3. Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik

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Wirtschaftsethik SS 2007 (Zsf. Teil 6), Vogt 30
3. Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik
3.2 Die Krise des Sozialstaates
3.2.1 Grundlagen der Reformdiskussion
„Das Soziale neu denken“ oder „Das Neue Sozial denken“?
Kaum ein Thema ist gegenwärtig in Deutschland so umstritten wie die Reform des Sozialstaates.
Deutschland gehört zu den Ländern mit dem am besten ausgebauten Sozialstaat und unser Wohlstand
und sozialer Friede ist wesentlich auch ein Produkt dieser Tradition. Er wird von der Mehrheit als
Ausdruck der Gerechtigkeit anerkannt. Zugleich ist er von vielfältigen Interessen und Fehlentwicklungen überlagert und wird den gegenwärtigen Herausforderungen wie demografischem Wandel und
globalem Wettbewerb nicht mehr gerecht. Es besteht Konsens, dass eine tiefgreifende Reform des
Sozialstaates heute unvermeidlich ist, wenn er für die Zukunft erhalten bleiben soll.
Bevor wir einzelne Reformvorschläge diskutieren, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die sozialethische Grundsatzdebatte innerhalb der Kirchen zu werfen: Am 12. Dezember 2003 hat die Deutsche
Bischofskonferenz die Schrift „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“
veröffentlicht. Der Text hat heftige Diskussionen ausgelöst: Die einen sehen darin einen Verrat an der
biblischen und sozialethischen Tradition der katholischen Kirche in ihrem Eintreten für die sozial
Schwachen, die anderen sehen darin die notwendige Bereitschaft, sich auf die veränderte Bedingungen
sozialstaatlichen Handelns einzustellen und angesichts von globalem Wettbewerb, demografischem
Wandel und veränderten „Mentalitäten“ ein neues Denken zum langfristigen Wohl aller zu wagen.
"Solidarität" heißt das Schlagwort der einen Seite, "Eigenverantwortung" das der anderen.
Die Debatte trifft ins Herz des Ringens um Harz IV, Agenda 2010, und - tiefer noch - des Verständnisses von Gerechtigkeit und der Rolle des Staates in einer globalen, nachchristlichen Gesellschaft.
Man kann die Kontroverse in der Frage zusammenfassen: Müssen wir das Soziale neu oder das Neue
sozial denken? Brauchen wir eine Anwendung sozialer Denkmuster und Verständnisweisen etwa von
Solidarität, Gerechtigkeit, staatlicher Verantwortung auf neue Handlungsfelder und Herausforderungen oder brauchen wir eine Revision dieser Denkmuster selbst? Ich gehe von der These aus, dass zunächst nicht primär das Soziale neu, sondern vor allem das Neue sozial gedacht werden muss. Das
heißt: Die Entwicklungsprobleme der Weltwirtschaft, der EU-Erweiterung, der Demografie, der Finanzmärkte sowie der Klimaveränderung und der Technikentwicklung sind auf ihre sozialen Auswirkungen hin zu bedenken und so zu gestalten, dass dem langfristigen Wohl aller, besonders der Schwachen in best möglicher Weise Rechnung getragen wird.
Freilich können wir können uns nicht einfach auf der Tradition ausruhen: Die schwierigen Zerreißproben einer zukunftsfähigen und finanzierbaren Gestaltung des Sozialstaates angesichts von Finanzkrisen, Massenarbeitslosigkeit und all den anderen Problemen sind nicht Einzelfragen der Organisation
oder Kontrolldefizite gesellschaftlicher Transferleitungen, sondern eine tieferliegende Anfrage an
unser Verständnis des höchst schillernden und vielschichtigen Begriffs „sozial“. Nur auf der Basis
einer klaren anthropologischen, soziologischen, theologischen, psychologischen, pädagogischen oder
politischen Bestimmung des Begriffs können tragfähige Antworten auf den vielfältigen sozialen Wandel der Gegenwart gefunden werden. Man muss den Gerechtigkeitsbegriff, der dem Sozialstaat zugrunde liegt, sozialwissenschaftlich, anthropologisch, philosophisch und theologisch immer wieder
neu auf seine innere Kohärenz und Lösungskapazität für aktuelle Herausforderungen hin durchdenken,
nicht jedoch den Begriff des Sozialen den Gestaltungsproblemen des Sozialstaates anpassen.
Der Bischofstext „Das Soziale neu denken“ setzt zu recht auf eine Analyse sozialer Konflikte statt auf
Appelle, die in Zeiten des Umbruchs häufig auf Besitzstandwahrung abzuzielen. Er will Reformbereitschaft, Aufbruch und sozialer Innovation unterstützen. Dies ist zu begrüßen. Der Begriff des Sozialen
darf nicht auf den reinen Fürsorgeaspekt reduziert werden. Vielmehr ist ein umfassendes Verständnis
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des Sozialen durch eine Analyse der unterschiedlichen Formen menschlicher Vergesellschaftung zu
gewinnen. Diese umfasst drei Aspekte: (1) den Fürsorgeaspekt, (2) den Konkurrenzaspekt und (3) den
Instrumentalisierungsaspekt (vgl. dazu das Modell der Soziale Perichorese nach Korff sowie dessen
gerechtigkeitstheoretische Entfaltung im Kontext der klassischen Gerechtigkeitstheorie). Ein auf den
Fürsorgeaspekt und paternalistische Vollversorgung reduziertes Verständnis des Sozialen widerspräche dem christlichen Menschenbild, mit seiner Betonung der menschliche Freiheit und Eigenverantwortung, und würde die Dynamik sozialer Internationen verfehlen.
Der Text der Deutschen Bischöfe ist allerdings von einem umfassenden Begriff des Sozialen her gedacht ebenso einseitig, wie er das einer bestimmten Sozialstaatstradition vorwirft: Er konzentriert sich
auf die Kritik des Sozialstaates und setzt damit insofern analytisch verzerrt an, als er vor allem dem
„Sozialmissbrauch“ und der „sozialen Hängematte“ die Probleme des Sozialstaates zuordnet, statt die
strukturellen Ursachen und Fehlentwicklungen deutlicher zu benennen. Es ist dagegenzuhalten, dass
der Sozialstaat zu den wichtigsten Standortvorteilen Deutschlands gehörte und gehört. Er ist stark
belastet, aber vor allem, weil die deutsche Wiedervereinigung zu wesentlichen Teilen aus seinen Kassen finanziert wurde.
