Von Menschenbild und Menschenwürde

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AUFSÄTZE
Medizinische Forschung und Klinik
Stefan Winter
Christoph Fuchs
Von Menschenbild und
Menschenwürde
Der medizinische Fortschritt macht eine ethische
Grundsatzdiskussion erforderlich. Hierzu reicht medizinische
Fachkompetenz allein nicht aus.
D
ie medizinische Forschung
stellt uns vor ethische und
rechtliche Fragen, die nicht
erst, wenn es um die klinische Anwendung geht, eine Antwort verlangen.
Die folgenden Ausführungen sollen
sich auf die Frage konzentrieren, wo
in der biomedizinischen Forschung
das Menschenbild und die Menschenwürde eine Rolle spielen.
Wer heute eine Zeitung aufschlägt, wird mit Meldungen konfrontiert, die zum Beispiel lauten: „Das
Humangenom – Spielball der Forscher“, „Herz aus der Retorte“ oder
auch „Klinikärzte protestieren gegen
das Klonen von Embryonen“.
Die wohl frappierendste Schlagzeile der letzten Zeit lautete: „Menschliche Samenzellen von Ratten“. Einem Forscher in Japan war es erstmals
gelungen, Ratten und Mäuse zur
Produktion von menschlichen Samenzellen anzuregen. Weder Nutzen noch
Reaktion der Gesellschaft auf das Experiment seien nach Angaben des
beteiligten Wissenschaftlers geklärt.
„Die Verwendung von Sperma aus
Tieren zur Zeugung gesunder Menschen würde sicher bei vielen, auch
bei mir, emotionale Konflikte hervorrufen“, erklärte dieser.
Man muss also gar nicht den Jahrtausendbegriff strapazieren, schon in
diesem Jahrzehnt lassen die Entwicklungen in Biomedizin und Biologie keinen Zweifel daran, dass die Frage, wo
Menschenbild und Menschenwürde in
Forschung und Klinik anzusiedeln
sind, gestellt werden muss. Pluralität
in der Forschung und die Globalisierung erschweren das Herausfinden
von Leitmotiven für den biomedizinischen Fortschritt. W. Krämer weist diesem die Qualität einer „Fortschritts-
falle“ zu – das heißt einer unfinanzierbaren, um jeden Preis lebensverlängernden Hochtechnologiemedizin ohne Lebensqualität (MedizinRecht 1996;
1: 1–5). Immer neue Sensationsmeldungen über angeblich bahnbrechende Diagnose- und Behandlungsmethoden haben ein gesellschaftliches
Phlegma mit allgemeiner Orientierungslosigkeit ausgelöst, welches eine
gemeinsame Rückbesinnung auf ethische Grundkonsense oder deren Ausbildung dringend erfordert. Die ärztliche Selbstverwaltung hat hier eine
Schlüsselfunktion.
Auftrag der
Bundesärztekammer
Die Bundesärztekammer vertritt
als Arbeitsgemeinschaft der 17 deutschen Ärztekammern über 350 000
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland.
In verschiedenen Gremien adressiert
die Bundesärztekammer gesamtgesellschaftliche Themen. So hat der Wissenschaftliche Beirat beispielsweise
eine Reihe von Richtlinien und Stellungnahmen zur Gendiagnostik und
zur Gentherapie bis hin zur Verwendung von menschlichen Stammzellen
und zur Xenotransplantation entwickelt. Im „Ausschuss ethische und
medizinisch-juristische Grundsatzfragen“ sind Grundsätze zur ärztlichen
Sterbebegleitung erarbeitet worden.
Seit den 70er-Jahren sind Ethikkommissionen bei den Landesärztekammern und den Hochschulen eingerichtet worden, die meist fallbezogene
ethische Abwägungen, etwa bei klinischen Studien, treffen, aber sich auch
mit ethischen Fragen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz befassen.
Nach der Einrichtung der interdisziplinär „Zentralen Kommission
zur Wahrung ethischer Grundsätze in
der Medizin und ihren Grenzgebieten“ bei der Bundesärztekammer im
Jahr 1995 ist eine verstärkte nationale
Konsensbildung zu beobachten, die
vertiefte Problemreflexion ermöglicht. Auch international gibt es Harmonisierungsbestrebungen. Hier sei
beispielhaft die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes zur klinischen Forschung genannt, aber auch
die Menschenrechtskonvention zur
Biomedizin des Europarates von 1997.
