Lage in Bosnien

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Weiter Stillstand in
Bosnien-Herzegowina
Nach den Wahlen vom Oktober 2014 ist keine Verbesserung in Sicht
Eine Bosnierin gibt bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober 2014 in
Sarajewo ihre Stimme ab.
Fast zwei Jahrzehnte nach Ende des Krieges bleibt BosnienHerzegowina ein gespaltenes Land, dessen Einwohner unter fehlenden
wirtschaftlichen und politischen Perspektiven leiden. Wie schon bei
den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren entschieden sich die Wähler am 12. Oktober 2014 überwiegend für Vertreter
etablierter, nationalistischer Parteien. Großer Verlierer sind die bosnischen
Sozialdemokraten (SDP), die bei den Stimmen für das gesamtstaatliche
Parlament auf ein Drittel ihres Ergebnisses von 2010 abstürzten.
G
leich vier Entscheidungen
standen am 12. Oktober in Bosnien-Herzegowina zur Wahl: Erstens
hatten die 3,3 Millionen Stimmberechtigten über das dreiköpfige
Staatspräsidium zu bestimmen,
bestehend jeweils aus einem Repräsentanten der bosnischen Muslime
(Bosniaken), Serben und Kroaten.
Zweitens entschieden sie über die
Zusammensetzung des gesamtbos-
nischen Parlamentes. Schließlich
wählten die Bosnier drittens die
Parlamente der Föderation und der
Republika Srpska sowie viertens die
politische Spitze von zehn Kantonen,
den mit weitreichenden Vollmachten
ausgestatteten Verwaltungseinheiten
innerhalb der Föderation.
Zum zweiten Mal nach 2010 gelang
Bakir Izetbegović, Chef der Partei
der demokratischen Aktion (SDA)
und Sohn des ehemaligen bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović,
der Sprung ins Staatspräsidium. Ihm
zur Seite steht der in Mostar geborene Kroate Dragan Čović, Vertreter
der Kroatischen Demokratischen
Union (HDZ). Für die bosnischen
Serben zieht der Wirtschaftswissenschaftler und Gründer der konservativen Partei des demokratischen
Fortschritts (PDP) Mladen
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Ivanić in das Triumvirat ein. Mit
hauchdünner Mehrheit setzte Ivanić
sich gegen Željka Cvijanović durch,
bislang Premierministerin der
serbischen Landeshälfte BosnienHerzegowinas (Republika Srpska)
und politische Weggefährtin des dortigen, für seine ablehnende Haltung
gegenüber dem bosnischen Gesamtstaat bekannten Präsidenten Milorad
Dodik, der im Amt bestätigt wurde.
Parlament, Ländervertretungen
und Kantonsführungen dominieren
auch zukünftig politische Kräfte, die
sich die Interessenvertretung „ihrer“
ethnischen Gruppen auf die Fahnen
geschrieben haben. Den Ton im
Gesamtparlament geben die bosniakische SDA und der Serbische
Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten SNSD an, dem auch
Dodik und Cvijanović angehören.
Die führende Partei der kroatischen
Volksgruppe bleibt die HDZ von
Dragan Čović. Im Wahlkampf hatten
die meisten Parteien vor allem damit
zu punkten versucht, der behaupteten „Übervorteilung“ der eigenen
Bevölkerungsgruppe im bosnischen
Gesamtstaat entgegentreten zu wollen. Für die zukünftige Regierungsarbeit verheißt dies nichts Gutes. Nach
den Wahlen von 2010, die bereits
eine ähnliche politische Kräfteverteilung hervorgebracht hatten, dauerte
es 15 Monate, bis überhaupt eine
Regierung gebildet war. Ähnlich
kompliziert dürften sich Koalitions-
gespräche und dann vor allem das
Regierungshandeln im politischen
Alltag auch diesmal gestalten.
Strukturelle Schwäche. Die Wahlbeteiligung von 54 Prozent war in
Bosnien-Herzegowina die niedrigste
seit dem Ende des Krieges. In der
hohen Zahl von Nichtwählern sowie
an ungültigen Stimmen kommen
Politikverdrossenheit und Frustration über den Stillstand im Land zum
Ausdruck. Im Friedensabkommen
von Dayton 1995 hatte die Internationale Gemeinschaft die Staatsgrenzen
Bosnien-Herzegowinas festgeschrieben und dem Staat eine Verfassung
verordnet, die auf ethnischen Prinzipien und der Einhaltung eines ent-
Die neu gewählten Mitglieder des gesamtbosnischen Staatspräsidiums: der Kroate Dragan Cović
(l.), der Serbe Mladen Ivanić (m.) und der bosnische Muslim Bakir Izetbegović (r.).