Der Appell an die „Eigenverantwortung“ wird zum Leitbegriff erhoben und der Begriff der Subsidiarität einseitig (nämlich primär als Zurückhaltung bei staatlichen Eingriffen) dargestellt. Die entscheidende Herausforderung der Subsidiarität ist heute aber die Ermöglichung des Zugangs zu Arbeit und
Bildung. Nicht das Leitbild der Individualverantwortung im Sinne des „Do it yourself“, sondern gemeinsame, differenzierte, wechselseitige Verantwortung, in der jeder seine unterschiedlichen Fähigkeiten einbringt.
Dass der Text auf die Ausrichtung an den Leitkategorien der Sozialen Gerechtigkeit und Solidarität
verzichtet, ist ein Paradigmenwechsel in der katholischen Sozialverkündigung. Auch wenn sich das
Schreiben in seinem Vorwort als „partielle Fortschreibung“ (S.4) des Gemeinsamen Wortes der DBK
und EKD von 1997 ausgibt, ist er eine Abkehr von der dort vorgenommenen Ausrichtung. Nach dem
Papier „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit“ von 1998 ist das Schreiben „Das Soziale neu denken“ der
zweite Versuch, die Konzeption des Gemeinsamen Wortes der Kirche zu revidieren. Der Text wird
seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, er will Entwicklungsprobleme des Sozialstaates einseitig anreizethisch auflösen und unterstellt damit ein Motivationsproblem als Hauptursache von Fehlentwicklung, was die Strukturellen Zusammenhänge verkennt.
Solche strukturellen Probleme sind z.B.: Die hohe Arbeitslosigkeit, die ihre Ursache primär in der
Substitution menschlicher Arbeit durch Computer hat; das Modell des „flexiblen Menschen“, wie ihn
die New Economy fordert, das den Zusammenhalt der Gemeinschaften, besonders der Familien, untergräbt. Der Kern der sozialen Frage liegt in den internationalen Beziehungen (Globalisierung und
Europäisierung), was im Bischofstext nur als Voraussetzung, nicht jedoch als Gestaltungsaufgabe in
den Blick genommen wird. Ohne aktive Gestaltung der globalen Rahmenbedingung und eine Balance
zwischen der Liberalisierung der Weltmärkte und der Schaffung ökosozialer Rahmenbedingungen auf
globaler Ebene wird die Rettung des Sozialen kaum gelingen. Wer das Soziale von den vermeintlich
unveränderbaren Bedingungen der Globalisierung her neu denken will, gerät auf Abwege.
Ethische und rechtliche Grundlagen des Sozialstaates
Der Sozialstaat ist ein konstitutiven Teil der freiheitlichen und rechtsstaatlichen Verfassung einer
Bürgergesellschaft, Er ist begründet im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, im Konzept der
Sozialen Marktwirtschaft und in den Prinzipien der Christlichen Gesellschaftslehre.
Sozialstaatlichkeit im Grundgesetz
Nach dem Grundgesetz in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und durch die große
Mehrheit der Verfassungsrechtler muss das Prinzip der Sozialstaatlichkeit ebenso wie die anderen
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Verfassungsprinzipien alle Staatstätigkeit durchdringen. Es bedeutet Auftrag und Legitimation für die
Politik zu sozial gestaltender und leistender Staatstätigkeit. Es ist aber ein allgemeiner Auftrag, keine
konkrete Richtlinie oder gar ein Programm. Als allgemeine Ziele des Auftrags gelten sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, also Formeln, die für unterschiedliche Interpretationen offen sind. Aber die Formel vom "sozialen Rechtsstaat" in der Verfassung zeigt an, dass ein umfassender Versorgungsstaat dem Prinzip nicht entsprechen würde, weil er die selbstverantwortliche
Freiheit aufheben würde. Der Verfassungsauftrag lautet also, eine Wirtschafts- und Sozialordnung zu
gestalten, welche die freie Entfaltung der wirtschaftlich-sozialen Kräfte und die Sicherung sozialer
Voraussetzungen und Mindestbedingungen für die menschenwürdige Entfaltung dieser Kräfte optimal
miteinander verbindet.
Soziale Marktwirtschaft
Im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist das "Soziale" nicht schmückendes Beiwort, sondern
konstitutiver Bestandteil der Gesamtordnung. Die damit geforderte staatliche Ordnungspolitik soll
Markt und soziale Sicherheit so zusammenfügen, dass die Menschen zur Übernahme von Risiken ermutigt und gegen Grundrisiken solidarisch gesichert sind. Der Markt braucht den Sozialstaat, der Sozialstaat braucht den Markt; ihre Integration sichert den sozialen Frieden, der auch ein positiver
"Standortfaktor" im internationalen Wettbewerb ist.
Christliche Gesellschaftslehre
Die Christliche Gesellschaftslehre gründet im biblisch-christlichen Menschenbild. Danach besitzt der
Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes eine einzigartige Würde, die im Begriff der Person ihren
besonderen Ausdruck findet. Zum Personsein gehören Individualität und Sozialität, Freiheit zu eigener
Entfaltung und Eigenverantwortung, aber auch Angewiesensein auf das Du und das Wir und damit
soziale Verantwortung.
Die Würde der Person muss in allen Lebenslagen geachtet und geschützt werden. Deshalb muss die
soziale und politische Ordnung personale Entfaltung in sozialer Verantwortung ermöglichen und fördern. Sie muss dem natürlichen Eigeninteresse der Menschen Raum geben und zugleich dem Egoismus der gebrochenen Menschennatur Schranken setzen. Sie darf nicht zulassen, dass die Bürger ihre
Erst- und Eigenverantwortung für die Entfaltung ihrer Kräfte, für ihre Gesundheit, für ihr Alter, für
ihre Angehörigen auf die Gesellschaft abschieben. Sie muss aber zugleich die Anreize und Hilfen bieten, welche die Bürger zur Entfaltung ihrer Kräfte brauchen; und sie muss das notwendige Maß an
gesamtgesellschaftlicher Solidarität auch rechtlich sichern. Die Kunst des Gesetzgebers und die positive Leistung der öffentlichen Institutionen bestehen darin, möglichst viel vom Eigeninteresse der Menschen zugleich für das Gemeinwohl wirksam werden zu lassen. Das verdeutlichen die Sozialprinzipien
der Solidarität und der Subsidiarität.