Allein professionsbezogene Kodizes können so nicht genügen, vielmehr
ist bei zunehmender Spezialisierung
und Subspezialisierung von Medizin
und Biologie ein interdisziplinärer Gedankenaustausch über ethische Menschenbilder in Forschung und Klinik zu
führen. Da Biomedizin-Entwicklungen stark gesamtgesellschaftliche Relevanz aufweisen, ist es nicht Sache von
Wissenschaft und Medizin allein, festzuschreiben, welchen Bedingungen
moralische Kategorien unterliegen sollen. Der Diskurs braucht ebenso Juristen, Ethiker, Theologen, interessierte
Fachöffentlichkeit und Journalisten –
ärztliche Selbstverwaltung kann neben
der Problem-Identifikation gemeinsame medizinisch-ethisch vertretbare
Ziele vorgeben, die eine gesellschaftsverträgliche und -nützliche medizinische Forschung und klinische Medizin
ermöglichen. Die Frage, was eine
gesellschaftsverträgliche Gesundheitsversorgung beziehungsweise Gesundheitsforschung ausmacht, ist in hohem
Maße kulturabhängig. Demgegenüber
ist rein faktische Entwicklung des
biomedizinischen Wissenszuwachses
ein relativ kulturindifferenter Prozess,
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der, gestützt auf neue Informations- geprägten Menschenbild – zuzuordtechnologie, praktizierte Globalisie- nen war. Die neuere Entwicklung der
rung offenbart.
Genmedizin stellt hier einen gewissen
Wovon lassen sich die deutsche Systembruch dar, auf den im FolgenÄrzteschaft einerseits und die deutsche den eingegangen wird.
Wissenschaft andererseits bei Forschungsplanung und ForschungsanGenmedizin –
wendung leiten? Zwischen der Ärzteschaft und der Wissenschaft muss kein
ein Paradigmenwechsel im
eigentlicher Gegensatz, gleichwohl
Gesundheitswesen?
mitunter ein Kommunikationsdefizit
Zu Beginn dieses Jahrzehntes
konstatiert werden. Wie kein zweites
Gebiet ist die klinische Forschung glei- wurde die Gentechnik und ihre Anchermaßen abhängig vom Können der wendung am Menschen zum ParadigÄrzte und von dem der Grundlagen- ma für einen Wertewandel in der Mediwissenschaftler. Selten gelingt hier ein zin erkoren. Die Entschlüsselung des
perfekter Synergismus, denn die bei- menschlichen Genoms, die bereits im
den Professionen zugrunde liegenden Jahr 2001 komplett zum Abschluss geLeitbilder – auf der ärztlichen Seite kommen sein soll, hat nun dazu
das „Nil nocere“ und „Salus aegroti geführt, dass mittlerweile sehr viel
suprema lex“, verbunden mit dem Au- mehr Krankheiten und Krankheitstonomie-, Fürsorge- und Gleichheits- dispositionen durch Gendiagnostik
prinzip, auf der anderen Seite die festgestellt werden können, als tatsächstrenge WissenschaftTabelle
lichkeit mit „ProbaEthische Grenzbereiche neuer Technologien im Gesundheitswesen
bility of success“ und
„Proof of evidence“
Ressourcen-Allokation
einschließlich des Primats statistischer SiIntensivmedizin
gnifikanzen – sind von
Transplantationsmedizin
ihrer Genealogie nicht
Xenotransplantation
a priori deckungsgleich.
