Fall 4: Demokratieprinzip: Staatsvolk, Wahlen und Wahlrecht

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Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Fall 4: Demokratieprinzip: Staatsvolk, Wahlen und Wahlrecht Das sperrige Kommunalwahlrecht Bei den Kommunalwahlen in Mecklenburg‐Vorpommern im Juni 1999 wurden in der kreis‐
freien Stadt S folgende Wahlergebnisse erzielt: PDS 33%, SPD 28%, CDU 28%, Bündnis 90/Die Grünen 5,6%, R‐Partei 4,95%, andere 0,45%. Die PDS erhielt demzufolge 17 Sitze, die SPD und die CDU jeweils 15 Sitze, Bündnis 90/Die Grünen 3 Sitze. Die R‐Partei ging bei der Sitz‐
verteilung leer aus, weil sie unter die zum damaligen Zeitpunkt geltende Sperrklausel aus § 37 Abs. 2 Satz 1 KWG M‐V fiel. Sie lautete: Die im Wahlgebiet zu vergebenden Sitze werden nach den folgenden Sätzen 2 bis 5 auf die Wahlvorschläge verteilt, wobei bei der Berechnung der Sitzverteilung die für eine Partei oder Wählergruppe
abgegebenen Stimmen unberücksichtigt bleiben, wenn sie weniger als 5 vom Hundert der Gesamtzahl
der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen betragen. Mit dieser Sitzverteilung war die R‐Partei nicht einverstanden: Sie hielt die Sperrklausel und ihren Ausschluss von der Sitzverteilung für verfassungswidrig, weil gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verstoßend, und wollte dies verfassungsgerichtlich festgestellt lassen. Hatte das Begehren Erfolg? 1 Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Lösung Begehren, Verfassungswidrigkeit der 5%‐Sperrklausel im KWG M‐V feststellen zu lassen. I. Denkbare verfassungsgerichtliche Schritte (analog Bundestagswahl): 1. Rechtsschutz durch LVerfG 
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Wahlprüfungsverfahren ‐ In Art. 21 LV nur für LT mit Wahlprüfungsgericht vorgese‐
hen (–); für Kommunalwahl in §§ 43 ff. KWG vorgesehen; Einspruch durch jeden Wahlberechtigten möglich, nicht aber durch Partei (–) Landesverfassungsbeschwerde ‐ zugelassen durch Art. 53 Nr. 6 LV bei Verletzung der Grundrechte und der staatsbürgerlichen Rechte für „jeden“; Partei aber, bezogen auf Teilnahme an Wahl, als Wahlvorbereitungsorganisation (nach h.M. und LVerfG M‐V) nicht „jeder“ (–) Organstreitverfahren ‐ zugelassen durch Art. 53 Nr. 1 LV, §§ 11 Abs. 1 Nr. 1, 35 LVer‐
fGG. Dazu müsste Partei (da kein oberstes Landesorgan) anderer Beteiligter mit eige‐
nen Rechten in der Landesverfassung sein. Rechte der Partei in der Landesverfas‐
sung?  Art. 3 Abs. 3 LV: Wahlrechtsgrundsätze für Wahlen in den Kommunen ge‐
regelt, berechtigen Inhaber des aktiven/passiven Wahlrechts, aber (analog Art. 38 GG) auch Parteien als „Wahlvorbereitungsorganisationen“ (+)  Art. 3 Abs. 4 LV: Mitwirkungsrecht der Parteien und Bürgerbewegungen, umfasst auch die Teilnahme an Wahlen (+). Beachte aber: Frist in § 37 Abs. 3 LVerfGG.  Art. 21 Abs. 1 GG? Keine Norm des LVerfR  Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG (i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG)? Kein Recht in der Landesverfassung, da Art. 28 GG nur für die Länder, nicht aber in den Län‐
dern gilt (–) 2. Rechtsschutz durch BVerfG 
Verfassungsbeschwerde der Partei ‐ Jedermann‐Recht aus § 90 Abs. 1 BVerfGG er‐
forderlich; Partei wird bei Wahl und Wahlvorbereitung aber als Quasi‐
Verfassungsorgan tätig, da ihr besonderer Status (Wahlrechtsgleichheit aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Chancengleichheit aus Art. 21 GG) beeinträchtigt sein kann. Daher Verfassungsbeschwerde unzulässig. 2 Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf 
Organstreitverfahren ‐ Antragsteller und Antragsgegner müssen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG auf Bundesebene Verfassungsorgane oder äqui‐
valente Einrichtungen sein; für Partei denkbar, für KWG aber immer nur LT verant‐
wortlich; kein Bundesverfassungsorgan, daher (‐) II. Erfolgsaussichten eines Organstreitverfahrens vor dem LVerfG Organstreit wäre begründet, wenn Einrichtung einer 5%‐Sperrklausel das Recht auf Gleich‐
heit der Kommunalwahl und/oder das Recht auf Chancengleichheit der Partei verletzen würde; ein Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG scheidet aus. Wo sind diese o.a. Rechte in LV ge‐
regelt? 