Solidarität meint eine grundlegende Verbundenheit und zugleich Verpflichtung der Menschen als
personal-soziale Wesen untereinander, zugleich aber auch eine Verpflichtung aller für die Gesamtheit
sowie eine Verpflichtung der Gesamtheit für alle Einzelnen. Solidarität gilt als das begründende Prinzip für Sozialstaatlichkeit. Es ist sozial-struktureller Ausdruck der christlichen Nächstenliebe.
Aber das Prinzip der Subsidiarität gehört zu ihm gleichsam wie die Kehrseite der Medaille. Es ist das
Kompetenz- oder Zuständigkeitsprinzip einer freiheitlichen Gesellschaft. Gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen haben ihren Ursprung und damit ihren Sinn in den sozialen Beziehungen der Personen; sie sind nicht Selbstzweck, sondern sollen diesen durch ihre Hilfe (subsidium) die Entfaltung
ermöglichen. Deshalb sollen die Personen selbst sowie die personnäheren Gemeinschaften und Einrichtungen in Fragen der Zuständigkeit prinzipiell den Vorrang haben vor den entfernteren. Ein freiheitlicher Sozialstaat muss also Solidarität subsidiär organisieren.
Dieses Verständnis von Sozialstaat unterscheidet sich von einem radikalen Marktliberalismus ebenso
wie von einem marktfeindlichen Sozialismus. Es verpflichtet den Staat auf die Zielwerte Freiheit und
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soziale Gerechtigkeit gleichermaßen. Aber soziale Gerechtigkeit darf nicht verkürzt werden auf
Staatsintervention und Umverteilung. Zwar ist in jeder Wirtschaftsordnung ein gewisses Maß an Umverteilung des Sozialprodukts von den Erwerbstätigen zu denen nötig, die nicht erwerbstätig sein können. Aber diesen ständigen sozialen Ausgleich ermöglicht der subsidiäre Sozialstaat in erster Linie
durch die entsprechende Gestaltung freiheitlicher sozialer Institutionen. Die Reformfrage heißt also
nicht, ob ein Mehr oder Weniger an Sozialleistungen möglich ist, sondern, wie durch Reform der Institutionen mehr Eigenverantwortung ermöglicht und Solidarität verstärkt werden kann.
Auf diesem Weg kann Sozialpolitik am ehesten der Option für die Armen gerecht werden, die in der
kirchlichen Sozialverkündigung als vorrangig formuliert wird. In dem Leitmotiv dieser Option konkretisiert sich für Christen die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. "In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der
Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu
überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen" (EKD/DBK 1997, Nr. 107).
3.1.2 Leitregeln für eine Reform
Generell müssen sozialstaatliche Normen und Institutionen Leistungsbereitschaft und Solidarität der
Menschen gleichermaßen ermöglichen und fördern. Reformen werden umso eher Zustimmung finden,
je deutlicher sie auf freiheitliche und zugleich solidarische Kooperation aller zum gegenseitigen und
gemeinsamen Vorteil angelegt sind. Daraus ergeben sich folgende Leitregeln:
•
Die Anreize und die Möglichkeiten für Eigeninitiative und Eigenvorsorge müssen verstärkt
werden, für Schwächere auch durch Hilfen zur Ersparnis- und Eigentumsbildung.
•
Die sozialen Sicherungssysteme müssen konzentriert werden auf die solidarische Sicherung
gegen allgemeine Daseinsrisiken wie z. B. Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, und sie
sollten als Einrichtungen der Kapitalbildung stärker investiv auf Zukunft hin angelegt werden.
•
Freiheitliche Regelungen müssen Vorrang haben vor kollektiven Regelungen, gesellschaftliche Lösungen müssen Vorrang haben vor staatlichen.
•
Der Staat soll sich möglichst darauf beschränken, in einer rechtlichen Rahmenordnung die
Regeln und Institutionen so zu gestalten, dass sie auf den Nutzen und die Teilhabe aller zielen,
soziale Mindeststandards sichern und Anreize enthalten zur Eigenvorsorge und für den sparsamen Umgang mit den knappen Mitteln.
•
Soweit die staatliche Rahmenordnung auch Verteilungsregeln enthält, müssen diese darauf
zielen, das Leistungs- und das Bedarfsprinzip möglichst optimal miteinander zu verbinden.
Folgerungen für die Sozialversicherungen
•
Ziel der Reformen sollte sein, die bestehenden kollektiven Regelungen schrittweise umzugestalten, um mehr Solidarität stärker subsidiär zu organisieren und die Sozialversicherungen
stärker investiv und zukunftsorientiert zu gestalten.
•
Die Selbstverwaltung der Versicherungseinrichtungen muss erheblich stärker werden und
mehr Verantwortung übernehmen.
•
Eine gesetzlich weiterhin verpflichtende Absicherung der Grundrisiken muss verbunden werden mit mehr Spielraum für Eigenvorsorge; dies wird nur möglich sein bei entsprechender
Entlastung von Steuern und Abgaben und mehr Anreizen bzw. Hilfen zur Eigenvorsorge.
•
Versicherungspflicht muss nicht mehr umfassende Pflichtversicherung heißen; vielmehr müssen den Menschen Spielräume für Wahlmöglichkeiten und den Versicherungen Möglichkeiten
des Wettbewerbs eröffnet werden.
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•
Sozialversicherungsbeiträge und Arbeitskosten müssen zunehmend entkoppelt, die Fiktion der
paritätischen Beteiligung der Arbeitgeber an den Beiträgen sollte aufgegeben werden. Die Gesamtsumme der Beiträge sollte als Lohnbestandteil erkennbar werden und längerfristig in die
freiere Verfügung der Arbeitnehmer für ihre Eigenvorsorge gegeben werden.
•
Altlasten, und Lasten in der Übergangsphase, die nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuern finanziert werden, müssen als solche transparent gemacht werden.
•
Fördermaßnahmen im Sinne von Chancengerechtigkeit in der Familien-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sind als gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus Steuermitteln zu finanzieren.