Und doch werden hier
Organersatz– mechanisch
die Erfahrungswissenmethoden
– zellbiologisch,
schaft „Medizin“ und
pluripot. Stammzellzüchtung
die experimentalorienReproduktions– Präimplantationsdiagnostik
tierten Natur- oder
medizin
– Klonen
GrundlagenwissenMolekulare Medizin – Prädiktive genetische Tests
schaften gegenüberge> DNA-Chip-Technologie
stellt, was schon auf> Pharmakogenomik
grund ihrer unter– Keimbahneingriffe
schiedlichen EntwickNeurowissenschaften – Therapie mit fetalem Gewebe
lungsdauer problema– Neurobionik
tisch ist. So wurzelt die
Medizin in einer über
Mikromedizin
– Biosensorik
mehr als zweieinhalb
– Biorobotik
Jahrtausende währenDatenschutz
den Tradition. Demgegenüber sind die Na(modifiziert nach Winter 1997)
turwissenschaften als
exakt erfahrbare Wissenschaften erst seit gut 250 Jahren, lich therapierbar sind. Man spricht von
also seit den Zeiten der Aufklärung, im einer so genannten diagnostisch-theBegriff, unser Weltbild zu transformie- rapeutischen Schere. Viele Wissenren. Der „Machbarkeitswahn“ resul- schaftler glauben, dass sich die theratiert aus der jüngeren Entwicklung der peutischen Möglichkeiten bald den diaNaturwissenschaften, wohingegen die gnostischen werden angleichen könMedizin ursprünglich von jeher mehr nen. Allerdings hat die bisherige Entden Geisteswissenschaften – und da- wicklung mit Ausnahme einiger ermumit vielfach auch einem theologisch tigender Erfolge, zum Beispiel in der
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Genmarkierung oder im Bereich der
Therapie angeborener Immunmangelkrankheiten, keine statistisch signifikante Verbesserung durch gentherapeutische Methoden gezeigt. Deshalb
hat die Erörterung über Chancen und
Risiken der Gentherapie immer auch
weitgehend antizipatorischen Charakter. Gegenwärtig kann die Gentherapie
beim Menschen – auch angesichts der
jüngsten Rückschläge in den Vereinigten Staaten – allenfalls als ein konzipiertes Ziel angesehen werden. Die mit
diesem Ziel verbundenen ethischen
und juristischen Fragen sind zwischen
Ärzteschaft und Politik in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs erörtert
worden, bevor es zu einer Anwendung
der Gentherapie beim Menschen im
größeren Rahmen gekommen ist.
Gentherapie als der Schritt von
genetischer Diagnose zur gezielten
Konstruktion menschlichen Erbgutes
in Körperzellen kann im Prinzip zwei
Zielrichtungen haben: einerseits Heilung, was Krankheits- und Leidensdruck voraussetzt, andererseits die Steigerung von Fähigkeiten (so genanntes
enhancement). Dabei ist die somatische Gentherapie von Eingriffen in
Keimbahnzellen zu unterscheiden.
Keimbahneingriffe sind nach dem Embryonenschutzgesetz in Deutschland
sowie nach der europäischen Menschenrechtskonvention zur Biomedizin verboten.
Die Diskussion um die Gentherapie führt auch zu der Frage, ob und inwieweit zunehmende Technisierung
der Medizin ein mechanistisches Menschenbild prägen wird: Vielleicht ist
diese Frage Ausdruck menschlicher
Hybris, die die biomedizinischen Möglichkeiten überschätzt. Gleichwohl besteht kein Zweifel am hohen gesellschaftsverändernden Potenzial neuer
Technologien in der Medizin. So geraten durch die neuen Möglichkeiten der
Gendiagnostik die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ in eine Schräglage. Das Wissen um genetische Dispositionen für Erkrankungen macht uns
auf einmal zwar nicht zu Patienten,
aber doch nach englischem Sprachgebrauch zu „unpatients“, was das ungeduldige Warten auf den Ausbruch der
Krankheit mit zum Ausdruck bringt –
zu einem Zeitpunkt, zu dem noch kein
Krankheitssymptom unser persönliches Wohlbefinden trübt.
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Die bekannten ethischen Übereinkünfte können nicht mehr alle Bereich der modernen Medizin fassen.
Zu diesen gehören nicht nur die Genmedizin, sondern auch die Transplantationsmedizin, Intensivmedizin, Reproduktionsmedizin, das heißt Fächer,
die jeweils einen relativ konkreten Bereich umschreiben, aber auch zunehmend solche interdisziplinären Felder
wie die allgemeine Gesundheitsfürsorge und die Gesundheitsökonomie. Der
Begriff „Allokation von Ressourcen“
hat eine zentrale Bedeutung in sehr
vielen Bereichen der Medizin erhalten.
Schlüsselfunktion
der Ärzte
Heute schon kommt der Gendiagnostik in der prädiktiven Medizin sowohl vor der Geburt als auch danach
eine entscheidende Rolle zu. Dabei
bleibt die Frage unbeantwortet, was
wir mit einem Patienten machen, den
wir über seine künftige tödliche
Krankheit aufklären können, der aber
ohne Diagnostik bis zum Auftreten
der ersten Symptome unbeschwert
gelebt hätte. Die Frage macht auch
den Genetikern und Genetikberatern
ihre Ohnmacht als Helfer bewusst.
