Inhaltsverzeichnis Seite I. Vorwort 2 II. Biographie 4 III. Kindheit in

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Inhaltsverzeichnis
Seite
I. Vorwort
2
II. Biographie
4
III. Kindheit in Ingolstadt
12
IV. Elterliche Erziehung und deren Auswirkung
1. Geschichte der Familie Fleißer
2. Verhältnis Marieluises zum Vater
3. Verhältnis Marieluises zur Mutter
4.Verhältnis Marieluises zu ihren Geschwistern
14
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20
V. Schulzeit
1. in Ingolstadt
a) An der Werktagsschule
b) An der Gnadenthalschule
2. in Regensburg
a) Fluch oder Segen? – Die ambivalente
Beurteilung von Fleißers Schulzeit in
Regensburg
b) Zur Geschichte der „Englischen Fräulein“
in Regensburg
c) Atmosphäre und Erziehungsgrundsätze
der Schulen zur Schulzeit Fleißers
d) Lehrplan und Unterricht
e) Lektüren und Lehrbücher
f) Absolutorialaufgaben
g) Außerschulische Aktivitäten und Verhältnis
Marieluises zu ihren Mitschülerinnen
h) Die Schule während des Ersten Weltkrieges
VI. Fazit
VII. Anhang und Quellen
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45
I. Vorwort
„Wenn ich mal gestorben bin, das ist beruhigender, da weiß man, jetzt kann
sie nichts mehr anstellen“1. Dieses Zitat stammt von einem der größten
deutschen Literatur- und Theatertalente des zwanzigsten Jahrhunderts und
einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen: Marieluise
Fleißer.
Lange galt die Ingolstädter Autorin, die auf Grund ihrer Schulzeit am
Institut der Englischen Fräulein in Regensburg auch eng mit unserer Stadt
verbunden ist, als weitgehend unbekannt, ihre Werke erfuhren, abgesehen
von einem großen Skandal bei der Uraufführung ihres Stückes „Pioniere in
Ingolstadt“ 1929, kaum Beachtung. Erst mit ihrer Wiederentdeckung im
Zusammenhang mit dem Aufleben des Volksstücks Ende der 1960er und
Anfang der 1970er Jahre, also kurz vor ihrem Tod am 02. Februar 1974,
rückte die Schriftstellerin erneut in den Fokus der Öffentlichkeit:
Sammlungen ihrer Werke wurden herausgegeben, erste Publikationen und
Biographien zu ihrer Person entstanden und seit 1981 würdigt sie ihre
Geburtsstadt Ingolstadt durch die Vergabe des Marieluise Fleißer Preises,
der mittlerweile alle zwei Jahre an Autorinnen und Autoren verliehen wird,
die die Grundgedanken ihrer Werke literarisch aufgreifen und so Marieluise
Fleißers Erbe fortführen.
Dennoch bleibt der Kreis der sogenannten „Fleißerforscher“ klein, die breite
Öffentlichkeit weiß bis heute kaum etwas über das bayerische
Ausnahmetalent2. Gerade einmal 144 000 Treffer listet die
Internetsuchmaschine Google bei der Eingabe ihres Namens auf3 4. Und
auch an anderen Stellen bleibt ihr der Ruhm verwehrt: so widmet Kindlers
1
Marieluise Fleißer in ihrem letzten Interview 1974, Fleißer Dokument (Fl.-Dok.) I, S. 82.
Zum aktuellen Forschungsstand vgl. z. B. H. Häntzschel, Marieluise Fleißer - Eine Biographie, Frankfurt
2007; E. Hartenstein, A. Hülsenbeck, Marieluise Fleißer - Leben im Spagat - Eine biographische Collage,
Berlin 2001; C. L. Reichert, Marieluise Fleißer, München 2001; S. Göttel, Natürlich sind es Bruchstücke – Zum
Verhältnis von Biographie und literarischer Produktion bei Marieluise Fleißer, St. Ingbert 1997; G. Lutz,
Marieluise Fleißer – Verdichtetes Leben, München 1989; M. McGowan, Marieluise Fleißer, München 1987; G.
Rühle (Hg.), Materialien zum Leben und Schreiben von Marieluise Fleißer, Frankfurt 1973.
3
Stand: 28.02.2010.
4
Zum Vergleich: bei Günter Grass sind es 616 000, bei Fleißers ehemaligem Weggefährten und Förderer Brecht
sogar 1 810 000.
2
2
Neues Literaturlexikon der Autorin nicht einmal drei Seiten, im Vergleich
ist dies kaum mehr als der Eintrag über den hebräischen Schriftsteller
Flavius Iosephus (37 v.Chr. bis 100 n.Chr.) und neben den fast zehn Seiten
über Lion Feuchtwanger, einen anderen aus den Reihen von Fleißers
Münchner Bekanntschaften, kaum der Rede wert.5 Dabei zählt Fleißer zu
den bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des zwanzigsten
Jahrhunderts und hatte Kontakt zu Autoren wie Erich Kästner, Lion
Feuchtwanger oder Bertolt Brecht.
Deshalb möchte ich mit dieser Arbeit zum einen an Marieluise Fleißer
erinnern, zum anderen aber auch einer viel wichtigeren Frage nachgehen,
nämlich: Wie ist sie zu dem geworden, was sie war? Was hat sie in ihrer
Kindheit und Jugend beeinflusst, was geprägt?
Hierbei möchte ich zunächst, nachdem ich Marieluise Fleißers Leben in
Form einer Kurzbiographie dargestellt habe, einen Überblick über die
Situation in ihrer Heimatstadt Ingolstadt während ihrer Kindheit geben.
Anschließend befasse ich mich näher mit der Familie Fleißer, wobei ich vor
allem auf die Eltern der Schriftstellerin, ihre Erziehungspraktiken sowie das
Verhältnis Marieluises zu ihrem Vater, ihrer Mutter und ihren Geschwistern
eingehen möchte. Ein weiterer zentraler Aspekt meiner Seminararbeit ist die
schulische Ausbildung der jungen Marieluise, sowohl in ihrer Heimatstadt
Ingolstadt als auch später am Institut der „Englischen Fräulein“ in
Regensburg.
Ein besonderer Dank im Rahmen meiner Seminararbeit gilt dabei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wissenschaftlichen Bibliothek Ingolstadt,
allen voran Frau Doris Wittmann, die mich im Laufe meiner Recherchen immer
wieder unterstützt und mir stets mit Rat und Tat sowie ihrem schier
unerschöpflichen Vorrat an Quellen und Dokumenten über das Leben und Wirken
Marieluise Fleißers zur Verfügung gestanden haben.
5
Siehe: Kindler Neues Literaturlexikon, Band 5: Fleißer Marieluise (S .624-627), Feuchtwanger Lion (S. 513522) und Flavius Iosephus (S. 620-622).
3
II. Biographie6
Louise Marie Fleißer, später Marieluise genannt7, kam am 23. November
1901 (die amtlichen Urkunden nennen den 22. November8) als drittes Kind
des Schmiedes Heinrich Fleißer und dessen Frau Anna Maria, geborene
Schmid, im niederbayerischen Ingolstadt zur Welt. Zusammen mit ihren
vier Geschwistern wuchs sie dort in der Kupferstraße, wo der Vater seine
Werkstätte hatte, auf.
Ab Herbst 1907 besuchte sie die Volksschule, die sogenannte deutsche
Werktagsschule und trat 1911 auf die Höhere Töchterschule des
Gnadenthalklosters Ingolstadt in der Nähe des elterlichen Wohnhauses über.
1914 folgte der Wechsel an das Internat der „Englischen Fräulein“ in
Regensburg, da Luise hier die Möglichkeit hatte, als Mädchen die
Abiturprüfung abzulegen, was ihr auch im Sommer 1920, zwei Jahre nach
dem Tod der Mutter 1918, mit Bestnoten9 gelang.
Nach dem Abitur zog die Dichterin nach München, um sich im Oktober
1920 an der Philosophischen Fakultät I der Ludwig-MaximiliansUniversität zu immatrikulieren. Ihr Studienvorhaben präzisierte sie auf der
Immatrikulationskarte mit „Dramat.“, was wohl ihre Absicht eines
Studiums der Theaterwissenschaften (dieses Fach existierte als
selbstständiges Hauptfach eigentlich nicht, ebenso wenig die von Fleißer
gewählte Abkürzung) andeuten sollte10. In den darauffolgenden Jahren
belegte sie vor allem Vorlesungen bei den Professoren Arthur Kutscher und
Heinrich Wölfflin, zu Beginn des Studiums auch einige fachfremde
6
Im Folgenden wurden durchgehend als Quellen verwendet: Häntzschel Hiltrud, Marieluise Fleißer, Eine
Biographie, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007, im Folgenden zitiert als „MFB“; Rühle Günther, Materialien
zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1973, im Folgenden
zitiert als „Mat.“, Autobiographie S. 411 - 430.
7
Den Namen gab ihr Lion Feuchtwanger 1922, vgl. MFB, S. 45.
8
Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.-Dok. I/1, Mat., S. 411.
9
Vgl. Interview mit Marieluise Fleißers ehemaliger Mitschülerin Marielies Schleicher, Stadtarchiv Ingolstadt,
Fl.-Dok. I, 92-1.
10
Siehe Immatrikulationskarte der LMU-München von 1920, Archiv der LMU-München, Kopie im Anhang.
4
Veranstaltungen11. Aus diesen „Münchner Jahren“ stammten Fleißers
Liebesbeziehung mit ihren Luxemburger Kommilitonen Alexander
Weicker, genannt „Jappes“, sowie ihren Bekanntschaft mit Lion
Feuchtwanger, dem sie im Februar 1922 auf einer Faschingsfeier begegnete
und über den sie schließlich Berthold Brecht kennen lernte. 1923, zur
Krisenzeit der Weimarer Republik, die die Autorin in den nachfolgenden
Jahren nicht unberührt ließ12, veröffentlichte sie ihre erste Erzählung
„Meine Zwillingsschwester Olga“ (später die „Dreizehnjährigen“) im
Berliner Intellektuellenheft „Das Tagebuch“. Den Kontakt zum „Tagebuch“
hatte Lion Feuchtwanger hergestellt13. Bereits in dieser frühen Erzählung,
die auf Grund ihres ungewöhnlichen Stils skurril, ja fast schon bizarr
anmutet (es gibt keine erläuternden Einführungen oder Vorstellung der
Personen, der Leser wird einfach mitten hinein in ein Geflecht aus
Beziehungen und Konflikten geworfen, auch die Sprache bleibt mit ihrer
mitunter eigenartig abgehackten Syntax manchmal zusammenhanglos und
diffus) griff die junge Ingolstädterin Themen wie Gewalt und Sexualität auf,
die sich später immer wieder wie ein roter Faden durch ihre Werke zogen.
Ende 1924 brach Marieluise Fleißer ihr in den vergangenen Jahren nur noch
sehr sporadisch betriebenes Studium ab und kehrte aus finanziellen Gründen
nach Ingolstadt zu ihrem inzwischen wieder verheirateten Vater zurück14.
Dies bedeutete aber keinesfalls das Ende ihrer literarischen Tätigkeiten,
obwohl sich der Vater dies gewünscht hätte15.
Im Gegenteil: Marieluise Fleißer feilte weiter an ihrem - bereits in München
begonnenen - ersten eigenen Theaterstück, „Die Fußwaschung“16, das am
25. April 1926 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde,
veröffentlichte im Laufe des Jahres 1925 die Erzählungen „Der Apfel“,
„Die Stunde der Magd“ sowie „Zwischen Schlaf und Schlaf“ im Berliner
11
Siehe Belegblätter „Fleißer Marieluise“ für das Wintersemester 1920/1921 und das Sommersemester 1921,
Archiv der LMU-München, Kopie im Anhang.
12
Vgl. z. B. Briefwechsel Fleißer-Weicker, Stadtarchiv Ingolstadt, S. 12; Briefwechsel zwischen Marieluise
Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer von 1929-1932, S. 5, S. 16-17.
13
MFB, S. 61.
14
Mat., S. 415.
15
Vgl. Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer von 1929-1932, ediert von
Klaus Gültig, Hrsg.: Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, Ingolstadt 2001, S. 10.
16
später „Fegefeuer in Ingolstadt“; der Titel wurde auf Anraten Moritz Seelers, des Gründers des
Theaterensembles der Jungen Bühne, die das Stück präsentierte, und einem glühenden Anhänger von Fleißers
Schreibkunst, geändert, vgl. Mat., S. 27.
5
„Börsen Courier“. Im Mai 1926 folgte die Titelgeschichte ihrer späteren
Novellensammlung „Ein Pfund Orangen“ im Berliner „Tage-Buch“.
Finanzielle Sicherheit brachten diese Publikationen der Autorin freilich
wenig. Wie aus einem Brief Lion Feuchtwangers vom 24. Januar 1926
hervorgeht17, blieb auch Luise von den sozialen Härten der Weimarer
Republik nicht verschont. Es waren vielmehr die Kontakte, beispielsweise
zu Herbert Ihering, dem Theaterkritiker des „Börsen Couriers“ sowie
natürlich auch die Beziehungen zu Brecht und Feuchtwanger, die für sie
von entscheidender Bedeutung waren und zur wachsenden Bekanntheit
Marieluise Fleißers beitrugen.
Sie bemühte sich beim Rohwohlt und beim Kiepenheuer Verlag um einen
Vertrag18, was den ersten Schritt auf ihrem Weg zur Berufsschriftstellerin
markiert hätte, wurde aber immer wieder abgewiesen. Ihre publizistische
Tätigkeit geriet ins Stocken, da sie nicht genügend Abschriften ihrer Texte
besaß und Verlage so auf Einsendungen warten mussten, wodurch sie
Aufträge einbüßte.
Der erste echte Durchbruch gelang der Dramatikerin nach der Premiere von
„Fegefeuer in Ingolstadt“, die in der Theaterwelt zwar auf ambivalente, aber
durchaus auch positive Kritiken stieß19, in Form eines Vertrages mit dem
Ullstein Verlag, der „Fegefeuer in Ingolstadt“ in seinen Bühnenverlag
Arcadia übernahm. Dabei hatte Brecht nicht nur beim Vertragsschluss eine
zentrale Rolle gespielt20 21, er betätigte sich wiederholt als
„Verhandlungspartner“ zwischen Fleißer und den Verlagen, was seitens der
letzteren nicht immer gerne gesehen wurde und mitunter zu ernsthaften
Problemen führte22. Dennoch gelang es Fleißer allmählich, sich zu
etablieren; sie veröffentlichte in der „Magdeburgischen Börsen Zeitung“,
sowie auf Vermittlung von Alfred Kerr, den sie bei der Uraufführung von
„Fegefeuer in Ingolstadt“ kennengelernt hatte, beim „Berliner Tagblatt“ und
bald auch bei der „Frankfurter Zeitung“. Daneben arbeitete sie an ihrem
17
Vgl. Briefwechsel Fleißer-Feuchtwanger, Stadtarchiv Ingolstadt, S. 19.