Rentenversicherung
Prinzipiell gibt es zwei Konzepte für die Renteversicherung: Umlageverfahren und Kapitaldeckungsverfahren. Das Umlageverfahren vertraut auf die Stabilität und Ergiebigkeit der nationalen
Lohn- bzw. Erwerbseinkommen. Das Kapitaldeckungsverfahren setzt auf Stabilität und Ergiebigkeit
der nationalen und internationalen Kapital- und Immobilienvermögen. Da beide Finanzierungsprinzipien Vor- und Nachteile haben, sollte ein solides Alterssicherungssystem nicht ausschließlich auf einem Prinzip basieren, sondern immer aus einer Mischung aus Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung bestehen.
Das derzeitige Übergewicht des Umlageverfahrens in der Finanzierung der Alterseinkommen hat jedoch erhebliche Nachteile. Es ist gegenwartsorientiert und vernachlässigt künftige Lasten; es vernachlässigt die Bildung von Human- und Sachkapital; es verführt die Politik zur Verteilung "sozialer
Wohltaten" aus der Rentenkasse; es hängt zu sehr von der Beschäftigungslage und von den "normalen" Arbeitsbiografien ab; es belastet einseitig den Faktor Arbeit und damit die jüngeren Generationen.
Anzustreben ist eine schrittweise Reform des derzeitigen Systems in Richtung auf ein Drei-SäulenModell, das es in Ansätzen bereits gibt und das den oben ausgeführten Prinzipien der Eigenverantwortung in Solidarität stärker Rechnung trägt. Wege hierzu sind:
•
Beibehaltung einer solidarischen Grundabsicherung im Umlageverfahren, und Ausweitung auf
alle Erwerbstätigen (also auch auf die Selbständigen und die Beamten, mit Übergangsregelungen); Senkung der Beitragssätze und eventuell Absenkung der Beitragsbemessungsgrenze.
•
Förderung von mehr Eigenverantwortung durch Stärkung der betrieblichen und tariflichen Altersvorsorge, etwa über entsprechende Umschichtung von freiwilligen Lohnzusatzkosten (wie
die Umwandlung von vermögenswirksamen Leistungen; Investivlohn).
•
Setzen von Anreizen für die stärkere zusätzliche private Eigenvorsorge aller Bürger, z.B.
durch Kapitalbildung unterschiedlicher Art mit spürbarer Steuervergünstigung bzw. Sparzulage, die vor allem eine starke Familienkomponente enthalten muss.
•
Solidarische Teilung der Lasten in der beitragsfinanzierten Rente durch: wirksame Anrechnung von Kindererziehungszeiten (sie stellen keine versicherungsfremden Leistungen dar), einen demografischen oder Generationenfaktor in der Rentenformel, die im Prinzip an den Nettolöhnen orientiert bleiben soll, versicherungsmathematische Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug.
Finanzierungsgrundlage der beitragsbezogenen Rente ist eine Beitragszahlung von 45 Erwerbsjahren.
Wer diese Zeit unter- bzw. überschreitet, erhält Ab- bzw. Zuschläge.
Ergänzend zu diesen Maßnahmen, zumal wenn sie zu gering angesetzt werden, ist eine Erhöhung des
gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sowie die Ausweitung der faktischen Lebensarbeitszeit
eine wichtige und kaum zu vermeidende Maßnahme für die Sicherung künftiger Renten.
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Krankenversicherung
Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung ist eine öffentliche Aufgabe, die nur in Kooperation
zwischen Staat, Versicherungen als öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Ärzteschaft, Pharmaindustrie und Krankenhäusern/ Krankenhausträgern wahrgenommen werden kann. Es darf keine Monopolstellung einer dieser Kräfte geben. Reformschritte müssen dafür sorgen, dass das Interesse aller Beteiligten, der Beitragszahler, der Leistungsempfänger und der Leistungsanbieter an einem sparsamen
Umgang mit den Mitteln stimuliert wird. Dies ist umso notwendiger, wenn die zunehmende ethische
Problematik der Verteuerung moderner Medizintechnik und der gerechten Verteilung der knappen
Ressourcen entschärft werden soll.
Eine Reform muss für Spielräume zwischen Versicherten, Kassen, Ärzten und Krankenhäusern sorgen, in denen Regelungen im Sinn von mehr Freiheit und Eigenvorsorge ausgehandelt werden können.
Sparsamkeit und Eigenverantwortung müssen belohnt werden.
Grundsätzlich gibt es zwei mögliche Wege der Reform: Reformschritte innerhalb der gesetzlichen
Pflichtversicherung oder die Privatisierung der Krankenversicherung.
Für eine Reform innerhalb des bestehenden Systems könnte durch folgende Schritte die Verantwortung der kleineren Einheiten gestärkt und die individuelle Eigenvorsorge stimuliert werden:
•
Genereller Übergang vom Sachleistungssystem zum System der Kostenerstattung.
•
Aufhebung der bisherigen starren Leistungskataloge zugunsten unterschiedlicher Leistungsangebote und Tarife der Kassen mit entsprechenden Wahlmöglichkeiten der Versicherten einschließlich Selbstbeteiligung.
•
Verstärkung von Angeboten zur Gesundheitsvorsorge und Honorierung ihrer Inanspruchnahme.
•
Mehr Wettbewerb zwischen den Versicherungen und freie Wahl durch die Versicherten.
•
Stärkung der Kosten- und Ausgabenkompetenz der Kassen und ihrer Selbstverwaltungsorgane.
Die Privatisierung der Krankenversicherung wäre zweifellos ein sehr einschneidender und den Versicherten nicht leicht vermittelbarer Reformschritt. Man sollte jedoch auch diese vorbehaltlos diskutieren, weil damit die Eigenvorsorge der Menschen für ihre Gesundheit zum entscheidenden Steuerungsmittel im Gesundheitswesen würde, das zweifellos eine wichtige Wachstumsbranche auf einem
zukunftsträchtigen Arbeitsmarkt darstellt. Die Privatisierung wäre unseres Erachtens möglich unter
folgenden Voraussetzungen:
•
Es müssten gesetzliche Mindestvorschriften für alle Bürger gelten, sich gegen schwere Risiken zu versichern (Krankenhausaufenthalt, chronische Erkrankung, Pflegefall).
•
Der Wettbewerb zwischen den Versicherungen müsste durch einen gewissen begrenzten Risikoausgleich ergänzt werden.