Die Wissenschaft also, so hat es Carl
Friedrich von Weizsäcker bereits 1990
formuliert, als „Religion unserer modernen Zeit“ scheint an diesem Punkte zu versagen. Die Genetik führt
zu einer Verdinglichung subjektiver
Schicksale, die in eine Art operationalisierbaren technischen Kontext gelangen. Dadurch kann eine zu vereinfachte Betrachtungsweise über den Einzelnen leicht in das Fahrwasser eines rein
an so genannten sozioökonomischen
Zwängen orientierten Pragmatismus
gelangen. Die Grundfrage, die vor diesem Hintergrund gestellt werden
muss, lautet eben nicht nur: Wie sieht
das Verhältnis zwischen einer Individualethik und einer Sozialethik in Anwendung auf Thematiken der Genmedizin aus?, sondern auch: Lassen sich
Individualethik und Sozialethik überhaupt gegeneinander abwägen, das
heißt, darf die Sozialethik imstande
sein, in bestimmten Fällen die Individualethik außer Kraft zu setzen?
Ein aktuelles Beispiel dafür ist die
Präimplantationsdiagnostik, bei der die
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Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik in Fällen genetischer Erkrankungen, die das Leben des geborenen Kindes schwer beeinträchtigen oder mit
dem Leben nicht vereinbar sind, auf die
Ebene des Embryos vor der Implantation verlagert werden. Ob und inwieweit dies mit einem Schwangerschaftsabbruch vergleichbar ist, erscheint als
gesamtgesellschaftliches Problem, das
– mit Ausnahme medizintechnischer
Standards – an die Grenzen des ärztlichen Berufsrechts heranreicht.
Dem Arzt fällt in diesem Kontext
immer mehr die Rolle des „Vermittlers
wissenschaftlicher Erkenntnis“ zu, der
den Patienten in seiner Entscheidungsfindung unterstützt und diesen, wo
nötig – auch vor den Auswirkungen
neuer Technologien schützt. Das jüngste einschlägige Beispiel ist der Vertrag
zwischen einer pharmazeutischen Firma und dem Isländischen Staat, wonach dem Unternehmen in den nächsten Jahren genetische Informationen
der Isländer, wenngleich in anonymisierter Form, zur Verfügung gestellt
werden. Die behandelnden Ärzte können ihre Patienten bei Blutentnahmen
darauf hinweisen, dass sie nicht verpflichtet sind, ihr Erbgut für Forschungszwecke untersuchen zu lassen.
Die Ärzte haben so eine wichtige gesamtgesellschaftliche Schlüsselfunktion, die hohes ethisches Empfinden und
Verantwortung voraussetzt und die
beim Weltärztebund und im Europarat
unterstützt wird.
Woran sollen sich Ärzte beim Umgang mit neuen medizinischen Technologien orientieren? Für Deutschland
hat die Bundesärztekammer mit dem
Wissenschaftlichen Beirat ein unabhängiges Gremium etabliert, das berufsrechtliche Standards entwickelt.
Diese Leitlinien entstehen auf der Mesoebene und stellen konzentriertes
Wissen auf der Basis einer gesicherten
medizinischen Erkenntnisbildung dar.
Vom Arzt wird sodann die konkrete
Leitlinienanwendbarkeit geprüft, das
heißt die Frage beantwortet, ob der
Handlungskorridor, den die Leitlinie
dem Arzt vorgibt, zielführend für die
Patientenbehandlung ist. Auf dieser
Mikroebene muss der Arzt ebenfalls
der Frage nachgehen, ob der Patient
das neue Behandlungsverfahren akzeptiert, wo dessen individuelle Präferenz liegt. Letzteres wird heute häufig
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mit dem Begriff der individuellen „Lebensqualität“ umschrieben, die zweifelsohne – unbeschadet des Nutzens
neuer Technologie – bisweilen mehr in
den Fokus ärztlicher Bemühungen
rücken sollte.
