Kultur. - Chris von Rohr

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Kultur.
| Samstag, 14. November 2015 | Seite 23
Hart, aber liebeshungrig
Soft, aber wuchtig
Schauspiel-Premiere. Ein schwuler König macht aus
­ asallen Rebellen in Ewald Palmetshofers «Edward II –
V
Die Liebe bin ich». Jetzt am Theater Basel. Seite 25
Baloise-Finale. Die erfahrenen Poprocker Toto und der
Westschweizer Newcomer Bastian Baker haben das Finale
der Baloise Session bestritten. Zeit für eine Bilanz. Seite 27
Chris von Rohr, der Jimi Hendrix der Schreibmaschine, über Liebe, Leben und Sterben
Der Rocker als Komponist des Wortes
Freistil
Letzter Vorhang
für Stadelmaier
Von Michael Bahnerth
Von Christine Richard
Das Buch heisst «Götterfunken» und
zwischen den Buchdeckeln stecken die
«besten Kolumnen» von Chris von Rohr,
etwas über 50 sind es. Ja, der letzte und
ewige Rocker der Schweiz schreibt
auch, und zwar gut. Er schreibt aus
mehreren Gründen gut. Erstens hat er
etwas zu sagen, zweitens muss es
dringlich raus aus ihm, drittens ist er
Romantiker und glaubt deswegen
immer noch an die grosse Liebe, viertens hat er eine alte Seele, fünftens eine
Ahnung von der universellen Traurigkeit und Einsamkeit der Welt und sechtens auch eine von den paar universellen Freuden, die einem die Welt hin
und wieder offeriert, und siebtens ist er
ein Jimi Hendrix im Labor der Worte.
Die Schwierigkeit ist, dass ich hier
über einen schreibe, der zum Freund
geworden ist, seit wir uns vor einem
Jahr in seinem Piratennest in Solothurn
getroffen und zwei Stunden lang
gesprochen haben. Nie werde ich den
Satz vergessen: «Don’t verzettel yourself.» Seither schreiben wir uns, zur
Hauptsache E-Mails, mal länger, mal
kürzer, mal wie Männer, mal wie kleine
Jungs, und meistens im Irgendwo
dazwischen. Uns verbinden ein paar
Leidenschaften und ein paar existenzielle Nöte, wahrscheinlich ist deshalb
das Gespräch vom letzten November
nie abgerissen; Frauen, Sex, Griechenland, die Unausweichlichkeit des Todes
und die Sehnsucht nach einem Leben,
das die Musik des ungezügelten, wilden, unberechenbaren, sehnsüchtigen
trunken Machenden in sich trägt.
An diesem Donnerstagnachmittag,
an dem ich das hier tippe, hat er eine
Mail geschrieben, nicht wie oft in
Grossbuchstaben, sondern in ganz kleinen. Das heisst immer, dass es dann
ernster ist. «weisst du, michali»,
schreibt er, «ich schreibe einfach swin­
gend über das leben und sterben im dis­
neyland switzerland – wo zurzeit vor
allem die humorlosen, moralisierenden,
lustfeindlichen, knochenlosen gummi­
tiere regieren. ich tue das aus der warte
eines zeitgenossen, der mit freude dem
leben noch seine bezaubernden, berau­
schenden seiten abgewinnen kann, es
zelebriert, ohne dabei zu vergessen,
DASS ES VIEL ELEND UND WIDER­
SPRUCH IN DIESER WELT GIBT, UND
DASS DAS ENDE SCHON NAHE IST ...
schlicht ein paar zeitlos gültige wahrhei­
ten, um die menschen im besten fall zum
kreativen denken und besser leben – not
more, not less.»
Das alles ist «Götterfunken», es ist
ein kleines Feuerwerk, Notizen aus der
Welt eines Menschen, der nicht bloss
ist, um einfach nur zu sein.
Chris von Rohr hat noch eine
Kolumne geschickt, eine bisher nur im
Buch veröffentlichte Kostprobe: «Das
Unwort», und sie geht so:
Das Beste am Theater ist, dass man eine
grosse Familie bildet. Man streitet sich
bis aufs Messer, Nerven liegen blank,
das Seelenkostüm ist zerfetzt – aber
man trifft sich immer wieder gern. Auf
der Bühne, in der Kantine, zu Premieren und Beerdigungen und zu Premieren, die Beerdigungen sind. Nur die
bösen Onkels, sie fehlen seit ein paar
Jahren beim Familientreffen.
Die bösen Onkels des Theaters, das
sind die Theaterkritiker. Die grossen
Namen, die hauptberuflichen Theaterkritiker sterben aus. Henning Rischbieter, gestorben 2013. Hellmuth Karasek,
gestorben 2015. Peter Iden, Privatier.
Reinhardt Stumm, Privatier. Günter
Rühle, C. Bernd Sucher und Benjamin
Henrichs – seit Jahren pensioniert.
Alles Leute, die Bücher geschrieben
haben und Kulturpolitik mitgestaltet
haben in Jurys, städtischen Gremien.