Mat., S. 29.
19
MFB, S. 92-97.
20
Ebenda S. 99.
21
Elisabeth Hauptmann hielt im Tagebuch ihrer Zusammenarbeit mit Brecht fest: „Für die Fleißer Vertrag
gesucht - bei Ullstein 200M. à fond perdu“, vgl. Elisabeth Hauptmann: Tagebuch zitiert nach: Sabine Kebir: Ich
fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertholt Brecht, Berlin, 1997.
22
Vgl. Briefwechsel Fleißer-Ullstein Verlag, Nachlass Marieluise Fleißer, Stadtarchiv Ingolstadt.
18
6
zweiten Stück „Pioniere in Ingolstadt“, das 1928 in Dresden uraufgeführt
wurde (eine zuvor in Essen geplante Aufführung hatte aus Zensurgründen
abgesagt werden müssen) und publizierte, nachdem sie nach einem kurzen
Berlinaufenthalt von Januar bis November 1927 wieder in ihre bayerische
Heimatstadt zurückgekehrt war, weitere Erzählungen23. Andere Werke, die
einen interessanten Aufschluss über das Innenleben der Autorin zur
damaligen Zeit geben, sind der Text „Der verschollene Verbrecher X“,
Fleißers Beitrag zu einer Umfrage der „Magdeburgischen Zeitung“ zum
Thema „Männer, die ich heiraten möchte“ von 1927, sowie die Geschichte
„Die Ziege“ aus dem „Berliner Tagblatt“ (1928).
Die Fülle an Texten, die Fleißer zur damaligen Zeit produzierte, lässt darauf
schließen, dass ihre schriftstellerische Karriere ins Laufen gekommen war,
auch wenn sie finanziell nach wie vor nicht besonders gut gestellt war24.
Zu dieser Zeit begann Marieluise ein Verhältnis mit ihrem Jugendfreund
und späteren Ehemann, dem Sportschwimmer Josef, genannt Bepp, Haindl,
der, obwohl ihr intellektuell um Längen unterlegen, bald zu einem ihrer
engsten Vertrauten und Fürsorger wurde. Er begleitete sie immer wieder auf
ihren Reisen, beispielsweise auf der Fahrt zu den Proben für die
Uraufführung von „Pioniere in Ingolstadt“ nach Dresden und sandte ihr
liebevolle Briefe, in denen er sie ermahnte „viel Sport zu treiben“, „fein
tüchtig zu essen“ und „dich nicht zu ärgern“25. Er nannte sie seine „Luis“,
„Punny“ oder mein „Herzkätzchen“ und sprach schon bald von Heirat,
Plänen, denen Fleißer selbst eher kritisch gegenüber stand26.
Nach den ambivalenten Reaktionen, die der Uraufführung von „Pioniere in
Ingolstadt“ in Dresden, für die die Autorin Lob und Kritik gleichermaßen
erntete27 , folgten, und einigen Rundfunkauftritten, die ihre
Haupteinnahmequelle darstellten, begann es Ende 1928 ruhiger um
Marieluise Fleißer zu werden.
23
Beispielsweise „Abenteuer aus dem englischen Garten“ (Ostern 1927 im „Börsen Courier“) oder ihre vier
zentralen Essays „Das dramatische Empfinden bei den Frauen“, „Der Heinrich von Kleist der Novellen“,
„Buster Keaton“ und „Bruder des Blitzes“ (alle 1927).
24
Vgl. Briefwechsel mit ihrem Vater, S. 16/17.
25
Vgl. Marieluise Fleißer: Briefwechsel 1925-1974, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt am Main, 2004, S. 51, im
Folgenden zitiert als „Brf.“.
26
Vgl. Mat, S. 416.
27
MFB, S. 154/155.
7
Aus der Versenkung heraus, freilich auf andere Weise als geplant,
katapultierte sie sich dann durch die Aufführung von „Pioniere in
Ingolstadt“ am 30. März 1929 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin,
die in der Heimat der Schriftstellerin den sagenumwobenen Skandal um ihre
Person auslöste. In Theaterkreisen keineswegs negativ gesehen, vor allem
da Mängel der Dresdner Aufführung behoben und kleine Änderungen am
Stoff vorgenommen worden waren, fand die Inszenierung durchaus
beachtlichen Zuspruch, wohingegen die Kritiken der konservativen Blätter
freilich verheerend ausfielen28. Der Kiepenheuer Verlag zumindest war vom
Erfolg des Stückes angetan und schloss mit Fleißer fünf Tage später den
Vertrag über den Novellenband „Ein Pfund Orangen“29, der noch im
Sommer des selben Jahres erschien. Auch andere renommierte Schriftsteller
wie etwa Erich Kästner ergriffen Partei für die junge Autorin30. Von den
Turbulenzen um ihre Person gesundheitlich angeschlagen, beschloss sie
vorübergehend in Berlin zu bleiben, wohin sie zur Uraufführung ihres
Stückes gereist war. Aus dem anfänglichen Genesungs- wurde schließlich
ein Daueraufenthalt. Vergeblich schienen Bepp Haindls Versuche seine
„Luisi“ nach Ingolstadt zurückzulocken, obwohl er ihr dort finanzielle
Sicherheit und Schutz vor öffentlichen Anfeindungen versprach31.
Schließlich kam es zum Bruch zwischen Haindl und Fleißer, dem, wenn
auch nur vorübergehenden, Aus einer Beziehung, das gleichzeitig den
Beginn einer neuen markierte. Wann und wie genau Fleißer ihren neuen
Liebhaber Hellmut Draws-Tychsen kennen gelernt hat, ist unklar,
vermutlich zur Zeit der Aufführung von „Pioniere in Ingolstadt“32. Sicher ist
jedoch, dass er Haindl sowohl intellektuell als auch hinsichtlich des
Durchsetzungsvermögens um Längen übertraf. Der erklärte Brechtfeind
Draws war ein Lebenskünstler, der als Schriftsteller und Journalist arbeitete
und im Alltag durch seine zahllosen Ticks und Eigenheiten hervorstach.
Von Marieluise verlangte er bedingungslose Unterwerfung und Hingabe, er
beutete sie aus, nicht nur finanziell, sondern auch psychisch und trieb sie
immer wieder bis an den Rand des Nervenzusammenbruches. Stundenlang
28
Siehe ebenda S. 175-190.
MFB, S. 183.
30
Mit „Kleine Skandale um gute Stücke“, in Neue Leipziger Zeitung, Nr. 100 vom 10.04.1929.
31
Brf., 04. Mai 1929, S. 72f..
32
MFB, S. 202.
29
8
musste sie seine Stücke abschreiben, von ihren eigenen Arbeiten hielt
Draws-Tychsen, der ohnehin der Meinung war, Frauen seien zum Ausüben
literarischer Tätigkeiten ungeeignet, nichts33. Dennoch schien sich Fleißer
immer mehr an ihn zu klammern, je schlechter er sie behandelte. Auf einer
Schwedenreise im Sommer 1930, kurz nach Beginn ihrer Beziehung, gaben
die beiden sogar ihre Verlobung bekannt. Draws-Tychsen intervenierte in
ihre Stücke34, bei der Arbeit an Fleißers Werk „Der Tiefseefisch“ gab er
sich als Zensor und diktierte ihr weitestgehend die Umsetzung. Dieses
Verhalten führte auch zum Bruch der Schriftstellerin mit dem Ullstein
Verlag am 02. Dezember 193035. Zusammen mit Draws-Tychsen unternahm
sie im selben Jahr ihre gemeinsame Andorrareise, die sie unter dem Titel
„Andorranische Abenteuer“, einem ihrer schönsten Werke, festhielt. 1931
erschien ihr einziger Roman „Die Mehlreisende Frieda Geier“, der das
Porträt einer starken und selbstständigen Frau zeichnet und zugleich den
Beginn ihrer Aussöhnung mit Bepp Haindl (der Untertitel des Romans
lautete „Vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen“ und ließ deutliche
Parallelen zu Haindls Person erkennen) im darauffolgenden Jahr markierte.
Erst nachdem sie 1932 auf Grund finanzieller Schwierigkeiten (nach dem
Bruch mit dem Ullstein Verlag hatte sie keine feste Rente mehr) nach
Ingolstadt zu ihrem Vater zurückgekehrt war, versuchte sie 1933 ihre
Verlobung zu lösen und sich von Draws-Tychsen zu trennen, ein
zermürbender Prozess, der über zwei Jahre andauerte und ihr erst 1935
endgültig gelang. Nach einer kurzen Affäre mit dem Maler Georg Hetzelein
1934 heiratete sie schließlich im darauffolgenden Jahr Bepp Haindl und zog
zu ihm in sein Tabakwarengeschäft nach Ingolstadt. Dort kamen ihre
literarischen Tätigkeiten immer mehr zum Erliegen; Bepp benötigte ihre
helfende Hand im Laden, zudem unterlagen ihre Stücke zur Zeit des Dritten
Reiches der Zensur und schließlich dem Verbot durch die
Nationalsozialisten36. Während des Zweiten Weltkrieges war ihr
schriftstellerisches Schaffen nahezu vollständig auf Eis gelegt, was sie so
sehr belastete, dass sie 1938 einen Nervenzusammenbruch erlitt und
33
Vgl. ebenda S. 234.
Vgl. ebenda S. 217.
35
Ullstein an Fleißer, 02.12.1930, Nachlass Marieluise Fleißer, Stadtarchiv Ingolstadt.
36
Institut für Zeitgeschichte München, Doc. 16.03.
34
9
vorübergehend in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste.
Nach Kriegsende veröffentlichte sie 1946 mit mäßigem Erfolg das Stück
„Karl Stuart“ und wurde wieder in den Schutzverband deutscher
Schriftsteller aufgenommen37. Zwei Jahre später erfolgten die erneute
Kontaktaufnahme und Aussöhnung mit Brecht und anderen
„Kriegsexilanten“, mit denen sie regen Briefwechsel betrieb38.
Sie versuchte an frühere Erfolge anzuknüpfen, mit ihren beiden
Prosaarbeiten „Das Pferd und die Jungfer“ (1952) und „Im Netz“ (heute:
„Er hätte besser alles verschlafen“, 1953) gelang ihr dies auch; was das
Theater betraf, so blieb der Erfolg zunächst aus. Zwar wurde die
Inszenierung von der „Starke Stamm“, uraufgeführt am 07.11.1950 auf der
Münchner Kammerspiel Bühne, von den Kritikern gefeiert39, Fleißer selbst
blieb jedoch skeptisch. In einem Brief an Helene Weigl schrieb sie: „…und
bin, obwohl die Presse im ganzen wohlwollend war, rein aus dem heraus,
was ich spürte, jetzt davon überzeugt, dass ich nicht fürs Theater schreiben
kann…“ 40. Die rasche Absetzung des Stücks am Ingolstädter Theater im
Oktober 1951 schien ihr hierbei Recht zu geben. Fleißer zog sich nach
Ingolstadt zurück, wo sie ihren mittlerweile herzkranken Ehemann pflegen
musste. Zeit zum Schreiben blieb da kaum. Sie erwog die Trennung,
verwarf den Gedanken aber wieder. 1958 starb Bepp Haindl. Für Marieluise
Fleißer kam dies einem Befreiungsschlag gleich. Unter welch großer
psychischer Anspannung die Autorin, die seit 1956 für das Lektorat des
Bayerischen Rundfunks arbeitete, in der Zeit vor Haindls Tod gestanden
haben musste, davon zeugte der Herzinfarkt, den sie kurz darauf erlitt. Nach
einem Krankenhausaufenthalt verkaufte sie das Tabakgeschäft ihres Mannes
und mietete sich eine kleine Wohnung in Ingolstadt an41. Mit „Avantgarde“
(1963) und „Der Rauch“ (1964) gelang ihr die Rückkehr in die
Öffentlichkeit. Den endgültigen Durchbruch erreichte sie freilich erst mit
der Neuinszenierung des „Starken Stamms“ 1966 in Berlin, sowie der
Neufassung von „Pioniere in Ingolstadt“ von Rainer Werner Fassbinder.
Dieser ist neben Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz einer der jungen
37
MFB, S. 311/312.
MFB, S. 315ff..
39
ebenda S. 317.
40
Fleißer an Helene Weigl, 16.01.1951, Brf., S. 321f..
41
Mat., S. 424/425.
38
10
Dramatiker, denen sie zum Großteil ihren späten Ruhm zu verdanken hat42.
1972 widmete sie ihnen die Erzählung „Alle meine Söhne“, im selben Jahr
erschien auch eine Ausgabe ihrer gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag.
Dafür hatte die Autorin monatelang eng mit dem Verleger und dem
Herausgeber Günther Rühle zusammengearbeitet. Fleißer war mit ihren
Erzählungen nicht zufrieden; in einem für eine mittlerweile Siebzigjährige
erstaunlichen Kraftakt schrieb sie immer wieder um, ergänzte Teile, strich
und ließ sich vom Verleger jedes Stück abringen43. Zusätzlich zu den
Texten erschien ein Anmerkungsteil, in dem die Autorin selbst zu Wort
kam, und der heute noch als Interpretationsgrundlage vieler ihrer Texte
herangezogen wird.
Mit den Veröffentlichungen nahmen ihre Popularität und die Anerkennung,
die ihr zu Teil wurde, zu. Im Frühjahr 1973 wurde sie ordentliches Mitglied
der Berliner Akademie der Künste, im gleichen Jahr sogar mit dem
Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet44.
Ihre schwache Gesundheit hielt dem allen nicht stand. Ihre Herzprobleme
und Krankenhausaufenthalte häuften sich. Im Januar 1974 unternahm sie
noch einen Kurversuch in der Schweiz, musste aber am 21. Januar auf die
Intensivstation gebracht werden. Zwölf Tage später starb sie schließlich und
wurde in ihrer Heimatstadt Ingolstadt auf dem Westfriedhof beigesetzt.
42
MFB, S. 353-364.
MFB, S. 364 ff..
44
MFB, S. 376.
43
11
III. Kindheit in Ingolstadt
Ihre Kindheit und einen Teil ihrer Jugendzeit verbrachte die Autorin in ihrer
niederbayerischen Geburtsstadt Ingolstadt. Wie sie das Leben dort beeinflusste
und welche Eindrücke sie in dieser Zeit gesammelt hat, schilderte sie später in
ihren Erzählungen „Kinderland“ (1950) und „Gassenbesen in Ingolstadt“
(1928).