Ziel dieser Darlegung ist, eine
Vorstellung dafür zu geben, inwieweit
Motivation und Kontrolle medizinisch-biologischer Forschung und
Praxis durch bestehende Auffassung
von Wesen und Würde des Menschenseins bedingt sind. Man kann davon
ausgehen, dass den biomedizinischen
Entwicklungen entweder a priori ein
konstituierender humaner Sinn, das
heißt ein inhaltliches Verständnis vom
Wesen des Menschen, zugrunde liegt
oder aber a posteriori ein allenfalls
impliziter humaner Sinn, mithin eine
Eigendynamik der Forderungen aus
Medizin und Biologie selbst. Vieles
spricht für die zweite Vermutung.
Wollte man annehmen, dass es einen konstituierenden humanen Sinn
a priori in jeder biomedizinischen Entwicklung gibt, so ließe sich dies allenfalls dadurch begründen, dass es Menschen sind, welche die Entwicklungen
auf humane Weise vorantreiben.
Bewusstseinsprägende
Macht der Medien
Es bleibt dabei allerdings die Frage offen, wer eine Synopse des Megaprozesses „Forschung“ zu leisten vermag. Sind es nicht vielmehr die Kommunikationsprozesse, das heißt die
transportierten Meinungsbilder in den
Medien, welche unser Bewusstsein
entscheidend darüber prägen, was wir
als Realität empfinden? Anders formuliert kann man fragen: Sind es die
tatsächlichen Fakten, die wir als real
empfinden, oder aber die Abbilder der
Fakten nach Prozessierung in den
gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen? So gesehen wäre es unmöglich, die Frage zu beantworten, wo
das Primat der Steuerung im Prozess
biomedizinischer Forschung und klinischer Praxis liegt. Zur Realität gehört
auch, dass wissenschaftliche Forschung immer mehr unter die Kontrolle gewaltiger Organisationen und Programme gerät, die hier die Ziele vorgeben. Waren es früher Physik und
Chemie, die in Großprojekten, wie et-
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wa in Los Alamos oder der NASA, gewachsen sind, so ist es nunmehr die
Biologie mit dem riesigen Genomkartierungsprojekt, welche sich zu einer
Megabiologie zu entwickeln scheint.
Die Investition von industrieller und
staatlicher Seite in solche Megaprojekte führt unweigerlich dazu, dass die
bisherige Forschungspraxis der kleinen Teams, die sich untereinander vernetzen, immer mehr verschwindet.
Folgte man dieser Argumentation, so wäre die systemimmanente
Verlockung des Marktes die so genannte „driving force“ jeglicher Forschung. Die Milliardeninvestitionen
für bestimmte Erfolg versprechende
Projekte führen unweigerlich dazu,
dass sich die Forschungslandschaft
verändert. So prägend diese Form der
Ressourcen-Allokation für die dem
medizinischen Fortschritt vorausgehende Seite der Forschung ist, so sehr
stellt die Allokation andererseits in
der klinischen Medizin den Arzt auf
der Mikroebene in seiner individuellen Entscheidung gegenüber dem einzelnen Patienten oft vor unlösbare
Probleme. Erscheint für den Megaprozess der Biomedizin-Forschung eine echte gesellschaftlich konsentierte
Kontrolle nur mittelbar auf dem Wege
internationaler Normsetzung möglich
– beispielsweise im Europarat, in der
Weltgesundheitsorganisation oder im
Weltärztebund –, so ist beim ärztlichen
Handeln auf der Mikroebene die individuelle Verantwortungsethik eines
jeden Arztes entscheidend.
Auf dieser – für den Patienten erfahrbaren – Ebene wird der Arzt nur
bestehen können, wenn ihm im Rahmen seiner ärztlichen Ausbildung,
aber in gleicher Weise auch in seinem
Kulturkreis ethische Wertbilder vermittelt worden sind, die seine „Gewissensfähigkeit“ ausprägen und festigen. Die ärztliche Selbstverwaltung
kann durch Schaffung von medizinischen, ethisch begründeten Leitlinien
von der Mesoebene aus Handlungskorridore eröffnen, die dem Arzt auf
der individuellen Ebene die Entscheidungsfindung erleichtern.