Auch Gerhard Stadelmaier hat sich
jetzt sang- und klanglos verabschiedet.
Er war der letzte Recke der deutschen
Theaterkritik, seine Besprechungen in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(FAZ) waren gefürchtet. Fürchterlicher
war nur, wenn er überhaupt keine
Besprechung schrieb, weil der Theaterabend unter aller Kanone war und es
Stadelmaier zu dumm war, auf Spatzen
zu schiessen. Einmal erschien von ihm
in der FAZ statt einer Theaterkritik eine
leere Spalte – so schlimm hatte das
Freiburger Theater eine Uraufführung
von Botho Strauss in den Sand gesetzt.
Als junge Theaterkritikerin waren
die bösen Onkels mein Vorbild. Ihre
Premierenberichte kleckerten nicht mit
Details, sie klotzten. Klare Ansage. Sie
waren stilbildend, meinungsbildend,
mächtig. Man wollte wissen, was sie zu
sagen hatten. Benjamin Henrichs
gehörte eher zur Sorte der guten
Onkels. Hatte der Traditionalist Stadelmaier das postdramatische Theater in
Grund und Boden gestampft, hob es
Henrichs mit Fingerspitzen wieder auf.
Lesen wollte und musste man sie beide.
Und zwar von vorne bis hinten, denn
ihre Besprechungen waren in sich
geschlossene, originäre Werke.
Die bösen und guten Onkels erzählten nicht einfach nur nach, was sie auf
der Bühne zu sehen glaubten. Sie setzten vielmehr den Bühnenschöpfungen
eigene, eigensinnige Sprachkunstwerke
entgegen. Was sie also trotz aller Feindschaft innerlich mit der Theaterfamilie
verband, war die gleiche Freude am
Gestalten einer eigenen Welt. Ihre Kritiken hatten Auftrittsqualität. Das gilt
ebenso für ihre Person, sie waren Männer mit Persönlichkeit. Sage niemand,
die Zeit für Theater und Theaterkritiken sei vorbei. So breit wie heute ist nie
zuvor über Theateraufführungen diskutiert worden. ­Leider passiert das kaum
noch in Printmedien, sondern eher im
Internet. Auch dass Stadelmaier die
FAZ verlässt, stand zunächst im Internetportal Nachtkritik – erst viel später
verabschiedete sich die FAZ von ihrem
­wichtigsten Theaterkritiker.
«Was tue ich hier eigentlich? Ich
schreibe. Das ist mein Job. Aha. Warum
und wozu? Vermutlich habe ich einen
endogenen Drang, über das menschliche
Treiben zu sinnieren, und indem ich
meine Beobachtungen aufschreibe,
erkläre ich sie mir sogleich.
Jetzt kommt schon wieder meine
böse Zunge, die keift, ich könne ja
­meinen Quassel ebenso gut für mich in
meinem Compi behalten. Aber Zung­
chen, ich bitte dich, es ist doch ein Geben
und Nehmen – ich lese ja selber so gern
und höre auch anderen gern zu, will
wissen, was in deren Kopf und Seele
köchelt. Lebensgeschichten kann ich
kaum widerstehen und irgendwie
­müssen ja auch noch die Rechnungen
bezahlt werden.
Das Wunder der Sprache, Buch­
staben und Wörter machen es möglich,
dass wir uns einander mitteilen, immer
wieder aufs Neue. Allerdings gibt es
Begriffe, die in mir einen Fluchtreflex
auslösen. Mein persönliches Unwort,
das mich fast zum Davonspringen
bringt und das ich von ganzem Herzen
verabscheue, ist Abschied. Wie das schon
tönt! Geschiedener, hau ab! Scheiden,
Not more, not less.Chris von Rohr mit einer bunt gemischten Liebeserklärung an das Leben in der Hand. Foto Florian Bärtschiger
abfahren ... das ist derart negativ und
traurig. Das ist nicht einfach ein bitzeli
Tschüss sagen am Bahnhofsperron, Tage
zählen, ein kurzer Unterbruch des
Zusammenseins ... Echter Abschied ist
kohlrabenschwarz und meist eine
­Tragödie! Bei diesem Wort kommt mir
in den Sinn, wie ich weinend mit dem
Halsband in der Hand aus der Tierklinik
flüchtete. Dann das Sackgassengefühl
beim Tod meiner Eltern. Und jetzt die
Worte eines Freundes, der gerade
zusieht, wie seine erwachsene Tochter
mit Umzugsschachteln hantiert und die
Räume des gemeinsamen Erlebens ver­
lässt. Obwohl, man sollte ja freudig
­herumhüpfen, wenn ein Kind so gut
zurechtgewachsen ist, dass es stolz und
selbstsicher mit seinen Habseligkeiten
aus dem Haus spazieren kann. Es ist ja
bereit und die Abnabelung natürlich.
Das ist die praktische Verstandesebene,
aber dann gibts halt auch die
­emotionale. Auch bei mir und meinem
­Tochterherz bahnt sich das an, und ich
geniesse jeden Tag, an dem sie noch da
ist, wie eh und je.