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Recht der Wahlrechtsgleichheit auf kommunaler Ebene  Art. 3 Abs. 3 LV (–)  Art. 28 Abs. 1 Satz 2 ‐ nur vermittelt über Art. 5 Abs. 3 LV (Rezepti‐
onsnorm), dann aber nur, soweit diese staatsbürgerlichen Rechte auch einer Partei zu stehen können Recht auf Chancengleichheit  Art. 3 Abs. 4 LV i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 3 LV? (–)  Art. 3 Abs. 4 LV i.V.m. Art. 21 GG (+) –> Gesetzgeber darf Parteien nicht in ihren Wahlchancen ungleich behandeln Inhalt des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit: 
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Strikt formalisierter, strenger Gleichheitssatz, der in seinem Anwendungsbereich ganz wesentlich vom konkreten Wahlrecht (Wahlsystem) abhängt: Zähl‐
wert/Erfolgswert bei Mehrheitswahl und Verhältniswahl unterschiedlich einzuord‐
nen; hier: KWG legt Verhältniswahl fest –> Gleichheit des Erfolgswerts deshalb grundsätzlich geboten Aber: 5%‐Klausel. Sperrklausel hat Ungleichheit im Erfolgswert der für Listenwahlvor‐
schläge abgegebenen Stimmen zur Folge, die im Verhältnis zu allen anderen Wahl‐
vorschlägen unter der 5%‐Klausel verbleiben: Ihr Erfolgswert ist Null, während die auf alle anderen Wahlvorschläge entfallenden Stimmen im Ergebnis vollen Erfolgswert behalten. Aus der Sicht der antretenden Parteien: 5%‐Sperrklausel beeinträchtigt Chancen‐
gleichheit der kleineren Parteien gegenüber den größeren, die Hürde problemlos überwindenden Konkurrenten. In beiden Richtungen bedarf gezielter Verstoß gegen Wahlrechtsgleichheit bzw. maß‐
stabsgleiche Chancengleichheit eines besonderen, rechtfertigenden, sachlich zwin‐
genden Grundes. 3 Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf Argumente dagegen: 
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Im Ergebnis keine formalisierte Gleichheit im Wahlrecht (wie von BVerfG gefordert), da Differenzierungskriterium der Funktionsfähigkeit des gewählten Organs in Rich‐
tung Art. 3 Abs. 1 GG (sachgerechte Differenzierung ausreichend) weist Grundsatz der formalen, strengen Wahlrechtsgleichheit wird auf diesem Weg dem Schrankenziehungszugriff des Gesetzgebers geöffnet; dabei besondere Nähe des Par‐
laments zum Gegenstand (parteipolitische Konkurrenz!) nicht ungefährlich. Deshalb BVerfG: KWG‐Gesetzgeber kann Abweichungen vom gleichen Erfolgswert nur mit Gründen vornehmen, die auf Verfassungsebene vorgegeben sind und vom Gesetzge‐
ber nur noch aufgenommen und umgesetzt werden müssen Für Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel gegebene Begründungen: 
Gefahr der Bildung arbeitsunfähiger Parlamente und der Parteienzersplitterung, die ein Regieren erschwert; Verhältniswahlsystem begünstigt Aufkommen kleiner, nicht gemeinwohlorientierter Parteien –> Verfassungsleben kann dadurch gestört werden; Gründe für die Legitimation der Sperrklausel daher: Funktion der Wahl –> nicht nur demokratisch‐egalitäre Repräsentation des Volkes, sondern auch Kreation eines Or‐
gans, dem bestimmte wichtige Aufgaben und Befugnisse übertragen werden und dessen Handlungsfähigkeit entscheidend von seiner Zusammensetzung und Struktur abhängt. Berücksichtigung dieser organisatorisch‐funktionalen Gesichtspunkte der Wahl daher, für sich genommen, mit dem Grundgesetz nicht per se unvereinbar; rechtfertigt dieser doppel‐
te Zweck der Wahl den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit zwingend? Entscheidend: Plau‐
sibilität der vom Wahlgesetzgeber vorgenommenen Prognose 
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Prognosebasis: Abwehr konkreter Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Gemein‐