Das Milieu, in dem Fleißer aufgewachsen ist, lässt sich vermutlich am
Treffendsten mit dem Begriff „kleinbürgerlich“ beschreiben. Das Leben in der
Universitätsstadt Ingolstadt, für die seit jeher das Militär eine wichtige Rolle
gespielt hatte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts dabei zu stagnieren: von
1901, dem Geburtsjahr Marieluise Fleißers, bis 1914, dem Jahr, an dem sie an
das Institut der Englischen Fräulein in Regensburg überwechselte, ließ sich
lediglich ein Wachstum der Einwohnerzahlen um 1 539 Bürgerinnen und
Bürger von 22 206 (1901) auf 23 745 (1914) verzeichnen, verglichen mit
anderen Städten ist dies für die damalige Zeit sehr gering45. Wie das
Adressbuch von 1914 zeigt, war der Alltag der Ingolstädter geprägt vom
Handwerk, aber auch „lebhafter Handel und Verkehr“, vor allem die günstige
Lage der Stadt als Eisenbahnknotenpunkt zwischen München und Nürnberg
und als Umschlagplatz für die Donauschifffahrt waren von entscheidender
Bedeutung für die Bevölkerung46. Die Mehrheit der Einwohner übte
vielfältigste handwerkliche Tätigkeiten aus, ebenso Marieluise Fleißers Vater,
der von Beruf Schmied war. Die Sozialstrukturen waren von einer Vielzahl
bürgerlicher Vereine dominiert47.
Das Militär, das in Ingolstadt, wie bereits erwähnt, auf eine lange Tradition
zurückblicken konnte, hatte vor dem Ersten Weltkrieg erheblich an Bedeutung
eingebüßt und hielt eher noch repräsentative Zwecke inne, ein Bild, das sich
allerdings mit Kriegsbeginn sehr zur Freude der Ingolstädter wieder wandelte.
Das endgültige Aus und die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen
45
Vgl. „Die Schulzeit der Marieluise Fleißer in Ingolstadt“, Facharbeit von Christine Zehelein, Ingolstadt, 1994,
im Folgenden zitiert als „Farb.“, S. 5.
46
Farb., S. 5-6.
47
Farb., S. 5.
12
Probleme erfuhr das Soldatenwesen in Ingolstadt nach Inkrafttreten des
Versailler Vertrages 1919 und den damit eintretenden
Entmilitarisierungsmaßnahmen im besiegten Deutschland48. Im Leben der
Kleinstadt ließen sich jedoch damals auch Gegensätzlichkeiten erkennen: so
steht das Bild der bürgerlichen Enge und Kontrolle, das Fleißer immer wieder
in ihren Werken, insbesondere in ihrem Roman „Die Mehlreisende Frieda
Geier“ (1931), vermittelt, in krassem Widerspruch zu der Toleranz, die
offensichtlich gegenüber den circa dreißig jüdischen Familien der Stadt
herrschte und die für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war.
Konfessionell gesehen war die Mehrheit der Einwohner katholisch, allerdings
ist in den Jahren von Fleißers Kindheit ein Prozentsatz von ungefähr zehn
Protestanten in den Stadtbüchern verzeichnet 49.
Das Schulwesen war um die Jahrhundertwende - im Verhältnis zu den
Einwohnerzahlen gesehen - gut ausgebaut: es gab ein Gymnasium, eine
Realschule, ein Mädcheninternat, eine Knaben- und eine Mädchenvolksschule
(damals Werktagsschule genannt) sowie eine Fortbildungsanstalt für
Lehrerinnen50.
Ein Erlebnis aus Fleißers Kindheit, das ihr wohl im Gedächtnis geblieben sein
wird, war die Bedrohung der Stadt durch ein Hochwasser im Jahre 1910, bei
dem sie als Achtjährige miterlebte, wie die Gefahr durch die Truppen der
stationierten Garnison, zufälligerweise „Pionieren“, gebannt wurde51.
Fest steht, dass sich Fleißer bis zu ihrem Tod trotz der teilweise immer wieder
erfahrenen Ablehnung ihrer schriftstellerischen Tätigkeiten und den
Spannungen, mit denen sie nach der Aufführung ihres Stückes „Pioniere in
Ingolstadt“ ihrer Heimatstadt konfrontiert war, eng – im positiven wie im
negativen Sinn - mit ihrer Geburtsstadt verbunden sah, wovon zahlreiche ihrer
Werke, etwa die „Zwölf Portraits“ (1928) oder ihre Lebensrückschau in den
„Materialien“52, zeugen.
48
Mat., S. 19-20.
Farb., S. 5.
50
Farb., S. 6.
51
Farb., S. 6.
52
Vgl. Mat., S. 411-428.
49
13
IV. Elterliche Erziehung und deren Auswirkungen
1. Zur Geschichte der Familie Fleißer53
Die Familie Fleißer ist seit jeher tief in Bayern verwurzelt. Marieluises
Vorfahren stammten ursprünglich aus der Oberpfalz, ihr Ururgroßvater
Georg Mathias Fleißer, ein Schneidermeister, lebte in Fuchsberg, einer
kleinen Hofmark in der Nähe von Teunz54. Fleißers Urgroßvater Peter, der
erste Waffen- und Zeugschmied der Familie, verlegte seinen Wohnsitz 1830
nach Weiden und Amberg, wo er mehrere Schmiedewerkstätten betrieb55.
Sein Sohn Andreas Fleißer, der Großvater von Marieluise, führte diesen
Beruf fort und ließ sich 1860 als Geschmeidemacher in Ingolstadt nieder.
Dort erwarb er am 20. April 1861 das spätere Geburtshaus der Autorin in
der Kupferstraße 18 (damals Hausnummer 69). Im Juni desselben Jahres
heiratete er die Zeugmachertochter Walburga Höcht aus Treuchtlingen, mit
der er drei Kinder hatte. Nach Walburgas Tod im Jahre 1867 vermählte er
sich erneut, diesmal mit der Ingolstädter Maurerstochter Anna Ostermair,
die ein Jahr später am 22. Mai 1867 Marieluises Vater Heinrich Fleißer zur
Welt brachte, allerdings kurz darauf starb. Andreas Fleißer lebte noch bis zu
seinem Tod am 14. September 1904 in der Kupferstraße in Ingolstadt. Er
war zeitweise als Kommunalpolitiker tätig und erlebte noch die Geburt
seiner Enkelin Marieluise am 22. November 190156.
Marieluise Fleißer selbst setzte sich mit ihrer Familiengeschichte im
Programmheft zur Uraufführung des Stückes „Starker Stamm“ 1950 in
München auseinander. Lebhaft und detailliert schildert sie dort die
Charaktere ihrer Vorfahren (übrigens ausschließlich der männlichen!) und
53
Als Quellen wurden im Folgenden benutzt: Edmund Hausfelder, „Zur Geschichte der Familie Fleißer“,
erschienen im Schriftenheft 3 der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Ingolstadt 2001, im
Folgenden zitiert als „Heft“; Edmund Hausfelder, „Genealogie der Familie Fleißer“, erschienen ebenda, sowie
Marieluise Fleißer, „Der starke Stamm“, Programmheft für das Stück „Der Starke Stamm“ der Kammerspiele
München, 1950.
54
Heft, S. 27.
55
Heft, S. 28-35.
56
Heft, S. 35-40.
14
skizziert ein mitunter ironisches, aber durchaus liebevolles Bild ihrer
Familie, insbesondere ihres Vaters57.
2. Verhältnis Marieluises zum Vater Heinrich Fleißer
Was das Verhältnis der Autorin zu ihren Verwandten anbelangt, so ist die
Beziehung Marieluises zu ihrem Vater Heinrich Fleißer wohl die am
häufigsten Behandelte und die umstrittenste.
Am 22. Mai 1868 geboren, erlernte Heinrich Fleißer das väterliche
Handwerk des Geschmeidemachers in Ingolstadt. Dort ehelichte er am
23.05.1898 Marieluises Mutter Anna Maria Fleißer, geborene Schmidt.
Louise Marie war das dritte Kind der beiden58. Von der FleißerBiographik lange Zeit als unbarmherziger Vater gesehen, der Marieluise
nach dem Skandal um ihr Stück „Pioniere in Ingolstadt“ 1929
„Hausverbot erteilte“59, muss dieses Urteil heute zumindest teilweise
revidiert werden. Denn Heinrich Fleißer erkannte offensichtlich
Marieluises Talent und war bemüht, seine Tochter zu fördern. So durften
sie und ihr Bruder Heinrich als einzige der sechs Kinder der Familie das
Gymnasium besuchen, seiner Tochter ermöglichte der Schmied sogar die
kostspielige Ausbildung an Privatinstituten, zuerst 1909 an der privaten
Vorschule der Höheren Töchterschule der Gnadenthalklosters in
Ingolstadt, ab 1914 den Internatsaufenthalt in Regensburg. Dem Wunsch
ihres Vaters, Lehrerin zu werden, kam Marieluise nach dem Abitur dann
jedoch, sehr zu seinem Bedauern, nicht nach60. Immer wieder haderte er
deshalb mit ihrem Schriftstellerinnendasein61; ihm wäre es lieber sie
würde „als Zigarrenladnerin in Berlin leben“62 oder irgendwo als
„Sekretärin od. Redaktörin Mitarbeiterin oder ähnliches Unterkommen
57
Heft, S. 21-26.
Vgl. Edmund Hauser „Genealogie der Familie Fleißer“, Heft drei der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer
Gesellschaft e.V., Ingolstadt 2001.
59
Mat., S. 417.
60
Mat., S. 415.
61
Vgl. Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer, herausgegeben in der
Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, S. 5-19, im Folgenden zitiert als „Briefwechsel“.
62
Briefwechsel, S. 9.
58
15
finden“63, da sie in diesen Berufen ein festes Einkommen hätte. Auch
ihren Werken stand er mitunter kritisch gegenüber. Nach der
Uraufführung der „Pioniere in Ingolstadt“ schrieb er ihr am 27. Juni 1929
„ich hatte es satt unseren Namen fast täglich als ergötzliche Zielscheibe
von Hohn, Spott oder bedauern zu wissen u. konnte sorglos dann sein
wenn mich die Leute überall ansahen wie einen Sünder“. Des Weiteren
fügte er hinzu: „…am liebsten wäre es mir schon, wenn einmal Ruhe
würde, mit diesen Pionieren, oder dir gelingt es neues zu schaffen
„besseres“, wie es die dir wohlwollende Kritik in Dir verborgen
glaubt.“ 64. Überhaupt sah er die Schriftstellerei als brotlose Kunst, oft
geht es in den Briefen an seine Tochter um finanzielle Probleme, seien es
die eigenen (denn auch das väterliche Geschäft bleibt von der
Wirtschaftskrise 1929 und den wirtschaftlichen Turbulenzen der
folgenden Jahre nicht verschont65) oder die der jungen Autorin66. Er riet
ihr, sich eine sichere Stelle mit geregeltem Einkommen zu suchen,
teilweise sogar in vorwurfsvollen Ton67, gleichwohl er ihr „ja das Geld
mitsamt dem Ruhm scheffelweise wünschen [würde]“68. Aus einem Brief
vom 23. März 1932 geht hervor, dass er ihr manchmal Geld sandte69.
Nach dem Skandal 1929 mahnte er sie, sich nicht mit der Stadtverwaltung
anzulegen, da „ [sie] gleich gar vielleicht einmal eine Unterstützung von
der Stadt brauchen würde[st], wenn ich einmal nicht mehr lebe…“70.
Selbst von intimen Themen hielt er sich nicht fern und ging mit ihr über
ihre Beziehung zu Haindl ins Gericht.71
Dass der Vater allerdings durchaus Interesse an ihren Werken zeigte,
davon zeugen die Tatsache, dass er ihren Roman, von dem sie ihm
offensichtlich ein Exemplar hatte zukommen lassen, gelesen hat und bei
der Rezession nicht mit Lob sparte72, auch wenn er ihn „des Anstandes
halber“ nicht an ihre Geschwister, besonders an die junge Hilde, die kurz
63
Briefwechsel, S. 10.
Briefwechsel, S. 7/8.
65
Briefwechsel, S. 5/6, 13, 14, 15, 16 und 18.
66
Briefwechsel, S. 5/7, S. 15ff..
67
Briefwechsel, S. 6.
68
Briefwechsel, S. 8.
69
Briefwechsel, S. 17.
70
Briefwechsel, S. 8.
71
Briefwechsel, S. 9.
72
Briefwechsel, S. 13, S. 17.
64
16
vor der Kommunion stand, weitergegeben hat73. Er schrieb hierüber:
„Wenn du nun einmal das Unglück gehabt hast in so jungen Jahren allein
u. fern dem Elternhaus in der Blüte deiner Seele u. dann im Denken und
Fühlen von Weickert u. Konsorten vergiftet zu werden, so lasse das bitte
nicht abfärben an Ella und an Hilde…“ und „… das Buch ist flüssig
geschrieben es ist manches gut geschildert aber, ich wurde rot bei
manchen Stellen u. nicht jede Familie nicht jede Mutter wird das Buch auf
den Tisch legen;…“74. Aus einem früheren Brief geht hervor, dass er auch
ihre Radiolesungen hörte.75
Stimmt also das Bild vom herzlosen Vater, das allzu oft von Heinrich
Fleißer gezeichnet wird? Ein strenger Grobian, der sich an seinem 75.
Geburtstag noch mit dem Schmiedehammer über der Schulter ablichten
ließ?76
Betrachtet man seine Briefe genauer, so kann man an einigen Stellen einen
milderen, fast liebevollen Ton erkennen, den Ton eines mittlerweile in die
Jahre gekommenen etwas mürrischen „Urbayern“, der sich sehr wohl um
seine Tochter sorgt. Einer Ermahnung an Marieluise schickte er
beispielsweise hinterher: „Nun ich weiß ja eigentlich nichts, im
ungewissen denke ich immer leichter das schlimmere, es kann ja auch
anders sein,… das würde ich dir wünschen von ganzem Herzen“77. Er
machte sich Gedanken um sein Alter und seine Gesundheit, immer wieder
ist auch seine Furcht vor dem Tod zu spüren, bei der zugleich Sorge um
die Zukunft seiner Kinder mitschwingt78.
Marieluise Fleißer selbst zeigte im Alter ein positives Bild von ihrem
Vater.
Im Programmheft zum „Starken Stamm“79 schrieb sie: „Mein Vater
Heinrich… war als echter Fleißer zu den Wallungen jäher Heftigkeit
ziemlich geneigt, hielt sich aber, weil er dies wusste, aus
Auseinandersetzungen gerne heraus. Im ganzen war er eine beschauliche
73
Briefwechsel, S. 16/17.
Briefwechsel, S. 16/17.
75
Briefwechsel, S. 14.
76
Vgl. Fotographie 10) im Anhang.
77
Briefwechsel, S. 7.
78
Briefwechsel, S. 6, 8, 10, 14, 16 und 18.