Und so kommen mir wieder die blut­
ten Kinderfüessli in den Sinn, wie sie aus
dem Bébécabriolet herausluegen, und
ich schnäutze die Nase beim Gedanken
daran, wie man die Kleine damals hin­
ten an den Latzhosen hochheben und
zum Glucksen bringen konnte. Und es
roch so gut, als sie noch ein Baby war.
Wie junge Säuli ..., kein Scherz! Riechen
Sie mal an jungen Säulis!
Dann all die Stunden, die man
gemeinsam vor dem Einschlafen erlebt
hat, sei es mit einer Guetenacht­
geschichte oder einfach nur Händchen
haltend. Und am Morgentisch, wo wir
mehr oder minder wach dem Alltag
­entgegentraten, bevor die Schule rief.
Ja, es wird wehtun, wenn nichts mehr
da ist, wo es hingehört, und nichts mehr
ist, wie es mal war.
Meine liebe Leserschaft, die meisten
von Ihnen kennen wohl dieses Gefühl:
Wir lassen unsere Kinder in diese kon­
fuse, grobe Welt hinaus und wissen, dass
sie eigentlich dafür vorbereitet sind, es
auch wollen, und trotzdem zweifeln wir
und möchten ihnen all die schmerz­
haften Erfahrungen, die ein Leben so
mit sich bringt, ersparen. All die Ent­
täuschungen und zerplatzten Träume.
Büne Huber mit seinen Ochsnern hat
das wunderbar besungen im Song «Da
für Di»: «I wünsche dr aues Glück vor
Wäut & ne guete Ängu, wo ging zue dr
luegt, wo di behüetet & beschützt, wüu
hinger auem wunderderschöne, da war­
tet mängisch scho dr Schmärz … we du
rüefsch & di niemer ghört … I bi immer
für di da.» Ja, was können wir auch
anderes, als da zu sein, wenn sie uns
brauchen?
Oder die grosse Liebe, die wir
schmerzvoll ziehen lassen mussten. Ein
beelendendes Gefühl. If you love some­
body, set them free, klingt es in meinem
Kopf! Ja, ja sicher …, das ganze Leben
ist ein Abschied.
Auch meine Trennung von Krokus
anno 1983 tat deutlich mehr weh als ein
blauer Mosen am Schienbein. Es waren
harte, graue, sinnlose Jahre, wo ich
­meines Babys entrissen wurde und in
ein tiefes Loch fiel.
Über Jahre war die Band meine
Familie, der Tourbus meine Wohnung,
die Bühne meine Stammbeiz und die
Bassgitarre mein Lieblingsspielzeug.
Dann der abrupte Abschied. Erst später
erkannte ich den grösseren Sinn dahin­
ter. Dieser Abschied war eine Chance des
Wachstums und der Weiterentwicklung
für mich. Er eröffnete mir ganz neue
Wirkungsfelder. Und heute sind wir
­Krokusse, nach einer längeren ­
Abstinenz und Denkpause, schon seit
bald acht Jahren wieder gereift, ­
friedlich und freudig zusammen.
Irgendwie unglaublich.
Trotzdem: Abschied ist wirklich ein
gruseliges Wort. Seien Sie froh, wenn Sie
gerade keinen Grund haben, es in den
Mund zu nehmen. Das Gegenteil davon
müsste ergo in meinem Mund zergehen
wie ein Nidletäfeli. Wie heisst es? Anvereinigung? Hä ...? Es wohlet mir nicht
bei dieser verbalen Gegensatzfindung.
Lieber schaffe ich mir ein persönliches,
heiliges, elftes Gebot, das ich mir mögli­
cherweise noch auf die Innenseite der
WC-Tür schreibe: DU SOLLST ZUSAM­
MENFÜGEN, NICHT TRENNEN!
Sehen Sie, diese Kolumne ist wirk­
lich mehr als ein Job – sie ist echte
Lebenshilfe für mich! Lachen Sie mich
ruhig aus. Dann sind wir schon zwei.
Das vereint uns.»
Chris von Rohr:
Götterfunken.Giger Verlag. 200 Seiten,
29.90 Franken.
Buchpräsentation
am Mittwoch, 18. November 2015. Thalia
Bücher, Freie Strasse 32. 19.30 Uhr.
Spielberg feiert
Filmpremiere
«Bridge of Spies» in Berlin
Berlin. Zur Europapremiere seines als
Oscar-Kandidaten gehandelten Agenten-Thrillers «Bridge of Spies» ist Hollywoodregisseur Steven Spielberg an die
Originalschauplätze des Kalten Krieges
nach Berlin gereist. Spielberg bringt
brisante Zeitgeschichte ins Kino. In
­
«Bridge of Spies» mit Tom Hanks geht es
um den Agentenaustausch zwischen
Ost und West im Kalten Krieg. In Berlin
liess sich Spielberg am Freitag Fragen
zur Tagespolitik gefallen. Zum angespannten ­Verhältnis von Russland und
den USA meinte der Filmemacher, die
Situation heute sei nicht mit dem Kalten
Krieg vergleichbar: «Aber es ist etwas
Frost in der Luft.» SDA
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