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sprechenden Proporzes beruht. Die
Vereinbarung von Dayton schüfe, so
die Hoffnung der Staatsgründer, die
Voraussetzungen für das friedliche
Zusammenleben von Bosniaken,
Serben und Kroaten und für eine
Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern. Mittelfristig
würde ein von ethnischer, religiöser
und kultureller Vielfalt geprägtes
Gemeinwesen entstehen, das sich
rasch nach Europa hin orientieren
und eine stabilisierende Wirkung
für den gesamten Westbalkan haben
sollte.
Tatsächlich gibt es in BosnienHerzegowina heute eine Demokratie
mit Medien- und Meinungsfreiheit,
in der ausgiebig und kontrovers dis-
Millionen bosnische Serben leben
in der Republika Srpska, fast 2,4
Millionen Bosniaken und bosnische
Kroaten in der bosnisch-kroatischen
Föderation. Fast 150 Ministerposten
müssen finanziert werden, etwa 800
Parlamentarier sind zu versorgen.
Die Administration verschlingt deutlich mehr als die Hälfte des bosnischen Staatsbudgets. Die strukturelle
Schwäche der Verwaltung offenbarte
etwa das Jahrhunderthochwasser, das
im Mai 2014 weite Teile BosnienHerzegowinas ver-wüstete. Während
das selbst von der Flut betroffene
Serbien humanitäre Güter an bosnische Serben, Kroaten und Bosniaken
verteilte, brachte die Katastrophe in
Bosnien-Herzegowina selbst das
Verwaltungsgliederung in Bosnien-Herzegowina.
KROATIEN
,
,
Brcko
Banja Luka
Belgrad
Tuzla
,
,
Kljuc
BOSNIENHERZEGOWINA
SERBIEN
Srebrenica
Sarajevo
,
Brcko-Distrikt
Republika Srpska
Föderation BIH
,
Karte 1
kutiert wird. Die sichtbaren Kriegsschäden sind vielerorts behoben.
Obwohl ethnisch motivierte Gewalt
wieder aufflammen kann, gilt die
Sicherheitslage doch als überwiegend
stabil. Andere Erwartungen der Staatengemeinschaft, die mit zunächst
60.000 Soldaten der IFOR-Truppe,
Ende 1996 abgelöst durch SFOR, die
Festlegungen von Dayton absicherte,
erfüllten sich hingegen nicht. Bis
heute krankt Bosnien-Herzegowina
an einer komplizierten, ineffizienten
und aufwändigen Verwaltungsstruktur und an einem aufgeblähten
politischen Apparat. Neben gesamtstaatlichen Einrichtungen existieren
die Verwaltungen zweier weitgehend
autonomer Landeshälften. Gut 1,4
MONTENEGRO
Podgorica
if - Grafik
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Fehlen funktionierender gesamtstaatlicher Strukturen für das Krisenmanagement an den Tag.
Das ethnische Prinzip wirkt bis
heute als Haupthindernis für ein
gesamtbosnisches Staatsbewusstsein
und Zusammengehörigkeitsgefühl.
Im Zusammenhang mit den Oktoberwahlen sprach die Neue Zürcher
Zeitung vom „Terror der Zahl Drei“.
Tatsächlich zementiert die seit Dayton „geheiligte Dreifaltigkeit“ in den
politischen Organen die Trennung
von Serben, Kroaten und Bosniaken.
Wichtige Gesetzesvorhaben und
Serbien identifiziert. Mit dem real
existierenden Gesamtstaat BosnienHerzegowina können hingegen nur
wenige etwas anfangen.
Die bosnische politische Kaste gilt
in der Bevölkerung als abgehoben
und unfähig. Viele Politiker stehen
im Ruf der Bestechlichkeit. Der
serbische Vertreter im Staatspräsidium Mladen Ivanić wurde 2008 im
Zusammenhang mit einem Korruptionsfall wegen Vernachlässigung
seiner Amtspflichten verurteilt.
Andere Verfahren wegen Bestechlichkeit und Machtmissbrauch
„  Milorad Dodik bezeichnete
Bosnien-Herzegowina im Februar
2014 öffentlich als „Illusion“ und
„nicht nachhaltige Gesellschaft“
ohne internen Konsens.
wirtschaftliche Reformen bleiben
liegen, weil zwischen den Parteien
und den beiden Landeshälften kein
Konsens herbeizuführen ist.