•
Es müssten die im bisherigen System enthaltenen Elemente der Solidarität, vor allem die Mitversicherung der Familienangehörigen, durch eine solidarische Staffelung der Beiträge gesichert werden.
•
Alle, die nicht in der Lage sind, einen marktgerechten Krankenversicherungsbeitrag zu entrichten, müssten von der Solidargemeinschaft unterstützt werden (vgl. Wohngeld).
Arbeitslosenversicherung
Schon im Jahr 2000 hat sich das Landeskomitee der Katholiken in Bayern für eine grundlegende Neustrukturierung und Entlastung der Arbeitslosenversicherung ausgesprochen.
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Als Gründe führt es an: mehr Transparenz in Herkunft und Verwendung der Mittel, mehr Anreize für
Unternehmen, Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, vor allem ältere, mehr Anreize und Möglichkeiten für Arbeitslose auf dem Arbeitsmarkt.
Es schlägt vor, die aktive Arbeitsmarktpolitik klar von der Arbeitslosenversicherung zu trennen und
aus Steuermitteln zu finanzieren, und die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe auf kommunaler Ebene
zusammenzuführen.
Für die verbleibende Arbeitslosenversicherung sehen wir zwei mögliche Wege der Reform:
•
Die Umwandlung der gesetzlichen Pflichtversicherung entweder in eine Verpflichtung der
Arbeitgeber, bei Entlassung pro Beschäftigungsjahr ein Monatsgehalt als Abfindung zu zahlen; oder eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, sich mit dem Gesamt der bisherigen Beiträge
(Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) zu versichern.
•
Die Beibehaltung der Pflichtversicherung, aber Einfrieren der Beitragsbemessungsgrenze und
"Deckelung" des sich daraus ergebenden Arbeitslosengeldes; stufenweise Absenkung des Arbeitgeberanteils, wenn Arbeitgeber über längere Zeit die Arbeitslosenversicherung nicht belastet haben.
„Hartz IV“
Zum 1. Januar 2005 wurde in Deutschland das Arbeitslosengeld II (ALG II) als Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige eingeführt („Hartz-IV“-Gesetz). Das ALG II fasst die frühere
Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe auf Leistungsniveau des soziokulturellen Existenzminimums
zusammen. Trotz der Bezeichnung als Arbeitslosengeld ist Arbeitslosigkeit keine Voraussetzung, um
ALG II zu erhalten; es kann auch ergänzend zu anderem Einkommen bezogen werden.
ALG II ist die grundlegende Sozialleistung für erwerbsfähige Menschen, die den notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können. Auch ergänzend zum Erwerbseinkommen
oder zum Arbeitslosengeld, spätestens jedoch nach Bezugsende des Arbeitslosengeldes (nach höchstens 12 Monaten Arbeitslosigkeit und bei über 54-jährigen nach höchstens 18 Monaten Bezugsdauer)
besteht bei Erfüllen der übrigen Voraussetzungen ein Anspruch auf diese Leistung.
Jeder Hilfebedürftige soll Leistungen und Hilfestellungen erhalten, die es ihm ermöglichen, seinen
Lebensunterhalt wieder aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten. Ziel ist es, Arbeitsuchende
wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen und die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung oder Existenzgründung zu ermöglichen. Das Arbeitslosengeld II soll erwerbsfähige
Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können.
Die Neuregelung beseitigte den zuvor häufig aufgetretenen „Trägerdualismus von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe“, der dadurch zustande kam, dass die Leistungen aus der Arbeitslosenhilfe häufig das Existenzminimum nicht garantieren konnten und so zusätzlich Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt)
gezahlt werden musste.
Familienpolitik
Familienpolitik geht als "Querschnittsaufgabe" weit über Sozialpolitik hinaus, sie gewinnt aber auch
besondere Dringlichkeit in der Reform des Sozialstaates. Diese muss zum Ziel haben, die strukturelle
Benachteiligung von Familien in der Erwerbsgesellschaft so weit zu beseitigen, dass für Eltern in den
Phasen der Kindererziehung eine wirkliche Wahlmöglichkeit besteht zwischen Familien- und Erwerbsarbeit.
Zu fordern ist deshalb, im Zuge der anstehenden Reform den Familienleistungsausgleich in Richtung
auf ein "Familiengehalt" bzw. "Familiengeld" weiter zu entwickeln. Wir legen uns damit nicht auf
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eines der Modelle fest, die von Fachleuten und Verbänden für ein "Familiengehalt" diskutiert werden.
In jedem Fall muss aber eine Dynamisierung familienbezogener Leistungen erreicht werden. In den
Sozialversicherungen müssen die durch Familien bedingten Benachteiligungen abgebaut werden.
Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips muss aber betont werden, dass eine familienorientierte Einkommens- und Vermögenspolitik zuerst Steuergerechtigkeit heißt. Diese bedeutet nicht, dass der Staat
großzügig den Familien soziale Wohltaten gewährt; sie bedeutet vielmehr Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und damit die Pflicht des Staates, die Einkommen der Familien nicht zu besteuern, soweit sie für Unterhalt, Betreuung und Erziehung der Kinder erforderlich sind. Das aus Steuermitteln zu
finanzierende Kindergeld sollte dann geleistet und entsprechend gestaffelt sein, wenn und soweit die
Steuerfreibeträge nicht "greifen".
Fürsorge- und Förderleistungen
Auch im subsidiär reformierten Sozialstaat bleiben Fürsorgeleistungen für Menschen notwendig, die
auf anderem Weg ihren Bedarf im Maß eines sozial-kulturellen Minimums nicht sichern können. Es
bleiben ferner Förderleistungen nötig für unterschiedliche Gruppen von Menschen mit geringeren
Chancen.
Solche Leistungen gründen in der Solidarität der Gesamtheit für die Einzelnen und für einzelne Gruppen. Für ihre Gewährung müssen wirksame Regeln gelten:
•
Nachweis der Bedürftigkeit,
•
Gegenleistung, wo immer sie möglich ist,
•
Leistungsnachweis bei Förderungen (z. B. in der Ausbildung).
Die Sozialhilfe muss so organisiert werden, dass sie aktivierend wirkt. Deshalb sollten die Gelder auch
als Prämie für die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess fungieren, wo immer dies möglich ist.
Die Sozialhilfe sollte daher nicht voll um den Lohn gekürzt werden, wenn jemand wieder arbeitet.