devertretungen in M‐V, die beim Fehlen einer 5%‐Sperrklausel auftreten würden Denkbare konkrete Gefahren? Hängt von Funktionen des Organs ab (analog BT): o Wahlfunktion der Gemeindevertretung? Bürgermeister = Direktwahl; Bür‐
germeisterabwahl: nur Bürgerentscheid, § 20 Abs. 4 Satz 3 KV; aber: Wahl der Stellvertreter des Bürgermeisters (§ 40 Abs. 1 Satz 1 KV), Wahl der Beigeord‐
neten (§§ 40 Abs. 3–5 KV); dabei indes besondere Rechtsaufsicht vorgesehen. Hier wohl keine konkrete Gefahr o Gefahren für Wahrnehmung anderer Aufgaben der Gemeindevertretung? In‐
soweit muss Gesetzgeber des KWG: > Aufgaben ermitteln 4 Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf >
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Aufgaben bewerten in Gewicht für KV und Gefährdungspotential bei Gemeindevertretung ohne Sperrklausel (Rechtsetzung, Kontrolle der Verwaltung usw.) Aufgaben und Gefährdungspotential dann mit anderen Bundesländern vergleichen, die keine Sperrklausel kennen (Bayern, Baden‐
Württemberg, Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen, Sachsen‐Anhalt) Gefährdungspotential eines Fehlens der Sperrklausel mit anderen Re‐
gelungen vergleichen, die gleichermaßen eine Zersplitterung der Zu‐
sammensetzung der Gemeindevertretung begünstigen (etwa: Einzel‐
bewerber, §§ 20 Abs. 1 Nr. 3, 37 KV, die – so die Statistik in M‐V – mit einem Stimmanteil von 0,6–0,7% erfolgreich sein können, gleichwohl [natürlich] keiner Sperrklausel unterliegen) –> Gebot der Systemge‐
rechtigkeit (i.S. von Konsequenz und Plausibilität der Beschränkung der Chancengleichheit) muss beachtet werden Prognose muss insgesamt also konkrete Tatsachen zugrunde legen, nachvollziehbar begrün‐
det und auf tatsächliche Entwicklungen des Verfassungslebens gerichtet sein; Prognose muss auch andere funktionssichernde Instrumente der KV mit einbeziehen und berücksichtigen (z.B. Rechtsaufsicht) •
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Wenn Prognose insgesamt „negativ“, konkrete Gefahr für Funktionsfähig‐
keit der Gemeindevertretungen gegeben und Sperrklausel erforderlich; ggf. dabei auch Absenkung dieser Sperrklausel geboten (LVerfG: Gesetz‐
geber muss Rechtslage „unter Kontrolle halten“, Änderungen des Verfas‐
sungsleben berücksichtigen, ggf. die Gesetzeslage korrigieren) Konsequenz: Aufrechterhalten der Sperrklausel nicht hinreichend geprüft (andere LVerfGE: Berlin – keine konkrete Gefahr für Funktionsfähigkeit der Bezirksvertretungen ersichtlich; a.A. Hamburg – abstrakte Gefahr soll für gesetzgeberische Entscheidung ausreichen; Rheinland‐Pfalz – Absenkung auf 3,03%) Außerdem: Sperrklausel nur dann verfassungsmäßig, wenn es den zur Wahl antretenden politischen Parteien und ihren Wählern möglich ist, diese Hürde aus eigener Kraft zu überwinden. Hängt in erster Linie vom politischen Programm ab, wobei Besonderheiten für Parteien nationaler Minderheiten zu beachten sind, die wegen ihres notgedrungen besonde‐
ren, begrenzten Anliegens nicht beliebig viel Gefolgschaft im Wahlvolk finden können. Aus diesem Grund kann die automatische Anwendung der Sperrklausel auf Parteien nationaler Minderheiten unverhältnismäßig sein; 5 Staatsorganisationsrecht Repetitorium SS 2011 Prof. Dr. Gersdorf •
so etwa in Schleswig‐Holstein mit dem Südschleswigschen Wählerver‐
band, dessen Stimmerfolg seit jeher von der Sperrklausel befreit ist. Merke: Motiv, verfassungsfeindliche oder extremistische Parteien von den Gemeindevertretungen fernzuhalten, kann Sperrklausel nicht rechtferti‐
gen, ebenso wenig partikularistische Interessenvertretungen einzudäm‐
men. Ergebnis: Organstreitverfahren zwischen Partei und LT M‐V begründet, weil Landtag es ver‐
säumt hat, die Notwendigkeit des Fortbestands der Sperrklausel nach 1997 (KWG‐Änderung) hinsichtlich Aufhebung bzw. Änderung zu prüfen. 6 
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