Die Haltungen der Religionen zu Gentechnologie, Sterbehilfe und

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Die Haltungen der Religionen zu
Gentechnologie, Sterbehilfe und
Organtransplantationen
Prof. Dr. M. Saim Yeprem
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich werde die Themen unseres Podiums im Zusammenhang mit ihrer
Bedeutung in der islamischen Kultur, vor allem aber als Mitglied des
höchsten
Beratungsgremiums
des
Präsidiums
für
religiöse
Angelegenheiten, des Hohen Rates für Religionsfragen, im Hinblick auf
dessen Position zur Praxis aufgreifen.
Wie betrachtet der Islam Technologie im Allgemeinen und wie die
Gentechnologie als eine abstrakte wissenschaftliche Forschung? Wie
bewertet er das Thema im Hinblick auf die praktische Anwendung? Ich
werde versuchen, diese Fragen zu beantworten.
Zunächst muss man feststellen, dass wissenschaftliche Forschung, sei sie
am Menschen, am Tier oder an Pflanzen von der islamischen Religion
ohne Ausnahme als Erkenntnisfortschritt positiv bewertet wird. Wir kön-
nen sagen, dass der Koran die positive Wissenschaft, wenn wir sie als
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Die Haltungen der Religionen zu Gentechnologie, Sterbehilfe und
Organtransplantationen
Erklärungsversuche, wie Ereignisse zustande kommen, auffassen,
ermutigt, ja sogar befiehlt. In vielen Koranversen wird gefordert, zu untersuchen wie die Schöpfung verlaufen ist und wie sie praktisch hervorgebracht wurde.
„Wie! wollen sie nicht die Wolken betrachten, wie sie erschaffen sind,
Und den Himmel, wie er erhöht ist,
Und die Berge, wie sie aufgerichtet sind,“ 1
In diesem, wie in vielen anderen Versen auch, weist uns der Koran an, zu
erforschen wie das Universum erschaffen wurde, und wie wir alle wissen
ist der Weg zu dieser Forschung die positive Wissenschaft. Unter diesem
Gesichtspunkt ist jede Form wissenschaftlicher Arbeit und Forschung, die
auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie zielt, ein vom
Koran unterstütztes Unterfangen.
In einem der vorangegangenen Beiträge war von der Atombombe die
Rede, die auf Hiroschima geworfen wurde. Zu den vom Islam geforderten
Forschungen gehören auch solche wie die Atombombe. Der Islam fordert
auch Untersuchungen zu wissenschaftlichen Entwicklungen, die dem
Menschen Schaden zufügen. Denn ohne die Erforschung von Natur und
Mechanismen negativer wissenschaftlicher Entwicklungen zum Schaden
der Menschen können keine präventiven Maßnahmen getroffen werden.
Diesen Leitgedanken hat der große islamische Denker Ghazali folgendermaßen ausgedrückt: „Ich habe das Übel nicht um des Übels willen gelehrt,
sondern um vor ihm zu bewahren.“
Die Gefahr, dass die Gentechnologie zur Vernichtung von Menschen
eingesetzt wird, kann man erst erkennen, nachdem die Forschungen
abgeschlossen sind; wenn ein solcher Fall eintritt, lassen sich die erforder1
Ğâşiye 88/17-19
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lichen Gegenmaßnahmen nur dank dieser Forschung bestimmen. Das
Gegenstück zu dieser Logik im Koran ist folgendes:
„Seid bereit, eine ebensogroße Macht aufzubieten wie sie“ 2
Man kann dies als Aufforderung ausdrücken, ein Gleichgewicht von
Aktion und Reaktion zu wahren. Wir können darum sagen, dass der Islam
angefangen mit der Gentechnologie jede technologische Forschung,
Entdeckung, Untersuchung sowie jede auf die Feststellung von Vor- und
Nachteilen gerichtete Vorarbeit unterstützt.
Was uns interessiert, sind die Anwendungsgebiete der auf diese Weise
gewonnenen Erkenntnisse. Es ist ausgeschlossen, dass der Islam
Anwendungen und Aktivitäten zustimmt, die den Menschen in die
Katastrophe führen, seine Natur vernichten, sein Gleichgewicht zerstören
und jede Art von unvorhersehbaren Schaden hervorbringen.
Nach dieser allgemeinen Aussage möchte ich etwas mehr ins Detail gehen.
