats nicht erläutern, ohne den Zusammenhang desselben mit der
neuzeitlichen Christlichkeit zu erwähnen. 300 Daraus lässt sich erkennen, „das christliche
Prinzip manifestiert sich bei Hegel in der Sittlichkeit, im Staate“.301
Der mittelalterliche Glaube beruhte auf der Trennung des Heiligen vom Weltlichen. Der
von Hegel gedachte Protestantismus hat die Heiligkeit in die Sittlichkeit verwandelt; diese
hat gerade zu ihrer Bestimmung, das christliche Prinzip der Freiheit in die Welt einzubilden.
In der Neuzeit findet Hegel dementsprechend die Versöhnung zwischen der Heiligkeit und
der Weltlichkeit – und diese Versöhnung ist die Sittlichkeit – direkt in unserem Leben: in
der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Während die Lehre der
katholischen Kirche als die drei heiligen Gelübde, also das der Keuschheit (oder der
Ehelosigkeit), das der Armut (oder der Arbeitslosigkeit) und das des blinden Gehorsams
gegen die göttlichen Gebote und die kirchlichen Autoritäten, charakterisiert wird, sind im
Protestantismus die Ehe, die Arbeit und der freie Gehorsam gegen das Staatsgesetz an ihre
Stelle getreten (W10.356 ff.; W12.502 ff.). Mit der Priester-Ehe geht die Abschaffung der
Hierarchie zwischen Klerikern und Laien einher, die Berufstätigkeit gewährleistet der
Privatperson konkret das Recht der subjektiven Freiheit und die politische Gesinnung des
Staatsbürgers ist für den wesentlichen Zweck des Staats unentbehrlich. Die Schranke der
katholischen Kirche liegt grundsätzlich darin, dass sie anders als die protestantische
Konfession das autonome Prinzip der Sittlichkeit im Staat nicht zulassen wollte; darüber
schreibt Hegel Folgendes: „Die katholische Konfession, obgleich mit der protestantischen
gemeinschaftlich innerhalb der christlichen Religion, läßt die innere Gerechtigkeit und
Sittlichkeit des Staates nicht zu, die in der Innigkeit des protestantischen Prinzips
liegt“ (W12.71 f.).
Nach der wahren Ansicht des Christentums geraten hingegen die religiöse Gesinnung und
das weltliche Interesse auf keinen Fall in einen Zwiespalt.
Denn die christliche Sittlichkeit setzt die herausgestaltete Gegenwart des Menschlichen voraus,
in welcher der Wille […] zu bestimmtem Inhalt und dessen verwirklichten Verhältnissen der
300
Pannenberg (1974) versucht diesen Punkt zu demonstrieren, indem er die offenbare Religion mit dem
unglücklichen Bewusstsein und der Aufklärung in der PHG kontrastiert.
301
Metz (2008), S. 177 f.
303
Freiheit […] gekommen ist. Dies sind die Verhältnisse der Eltern und Kinder, der Ehegatten, der
Bürger der Stadt, des Staats in seiner realisierten Freiheit (W14.173 f.).
Auf die Frage, warum die christliche Religion die Religion der Freiheit ist, kann man so
antworten: In der Lehre des Christentums wird die Einheit von Mensch und Gott, d. h. die
Beziehung des absoluten Geistes auf sich selbst gefunden. Aus dem protestantischen Prinzip
lässt sich aber erkennen, dass die Christlichkeit und die Freiheit in unserem Leben
miteinander konkret versöhnt sind. Der in dem protestantischen Prinzip fundierte Staat darf
gleichwohl gar nicht mit einem protestantischen Staat verwechselt werden. In dem konkreten
Staatsleben fungiert der Protestantismus nicht als eine Lehre der wirklichen Staatsreligion,
sondern als die substanzielle Grundlage für die staatliche Gesinnung. Wenn der Staatsbürger
zur Anerkennung einer bestimmten Konfession gezwungen wäre, würde seine
Gewissensfreiheit nicht garantiert. Aus diesem Grunde fordert Hegel die religiöse Toleranz;
sein Gedanke der prinzipiellen Priorität des Protestantismus steht nicht im Widerspruch zur
Religionsfreiheit. Das protestantische Prinzip trägt als das Prinzip der sittlichen Freiheit
(nicht einfach als die religiöse Lehre) zum Komplementärverhältnis von Staat und Religion
bei, sodass der Staatsbürger sich zu staatlichen Angelegenheiten affirmativ verhalten kann.
Eine Stelle aus Hegels Aphorismen in seiner Jenaer Zeit vermag seinen Gedanken der
wirklichen Versöhnung des menschlichen Lebens mit dem religiösen Bedürfnis zu
verdeutlichen. Sie lautet:
Das Zeitungslesen des Morgens früh ist eine Art von realistischem Morgensegen (W2.547).