79
Marieluise Fleißer, Der Starke Stamm, Aufsatz im Programmheft zur Uraufführung des gleichnamigen
Theaterstückes an den Münchner Kammerspielen 1950, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Marieluise
Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, Ingolstadt 2001, im Folgenden zitiert als „Prg.“.
74
17
Natur - im Gegensatz zum handelnden Großvater - nannte sich einen
Philosophen, wurde übrigens als junger Mensch von der Zivilisation erfaßt
und schwärmte für Salome und Oscar Wild.“80 Sie schilderte ihn als
sportlich, da er in seiner Jugend gerne Eisenbahn und Rad gefahren war
und betonte sein charmantes Verhalten gegenüber den Frauen. Über sein
Verhältnis zu seiner Familie schrieb sie: „Er war nacheinander mit zwei
Frauen verheiratet und hat mit jeder von ihnen wunderbar gelebt…Alle
seine Kinder hingen mit starker Bindung an ihm wie an einer zentralen
Sonne.“81
Carl-Ludwig Reichert nennt Marieluise Fleißer ein „Vaterkind“82, sie
durfte bei seiner Arbeit in der Werkstatt zusehen, ihn manchmal nach
München begleiten83. Ihre Schwester Ella Gültig berichtete später: „…darf
sie [=Marieluise], während ihre Geschwister im Haushalt helfen, am
Fenster sitzen und ihren Gedanken nachhängen.“84 Aus ihren Werken geht
hervor, dass ihr Vater eine starke Persönlichkeit hatte85 und sicherlich
dazu beitrug, das Bild des „unbeugsamen, dominanten Mannes“ zu
prägen, der sich in den Stücken der Autorin finden lässt, seinen Kindern
gegenüber zeigte er sich jedoch als durchaus fürsorgender Vater86, was die
emotionale Sprache in den Briefen an seine Tochter belegt. Heinrich
Fleißer lebte bis zu seinem Tod am 04.11.1946 in Ingolstadt.
3 . Verhältnis Marieluises zur Mutter Anna Fleißer
So viel man aus Fleißers Werken über ihren Vater erfahren kann, so vage
und diffus bleibt doch das Bild der Mutter, über die sich nur in der
Erzählung „Kinderland“ Informationen finden lassen. Nach der
80
Prg., S. 25.
Prg., S. 25.
82
Vgl. Carl-Ludwig Reichert, Marieluise Fleißer, dtv, München, 2001.
83
Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950.
84
Aus einem Interview mit Ella Gültig, geführt von Andrea Biberger im Rahmen der Magisterarbeit „Nur
Fluchtwege im Kopf“, Familie und Schule, Erziehung und Bildung im Werke von Marieluise Fleißer, Landshut,
1998.
85
Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 32/33, Prg. S. 25f..
86
Vgl. Briefwechsel; Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 35, 36 und 40.
81
18
Eheschließung von Marieluises Eltern hatte Anna Fleißer bereits zwei
Jahre vor Marieluise die Zwillinge Anna Theresa und Heinrich Andreas
zur Welt gebracht. Der Sohn starb schon im Februar 1901 an Rachitis, ein
Erlebnis, das die Mutter offenbar schwer belastete. Der Vater soll sie mit
den Worten getröstet haben: „Sei still ich mache Dir wieder einen
Buben.“87. Statt des ersehnten Stammhalters wurde jedoch im November
desselben Jahres Marieluise geboren. Vielleicht hat dies die Beziehung der
Mutter zu ihrem Kind von Anfang an belastet, Fleißer selbst berichtet
zumindest kaum über ihre Mutter. Häntzschel nennt es „auffällig, dass es
in Marieluise Fleißers literarischem Werk nicht eine einzige liebevolle
Mutter gibt, dafür mehrere schon verstorbene oder äußerst
unsympathische.“88 Andererseits starb die Mutter bereits 1918 während
Marieluises Schulzeit in Regensburg an einem plötzlichen Grippetod,
sodass die Zeit, die die beiden miteinander verbrachten, eher kurz war
(man beachte, dass Fleißer ab 1914 in Regensburg war). Dass ihr Tod für
die damals erst 17-Jährige äußerst schmerzlich gewesen sein muss, davon
zeugt ein Kommentar im Nachwort ihrer „Gesammelten Werke“, wo sie
bei der Erinnerung an das Weihnachtsfest schrieb: „…die Mutter war es,
von der die Wärme und das Wunder strömten, die mit den Engeln auf du
und du stand; niemand konnte Stille Nacht singen wie sie mit zarter, etwas
zerscherbter Stimme, in der Glaube, Liebe und Hoffnung zitterten. Die
gute Mutter, sie sparte ein Jahr lang dafür, es war ihr Fest, und als die
Mutter nicht mehr lebte, war es kein Weihnachten mehr.“89. Die wenigen
Erinnerungen sind also durchaus positiv. Auch wenn sie die Mutter in
„Kinderland“ erwähnt, geht es um das Weihnachtsfest. Dort schildert sie,
wie die Kinder der Mutter bei den Weihnachtsvorbereitungen zur Hand
gehen. Marieluise ist erneut die Privilegierte, wie schon beim Vater, darf
heimlich beim Schmücken des Baumes helfen.90
Die Mutter erscheint die ganze Erzählung hinweg liebevoll, von Strenge
oder gar körperlicher Züchtigung ist nicht die Rede. Nur einmal in
Marieluises Kindheit schien ihr dieses Mittel der elterlichen Erziehung
87
Mat., S. 411.
MFB, S. 22.
89
Marieluise Fleißer, Gesammelte Werke, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt am Main, 1972, Bd. 4, S. 51.
90
Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 41ff., im Folgenden zitiert als „Kl.“.
88
19
widerfahren zu sein, als sie und ihre Geschwister nicht pünktlich nach dem
Gebetläuten zu Hause waren, ein in der Familie Fleißer offenbar strenges
Gebot.91 Ansonsten ist Marieluise offenbar unbeschwert herangewachsen.
Sie selbst berichtet in „Kinderland“: „Es war eine intime kleine Welt, die
noch nicht versehrt war. Alle traurigen Dinge waren noch Rätsel, die man
nicht auf sich selber bezog.“92 Marieluise spielte offensichtlich viel auf der
Straße mit anderen Kindern der Nachbarschaft93, weshalb die Mutter über
den „Gassenbesen“94 schimpfte und damit wahrscheinlich den Anreiz zu
Fleißers gleichnamiger Erzählung gab.
Die Religiosität der Familie spiegelt sich ebenfalls in Fleißers
Kindheitserinnerungen wider, sei es im offensichtlich hohen Stellenwert,
den christliche Feste wie etwa Weihnachten im Familienalltag einnahmen
oder den zahlreichen Kirchenbesuchen in der Adventszeit.95
4 . Verhältnis Marieluises zu ihren Geschwistern
Marieluise Fleißer hatte insgesamt sechs Geschwister, von denen eines,
der ältere Bruder Heinrich Andreas, im Frühjahr vor ihrer Geburt starb.
Seine Schwester Anna Theresia Fleißer (geb.: 07.03.1899) war das älteste
Kind der Familie, dann folgten Louise Marie (1901), Henriette Franziska
(1903), Heinrich Christian (1907) und Gabriele Maria (1909). Nach dem
Tod seiner ersten Frau Anna im Jahre 1918 heiratete Heinrich Fleißer am
19.10.1921 das ehemalige Dienstmädchen der Familie, Maria Werler.
Diese war zum damaligen Zeitpunkt nur zwanzig Jahre alt, also im selben
Alter wie ihre Stieftochter Marieluise. Aus dieser Ehe ging 1923 noch die
Nachzüglerin Hildegard Maria hervor96.
Über Marieluises Verhältnis zu ihren Geschwistern ist wenig bekannt. In
ihren Erzählungen tauchen sie zwar an einigen Stellen auf (etwa in
91
Kl., S. 37, 39.
Kl., S. 34.
93
Kl., S. 36; Marieluise Fleißer, Gassenbesen in Ingolstadt, 1929/1930.
94
Kl., S. 36.
95
Kl., S. 39.
96
Heft, S. 42.
92
20
„Kinderland“97), eine namentliche Nennung gibt es jedoch nie. Auch in
ihrer Autobiographie in den „Materialien“ bleibt sie diesbezüglich vage98.
Wie bereits oben angedeutet, scheint Marieluise das Lieblingskind ihres
Vaters gewesen zu sein, in späteren Interviews äußerten sich ihre
Geschwister allerdings durchweg positiv über Marieluise, vor allem ihre
Schwester Gabriele Gültig, genannt „Ella“99.
Aus dem Briefwechsel zwischen Marieluise und ihrem Vater geht der
Werdegang der einzelnen Fleißerkinder hervor: Die Älteste, Anna, trat als
Schwester Maria Fidelis in den „Covent of the Holy Cross“ ein und ging
anschließend nach Namibia, wo sie in Aliwal North als Missionarin und
Lehrerin tätig war. Kurz vor ihrem Tod im Jahre 1950 überfielen sie
Fiebervisionen, im Delirium schrieb sie mehrere Briefe an Marieluise, in
denen sie ihre Kindheit rekapitulierte. Henriette, genannt „Jetty“, heiratete
einen Lokomotivführer, „Ella“ arbeitete als Angestellte bei der
Vereinsbank in Ingolstadt. Marieluises einziger Bruder Heinrich
absolvierte ebenso wie sie selbst das Gymnasium, schloss dieses mit guten
Noten ab und bekleidete später nach anfänglicher Arbeitslosigkeit zu
Zeiten der Wirtschaftskrise eine leitende Position bei der Firma Siemens.
Hilde, die Jüngste, übernahm das Eisenwarengeschäft100.
97
z. B. Kl., S. 38, 40, 41ff..
Mat., S. 411/412.
99
Vgl. Interviews von Gabriele Gültig mit Andrea Biberger und Christine Zehelein im Rahmen derer Magisterbzw. Facharbeiten.
100
Heft, S. 11, 14 und 16; Mat. S. 411/412.
98
21
V. Schulzeit101
1. in Ingolstadt
a) An der Werktagsschule
Im Jahre 1907 trat Marieluise Fleißer im Alter von fast sechs Jahren in die
städtische Volksschule, damals Werktagsschule genannt, in Ingolstadt
ein102. Dort besuchte sie die Klasse Ia der Klassenlehrerin Anna Strauber.
Das Schuljahr war viergeteilt, wobei in jedem Quartal Einzelnoten vergeben
wurden, die am Jahresende zu einer Gesamtnote verrechnet wurden. Von
den 49 Schülerinnen war sie mit einem Notendurchschnitt von 1,17 die
Klassenbeste103, eine Leistung, die sie im darauffolgenden Jahr in der
zweiten Klasse von Sr. Bonifazia Schiebel mit einem Notendurchschnitt
von 1,03 sogar noch verbessern konnte. Im ersten Schuljahr hatte sie nur
fünf Fehltage, im zweiten wahrscheinlich auf Grund einer längeren
Krankheit 31.104
Die Autorin schien sich dabei bereits damals vor allem in den Fächern
Deutsch und Aufsatz hervorzutun. Anlässlich eines Volksfestes in
Ingolstadt schrieb sie ein kleines Gedicht, an welches sich eine Lehrerin
auch nach sechzig Jahren noch erinnern konnte105. Interessant dabei ist, dass
Marieluise als Kind viel gelesen haben muss. In „Kinderland“ berichtete sie
über ihre Ausflüge in die Volksbücherei, wo sie sich ihre Lektüre auslieh.
Dort schrieb sie: „ `Was möchtest du denn haben?´, fragte er [= der
Bibliothekar] mich… `Am liebsten ein dickes [Buch]´, sagte ich schlicht
und wies das dünne Bändchen Gockel, Hinkel und Gackeleia, das er mir
eigens ausgesucht hatte, mit Entrüstung zurück, das hatte ich viel zu schnell
ausgelesen.“106
101
Für Allgemeine Informationen zur Mädchenbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe: Puhlmann
Angelika, Mädchenerziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, Köln, 1919; Hopf Caroline, Frauenbewegung
und Pädagogik-Gertrud Bäumer zum Beispiel, Bad Heilbronn, 1997; Hiltrud Häntzschel und Hadumod
Bußmann, Bedrohlich gescheit, Ein Jahrhundert Frauen und Wissenschaft in Bayern, Beck Verlag, München,
1997 sowie „Nur Fluchtwege im Kopf“, Familie und Schule, Erziehung und Bildung im Werk von Marieluise
Fleißer“, Magisterarbeit von Andrea Biberger, Landshut, 1998, S. 9-11, in Folgenden zitiert als „Magarb.“.
102
Vgl. „Die Schulzeit der Marieluise Fleißer in Ingolstadt“, Facharbeit von Christine Zehelein, Ingolstadt 1994,
im Folgenden zitiert als „Farb.“.
103
Zu den Einzelnoten vgl. Zensurbücher der dt. Werktagsschule zu Ingolstadt von 1907/08 und 1908/09,
Stadtarchiv Ingolstadt, AV I 130a, Kopien im Anhang.
104
Siehe ebenda.
105
Farb., S. 14.
106
Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 36.
22
b) An der Gnadenthalschule
1909 wechselte Marieluise an die private Vorschule der Höheren
Töchterschule des Klosters Gnadenthal, anschließend besuchte sie bis 1914
die Gnadenthalschule selbst, die in der Nähe des elterlichen Wohnhauses in
der Kupferstraße lag. Auch dort erbrachte sie hervorragende Leistungen,
war an der Vorschule mit einem Notendurchschnitt von 1,37 in der dritten
und 1,26 in der vierten Klasse Zweit- bzw. Klassenbeste. An der Höheren
Mädchenschule belegte sie mit Durchschnitten von 1,37 (1.Klasse), 1,42
(2.Klasse) und 1,05 (3.Klasse) jeweils den ersten Platz im Vergleich mit
ihren circa je 40 Mitschülerinnen107. Dass sie trotz etwas schlechterer
Zensuren Klassenbeste blieb, zeugt davon, dass sie den offenbar
gestiegenen Ansprüchen gewachsen war. Wieder schienen ihre besten
Fächer - neben Kunst - Deutsch und Aufsatz zu sein108.
Was die Atmosphäre an den Gnadenthalschulen betraf, so lässt sich
festhalten, dass dort großer Wert auf die individuelle Bildung der
Schülerinnen sowie auf deren religiöse Erziehung gelegt wurde.109 Das
Erziehungs- und Leitbild war geprägt von den Grundsätzen Gleichheit und
Gleichberechtigung und der Bemühung, eine familiäre Lernatmosphäre zu
schaffen. So scheinen sich die Schwestern beispielsweise im besonderen
Maße der Jüdinnen der Stadt angenommen zu haben, um sie in das
Stadtleben zu integrieren und ihnen eine Chance auf Bildung zukommen zu
lassen.110 Dass es allerdings gleichwohl ein Privileg war, Mitglied der
traditionsreichen Schulgemeinschaft zu sein, das beweist die Aussage von
Marieluises Schwester Gabriele Gültig „Ja, des war scho was b´sonders,
wenn ma´aufs Gnadenthal ganga is´“111.