Arbeitsaufnahme sollte die Einkommenssituation sofort verbessern.
Auf diesen Feldern wird manches besser als bisher gelingen, wenn die Kompetenzen und die Finanzen
der Kommunen verbessert werden und damit die kommunale Sozialpolitik intensiviert werden kann.
Zu diesem Zweck halten wir es für erforderlich, die Zuständigkeiten für Sozialhilfe und für Arbeitslosenhilfe bei den Kommunen zu bündeln und beide Wege der Hilfe zusammenzufassen. Zugleich müssen die Kommunen versuchen, in lokalen und regionalen Netzwerken das soziale Potenzial gesellschaftlicher Kräfte zu mobilisieren und die Kooperation zwischen Vereinen, Wohlfahrtsverbänden,
Kindergärten, Schulen, Betrieben und Arbeitsämtern zu verstärken. Modellversuche mit kommunalen
"Sozialagenturen" verdienen dabei besondere Beachtung.
Auf zwei problematische Bereiche muss hier besonders hingewiesen werden. Sie betreffen die mangelnde Eingliederungshilfe für Behinderte aus Mitteln der Solidargemeinschaft und die fragwürdige,
weil zeitlich fast unbegrenzte Zahlungspflicht für Angehörige von Sozialhilfeempfängern. Der Gesetzgeber sollte einen Weg finden, diese Pflicht aufzuheben, dabei allerdings Missbrauchsmöglichkeiten, etwa durch vorzeitige Vererbung von Vermögen, unterbinden.
Rahmenbedingungen einer Sozialstaatsreform, insbesondere Steuerreform
Die sozialstaatlichen Einrichtungen stehen in enger Wechselwirkung mit den anderen gesellschaftlichen Leistungsbereichen und ihrer politischen Gestaltung, besonders mit der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, mit der Bildungs- und Ausbildungspolitik, mit der Steuerpolitik. Diese Wechselwirkungen können hier nicht dargestellt werden. Es soll nur abschließend mit Nachdruck darauf hinge-
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wiesen werden, dass die hier geforderte Sozialstaatsreform nicht ohne eine ihr entsprechende Steuerreform gelingen kann.
Eine Reform der Lohn- und Einkommenssteuer muss wie die Reform des Sozialstaates subsidiär angelegt sein und so Eigenverantwortung und Solidarität besser als bisher miteinander verbinden. Daraus
ergeben sich folgende Reformvorschläge:
•
Drastische Senkung der Steuersätze für alle Einkommen;
•
Streichung der meisten Ausnahmetatbestände und damit Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
Die Steuerpolitik insgesamt muss dem Grundsatz folgen, Einkommen und Verbrauch (Mehrwertsteuer) nach Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Gruppen zu besteuern. Sie soll jedoch nicht die
volkswirtschaftliche Substanz schmälern. Vielmehr ist die breitere Beteiligung an ihr und damit die
Eigenvorsorge zu fördern. Deshalb zielt die Diskussion über die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer in die falsche Richtung. Statt dessen ist eine analoge Heranziehung von Kapitaleinkünften im
Sinne der "capital gains tax" (zum Beispiel Gewinne aus der Veräußerung von Unternehmen, Anteilen, Aktien und Grundstücken) zur Entlastung der auf der Erwerbsarbeit liegenden Lohn- und Einkommenssteuerlast ein prüfenswerter Ansatz, um Eigenvorsorge für alle, auch für Bezieher kleiner
und mittlerer Einkommen, besser zu ermöglichen.
3.2.3. Katholische Grundlagen des Sozialstaates
Religiös-konfessionelle Grundlagen des Sozialstaates – zur Aktualität des Themas
Dass die Frage nach dem religiösen Faktor in der Sozialstaatsentwicklung wieder eine vermehrte
Aufmerksamkeit in der Forschung genießt, zeigt ein Blick auf die Forschungslage zum Thema Religion und vergleichende Sozialstaatsforschung.1 Zweifelsohne gehört der Katholizismus zu den politischen Kräften, die in Deutschland, dem weltweiten Pionierland der Sozialpolitik, den sozialstaatlichen
Weg von Anfang an gestützt haben. Hierbei kam der Katholizismus über eine spezifische Praxis zur
Sozialpolitik.
Der Weg des Sozialkatholizismus zum Sozialstaat
In der postrevolutionären Gesellschaft des 19. Jahrhunderts spielte das caritative Engagement des
deutschen Katholizismus von Anfang an eine wichtige Rolle. Den Anfang machten die in vielen Städten des Dt. Reichs gegründeten „Caritaskreise“, die sehr locker organisiert waren. In einer zweiten
Neugründungswelle bildeten sich die Vinzenz- und Elisabethvereine, die schon einen stärkeren Institutionalisierungsgrad hatten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich auf der Pfarrebene angesiedelte Hilfsvereine, die Teil des katholischen Vereinswesens waren. Innerhalb des katholischen Vereinswesens nahmen die caritativen Vereine vielfältige Formen an. So entstanden Vereinigungen für
Krankenpflege, Kinderbetreuung, Hospitäler, Hospize und Altenheime. Dies geschah oft in Verbindung mit weiblichen Orden und Kongregationen, die sich ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert stark
vermehrten.
Die Zentrumspartei, als politischer Arm des deutschen Katholizismus, war noch in den 80er Jahren des
19. Jahrhunderts über die Frage der Sozialpolitik stark zerstritten und entwickelte sich erst unter dem
Einfluss Franz Hitzes und Georg von Hertlings zum kontinuierlichen Befürworter einer sozialstaatlichen Lösung der soziale Frage.
1 Vgl. zum Folgenden Gabriel, K.: Katholische Grundlagen des Sozialstaates. Referat beim Werkstattgespräch
„Sozialethik“, Januar 2006 in Berlin. Vgl. auch A. Baumgartner: Entwicklungslinien des deutschen (Sozial-)
Katholizismus, in: Heimbach-Steins, M. (Hrsg.): Lehrbuch Sozialethik, Bd. I, Regensburg 2005, 187-199.
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Wie sich am Beispiel des Katholizismus zeigen ließ, führte der Weg über eine primär religiöse und
caritative Reaktion auf die soziale Frage schrittweise hin zum Konzept eines „sozialen Kapitalismus“
mit der Verpflichtung des Staates zur Zähmung der Marktdynamik und zum Ausgleich der Interessen
zwischen Kapital und Arbeit.