Mittlerweile verdoppelt sich das
medizinische Wissen etwa alle fünf
Jahre. Technikfolgenabschätzung ist
somit als neue „interdisziplinäre Disziplin“ ein Querschnittsfach von Humanmedizin und Biowissenschaften,
das sowohl Ethik, Ökonomie und Ökologie als auch Rechts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften umfasst. Damit ist zu Beginn der 90er-Jahre in
Deutschland eine Versachlichung der
Technologiedebatte auch im politischen, insbesondere im parlamentarischen Bereich erfolgt. Die Einrichtung
des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag
(TAB) ist ein Beleg für das Bemühen
der Politik, sich einem fundierteren interdisziplinären Dialog zu öffnen. Die
Beteiligung von Parlamentariern in
Ausschüssen der Bundesärztekammer
hat in der Vergangenheit ebenfalls wesentlich zur Förderung des Dialogs
zwischen Ärzteschaft, Wissenschaft
und Politik beigetragen. Auch der
Zentralen Ethikkommission bei der
Bundesärztekammer kommt in diesem Bereich eine große Bedeutung zu.
Ein neues Steuerungsgremium in der Medizin?
Vielleicht sollten angesichts der
neuen Herausforderungen auch neue
Wege eingeschlagen werden, die eine
größere Repräsentanz aller gesellschaftlich relevanten Kräfte in der
Technologiedebatte und deren Steuerung garantieren. Vorstellbar wäre ein
Gremium, das die Zielkonflikte in
Forschung und Entwicklung definiert,
Lösungswege mit Expertenhilfe bearbeitet, Darstellungsdefizite schließt
und so die gesamtgesellschaftliche
Transparenz fördert. Zurzeit scheinen
sich Forschungsfreiheit und Wettbewerb der reflektierenden Kontrolle zu
entziehen, bei gleichzeitiger Zuspitzung des Finanzierungsproblems im
Gesundheitswesen. Angesichts explodierender Kosten, einer immer älter
werdenden Bevölkerung – so werden
im Jahr 2000 mehr als 40 Prozent der
Bevölkerung in Deutschland älter als
65 Jahre sein – läuft die Medizin Gefahr, nicht mehr finanzierbar zu bleiben, wenn es nicht gelingt, eine Rationalisierung des Einsatzes von Ressourcen vorzunehmen. Der gegenwärtige politische Trend, die Ärzteschaft pauschal für den medizinischen
und gesellschaftlichen Fortschritt verantwortlich zu machen und in die Haftung zu nehmen, quasi in Form eines
Kollektivregresses der Ärzteschaft
das Morbiditätsrisiko, das Haftungsrisiko und Forschungsrisiko aufzubürden, führt dazu, dass gesellschaftlich
unauflösbare Zielkonflikte entstehen.
Neue Technologien etwa, das Potenzial von Stammzellen zur Entwicklung
künstlicher Organe, spitzen – unabhängig von ihren ureigenen ethischen
Implikationen – diese Zielkonflikte
immer mehr zu. Eine Lösung ist die
Herbeiführung einer maximalen
Transparenz dieser Problematik auf
möglichst vielen Ebenen der Entscheidungskompetenzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Gesetzgeber allein mit dieser Aufgabe überfordert ist. Könnte durch die Schaffung einer Instanz unterhalb der Legislative, welche dem Tempo der dynamischen Entwicklung im Gesundheitswesen Rechnung trägt, ein Konsensforum entstehen? Diese Instanz
müsste versuchen, zwischen den
Hauptbeteiligten im Gesundheitswesen, das heißt den Leistungserbringern, den Versicherungen und den gesellschaftspolitischen Repräsentanten
eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die eine Vertrauensbasis für
eine gerechtere Verteilung von Gesundheitsressourcen, die in Deutschland immerhin 550 Milliarden DM
pro Jahr ausmachen, gewährleisten
kann. Dieses ehrgeizige Projekt würde dem Anspruch gerecht, dass menschenwürdiger Umgang mit komplizierten ethischen Fragen – darunter
ist die Allokation von Ressourcen an
erster Stelle zu nennen – einer vorbehaltlosen Selbstreflexion bedarf. Gesellschaftliche Transparenz ist eine
Grundvoraussetzung für die Bewältigung von biomedizinischer Forschung
und angewandter Klinik im kommenden Jahrzehnt.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-301–305
[Heft 6]
Das Literaturverzeichnis ist über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet
(www.aerzteblatt.de) erhältlich.
Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Winter
Prof. Dr. med. Christoph Fuchs
Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Straße 1
50931 Köln
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 6, 11. Februar 2000
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