1827 auf Weisung Ludwigs des I. mit dem Auftrag zur „Erziehung und
Bildung der weiblichen Jugend“, insbesondere aber zur Erteilung des
Religionsunterrichtes, gegründet, befreiten die Gnadenthalschulen das
107
Vgl. Farb., S. 12-14, Zensurbücher der Höheren Töchterschule des Klosters Gnadenthal, 1909/10 bis
1913/1914, Stadtarchiv Ingolstadt.
108
Vgl. Farb., S. 13.
109
Vgl. Farb., S. 12.
110
Vgl. Farb., S. 12.
111
Vgl. Farb., S. 9.
23
gleichnamige Kloster, das zwei Jahre darauf wiedereingerichtet wurde, aus
der misslichen Lage der Säkularisation nach 1803. Der Bau des
Schulgebäudes, in dem ab 30. September 1830 404 Schülerinnen
sogenannten „Elementarunterricht“ durch die Schwestern erhielten, dauerte
von März bis August 1830. Durch den großen Erfolg der Gnadenthalschulen
stieg die Schülerzahl in den nächsten dreißig Jahren auf 738 an, 1914
wurden bereits 2227 Mädchen dort unterrichtet.112 Die steigenden
Schülerzahlen machten ständige Neu- und Umbauten von Nöten, so
entstand auch das sog. „Elisabethhaus“, in dem Marieluise Fleißer
untergebracht war113. 1900 wurde die Vorschule, welche Marieluise
besuchte, 1913 ein Lehrerinnenfortbildungsseminar sowie 1914 eine
Kochschule eingerichtet. Die große Bedeutung der Schule für die Stadt geht
aus den zahlreichen Nennungen im „Ingolstädter Tagblatt“, der
Lokalzeitung, hervor. Man lobte die „vorzügliche Schulung“ sowie die
Tatsache, dass die Schülerinnen „allseitig und praktisch gebildet“ seien und
„mit so viel Liebe und Fleiß unterrichtet“ werde114. Der Ingolstädter
Bürgermeister Doll hob anlässlich der 50-Jahrfeier der Klosterschulen im
Jahre 1880 ausdrücklich deren Bedeutung für die Stadtgemeinde hervor115.
Ihren guten Ruf hatte die Schule sicherlich der erstklassigen Bildung zu
verdanken, die den Mädchen dort zu teil wurde. Neben den
„Elementarfächern“ wie Deutsch oder Mathematik wurden noch
Zusatzfächer wie Englisch, Stenographie, Buchführung und sogar die
Naturwissenschaften Physik und Chemie, für die eigens neue Räume
angebaut werden, unterrichtet. Allerdings war dies mit einem zusätzlichen
Aufpreis von 30 bzw. 10 Mark zum üblichen Schulgeld von 80 Mark
verbunden116.
Daneben wurde viel Wert auf die kulturelle Bildung der Schülerinnen
gelegt. Wie eine Auswertung der Jahresberichte der Gnadenthalschulen von
1904-1914 ergibt117, besuchten die Schülerinnen mehrere
112
Vgl. Farb., S. 8.
Zur genaueren räumlichen Situation an den Gnadenthalschulen vgl. Fl.- Dok. I, 313, Stadtarchiv Ingolstadt,
Kopie im Anhang.
114
Siehe Ingolstädter Tagblatt, 1909, Nr. 237, S. 9; Ingolstädter Tagblatt, 1910, Nr. 156, S. 3f. und Ingolstädter
Tagblatt, 1911, Nr. 158, S. 3f..
115
Vgl. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Gnadenthalschulen, S. 14.
116
Farb., S. 10.
117
Siehe Jahresberichte der Gnadenthalschulen von 1904-1914, Stadtarchiv Ingolstadt sowie Farb., S. 10f..
113
24
Rezitationsvorträge deutscher Dichter, sowie zwei kunstgeschichtliche
Vorträge mit Lichtbildführung über die italienische Renaissance im Februar
und März 1913. Des Weiteren standen Konzert- sowie Museums- und
Theaterbesuche auf dem Programm, die für die höheren Klassen zweimal
pro Jahr Pflicht waren. Um den Zusammenhalt unter den Mädchen zu
stärken, wurden gemeinsame Ausflüge nach Ingolstadt und Umgebung,
etwa in den Geisenfelder Forst oder das Altmühltal, unternommen, die bei
den Jugendlichen großen Anklang fanden118.
Zudem war die Schule bemüht, das politische Interesse der jungen Frauen
zu wecken und ihren Patriotismus zu stärken. Wie aus den Jahresberichten
von 1913 und 1914 hervorgeht, besuchten die Schülerinnen die Festspiele
zum Völkerschlachtsdenkmal bei Leipzig im Ingolstädter Lichtspielmuseum
im Oktober 1913, am 14. Juni des selben Jahres wurden die Erhebung
Deutschlands zum Kaiserreich und das Regierungsjubiläum des Kaisers
feierlich begangen sowie am 17.01.1914 die Thronbesteigung Ludwigs III.
festlich inszeniert. Oberin Canisia Adlhoch, zu Marieluises Schulzeit die
Direktorin der Schule, war eine glühende Verehrerin Seiner Kgl. Majestät
des Prinzregenten Luitpold, sodass alle seine Geburts- und Namenstage
gefeiert werden und ein Requiem mit anschließender Trauerfeier anlässlich
seines Todes im Dezember 1912 stattfand119. Natürlich kam auch die
Vermittlung christlicher Werte nicht zu kurz: so wurden etwa an
Weihnachten Spenden gesammelt oder die Beschenkung armer Kinder
organisiert120.
Großer Beliebtheit seitens der Schülerinnen erfreute sich der seit 1912
angebotene „Benimmunterricht“ (leider ist nicht festzustellen, ob Marieluise
diesen besuchte oder nicht) sowie das kostenlos angebotene Schulspiel, an
dem die Autorin teilnahm. Im Rahmen dieses Wahlfaches wurden die
zahlreichen Weihnachts- und Faschingsfeiern der Schule sowie das
alljährliche Mai- und Schlussfest organisiert, welche der Öffentlichkeit
zugänglich waren und dort auf breiten Zuspruch stießen.
So nannte die Ingolstädter Zeitung vom 22. Dezember 1912 das von den
Schülerinnen bei der Weihnachtsfeier aufgeführte Stück „Wie Klein-Else
118
Vgl. Schickel A., 150 Jahre Gnadenthalschulen, Geschichte und Erbe.
Farb., S. 11.
120
Ingolstädter Zeitung, Nr. 294, 1912, S. 2, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.- Dok. I, 240 – 2.
119
25
das Christkind suchen ging“121 „Eine Augenweide für jeden, der sich ein
Stück Kindessinn erhalten“ und schrieb: „Wer hätte nicht seine Freude
haben sollen an diesem an Handlung und Abwechslung reichen kindlichen
Spiele!“122. Auch die Weihnachtsaufführung vom darauffolgenden Jahr, die
Inszenierung des Krippenspiels „Thalita“, erntete positive Kritik123.
Marieluise Fleißer wurde dabei zweimal namentlich als Mitglied der
Theatergruppe erwähnt: einmal erschien sie in als Meerjungfrau (1912), im
Jahr darauf spielte sie in „Thalita“ sogar die Hauptrolle. Der Verfasser des
Artikels würdigte an dieser Stelle ausdrücklich „…Louise Fleißer als
„Thalita“, die durch ihr hingebungsvolles, aus tiefster Seele geschöpftes
Spiel den Zuschauer fesselte[n]“124. Darüber hinaus tauchte die junge
Marieluise in einem Artikel des Ingolstädter Tagblattes von 1914 auf: dort
heißt es „sehr schön und dramatisch vollendet [kam] … Le Coeur de Jeanne
d´Arc (Luise Fleißer) zum Vortrag:“125 Auch privat war die Autorin bereits
als Kind vom Theater fasziniert. In einem späteren Interview berichtete sie:
„Ich habe schon als Kind häufig Puppentheater nach Märchen, ohne jede
Vorbereitung und aus dem Stegreif gespielt. Ich habe dafür gegen einen
Pfennig Eintritt die Kinder der Kupferstraße eingeladen und hatte immer
soviel Kinder bei mir, dass ich sie kaum auf den Stühlen unterbringen
konnte.“126
Hieran lässt sich ermessen, dass in Ingolstadt sicherlich ein hervorragender
Grundstein für die umfassende Bildung der Autorin gelegt wurde, die später
in Regensburg am Realgymnasium der Englischen Fräulein den letzten
Schliff erhalten hat. Ohne ihre Ausbildung an den Gnadenthalschulen hätte
Marieluise vermutlich nie die Aufnahmeprüfung dort bestanden. Auf diese
angesprochen antwortete die damals Dreizehnjährige keck „…warum soll
ich mich fürchten, ich bin ja gescheit.“127, was zeigt, dass die Dichterin
durchaus über die ihr zuteilwerdenden Privilegien Bescheid wusste. Freilich
erwarteten die Gnadenthaler Schwestern im Gegenzug für die
hervorragende Bildung, die sie den Schülerinnen vermittelten - ganz nach
121
Ebenda.
Ebenda.
123
Ingolstädter Zeitung, Nr. 289, 1913, S. 3, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.-Dok. I, 240 - 1.
124
Ebenda.
125
Ingolstädter Tagblatt, Nr. 161, 1914, S. 3.
126
Fl.-Dok. 131a, S. 4, Stadtarchiv Ingolstadt.
127
Farb., S. 14.
122
26
damaliger Tradition - auch Respekt, Disziplin, Fleiß sowie gutes Benehmen
von den Mädchen als Gegenleistung, was daran ersichtlich wird, dass in den
Jahresberichten ausdrücklich erwähnt wird, dass Schülerinnen der zweiten,
dritten und fünften Klassen schlechte Betragensnoten erhalten hätten , da sie
„vorübergehend einen Verkehr, der nicht zu dulden, ist pflogen“128; ein
Preis, den die jungen Frauen bereit sein mussten zu zahlen und der auch
Marieluise später in Regensburg immer wieder Schwierigkeiten bereitete.
128
Farb., S. 11.
27
2. am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg
a) Fluch oder Segen? - Die ambivalente Beurteilung von Fleißers
Schulzeit in Regensburg
1914 wechselte Marieluise an das Institut der „Englischen Fräulein“ in
Regensburg. Die Ursachen hierfür waren so banal wie einfach: am Ende des
19. Jahrhunderts war die Ausbildung für Frauen in Bayern nicht einheitlich
geregelt. Neben der Volks- existierten nur die Höhere Töchter- oder die
Mädchenschule als Bildungseinrichtung, Lehrpläne und Abschlüsse waren
nicht einheitlich organisiert, sodass Frauen in der Regel nicht die
Möglichkeit hatten, zum Hochschulstudium zugelassen zu werden129. Ihre
Schulzeit sollte sie vielmehr auf ihre Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter
vorbereiten und dafür notwendige Kenntnisse, z. B. auf dem Feld von
Konversation und Religiosität, vermitteln. Eine der wenigen
Berufsaussichten für junge Mädchen war der Beruf der Lehrerin, in dem
auch Heinrich Fleißer, wie bereits erwähnt, seine Tochter gerne gesehen
hätte130. Eine Verbesserung der weiblichen Bildungssituation trat erst ab
dem Jahre 1911 mit einer einheitlichen Schulordnung für Höhere
Mädchenschulen ein, die auch die Einführung eines zum Hochschulstudium
berechtigenden Abiturs, wie es 1915/1916 erstmals am Institut der
„Englischen Fräulein“ in Regensburg abgelegt wurde, möglich machte131.
Da es in Ingolstadt nur ein Knabengymnasium gab und Marieluise somit die
Möglichkeit eines Abiturs dort verwehrt geblieben wäre, hatte sie keine
andere Wahl als den Wechsel an das klösterliche Institut in Regensburg132.
Die folgenden sechs Jahre, die die spätere Autorin am dortigen Internat
verbrachte, gehören wohl neben ihrer Münchner Zeit zu den umstrittensten
Perioden ihres Lebens.
Immer wieder ist in der Fleißerbiographik von einem `Horrorinstitut´ die
Rede, das Fleißer selbst einen „steifleinernen Kragen“133 nannte. Sie sprach
von „Scheuklappen der Internatsbildung“134, rigiden Regeln und rigorosen
129
Magarb., S. 9.
Mat., S. 415.
131
Magarb., S. 9.
132
Mat., S. 412, MFB, S. 23 und 26.
133
Mat., S. 357.
134
Marieluise Fleißer, Gesammelte Werke, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt a. Main, 1972, Bd. III, S. 312.
130
28
Reglementierungen135 – gerne wird hier als Beispiel die im Internat
herrschende Briefzensur genannt, deren Abschaffung die Schülerinnen
jedoch 1918 erreichten, und auch die Anekdote über die Lektüre von Kleists
„Die Marquise von O…“, auf Grund derer angeblich eine Mitschülerin
Fleißers des Internates verwiesen worden sei, weil sie den Inhalt an ihre
Kameradinnen weitererzählte, ist fast schon Standard136. In Fleißers Werken
finden sich ebenfalls immer wieder Anspielungen auf ihre Schulzeit an der
Klosterschule, sei es in Form der oft religiösen und biblisch geprägten
Sprache137 oder in zahlreichen Erzählungen wie „Der Apfel“ (1925) und
„Die Törin“, (später bekannt als „Arme Louise“ oder „Moritat vom
Institutsfräulein“, 1926), der Geschichte „Die Ziege“ (1926/1929), in der
sich Fleißer mit der Existenz Gottes auseinander beschäftigte, oder in
„Das Mädchen Yella“ (1929) sowie nicht zuletzt in ihrem Roman
„Die Mehlreisende Frieda Geier“ (1931), in dem sie in der Figur von
Friedas Schwester Linchen dem leidenden Internatszögling ein literarisches
Denkmal setzte.
Dass sie sich scheinbar eingeengt fühlte im Internat, davon zeugen
vielfältigste Berichte und Erwähnungen ihrer Schulzeit. So schrieb sie am
03.01.1972 an Günther Rühle: „Ich habe schon auf der Klosterschule
geschrieben, dummes Zeug, Geschichten, die in der Wüste spielten und
Gedichte.“138. In einem Interview mit A. Forster sagte sie über „Fegefeuer
in Ingolstadt“: „Es [= das Stück] entstand aus dem Zusammenprall meiner
katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger
und den Werken Brechts. Das hat sich einfach nicht miteinander
vertragen“139. Des Weiteren schilderte sie „…es gab die Flucht nicht nach
draußen, es gab nur Fluchtwege im Kopf…“140. In „Moritat vom
Institutsfräulein“ (1928) heißt es: „Ich wusste nicht, wie man klug ist. Ich
wusste bloß, daß ich aufgewachsen bin in einem Kloster und daß alles, was
ich dort gelernt habe für mein Leben falsch ist. Ich war erzogen, daß ich
135
Vgl. hierzu: Marieluise Fleißer, Die Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben, und
Verkaufen, Kiepernheuer Verlag, Berlin, 1931, S. 91/92.