„Sozialer Kapitalismus“: das sozial-katholische Modell des Sozialstaats
Der katholische Typus des Sozialstaates ist ein Werk der „kleinen Traditionen“ vor Ort, mit deren
Hilfe die politisch handelnden Christen sich zu orientieren suchten. Er lässt sich durch fünf Merkmale
kennzeichnen:
1. Die Funktionsbedingungen des kapitalistischen Marktes werden als Ursachen moderner Armut
und sozialen Elends erkannt, gleichzeitig wird der Kapitalismus als Wirtschaftsmodell aber akzeptiert. Allerdings wird er unter Bedingungen gestellt. Es gilt eine konditioniertes „Ja, aber“.
2. Geprägt durch das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre wird der Staat als hilfreicher
Beistand gedacht. Seine Rolle bleibt im Gegenüber zur Gesellschaft eine eher passive.
3. Die Existenz von sozialen Klassen in kapitalistischen Gesellschaften wird nicht geleugnet. Abgelehnt wird jedoch die Vorstellung des Klassenkampfes als Konsequenz der Klassengesellschaft.
Dieser Vorstellung werden die Idee der Versöhnung aller Klassen und die Überzeugung ihrer
wechselseitigen, funktionalen Abhängigkeit gegenüber gestellt.
4. Über die Idee der caritativen Mildtätigkeit hinaus, gelingt es dem Sozialkatholizismus eine Konzeption von Gerechtigkeit zu entwickeln. Diese weist eine Dominanz der Dimensionen der klassischen distributiven Gerechtigkeit auf. Jeder Mensch und jede Klasse sollen das erhalten, was ihnen zusteht. Entsprechend gehört es nicht zu den primären Intentionen der Sozialpolitik, Statusdifferenzen aufzubrechen und zu überwinden.
5. Schließlich ist der soziale Kapitalismus geprägt von der Idee des Privateigentums als Sozialpolitik.
Zu diesem Ideenkomplex gehört die Forderung nach einem gerechten Lohn, der es erlaubt, sich
durch Sparanteile aus der proletarischen Lebenslage zu befreien.
Ein ähnliches Ergebnis erhält man, wenn man in Anschuss an Franz-Xaver Kaufmann den
Beitrag des katholischen, christlich-sozialen Denkens zur Sozialstaatstheorie und Sozialstaatsentwicklung an vier charakteristischen „Anti-Haltungen“ festmacht: Anti-liberal, antiindividualistisch, anti-sozialistisch, anti-etatistisch.
Das konfessionelle Mischungsverhältnis westlicher Sozialstaatsentwicklung
Um den Einfluss der Religionen auf die westlichen Sozialstaaten weiter zu analysieren, ist es notwendig, das religiöse Mischungsverhältnis zu betrachten. Länder, die vom reformierten Protestantismus
dominiert werden (England, Schweiz, Niederlande) sind in ihrer Sozialstaatsentwicklung Nachzügler
gewesen (so Philip Manow). Diese Länder weisen von Anfang an Elemente des Kapitaldeckungsverfahrens auf und kombinieren eine universalistisch ausgerichtete Versorgung auf basalem Niveau mit
der Notwendigkeit eigenverantwortlicher Vorsorge.
In Länder, die überwiegend vom lutherischen Protestantismus dominiert werden, gab es hingegen
schon früh staatliche Verantwortung im sozialpolitischen Bereich. Diese Entwicklung wurde durch das
Staatskirchentum und einem individualistisch geprägten und verinnerlichten Glauben erleichtert. Ein
Beispiel hierfür ist der skandinavische Sozialstaat mit seiner universalistischen, an den Bürgerstatus
gebundenen Ausrichtung und einer hohen Staatszentrierung.
In Deutschland überlagern sich zwei gegensätzliche Einflusslinien: Zum einen die lutherische Tradition, gekennzeichnet durch eine große Staatsnähe, und zum anderen eine religiös-kirchliche Tradition,
geprägt durch staatsunabhängige, gesellschaftliche Kräfte als verantwortliche Akteure in der Wohlfahrtspflege. Insgesamt hat in den europäischen Nationalstaaten die Mischung der christlichen Konfes-
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sionen von Luthertum, Calvinismus und Katholizismus zur Ausbildung sozialstaatlicher Strukturen
beigetragen, die durch eine innere Vielfalt und sozialen Ausgleich gekennzeichnet sind. Der jeweilige
spezifische Mix der Konfessionen spiegelt sich bis heute in unterschiedlichen Ausformungen der sozialstaatlichen Idee und Praxis wieder.
Die Krise des „sozialen Kapitalismus“: Auf dem Weg zum protestantisch-calvinistischen Sozialstaat?
Die katholische Variante des „sozialen Kapitalismus“ ist in die Defensive gedrängt und starker Kritik
ausgesetzt. So habe die Tendenz des konservativen Sozialstaats zu Wohlfahrt ohne Arbeit dazu geführt, dass es zu einer scharfen Spaltung zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt gekommen sei, die die Vollbeschäftigung unterminiert habe. Da im katholischen Typus auch im Niedriglohnsektor familiengerechte Löhne gezahlt werden müssten, trage dieser Typus zur Verfestigung der
Massenarbeitslosigkeit bei. Schließlich führe der Korporatismus zwischen Kapital und Arbeit zu
Missbrauch wie im Fall der Frühverrentung und zu politischen Reformblockaden. Zwischen sozialdemokratischem und liberalem Modell – dieser Eindruck drängt sich heute auf – scheint es immer weniger Platz für einen konsistenten, überzeugenden dritten Typus zu geben.
Der Blick auf die gegenwärtige Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zeigt,
dass diese Kritik bereits erhebliche praktische Konsequenzen zeitigt: Die Pflichten der Leistungsempfänger gegenüber einem Rechtsanspruch auf Leistungen werden betont; die Entwicklung tendiert zu
einem Grundversorgungsmodell bzw. einer Minimalabsicherung, die durch weitere Leistungen aufgestockt werden kann.