Der Gehalt des neuzeitlichen Freiheitsbegriffes ist mit der Christlichkeit eng verwoben;
die christliche Religion ist sowohl der Ursprung der neuzeitlichen Subjektivität als auch die
substanzielle Grundlage für die neuzeitliche Befreiung. Mit der neuzeitlichen Christlichkeit
kann die Tragik des Untergangs der antiken Sittlichkeit endgültig überwunden werden;
dadurch wird dem Menschen eine vollkommene Verwirklichung des Freiheitsbegriffes
eröffnet, der sich aus der philosophischen Betrachtung über die Moral und die Religion
ergibt. Auch bei diesen beiden geht es um die substanzielle Grundlage für die wahre
Befreiung des Menschen. Die von Hegel konzeptualisierten Aufgaben der Philosophie, wie
das gedankliche „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ (W7.24), treffen nicht bloß
für seine Rechtsphilosophie, sondern auch für seine Religionsphilosophie zu, wenn wir den
304
inneren Zusammenhang von Sittlichkeit und Religion zusammen mit Ü berlegungen zum
Sittlichkeitsbegriff in der PHG begreifen. Wie die Freiheit in der neuzeitlichen Sittlichkeit
dem christlichen Prinzip entspricht, so kommt man zur Einsicht in die gegenseitige Garantie
von Staat und Christlichkeit. Die wirkliche Vernunft oder die vernünftige Wirklichkeit, die
von Hegel als die „Rose im Kreuz der Gegenwart“ (W7.26) veranschaulicht wird, ist auch
der Gehalt der christlichen Religion, weil diese Religion nichts anderes als die Religion der
sittlichen Freiheit ist.
305
LITERATURVERZEICHNIS
1. Hegels Werke
1.1 Gesamtausgaben
1.1.1 Werke in zwanzig Bänden (Auf der Grundlage der Werke, hg. v. einem Verein von Freunden
des Verewigten, Berlin 1832-45), hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969-71
(Sgl.: W).
- Bd. 1: Jugendschriften.
- Bd. 2: Jenaer kritische Schriften.
- Bd. 3: Phänomenologie des Geistes (Sgl.: PHG).
- Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften.
- Bd. 5: Wissenschaft der Logik I.
- Bd. 6: Wissenschaft der Logik II.
- Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im
Grundrisse (Sgl.: Grundlinien oder Rechtsphilosophie).
- Bd. 8-10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse I-III (Sgl.:
Enzyklopädie).
- Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Sgl.: Geschichtsphilosophie).
- Bd. 13-15: Vorlesungen über die Ä sthetik I-III.
- Bd. 18-20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I-III.
1.1.2 Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen (1968-95: Rheinisch-Westfälischen)
Akademie der Wissenschaften, Hamburg (Sgl.: GW).
- Bd. 1: Frühe Schriften I, hg. v. F. Nicolin u. G. Schüler, 1989.
- Bd. 5: Schriften und Entwürfe (1799 - 1808), hg. v. M. Baum u. a., 1998.
306
- Bd. 6: Jenaer Systementwürfe I, hg. v. K. Düsing u. H. Kimmerle, 1975.
- Bd. 8: Jenaer Systementwürfe III, hg. v. R.-P. Horstmann, 1976.
- Bd. 9: Phänomenologie des Geistes, hg. v. W. Bonsiepen u. R. Heede, 1980.
- Bd. 13: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817),
hg. v. W. Bonsiepen u. K. Grotsch, 2000 (Sgl.: Heidelberger Enzyklopädie).
- Bd. 19: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827),
hg. v. W. Bonsiepen u. H.-Ch. Lucas, 1989.
1.1.3 Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg (Sgl.:
Religionsphilosophie).
- Bd. 3: Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 1, hg. v. W. Jaeschke, 1983 (Sgl.: V3).
- Bd. 4a: Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 2. Text, hg. v. W. Jaeschke, 1985
(Sgl.: V4a).
- Bd. 5: Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 3, hg. v. W. Jaeschke, 1984(Sgl.: V5).
1.1. 4 G. W. F. Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 1-4, hg. v. K.-H. Ilting,
Stuttgart 1973-.
1.2 Briefe
Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, 1952-1954.
2. Sonstige Literaturen
2.1 Periodika
Hegel-Jahrbuch, hg. v. W. R. Weyer, K. Kimmerle u. W. Lefèvre (bis 1992) bzw. A. Arndt, K. Bal
u. H. Ottmann (1993/94 ff.).
Hegel-Studien, hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler (Bd. 1-35) bzw. W. Jaeschke u. L. Siep (Bd. 36ff.).
307
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Hegels enzyklopädisches System der Philosophie. Von der Wissenschaft der Logik zur Philosoophie
des absoluten Geistes, hg. v. H-Chr. Lucas, B. Tuschling u. V. Uhlrich, Stuttgart.
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