136
Mat., S. 412.
137
Vgl. hierzu Mat., S. 393 und Magarb., S. 27 und 76.
138
Vgl. Magarb., S. 24.
139
Mat., S. 351.
140
„Das erste Stück“, vgl. dazu Kraft 1981, S. 22.
29
gehorchte. Ich war gewöhnt, daß ich mich nicht verriet. Ich war nicht
erzogen, daß ich mich wehrte.“141
Trotz dieser Kritik Fleißers an ihrer Schulzeit in Regensburg, darf ihr
Internatsaufenthalt keinesfalls so pessimistisch betrachtet werden, wie sie
selbst dies manchmal tat. Häntzschel nennt diese negative Rückschau
„freilich einseitig“142 und auch Marieluises Aussage aus einem Brief an
ihren damaligen Verlobten Hellmut Draws-Tychsen vom 19.05. 1934
scheint zu beweisen, dass die unerfreulichen Erinnerungen, die sie später an
Regensburg hatte, nicht ihre einzigen waren. Darin schrieb sie nämlich, dass
sie „gerne ein paar Tage in Regensburg verbringen [möchte], der Stadt
meiner Erinnerung vom zwölften bis zum neunzehnten Lebensjahr. Auch an
meinen früheren Deutschlehrer, den eine Klassengenossin von mir
geheiratet hat, muss ich jetzt oft denken. Dieser war es, der vielleicht ohne
es zu ahnen, den Mut in mir frei gemacht hat, den Gedanken eines
Broterwerbes auszuschließen und den Sprung in die Kunst zu wagen.“143
Andrea Biberger kommt in ihrer Magisterarbeit zu dem Schluss: „Vielleicht
trug gerade jene Zeit [in Regensburg] dazu bei, dass aus dem jungen
Mädchen Luise Marie die sensible und ausdrucksstarke Schriftstellerin
Marieluise Fleißer wurde, als die sie heute verehrt wird. Ihre Werke wären
ohne diese Erfahrung viel ärmer, vor allem, weil ihre Geschichten nie auf
reiner Fiktion, sondern stets auf persönlicher Lebenserfahrung basieren. Ihre
Erlebnisse als Schülerin in Regensburg haben sie sensibler und kritischer,
aber auch verwundbarer und verletzlicher gemacht. Selbst, wenn sie ihr
Leben als „zertrümmert“ betrachtet, so zeugt ihr Gesamtwerk in seinem
schonungslosen Realismus dennoch von einzigartiger sprachlicher Ästhetik,
die einfach und schwierig, schön und schmerzhaft zugleich ist. Trotz aller
persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten ist es Marieluise Fleißer
gelungen ihre „Fluchtwege im Kopf“ als wertvollen Beitrag zur deutschen
Literatur in ihrem Gesamtwerk festzuhalten.“144 Auffällig ist auch, dass sich
die negative Sicht Fleißers hauptsächlich auf ihre frühen Werke beschränkt
und im Alter zumindest teilweise revidiert worden sein muss. So berichtete
141
Mat., S. 357.
MFB, S. 27.
143
Marieluise Fleißer, Briefwechsel von 1925-1974, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt a. Main, 2001, S. 200.
144
Vgl. Magarb., S. 76/77.
142
30
ihr Neffe Klaus Gültig, der Betreuer ihres Nachlasses, seine Tante sei als
alte Dame wieder eine „eifrige Kirchgängerin“ gewesen und habe jeden
Sonntag pflichtbewusst die Heilige Messe besucht, bis ihr dies aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich gewesen wäre. Dann habe
sie sich sogar eigens von ihrem Pfarrer Dispenz erteilen lassen.145 Dass
ausnahmslose Kritik an Fleißers Regensburger Schulzeit zurückgenommen
werden muss, zeigt auch die wohl unumstrittene Tatsache, dass die junge
Marieluise ohne ihren Internatsaufenthalt höchstwahrscheinlich nie
Schriftstellerin geworden wäre, da ihr in diesem Fall nicht nur das Abitur
sondern auch ein Hochschulstudium verwehrt geblieben wären. Zudem
muss, will man sich ein Urteil über die Zeit am Institut der „Englischen
Fräulein“ bilden, die damals gängige Erziehungs- und Unterrichtspraxis, die
sich selbstverständlich stark von der heutigen unterscheidet, berücksichtigt
werden. Des Weiteren muss man sich vergegenwärtigen, welch
hervorragende Bildungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der
Naturwissenschaften und der außerschulischen Bildung (wie in den
folgenden Abschnitten genauer erörtert werden soll), Marieluise an dieser
Schule genießen durfte, ein Umstand, der zur damaligen Zeit für ein
Mädchen ja keinesfalls selbstverständlich war und auch ein großes
finanzielles Opfer seitens ihrer Eltern verlangte (zu dessen Zahlung
Heinrich Fleißer im Fall seiner Tochter allerdings offensichtlich
diskussionslos bereit war). Hinzu kommt noch, dass ein solcher
Traditionsbruch, wie ihn ein Mädchen mit dem Absolvieren der
Abiturprüfung und eines anschließenden Studiums beging, ein gewisses
Maß an Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung voraussetzte, eine
Erfahrung, die Marieluise Fleißer sicher einschneidend geprägt hat und die
sie mit Sicherheit später in ihrem Roman in der Rolle der Frieda literarisch
verarbeitet hat.
So kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass ihre Schuljahre in
Regensburg keinesfalls nur „Folter und Quälerei“ für die Autorin gewesen
sein müssen, sondern anstelle des oft genannten `Fluches´ mitunter vielmehr
einen `Segen´ für ihr Leben und Schreiben dargestellt haben146.
145
146
Vgl. Fl.-Dok. I, 98-48, Stadtarchiv Ingolstadt.
Vgl. hierzu auch MFB, S. 23 und 26.
31
b) Zur Geschichte der „Englischen Fräulein“ in Regensburg147
Ähnlich wie Marieluises erste Schule, die Höhere Töchterschule des
Gnadenthalklosters Ingolstadt, kann auch das Institut der Englischen
Fräulein in Regensburg auf eine lange Tradition zurückblicken und ist seit
seiner Gründung im Jahre 1903 eng mit der Domstadt und deren
Bevölkerung verbunden148. Ende März 1904 bezogen die Schwestern einen
Neubau an der Kumpfmühler Straße, der im April desselben Jahres
eingeweiht wurde.149 In den beiden folgenden Jahren stiegen die
Schülerzahlen stark an; im ersten Jahr nach der Gründung verdoppelten sie
sich sogar von 75 auf 150 Schülerinnen. Als Marieluise Fleißer 1914 an die
Schule eintrat, besuchten bereits 336 Mädchen das Institut, die in 17
Klassen von 42 Lehrern unterrichtet wurden.150 Das stetige Anwachsen der
Schülerinnenzahlen machte immer wieder Um- und Neubauten nötig
(darunter die hauseigene Institutskirche, deren Grundstein 1925 gelegt
wurde), um das Schulgebäude an die veränderten Unterrichtsbedürfnisse
anzupassen, nach dem zweiten Weltkrieg, während dessen die Schule ab
1939 zwangsgeschlossen wurde, musste das stark beschädigte Gebäude151
sogar fast vollständig renoviert werden. 1990 kam es zur Auflösung des
Internates152. 1993 übernahm die Diözese Regensburg die Trägerschaft für
die St. Marien-Schulen und sicherte damit deren Fortbestand. Zum
Zeitpunkt des 100 - jährigen Schuljubiläums 2003, das mit groß angelegten
Feierlichkeiten begangen wurde, besuchten 1113 Mädchen im Alter
147
Vgl. Schulchronik anlässlich des 100-jährigen Gründungsjubiläums der „Englischen Fräulein“: Chronik
1903-2003 von Dorothea Adler und Heidrun Lanzendörfer, Hrsg. St.-Marien-Schulen der Diözese Regensburg,
Regensburg, 2003, im Folgenden zitiert als „Chr.“.
148
Erste Versuche der „Englischen Fräulein“, sich in Regensburg zu etablieren, reichen laut Klosterchronik bis
zum Jahr 1719 zurück, in dem die Mary-Ward Schwestern erstmals Kontakt zu der Reichsstadt aufnahmen,
jedoch bei der Schulgründung an den dortigen konfessionellen Gegensätzen scheiterten. 1901 wandte sich dann
der Regensburger Bischof Ignatius von Senestry auf Drängen der Bevölkerung an das Mutterhaus der
Englischen Fräulein in Nymphenburg mit der Bitte eine „Privat-Unterrichtsanstalt“ in der Donaustadt zu
errichten. Nach anfänglichen Zögern stimmte die Generaloberin der Englischen Fräulein, Elise Blume,
schließlich zu und erwarb 1903 das ursprüngliche Schulgelände an der Kumpfmühlerstraße 5 vom Fürstlichen
Haus Thurn und Taxis. Mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung konnte bereits am 26. Juli desselben Jahres
der Grundstein für das Schulgebäude gelegt werden, das erste Schuljahr fand schon am 18. September mit einem
Gottesdienst in der Emmeramskirche in Regensburg seinen Anfang.; vgl. hierzu auch Chr. S. 15, 21 und 22.
149
Vgl. Chr., S. 24.
150
Vgl. Chr., S. 120.
151
in dem seit 1989/90 Realschülerinnen und Gymnasistinnen zusammen auf dem Areal, das heute in der
Margaretenstraße liegt unterrichtet werden.
152
Vgl. Chr., S. 117-119.
32
zwischen 10 und 20 Jahren die Schule153, die mittlerweile ihren festen Platz
im Stadtbild gefunden hat.
c) Atmosphäre und Erziehungsgrundsätze der Schulen zur Schulzeit
Fleißers154
Die Schule gliederte sich damals in die Höhere Mädchenschule mit sechs
aufsteigenden Klassen, für deren Besuch das erfolgreiche Absolvieren der 4.
Klasse der Volksschule, das Bestehen einer Aufnahmeprüfung sowie einer
achtwöchigen Probezeit vorausgesetzt wurden, sowie in die zweijährige
Frauenschule, in die erfolgreiche Absolventinnen der sechsten Klasse der
Höheren Mädchenschule eintreten und sich dort zur Erzieherin ausbilden
lassen konnten. Daneben existierte seit 1911 auch das sogenannte
Realgymnasium, in welches Schülerinnen nach erfolgreichem Besuch der
dritten Klasse der Höheren Mädchenschule sowie dem Bestehen einer
Aufnahmeprüfung und einer achtwöchigen Probezeit aufgenommen wurden
und welches in fünf, ab 1915, in sechs Klassen zum Abitur, „Absolutorial“
genannt, führte. Das jährliche Schulgeld betrug 100 Mark an der Höheren
Mädchen- und an der Frauenschule und wurde am 15. des jeweiligen
Monats im Voraus bezahlt; Schülerinnen der Realgymnasialkurse hatten im
ersten Jahr 200, in den folgenden Klassen 250 Mark pro Jahr zu entrichten.
Des Weiteren wurde eine Einschreibegebühr von zwei Mark an der
Höheren Mädchenschule und vier Mark am Realgymnasium erhoben.
Schülerinnen des Realgymnasiums mussten zudem zusätzlich drei bis fünf
Mark pro Semester für „physikalische und chemische Schülerübungen“
bezahlen155. Diese Summe aufzubringen wird Heinrich Fleißer nicht leicht
gefallen sein, zumal da er nach dem Tod seiner Frau alleine die Werkstätte
in der Kupferstraße betreiben musste und in seinen späteren Briefen auch
immer wieder von finanziellen Schwierigkeiten berichtet wird (vgl.
Gliederungspunkt IV, 2). Umso erstaunlicher, dass er seiner Tochter die
kostspielige Ausbildung in Regensburg ermöglicht hat, anstatt sie nach dem
153
154
Vgl. Chr., S. 120.
Einen aufschlussreichen Einblick in das Umfeld, in dem Marieluise während ihrer Schulzeit in Regensburg herangewachsen
ist, bieten die alten Jahresberichte der Schule sowie die anlässlich des 100-jährigen Schuljubiläums verfasste Chronik von 2003.
155
Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein von 1914/1915, S. 5/6.
33
Verlust seiner Ehefrau als Haushaltshilfe zu sich nach Ingolstadt
zurückzuholen, was von Marieluise als zweitältester Tochter durchaus zu
erwarten gewesen wäre.
Aus einem Bericht von 1903 gehen Wesen und Ziel der Töchterschule
hervor, aus denen das Erziehungsideal zur damaligen Zeit deutlich wird.
Dort heißt es: „Das Institut…stellt sich die Aufgabe, der weiblichen Jugend
eine religiössittliche Erziehung sowie eine den Anforderungen der Zeit
entsprechende allgemeine höhere Ausbildung zu vermitteln.“156 Hierzu
gehören neben dem Unterricht auch ein geregelter Arbeitsalltag mit genauen
Angaben über Leistungsnachweise, Hausaufgaben, Studier- und Freizeit der
Schülerinnen, sowie eine sittlich-religiöse Erziehung, im Rahmen derer die
Schülerinnen jeden Monat auch Noten über Fleiß, Betragen, Ordnung und
Anstand erhalten157. Des Weiteren wurde Wert auf eine künstlerische und
musische Ausbildung der Zöglinge gelegt. So konnten die Schülerinnen für
acht Mark pro Monat zusätzlichen Musikunterricht belegen, von den
Mädchen angefertigte Zeichnungen oder Handarbeiten wurden den Eltern in
regelmäßigen Abständen im Rahmen von Ausstellungen präsentiert158. Ein
Internatsprospekt von 1904 nennt als Erziehungsleitfaden: „…katholischen
Mädchen aus besseren Ständen eine ihrer künftigen Lebensstellung
entsprechende Erziehung und Ausbildung zu geben und sie nicht nur mit
nützlichen Kenntnissen auszustatten, sondern auch ihr Gemüt zu veredeln
und sie anzuleiten zur Ordnung und edlem Anstand“159. Zudem werde „dem
körperlichen Wohle und der physischen Entwicklung der Zöglinge die
liebevollste Aufmerksamkeit und Sorgfalt zugewendet“. „Die geregelte
Tagesordnung, die kräftige Kost, der tägliche Spaziergang, Bewegung und
Spiel im freien während der längeren Unterrichtspausen und namentlich die
freie, gesunde Lage des schönen Institutsgebäudes, all das kann für die
gedeihliche Entwicklung der Kinder nur günstig sein.“160. Auch die
umfassende Lehr- und Schülerinnenbibliothek sowie die Sammlung an
Veranschaulichungsmitteln für den naturwissenschaftlichen Unterricht, die -
156
Vgl. Chr., S. 23.