Aus Brüssel kommt die Forderung, dass die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen „wettbewerbsorientierter, beschäftigungsfreundlicher und rationeller“ ausgestaltet werden sollen. Es wird ein Sozialstaat
anvisiert, der seine Leistungen nur noch jenen anbietet, die auch wirklich Hilfe benötigen. Die sozialstaatlichen Interventionen in den Arbeitsmarkt sollen sukzessive zurückgenommen werden, um mit
den Mitteln der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dem Ziel der Vollbeschäftigung näher zu kommen. Die Ungleichheit am Arbeitsmarkt gilt weniger als Belastung denn als produktivitäts- und wettbewerbsfördernd. Dies findet insbesondere in der Bejahung einer stärkeren Lohnspreizung und der
Ausbildung eines Niedriglohnsektors seinen Niederschlag. Die Elemente solidarischer Umverteilung
werden auf die Gewährung von Chancengleichheit reduziert. Universalistisch orientierte Rechtsansprüche erhalten den Charakter bedingter Leistungen. Mit Blick auf die religiösen Traditionen der Sozialstaatsentwicklung drängt sich folgende Einsicht auf: Offensichtlich sind es die lange außer acht
gelassenen Einflüsse des calvinistisch-reformiert geprägten Protestantismus auf den Sozialstaat, die
sich in den beschriebenen Tendenzen niederschlagen.
Relevanz des sozial-katholischen Modells für die aktuelle Diskussion um Profil des Sozialstaates
Auf den ersten Blick scheint der von katholischen Grundlagen inspirierte soziale Kapitalismus an sein
Ende gekommen zu sein. Die dem sozialen Kapitalismus nahe stehenden politischen Akteure in den
Unionsparteien sind entmachtet, die Sozialausschüsse in der CDU marginalisiert und orientierungslos
und unter den jüngeren Politikern in den Unionsparteien sind die Grundintentionen des Sozialkatholizismus nicht einmal mehr bekannt, geschweige denn, dass sie eine orientierende Kraft besäßen. Auch
innerhalb der katholischen Kirche scheint es Kräfte zu geben, die der katholischen Tradition des Sozialstaatsdenkens nicht mehr trauen.
Was erscheint – diese Frage drängt sich auf – erhaltenswert, möglicherweise sogar unverzichtbar an
der Tradition des sozial-katholischen Denkens und am Modell des sozialen Kapitalismus?
Folgende abschließende Gedanken möchte ich dazu äußern. Erhaltenswert am sozialkatholischen
Denken ist meines Erachtens zunächst ein spezifisches Verständnis von Solidarität, das sich vom liberalen Denkhorizont klar unterscheidet. Katholische Sozialdenker wie Pesch und Nell-Breuning haben
die Einsicht französischer Sozialtheoretiker von der zunehmenden Verflechtung und Individualisierung gesellschaftlichen Lebens zugleich in der modernen Gesellschaft kreativ zu einem „starken“ Be-
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griff der Solidarität ausgearbeitet. Solidarität als „bedeutendste Entdeckung unserer Zeit“ – wie Heinrich Pesch formuliert – setzt den verdienstethischen Individualismus das Bewusstsein von der unausweichlichen Gemeinverstrickung aller in guten wie in schlechten Zeiten entgegen. Wenn heute im
Sinne einer negativen Verdienstethik die Konsequenzen der veränderten gesellschaftlichen Wachstums- und Verteilungsbedingungen dem einzelnen als selbstverantwortlichem „Ich-Agenten“ einseitig zugerechnet und zugeschoben werden, so erweist sich die katholische Tradition eines „starken“
Solidaritätsgedankens als höchst aktuell. Ähnliches gilt für das katholische Subsidiaritätsdenken. Es
enthält mit seinem Verständnis als „hilfreicher Beistand“ und seinen beiden Komponenten des „Hilfsgebots“ und „Kompetenzanmaßungsverbots“ klare Maßgaben, um den Subsidiaritätsgedanken nicht
auf die Maxime der Selbstverantwortung zu reduzieren. Wo heute Selbstverantwortung postuliert
wird, ohne gleichzeitig die Frage nach der Ermöglichung und Befähigung zu stellen, erweist sich die
Forderung als ideologisches Konstrukt, das derselben Logik folgt wie der verdienstethische Individualismus.
Vom katholischen Verständnis von Subsidiarität her ist es selbstverständlich, dass Selbstverantwortung nur in Solidarität funktionieren kann und Befähigung und Ermächtigung als Voraussetzung der
Selbstverantwortung gelten müssen.
Als Resümee ergibt sich, dass der durch Solidarität legitimierte soziale Ausgleich in der Marktgesellschaft und die subsidiäre Vielfalt der Strukturen des Wohlfahrtsmixes zu den unverzichtbaren Elementen der katholischen Tradition des Sozialstaats zu rechnen sind. Die Achse des katholischen Modells
bildet nicht der Staat, sondern starke, weltanschaulich geprägte intermediäre Akteure und Institutionen. Es zielt auf eine Vermittlung und Verknüpfung von staatlichen und marktlichen Akteuren der
Wohlfahrtsproduktion mit der solidarischen Aktion in Familien, Selbsthilfegruppen, Initiativen und
bürgerschaftlich engagierten Verbänden. Auf sie sollte in den künftigen Auseinandersetzungen um die
Reformen des Sozialstaats unter Bedingungen von Individualisierung und Globalisierung nicht verzichtet werden.
Literatur
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Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover/Bonn.
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Für eine langfristig angelegte Reformpolitik (Kommissionsschriften 28), Bonn 2003 (vgl. auch
www.dbk.de).
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Münchens 4), Berlin 2007.
Gabriel, K./ Groß-Kracht, H.-J.: Abschied vom deutschen Sozialstaatsmodell? Zum Stellenwert von Solidarität und Eigenverantwortung in aktuellen Texten kirchlicher Soziallehre, in: StZ 222 (2004), 227-233.
Sennet, R.: Der flexible Mensch. die Kultur des neuen Kapitalismus, 6. Aufl. Berlin 2000.
Landeskomitee der Katholiken in Bayern: Solidarität und Eigenverantwortung stärken. Subsidiärer Sozialstaat, München 2000.
Sinn, H.-W.: Ist Deutschland noch zu retten?, 3. Auflage Berlin 2005 (bes. 187-258).
Baumgartner, A.: Entwicklungslinien des deutschen (Sozial-) Katholizismus, in: Heimbach-Steins, M.
(Hrsg.): Lehrbuch Sozialethik, Bd. I, Regensburg 2005, 187-199.
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