Die Seele will mehr als eine Pille

Werbung
PILLEN FÜR DIE SEELE?
DIE SÜDOSTSCHWEIZ AM SONNTAG | 5. JULI 2009
3
Sind sie nötig, nützlich oder gefährlicher als die Krankheit? In der Zeit, in der Krankenversicherungskosten und Medikamentenpreise heftig diskutiert werden, stellt sich auch die Frage nach
der Berechtigung von Psychopharmaka. Patienten berichten; ein Facharzt gibt Auskunft.
Die Seele will mehr als eine Pille
«Gut zur Überbrückung der schwierigsten Zeit»: Patienten mit psychischen Leiden schätzen die medizinische Unterstützung, viele sind aber auch offen für alternative Heilmethoden.
Psychopharmaka sind ein
Segen bei psychischem Leiden.
Sie werden aber selbst von denen, die damit schlimme Zeiten
im Leben überstanden haben,
kritisch hinterfragt.
Von Brigitte Tiefenauer
Sie gaben ihm am Vormittag Zoloft,
um ihn aufzuheitern, und am Nachmittag Seroquel, um ihn wieder
herunterzufahren. «Zu viel», findet
Peter aus Amden heute. Er habe ein
gespaltenes Verhältnis zu den Medikamenten, die ihn während und nach
den etlichen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken überWasser gehalten hätten. Auch deshalb liegt eine
Packung Zoloft ungeöffnet in seinem
Küchenschrank. Sie erinnert ihn an
die Zeit, als seine Lebensfreude aufgrund einer Beziehungskrise umschlug – via überbordenden Aktivismus und eine unbändige Kaufwut bis
hin zum Tiefpunkt, aus dem er in der
psychiatrischen Klinik wieder hinaus-
zufinden hoffte. Die seelischen Achterbahnfahrten haben sich dann über
Jahre wiederholt.
Trennung unter Schweiss und Zittern
Zur Überbrückung der schwierigsten
Zeiten seien die Tabletten gut gewesen, meint der 50-Jährige rückblickend auf die Behandlung mit Psychopharmaka. «Mit der Besserung
stellte sich aber jeweils das Unbehagen ein, von Medikamenten gesteuert
energiegeladen oder apathisch zu
sein.»
Heute beschäftigt sich Peter – noch
immer arbeitsunfähig – mit Schreinerarbeiten in seiner «privaten geschütztenWerkstatt», wie er selbstironisch sagt, umgeben von lieben Menschen. «Vieles, was ich in der schweren Zeit verloren habe, bekomme ich
jetzt zurück. Das ist Balsam für die
Seele.»
«Medikamente bekämpfen ohnehin nur die Symptome, lassen dich
nicht endlos absinken», sagt Peter.
«Die einen haben kaum, andere dutzende Nebenwirkungen, dritte wie et-
wa das Beruhigungsmittel Temesta
machen so abhängig, dass du dich nur
unter Schweiss und Zittern wieder
von ihnen trennst.» Wieder andere
würden die Symptome verstärken,
weiss Peter. «Ich habe Mitpatienten
durch Suizid verloren.»
Wenn es Peter gut geht, legt er die
Psychopharmaka weg. Einzig Lithium
nimmt er regelmässig. Das Salz gleiche Stimmungsschwankungen aus,
mache nicht abhängig und koste einen
Bruchteil der starken Drogen. Und
der Psychiater? «Er ist auch nur ein
Mensch», sagt Peter. «Wer kann eine
Seele schon wirklich ergründen.»
Balsam für den Zappelphilipp
Beispiel zwei: Claudia Stadelmann,
Familienfrau und Pflegemutter aus
Amden, hat vor allem Erfahrung mit
den «Wunderpillen» für Kinder mit
dem Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Syndrom
(ADHS).
«Das ADHS-Kind ist der Zappelphilipp, der – überfordert von der Reizüberflutung unserer Zeit – im Klassenverband nervt, am Familientisch
laut und zuweilen aggressiv ist und
seine Aufgaben nicht erfüllt, weil ihm
tausend Dinge ‘dazwischenkommen’», schildert sie Szenen aus ihrer
Erziehungspraxis. Das ADHS-Kind
nehme sich selbst und andere zudem
nicht wahr und disqualifiziere sich
durch unsensiblesVerhalten zumAussenseiter.