Vgl. Chr., S. 23/24.
158
Vgl. Chr., S. 24/29.
159
Vgl. Chr., S. 28.
160
Vgl. Chr., S. 28/29.
157
34
wie in den Jahresberichten akribisch festgehalten161- immer wieder erweitert
und ergänzt wurden, finden dort Erwähnung.
Auf eine Zukunft als Schriftstellerin vorbereiten, war freilich eigentlich
nicht das beabsichtigte Ziel der Schule; dieser Beruf fehlt selbstverständlich
in der Auflistung der Tätigkeiten, die die Schülerinnen nach dem
erfolgreichen Bestehen des „Absolutorials“ ergreifen können und die in den
Jahresberichten von 1914 - 1917 aufgeführt sind. Dort werden als
Berufsmöglichkeit beispielsweise Ärztin, Beamtin bei verschiedenen
sozialen Ämtern, Fabrikinspektorin, wissenschaftliche Zeichnerin,
Bibliothekarin und natürlich Lehrerin (versehen mit dem Kommentar
„aussichtsreich für die nächste Zukunft“) genannt.162
Die Klassenstärke betrug in Marieluises Kursen im Durchschnitt zehn
Schülerinnen pro Jahrgang163; die Gymnasiastinnen trugen alle
Einheitskleidung164.
d) Lehrplan und Unterricht
Der durchaus umfangreiche Stoff, der den Mädchen in den sechs Jahren des
Realgymnasiums vermittelt wurde, richtete sich in allen Klassen nach dem
Lehrplan vom 08. April 1911. Alle Schülerinnen wurden durchgehend in
den Pflichtfächern Religion, Deutsche Sprache, Lateinische Sprache,
Französische Sprache, Geschichte, Rechnen und Mathematik, Zeichnen und
Turnen unterrichtet, wobei Latein mit bis zu acht Wochenstunden den
Spitzenplatz unter den Fächern einnahm165. Danach folgten Mathematik und
Französisch mit drei bis vier Wochenstunden und Deutsch mit je drei
Stunden pro Woche. Das Schlusslicht bildeten Religion, Geschichte,
Zeichnen und Turnen (zwei Wochenstunden). In den Klassen I und II
wurde zudem noch Erdkunde und Naturbeschreibung (jeweils zweistündig)
gelehrt, ab der dritten Klasse kamen englische Sprache (je nach Jahrgang
drei- bis fünfstündig) und Physik, ab der vierten Klasse auch Chemie (die
161
Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein 1914/15, S. 30ff..
Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein 1916/17, S. 37-38.
163
Magarb., S. 80.
164
Chr., S. 29.
165
Diese und folgende Zahlenangaben vgl. „Stundentafel der Lehrfächer und Wochenstunden“ aus dem
Jahresbericht 1915/16, Chr., S. 38 .
162
35
beiden letzteren mit jeweils zwei Wochenstunden) hinzu. Als Wahlfächer
konnten die Schülerinnen durchgehend Gesang (einstündig) belegen, bis zur
dritten Klasse auch Stenographie (zwei- bzw. einstündig). Für die oberen
Jahrgänge wurden außerdem Darstellende Geometrie mit einer
Wochenstunde in IV und je zwei Wochenstunden in V und VI sowie zwei
zusätzliche Englischstunden in den letzten beiden Schuljahren angeboten,
sodass die Mädchen mit durchschnittlich 30 Wochenstunden (ohne
Wahlfächer) ein umfangreiches Programm zu bewältigen hatten166. Im
Vergleich mit der Stundentafel der Höheren Mädchenschule fällt hierbei
auf, dass in den neueren Sprachen und in Deutsch an beiden Schularten in
etwa die gleiche Anzahl an Stunden gelehrt wurde (teilweise lag die
Stundenzahl der Höheren Mädchenschule in diesen Fächern sogar etwas
höher als die des Realgymnasiums), wohingegen in den
Realgymnasialkursen deutlich mehr Gewicht auf naturwissenschaftliche
Fächer, insbesondere Physik und Chemie, lag167.
Unterrichtet wurden die Zöglinge unter dem Direktorat von Maria
Hohenegg dabei von 14 Lehrerinnen und Lehrern, die alle namentlich in
den jeweiligen Jahresberichten aufgeführt sind168. Besonders interessant ist
dabei, dass am Realgymnasium überwiegend männliche Lehrkräfte tätig
waren, was wahrscheinlich auf die damals mangelnde Ausbildung von
weiblichem Lehrpersonal für das Realymnasium zurückzuführen ist169. So
befanden sich unter Marieluises Lehrern (anders als an der Höheren
Mädchenschule, wo bis auf zwei Ausnahmen nur Schwestern und weltliche
Lehrerinnen, die sogenannten `Fräulein´, unterrichten) neun männliche
Lehrkräfte (darunter vier mit Doktortitel), drei weltliche Lehrerinnen für
neuere Sprachen und Turnen (darunter wiederum eine Promovierte) und nur
zwei Schwestern (M. Maturina Hofstetter und M. Munibalda Zottmann) für
neuere Sprachen und Stenographie170. Die Tatsache, dass die Autorin also
während der Unterrichtszeit de facto nur wenig Kontakt mit `richtigen
Nonnen´ gehabt zu haben scheint, lässt ebenfalls darauf schließen, dass
einige der im Roman und im „Moritat vom Institutsfräulein“ geschilderten
166
Vgl. Chr., S. 38.
Siehe ebenda.
168
Vgl. Magarb., S. 14.
169
Vgl. Chr., S. 42.
170
Vgl. Magarb., S. 78.
167
36
Darstellungen der Ordensschwestern wohl eher der literarischen Fiktion als
wirklichen Erlebnissen im Schulalltag entspringen.
Welche Noten Marieluise während ihrer Regensburger Schuljahre im
Einzelnen hatte und welche Wahlfächer sie eventuell belegt hat, lässt sich
leider nicht mehr genau feststellen. Aus einem Interview mit ihrer
ehemaligen Klassenkameradin Marielies Schleicher vom 25.06.1992 geht
jedoch hervor, dass Marieluise wie auch schon zuvor in Ingolstadt eine sehr
gute Schülerin gewesen sein musste171, die besonders durch ihr
Zeichentalent hervorzustechen schien. So berichtete Frau Schleicher, dass
ihre Mutter, die über die dementsprechenden finanziellen Mittel verfügte,
von Marieluises Zeichnungen derart angetan gewesen sei, dass sie zweimal
danach Postkarten anfertigen ließ, welche anschließend an Eltern und
Bekannte versandt wurden172. Auch die Karikaturen anlässlich des
bestandenen Absolutorials von 1920, die als Einladungskarten zur
Abiturfeier verschickt wurden, stammten von der jungen Autorin173.
e) Lektüren und Lehrbücher
Ebenfalls akribisch in den Jahresberichten festgehalten, sind die
Auflistungen der Lektüren und Lehrbücher, die die Schülerinnen damals im
Unterricht benutzten. So wurden in Deutsch (neben Kriegsliteratur zur Zeit
des Ersten Weltkrieges) vor allem klassische Werke, die zum Teil noch
heute zum Lektürekanon der Oberstufe zählen, und Dichter in den
Gattungen der Kurzprosa, Romane, Lyrik und Dramen gelesen. Hierunter
befanden sich beispielsweise folgende Stücke: Eichendorff, „Das
Marmorbild“; Goethe, „Herrmann und Dorothea“, „Egmont“, „Götz von
Berlichingen“, „Faust, I. Teil“, „Italienische Reise“, „Dichtung und
Wahrheit“, „Iphigenie auf Tauris“, „Aus meinem Leben“; Grillparzer,
„Ottokars Glück und Ende“, „Das goldene Fließ“ oder Grimmelshausens,
„Simplicissimus“174. Die aufgeführten Werke machen dabei zum einen die
171
Vgl. Gesprächsprotokoll des Interviews zwischen Ingrid Eiden von Stadtarchiv Ingolstadt und Marielies
Schleicher vom 25.06.92, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.- Dok. I, 92-1, im Folgenden zitiert als „Interview“, S. 1 und
2 unten.
172
Vgl. Interview, S. 1 unten.
173
Vgl. Kopie im Anhang
174
Magarb., S. 79; ein vollständiges Verzeichnis alles gelesenen Lektüren befindet sich am Anhang.
37
selektive Auswahl der Schule (etwa am Beispiel von Heinrich Kleist) sowie
die patriotische Färbung einiger Lektüren deutlich, zeigen zum anderen aber
die wirklich umfassende literarische Bildung, die den Schülerinnen damals
vermittelt wurde. Auch in den Fremdsprachen hatten die Mädchen ein breit
gefächertes Literaturspektrum zu bewältigen. So las man in Latein Werke
von Tacitus, Horaz, Livius, Vergil, Cornelius Nepos, Cäsar und Ovid, für
die „Englische Sprache“ wurde Werke von Hume, Eliot, Dickens,
Shakespeare, Ferrars, Tennnyson, Lamb, Carlyle, Corbet-Seymour, Grey,
Hope, Irving, Chambers, Scott, Macaulay, Alcott und Jerome, für die
„Französische Sprache“ wurden Arbeiten von Molière, Racine, Sandeau,
Sarcey, Scribe, Madame Stolz, Robert-Dumas, Segur, Voltaire, Diderot,
Rousseau, Corneille, Lesage, Mairet, Deschaumes, Mérimée, Victor Hugo,
Taine und Malin ausgewählt. Daneben standen politische und literarische
Aufsätze in englischer und französischer175 Sprache auf dem
Unterrichtsprogramm. Des Weiteren konnten die Schülerinnen die
Schülerinnenbibliothek benutzen sowie über eine „überwachte
Privatlektüre“ verfügen176. Letztere Maßnahme wurde offensichtlich
erlassen, um die Schülerinnen vor Werken zu „schützen“, die nicht mit den
politischen Vorstellungen der damaligen Zeit übereinstimmten oder nach
Ansicht der Schule damals als unziemlich geltende Themen wie etwa
Sexualität ansprachen. So fiel beispielsweise auch der Schwede August
Strindberg unter die damals verbotenen Dichter, weshalb Fleißer ihn
heimlich unter der Bank las177. Die Aufsatzthemen, etwa „´The Germans to
the front!´ Beschreibung des Bildes von R. Röchling.“, „Was nicht tief
wurzelt, wipfelt auch nicht“, „Welche Bande verknüpfen uns mit dem
deutschen Vaterland?“, „Schillers Lied von der Glocke - Ein Spiegelbild des
deutschen Bürgerlebens“, „Die Vorteile und Schäden des Industriestaates“
oder „Warum lernt man heutzutage noch Latein?“178 gehen ebenfalls zum
einen sowohl auf die Kriegsthematik als auch auf damals relevante
soziologische Fragestellungen ein, muten aber mitunter, wie das letzte
Beispiel zeigt, sogar aktuell an.
175
Magarb., S. 15.
Magarb., S. 14.
177
Mat., S. 412.
178
Magarb., S. 15.
176
38
Ein detailliertes Verzeichnis der am Realgymnasium verwendeten
Lehrbücher befindet sich im Anhang.
f) Absolutorialaufgaben
1919 absolvierte Marieluise Fleißer zusammen mit neun weiteren
Mitschülerinnen das Abitur. Im Jahresbericht von 1919/20 wurde sie auf der
Liste der Abiturientinnen an Stelle drei unter dem Namen „Fleißer Aloisia“
aufgeführt, des Weiteren war die Eintragung jeder Schülerin außer mit dem
Vor- uns Zunamen noch mit Geburtstag, -ort, Konfession sowie mit Stand
und Wohnort der Eltern versehen179. Das gemeinsame Abschlussfoto der
Abiturientinnen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zeigt die junge
Dichterin, wie sie keck und mit leicht schiefer Uniformmütze in der letzten
Reihe zwischen ihren Klassenkameradinnen hervorlugt180. Um das
„Absolutorial“ zu bestehen, mussten die Mädchen Prüfungen in acht
Fächern ablegen. Diese umfassten einen deutschen Aufsatz zu einem der
gestellten Themen: 1. Immer war die Willkür fürchterlich (Schillers Octavio
zu Max), nachgewiesen an Natur, Geschichte und Lektüre; 2. Ein
glückliches Genie vermag viel über sein Volk. Lessing, Hamburgische
Dramaturgie; 3. Welche Vorteile und Wohltaten verdanken wir dem
Staate?, die Bearbeitung einer der drei Fragestellungen aus der katholischen
Religion: 1. Auf welchen Wegen gelangt die Vernunft zur Erkenntnis eines
persönlichen Gottes? (Die einzelnen Beweise sind in ihrem Gedankengang
kurz und klar darzustellen.); 2. Welche philosophischen Systeme verneinen
das Dasein eines persönlichen Gottes? (Die Grundirrtümer derselben sind
kurz zu kennzeichnen, einige Vertreter zu nennen).; 3. Worin liegt der hohe
Wert des Gottesgedankens für das sittliche und soziale Leben der
Menschheit? (ebenfalls in Aufsatzform), ein französisches Diktat: Les
déserts de l´Arabie Pétrée (30 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung aus
dem Französischen in das Deutsche: De la guerre dans l´ordre providentiel
(90 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung aus dem Deutschen in das
Französische: Wallensteins Tod (90 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung
179
Jahresbericht der „Englischen Fräulein“ von 1919/20, S. 25.
Vgl. Abschlussfoto des Abiturjahrgangs der „Englischen Fräulein“ von 1919/1920, Fotographie 34) im
Anhang.
180
39
aus dem Lateinischen in das Deutsche, ein englisches Diktat (30 Minuten
Arbeitszeit), eine Übersetzung vom Englischen in das Deutsche und
umgekehrt ( jeweils wieder 90 Minuten Arbeitszeit) sowie Aufgaben aus
der Mathematik (150 Minuten Arbeitszeit), Physik und Chemie181. Auch
hier verdeutlicht das breite Spektrum an unterschiedlichsten
Themenstellungen und Aufgabengebieten wieder die fundierte ganzheitliche
Bildung, die damals am Institut der „Englischen Fräulein“ vermittelt wurde.
g) Außerschulische Aktivitäten und Verhältnis Marieluises zu
ihren Mitschülerinnen
Wie bereits in den Gnadenthalschulen in Ingolstadt so wurde am Institut der
„Englischen Fräulein“ in Regensburg ebenfalls großer Wert auf die
außerschulische Bildung der Mädchen gelegt182. Hierzu zählten
beispielsweise wieder Wanderungen, etwa in das Birkmühltal, auf die
Mattinger Höhen oder nach Mariaort, der traditionelle Maiausflug, auf den
Fleißer sogar in „Die Mehlreisende Frieda Geier eingeht183, die Besuche der
Walhalla und der Befreiungshalle in Kelheim, Ausflüge in das Laabertal,
nach Regenstauf und Schloss Karlstein sowie die Besichtigung der Städte
München, Neumarkt und Landshut. Um das musikalische und künstlerische
Interesse der Schülerinnen zu wecken, wurden Konzerte, z. B.