Wenn, insbesondere bezogen auf die Gentechnologie und ihren Einsatz bei
Pflanzen, Tieren sowie Grundstoffen menschlicher Ernährung, d.h.
zusammengefasst, modifizierten Lebensmitteln’, eine das natürliche
Gleichgewicht störende oder der menschlichen Gesundheit Schaden zufügende Anwendung erfolgt, kann dies nicht als frei und in religiöser Sicht
als zulässig angesehen werden.
Bevor wir auf die Anwendung der Gentechnologie beim Menschen einge-
hen, bedarf es einer Definition des Menschen. Gerade hat Frau Baranzke
die Grundlagen der katholischen Lehre erläutert. Weil wir zum großen Teil
zustimmen, ja parallel denken, möchte ich es an dieser Stelle nicht
nochmals wiederholen. Der bereits zuvor dargestellten historischen
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Enfâl, 8/60
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Erklärung zufolge sieht die traditionelle islamische Lehre den Menschen
als solchen an, nachdem er eine Weile im Mutterbauch verweilt hat. Heute
sind wir an einem Punkt, wo diese Erklärung nur noch historischen Wert
trägt. Heute wird bei der Definition des Menschen ein neues Kriterium
angelegt:
Heute sehen wir die Befruchtung der Eizelle als Ausgangspunkt der
Entwicklung eines individuellen Menschen an und betrachten als Ende
seiner Existenz als menschliches Wesen den Hirntod. Der Mensch muss
vom Zeitpunkt der Befruchtung bis zum Moment seines Hirntods einfach
aufgrund seines Mensch-seins und keiner weiteren besonderen
Eigenschaft wegen als würdige und schutzwürdige Existenz betrachtet
werden. Wie wir bereits zuvor von einem anderen Redner gehört haben,
ist der Mensch als Nachfolger Allahs auf Erden erschaffen worden:
„Der Herr sprach zu den Engeln: ‚Ich habe erklärt, dass ich einen
Statthalter auf Erden erschaffen werde’“ 3
Im Gedankensystem des Islams in der Tradition Ghazalis werden die
Eigenschaften Allahs von den bei den Menschen vorkommenden abgelei-
tet. Wenn wir uns dies als Widerspiegelung vorstellen, können wir sagen,
dass all unsere Eigenschaften in gleichen Worten als Eigenschaften Allahs
ausgedrückt werden bzw. dass alle Eigenschaften Allahs auch bei uns
bestehen. Es ist, als ob der Mensch das Modell Allahs auf Erden sei. In die-
ser Hinsicht betrifft der Begriff der Schöpfung den Unterschied zwischen
unserem Handeln und dem Allahs. Wenn wir zunächst feststellen, was
Schöpfung eigentlich ist und was Allahs Schöpfung bedeutet, wird dies
hilfreich sein, die Frage, ob die Gentechnologie einen Eingriff in Allahs
Schöpfung darstellt oder nicht, zu kommentieren.
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Bakara 2:30
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Wir stellen fest, dass Allahs Schöpfungsakt sich in der von uns beobachteten Form vollzieht und sich in Ursache-Wirkung Beziehungen befindet.
An einem Teil dieses Ereignisses, der Ursachen-Seite, sind wir beteiligt, es
vollzieht sich durch unsere Aktivität. Doch das Ergebnis warten wir nur
beobachtend ab. Das im Labor gezüchtete Embryo wird nicht durch uns
geschaffen, sondern ist nur eine der Schöpfungsformen Allahs. Wir berei-
ten nur den Auslöser für diesen Schöpfungsakt vor. Aus diesem Grund
stimmen wir denjenigen Kreisen nicht zu, die als problematische Seite gentechnischer Anwendungen den Eingriff in Allahs Schöpfung betrachten.
Allein auf der Grundlage, ob die Ergebnisse unseres Handelns gute oder
schlechte Folgen haben, erhalten sie ihren Wert.