«Mit dem Psychopharmaka Ritalin
machen wir das Kind schultauglich
und verhindern, dass ihm die Schulzeit zum Leidensweg wird», sagt Stadelmann. «Aus dem hyperaktiven
wird ein ruhiges, weniger euphorisches Kind, das du zuweilen kaum
mehr erkennst», stellt sie fest. Oft
würden sich Eltern deswegen beklagen und darob vergessen, dass sie das
einstige Nervenbündel gar nicht mehr
ausgehalten hätten. «Meinem Kind
geht es gut», ist Stadelmann überzeugt. «Es braucht aber nebst den Pillen verständnisvolle Begleitung und
eine konsequente Führung.»
Einsatz wäre einer zu viel gewesen
Drittes Beispiel: Riana* aus Schänis.
Bild Brigitte Tiefenauer
Nach einer turbulenten Lebensphase
sei ihr plötzlich «die Vergangenheit
hochgekommen», sagt die 35-Jährige. Sie litt unterAngstattacken, konnte nicht mehr schlafen. Der Hausarzt
verschrieb ihr eine Gesprächstherapie beim Psychiater. Und Psychopharmaka. Unterstützend beziehungsweise für den Fall, dass die
Attacken zu häufig oder unerträglich
würden. «Ich spürte, dass mein Arzt
mir das Medikament nur zögerlich
aushändigte», sagt Riana, und auch
sie selber hatte ihre Vorbehalte. «Ich
fürchtete, davon abhängig zu werden
oder aufgrund von Nebenwirkungen
in eine noch schlimmere Mühle zu geraten.»
Riana legte die Medikamente beiseite und versuchte, ihr Leiden mit
dem Psychologen in den Griff zu bekommen. Mit Erfolg. «Ich bin gesund
geschrieben», freut sie sich seit kurzem. «In meinem Fall wäre der Einsatz von Psychopharmaka einer zu
viel gewesen.»
*Name der Redaktion bekannt.
Der Psychiater: «Eine gesunde Skepsis ist angebracht»
Olaf Holle, Oberarzt im
Psychiatrie-Zentrum Linthgebiet in Uznach, spricht über
den Profit von Psychopharmaka
und die verbreitete Skepsis
dem Thema gegenüber.
Mit Olaf Holle
sprach Brigitte Tiefenauer
Olaf Holle, ab wann gilt ein Mensch als
psychisch krank?
Olaf Holle: Der Fachmann spricht
nicht von psychischen Krankheiten,
sondern von psychischen Störungen.
Ab wann sich ein Mensch krank fühlt,
ist subjektiv. Der eine erachtet tägliche Hochs und Tiefs als normal, ein
anderer denkt schon nach drei
schlechten Tagen an eine Depression.
Der Arzt beurteilt eine psychische
Störung anhand internationaler Kriterien. Gewisse Punkte wie gedrückte Stimmung und Interessensverlust
müssen, unter vielen anderen, für die
Diagnose etwa einer Depression erfüllt sein.
Die Pharmaindustrie und in der Folge
auch die Gesellschaft finden heutzutage fast bei jedem Menschen ein Leiden. Wer ist heute noch gesund?
Sich krank zu fühlen ist wie gesagt re-
lativ. Unsere Zeit ist schnelllebiger,
unser Umfeld fordernder und das Beziehungsfeld unsicherer geworden.
Wir haben tausend Dinge um die Ohren, viele Menschen schlafen wenig.
Die Toleranz gegenüber einem
schlechten Tag ist wahrscheinlich geringer geworden.
«Es geht in der
Pharmabranche
um viel Geld»
Der Verbrauch von Psychopharmaka ist
in den letzten Jahren gestiegen. Böse
Zungen behaupten, die Pharmaindustrie vermarkte ihre Produkte «sehr
gut».
Bei den Psychopharmaka geht es wie
bei allen Medikamenten um viel
Geld. Es gibt bekanntlich auch aufwendige Werbekampagnen für Psychopharmaka.
Wobei jene, die das Mittel vermarkten,
mit hohen Versprechungen locken und
Nebenwirkungen verschweigen.
Mit derAufzählung möglicher Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel erfüllen die Firmen die gesetzlichen
Auflagen. Aber wir erinnern auch:
Schon vor Jahrzehnten lag Kontergan
als «harmloses Beruhigungsmittel»
im Schrank werdender Mütter – mit
den fatalen Folgen, die uns bekannt
sind.
Neigt unsere Gesellschaft dazu, jede
Stimmungsschwankung mit einer Pille
zu bekämpfen?
Viele Leute sind Medikamenten gegenüber zum Glück kritisch eingestellt. Entscheidend ist die verantwortungsvolle Verordnung durch den
Arzt.
FORTSETZUNG AUF SEITE 4
Herunterladen