Kirchenkonzerte, ein Wagnerabend oder ein Wohltätigkeitskonzert mit dem
Programm „Der Rose Pilgerfahrt“ von Schumann, Theateraufführungen und
Museen besucht. Daneben fanden an der Schule regelmäßig
Lichtbildvorträge sowie allgemeine Vorträge zu den verschiedensten
Themen184 statt. Ebenfalls auf dem Programm standen botanische und
geologische Exkursionen, überwiegend in Regensburg und Umgebung, die
vom Besuch der Sternwarte über Stadtführungen und Eisenbahnfahrten bis
hin zur Besichtigung verschiedener Regensburger Handwerksbetriebe und
181
Vgl. Auflistung des „Absolutorialaufgaben“ des diesjährigen Abiturjahrgangs, Jahresbericht der „Englischen
Fräulein“ von 1919/20, S. 31-35.
182
Magarb., S. 16.
183
Vgl. Marieluise Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen,
Kiepenheuer Verlag, Berlin, 1931, S. 259-262.
184
etwa über den Krieg, Kommunismus, Bolschewismus, Astronomie, mittelalterliche Plastik, Michelangelo, die
Städte Rom, Nürnberg, Athen und Rothenburg a. d. Tauber, Flandern, bayerische Schlösser, Schubert, Pilze und
einheimische Pflanzen sowie über Blindenschrift und Elektrotherapie.
40
Firmen sowie der Telefon- und Telegraphenanlage des Oberpostamtes
Regensburg reichten185. Zudem organisieren die Schülerinnen selbst
Ausstellungen ihrer im Rahmen des Kunst- oder Handarbeitsunterrichtes
angefertigten Stücke und Aufführungen des Schultheaters und -chores186.
Auch kirchliche Feierlichkeiten wie Weihnachten, Ostern, Firmung oder Hl.
Erstkommunion wurden dem Anlass entsprechend begangen.
Über das Verhältnis Marieluises zu ihren Klassenkameradinnen ist nur
wenig bekannt, auf den meisten Fotos aus ihrer Schulzeit wirkt sie jedoch
glücklich; selten steht sie abseits oder getrennt von den anderen187.
In zwei Interviews, die Frau Ingrid Eiden vom Stadtarchiv Ingolstadt 1994
mit den ehemaligen Mitschülerinnen Fleißers, Frau Marielies Schleicher
und Frau Dr. Ernestine Fischer geführt hat (Fl.-Dok. I, 24-2 bzw. I, 94-1,
Stadtarchiv Ingolstadt), wird Marieluise als „positiv und kameradschaftlich
gegenüber ihren Mitschülerinnen eingestellt[e]“ junge Frau geschildert, die
vor allem durch ihr Zeichentalent und ihre guten Noten aufgefallen sei.
Diese Kameradschaftlichkeit ging sogar so weit, dass Fleißers
Zeichenlehrerin, Frau Karoline Ammer, die „Luis“ gebeten habe, einer
Mitschülerin, die sich ihr Abitur mit einer schlechten Zeichennote
verdorben habe, bei der Anfertigung einer neuen Arbeit zu helfen; eine
Bitte, der Fleißer augenscheinlich auch nachgekommen ist.
Die einzigen `Ausrutscher´, die sich die Autorin während ihrer Schulzeit
erlaubt habe, seien eine unpassende Bemerkung über den Besuch der
morgendlichen Schulmesse („saudumme oder blöde Schulmesse oder
ähnlich“) gewesen, (wobei laut Frau Dr. Eiden hierbei eher das frühe
Aufstehen und das lange Knien auf den harten Kirchenbänken als der
Gottesdienst an sich gemeint gewesen seien), für die Luise dann auch
dementsprechend bestraft worden sei, sowie ein Aufsatz mit dem Titel
„Gedanken beim Anblick eines Flugzeugs“ über den Ersten Weltkrieg, in
dem sie beschrieben habe, wie sie auf einer „grünen Wiese“ liege und von
einem fliegenden Flugzeug mit in den Himmel zu Petrus genommen werde
wo sie allerhand lustige Dinge erlebt. Für den Aufsatz habe Fleißer von
ihrem Deutschlehrer (vermutlich derselbe, den sie auch in ihrem Brief an
185
Magarb., S. 81.
Chr., S. 24; Magarb., S. 81.
187
Vgl. Fotographien 27) – 31) im Anhang.
186
41
Draws-Tchysen erwähnt188) prompt „einen Vierer bekommen“, was ihre
Mitschülerinnen damals für eine schreiende Ungerechtigkeit hielten.
Die negative Einstellung, die Marieluise später zu ihrer Schule gehabt haben
soll, können die beiden ebenfalls nicht nachvollziehen. So äußerte Frau Dr.
Fischer, dass Fleißer ihr gegenüber nie derartige Dinge hätte anklingen
lassen. Allerdings habe sie ihr einmal gesagt, dass sie „das Religiöse etwas
in Zweifel ziehe“, aber „wahrscheinlich wieder einmal auf all das
zurückkommen werde“. Fleißer selbst schreibt außer in „Das Mädchen
Yella“ (1929) nie über ihre Klassenkameradinnen, Vermutungen, dass die
Wesenszüge einiger von Linchens Mitschülerinnen, die sie in „Die
Mehlreisende Frieda Geier“ charakterisiert189, denen ihrer eigenen
Klassenkameradinnen nachempfunden seien, bleiben vermutlich reine
Spekulation190.
h) Die Schule während des Ersten Weltkrieges
Zu Marieluise Fleißers einschneidendsten Erlebnissen während ihrer Zeit an
Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg gehörte, neben dem Tod
der Mutter 1918 und einer schweren Hirnhautentzündung im selben Jahr,
mit Sicherheit die Art und Weise, wie sie dort die Zeit des Ersten
Weltkrieges (1914-1918) verlebt hat. So konnte sie an ihrer Schule, in der
sich ab 1914 ein Reservelazarett befand, die Auswirkungen und Grauen des
Krieges aus nächster Entfernung miterleben; Eindrücke, die sie später
bestimmt auch in ihrem Stück „Pioniere in Ingolstadt“ verarbeitet hat.
Die Jahresberichte aus den Kriegsjahren, in denen es ab dem Schuljahr
1914/15 jährlich einen Abschnitt mit dem Titel „Aus unserem
Kriegstagebuch“ gibt, liefern hierbei interessante Einblicke in den
Internatsalltag zu dieser Zeit. Dort heißt es beispielsweise im ersten
Kriegsjahr 1914/1915: „Nachdem durch die Kgl. Militärverwaltung ein
großer Teil unseres Schulgebäudes zu einem Reservelazarett bestimmt
worden war, begann in den ersten Tagen des August die Räumung von 18
188
Vgl. hierzu Gliederungspunkt V, 2, a), S. 31.
Vgl. hierzu: Marieluise Fleißer, Die Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und
Verkaufen, Kiepeneuer Verlag, Berlin, 1931, S. 91ff..
190
Vgl. hierzu Magarb., S. 28-29.
189
42
Schulzimmern und die Einrichtung von 11 Krankensälen und einem
Operationssaal, entsprechenden Räumen für Hausarzt, Lazarettinspektor,
Polizeiunterinspektor und Wachposten. Freudig stellten hierbei viele
Schülerinnen freiwillig ihre Dienste zur Verfügung. Betten besorgen,
Wäsche bügeln und ordnen, Geschirre reinigen, in Küche, Obstkeller,
Garten und Waschhaus helfend eingreifen, all das geschah mit
überraschendem Geschick, mit größter Bereitwilligkeit, weil die Liebe zum
Vaterland sie drängte, für das ihre Väter und Brüder bereits in den Kampf
zogen.“191. Dass anstatt der erwarteten deutschen Kriegshelden dann aber
verwundete Franzosen bei den „Englischen“ einquartiert wurden, diese
Überraschung stieß auf „große Enttäuschung bei unseren Freiwilligen!“192.
Da sich das Lazarett abgetrennt von den Schulräumen befand, konnte der
Schulbetrieb, wenn auch stark beeinträchtigt, dennoch fortgeführt
werden193. Dabei übten die jungen Soldaten selbstverständlich einen
gewissen Reiz auf die - oft gleichaltrigen - Internatszöglinge aus. Fleißer
selbst schilderte die Situation in ihrer Autobiographie folgendermaßen:
„Aufnahmeprüfung noch im Frieden. Bei Schulbeginn ist schon Krieg und
sie[=Fleißer] findet eine beengte Situation vor. Das halbe Schulgebäude ist
von kriegsverwundeten Soldaten belegt, auch der Turnsaal und die lange
Terrasse über dem Klavierhaus. Die Oberin hat in der ersten
Kriegsbegeisterung die Räume zur Verfügung gestellt, weil sie glaubt, der
Krieg sei bis Weihnachten schon wieder aus. Sie kämpft dann jahrelang, um
die Räume freizubekommen. Die Mädchen dürfen im Garten nicht zu den
Soldaten auf der Terrasse hinaufsehen. Die Soldaten werfen Zettel
herunter.“194.
Ein gewisser allerdings durchaus dem Zeitgeist entspringender Patriotismus
seitens der Schulleitung lässt sich die vier Kriegsjahre über nicht leugnen:
so wurde beispielsweise in einer Fußnote der jeweiligen Jahresberichte
angegeben, welche Lehrer zum Militärdienst abberufen sind195, zudem sind
in den Jahresberichten detailliert die von den Schülerinnen und Lehrerinnen
hergestellten Kleiderspenden, die an die Front geschickt wurden,
191
Jahresbericht der „Englischen Fräulein“ 1914/15, S. 31-32.
Ebenda, S. 32.
193
Chr., S. 42.
194
Mat., S. 412.
195
Magarb., S. 78.
192
43
verzeichnet, ebenso wie gesammelte Geldgeschenke oder
Lebensmittelpakete, die als „Liebesgaben“ bezeichnet wurden196. Auch auf
den Unterricht übt der Krieg nachhaltigen Einfluss aus. Es fanden Lesungen
von Kriegslyrik sowie Kriegsausstellungen und „Kriegsfeierstunden“
statt197, ab dem ersten Kriegsjahr werden auch durchgehend Kriegsberichte
aus Zeitungen und Zeitschriften, Kriegsliteratur und Kriegsgedichte (zum
Beispiel: Aufsätze aus Sven Hedin, Ein Volk in Waffen, Lieder aus den
Befreiungskriegen, Kriegsgedichte der Gegenwart, Berichte über die
Kriegslage, Stimmungsbilder vom Felde, Reichstagsreden der Kriegszeit,
Kriegsnachrichten, Detlev von Liliencron „Kriegsnovellen“, Gertrud
Bäumer: „Der Krieg und die deutsche Frau198) gelesen. Die Aufsatzthemen,
Hausaufgaben und Referate waren ebenfalls vom Kriegsgeschehen
beeinflusst. Dort mussten sich die Mädchen mit Aufgabenstellungen wie
„Inwiefern hat der Krieg unsere Lebensweise und uns selbst
umgewandelt?“, „Der Krieg in der Kinderstube. Nach eigenen
Beobachtungen.“, „Das eiserne Kreuz“, „Alfred Krupp“ oder
„Soldatenlieder“ und „Krieg und Schule“199 auseinandersetzten.
Als nach drei Jahren das Lazarett im Herbst 1917, ein Jahr vor Kriegsende,
aufgelöst wurde, war die Erleichterung seitens der Schülerinnen aber auch
der Lehrkräfte trotz der anfänglichen Euphorie groß. Im Jahresbericht von
1917/18 heißt es: „Diese Zeit hat den Schülerinnen tiefe Eindrücke
hinterlassen. Sie hat ihnen aus nächster Nähe vor Augen geführt, was
Soldaten für uns gelitten und geopfert haben.“200.
196
Chr., S. 43, Magarb., S. 16.
Magarb., S. 81.
198
Magarb., S. 78.
199
Chr., S. 42.
200
Chr., S. 43.
197
44
VI. Fazit
Abschließend lässt sich feststellen, dass die umfassende und äußerst fundierte
Bildung, die Marieluise Fleißer zuerst in Ingolstadt und später am Institut der
„Englischen Fräulein“ in Regensburg erhalten hat, mit Sicherheit einen
entscheidenden Beitrag zu ihrem Entschluss, Schriftstellerin zu werden, geleistet
hat. Denn an beiden Schulen hat die Autorin nicht nur detailliertes Fachwissen auf
den unterschiedlichsten Gebieten erworben, und eine exzellente Allgemeinbildung
erhalten, sondern darüber hinaus wertvolle Erfahrungen und Eindrücke sammeln
können, die sie im Laufe ihres Lebens literarisch verarbeitet hat. So wurde durch
ihre Schulzeit einerseits die Basis für ihr Studium gelegt und damit die nötigen
äußeren Umstände für ihren Beruf geschaffen, andererseits durch Marieluises
Erlebnisse auch die inneren Voraussetzungen für eine schriftstellerische Tätigkeit
gegeben.
Eine entscheidende Rolle spielte hierbei zudem die elterliche Erziehung,
insbesondere die Einstellung und Förderung ihres Vaters, durch welche es der
Dichterin erst möglich wurde, als Frau zur damaligen Zeit einen Höheren
Bildungsabschluss zu erlangen und ihre Veranlagungen zu entfalten. Daneben
haben ihre Kindheit in Ingolstadt und die dortigen Erfahrungen ihre Karriere auf
bedeutende Weise geprägt, was sich stark in ihren Werken widerspiegelt.
Insgesamt gesehen ist Marieluise Fleißer ein Beispiel dafür, im welchem Maße
Schule und Ausbildung, ebenso aber elterliche Erziehung und familiäres Umfeld
Einfluss auf die Mentalität und die Zukunftserwartungen sowie die Berufswahl
und damit auf den ganzen weiteren Lebensweg eines jungen Menschen nehmen
können.
45
Ich erkläre hiermit, dass ich die Seminararbeit ohne
fremde Hilfe angefertigt und nur die im
Literaturverzeichnis angeführten Quellen und
Hilfsmittel benützt habe.
.............................................................
Ort, Datum
……………………………………………
Unterschrift der Schülerin
46
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