Wenn wir von einer menschlichen Existenz vom Zeitpunkt der
Befruchtung der Eizelle bis zum Hirntod sprechen, dann bergen bei der
künstlichen Befruchtung alle Eingriffe in Gene und Chromosomen vor der
Implantation, insbesondere zum Zeitpunkt, ab dem die Zellen ihren mul-
tipotenten Charakter gewinnen, Verfahren wie die Entnahme einer Zelle
aus dem Blastozyst für einen genetischen Test und die anschließende
Implantation von nur sieben Zellen, zukünftige Risiken. Auch wenn heute
gesagt wird, dass die Entnahme einer Zelle für den genetischen Test
keinerlei Probleme verursache, so ist es nach dem heutigen Stand der
Technik nicht möglich vorherzusagen, welche Ergebnisse die Implantation
von nur sieben Zellen in 10-20 Jahren zeigt. Wir weisen nachdrücklich dar-
auf hin, dass, auch wenn der genetische Test vor der Implantation positi-
ve Ergebnisse zeigt, dieses Risiko beachtet werden muss. Doch wenn nach
heutigem Stand gesagt wird, dass durch den Test ungefähr 5.000 genetisch
bedingte Krankheiten erkannt und die Geburt kranker Kinder verhindert
werden kann, so können wir dem nicht zustimmen, weil dies zur
Vernichtung des Embryos, der bereits seine Identität als Mensch gewonnen hat, führte.
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Wir lehnen es ab, wenn aufgrund eines Tests ein fehlerhafter Blastozyst,
der kranke Gene trägt, vernichtet wird. Auch sind wir der Auffassung,
dass nach der Implantation ein Eingriff unzulässig ist, solange nicht die
Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es ausgeschlossen ist, der Vernichtung bzw. Tötung eines
Embryos unabhängig von seinem Entwicklungsstadium nach der
Implantation durch einen Experten zuzustimmen, solange die Gesundheit
der Mutter nicht gefährdet ist.
Wir legen in diesem Zusammenhang die Definition menschlicher
Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), „Gesundheit ist ein
Zustand
vollkommenen
körperlichen,
geistigen
und
sozialen
Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und
Gebrechen“, zugrunde. Wir betrachten es als ein Recht, ein Kind zu haben,
und dass es als Krankheit anerkannt werden müsse, wenn dies nicht mög-
lich ist. Aus diesem Grund sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass aus
der Sicht des Islam die in vitro fertilisation positiv zu betrachten ist. Doch
wir sind andererseits auch zu der Einschätzung gekommen, dass der
künstlichen Befruchtung im Falle des Transfers eines Eis von jemand ande-
rem aufgrund eines Gebrechens der Mutter oder im Falle unzureichender
Sperma-produktion des Mannes dem Transfer von Spermien von jemand
anderem, nicht zugestimmt werden kann. Wir sind sogar zu dem Schluss
gekommen, dass, sollte eine solche Technologie entwickelt werden, die
Entnahme von Substanzen der verheirateten Partner, um durch Klonen
einen genetischen Schaden zu überwinden, zulässig ist. Doch muss betont
werden, dass diese Substanzen auf jeden Fall von verheirateten Paaren
gewonnen werden müssen.
Wir denken, dass bei genetischen Verfahren, wenn es für eine Krankheit
eine Therapie gibt, diese nicht zur Selektion, sondern zur Therapie zuge-
lassen werden sollten. Doch wir haben erklärt, dass wir den Gedanken
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ablehnen, mit Hilfe der Gentechnologie festzustellen, ob in Zukunft eine
Krankheit auftreten wird, und aus diesem Grund Leben zu vernichten.
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass statt auf diese Weise fest-
gestellte Embryonen zu vernichten, im Labor Versuche an Stammzellen
vorgenommen werden können, um einen wissenschaftlichen Fortschritt
zu ermöglichen.
Im Anschluss an diese Ausführungen zur Gentechnologie möchte ich nun
noch ein, zwei Sätze zur Euthanasie sagen. Euthanasie ist für den Islam
aus grundsätzlichen Prinzipien in keiner Weise und aus keinem Grund
hinnehmbar. Der Mensch hat weder über sein eigenes Leben noch über
das eines anderen ein Bestimmungsrecht. Selbst wenn von einer erbar-
mungslosen Krankheit mit endlosen Schmerzen die Rede ist, entspricht es
der Anweisung des Koran, die Hoffnung an Allah nicht aufzugeben. Wir
denken, dass es nicht möglich ist, der Euthanasie zuzustimmen. Jedoch
können unterschiedliche Verfahren angewandt werden, um die
Schmerzen zu lindern.
Die Antwort des Hohen Rates für Religionsfragen zur Organtransplanta-
tion ist folgende:
Die Entnahme von Organen von Toten, wenn er dem zu Lebzeiten zugestimmt hat, sowie die Entnahme von Organen eines Lebenden mit seiner
Zustimmung ist unter der Bedingung, dass ihm kein Schaden zugefügt
wird und dass keine kommerziellen Interessen verfolgt werden, möglich,
zulässig und in manchen Fällen sogar erforderlich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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