Bosnische Serben, bosnische Kroaten und Bosniaken sehen außer den
als künstlich empfundenen Grenzen
nicht viele Gemeinsamkeiten. Eine
der wenigen ist vielleicht, dass sich
eine große Zahl vor allem mit der
eigenen Ethnie beziehungsweise mit
den „Mutterländern“ Kroatien und
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verlaufen vor wenig engagierten und
kompetenten Gerichten, die selbst
nach ethnischem Verteiler oder qua
Parteibuch besetzt werden, häufig
im Sande. Die etablierten Parteien
spielten häufig schon während des
Krieges eine unrühmliche Rolle.
Ihnen kommt die Ethno-Quote
zupass, weil sie so leichter an der
Macht bleiben können. Die Parteien
sind es, die in der Praxis die Vergabe
lukrativer Posten kontrollieren. Auch
dies fördert das Vertragswerk von
Dayton indirekt, denn es schreibt
für alle öffentlichen Stellen einen
Proporz zwischen den Bevölkerungsgruppen vor.
Angst vor „Einkreisung“. Obwohl
die von Regimekritikern als „Daytonisten“ bezeichneten Funktionäre
also vom System profitieren, lassen
selbst Spitzenpolitiker oft kaum ein
gutes Haar am Gesamtstaat. Noch
im Februar 2014 bezeichnete Dodik
Bosnien-Herzegowina öffentlich
als „Illusion“ und „nicht nachhaltige
Gesellschaft“ ohne internen Konsens.
Željka Cvijanović sympathisiert
mit einer Loslösung der Republika
Srpska vom Gesamtstaat. Dragan
Čović macht sich – in dieser Frage
übrigens unterstützt durch Milorad
Dodik - für einen autonomen Landesteil der bosnischen Kroaten stark,
während die Bosniaken sich rhetorisch gegen die „Einkreisung“ durch
Serben und Kroaten zur Wehr setzen
und entsprechend in der Föderation
wie im Gesamtstaat agieren.
Nur selten kam die Wut der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas
über die eigene Führung so offen
zum Ausdruck wie im Februar 2014,
als schwere Ausschreitungen die
bosnisch-kroatische Föderation
erschütterten. In der zentralbosnischen Industriestadt Tuzla griffen
Demonstranten die Sicherheitskräfte
an. Sie setzten öffentliche Gebäude
in Brand und machten ihrem Unmut
über die Lebensbedingungen in
Bosnien-Herzegowina Luft. In
Sarajewo demonstrierten Zehntausende Menschen. Die Polizei setzte
Tränengas und Gummigeschosse
ein. 200 Menschen wurden verletzt.
Weitere Schwerpunkte der Proteste
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waren Mostar, Zenica, Bihać, Travnik schaftliche Gruppen und trugen ihre
Forderungen nach Demokratisieund Konjic. Auch in Banja Luka und
rung und einem Systemwechsel vor.
Bijeljina (Republika Srpska) kam es
Die gesellschaftliche Mobilisierung
zu Demonstrationen.
entwickelte Charakteristika der
Unmittelbaren Auslöser für die
„Farbrevolutionen“ in Jugoslawien,
Unruhen war die fehlgeschlagene
Georgien oder der Ukraine, war
Rettung mehrerer Großbetriebe
jedoch nur von kurzer Dauer. Rasch
sowie gravierende Fehler bei deren
verschwanden die meisten Foren und
Abwicklung. Darüber hinaus proGruppen der Protestierer wieder aus
testierten die massenhaft betrofder Öffentlichkeit. Viele frustrierte
fenen Arbeitnehmer gegen den
Frühjahrsdemonstranten gingen im
maroden Zustand der Wirtschaft
Oktober nicht zur Wahl.
und die Unfähigkeit der staatlichen
Behörden. Die Chefs mehrerer
Schwache Wirtschaft. Wo Stillstand
Regionalverwaltungen sahen sich
herrscht, kann auch die Wirtschaft
zum Rücktritt gezwungen. In ganz
Bosnien organisierten sich zivilgesell- nicht gedeihen. Fast 20 Jahre nach
Ende des Krieges bewertet die Weltbank Bosnien-Herzegowina als eine
der am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften zwischen
Europa und Zentralasien. Seit 2009
schrumpfte die Wirtschaft kontinuierlich um jährlich bis zu 3,5 Prozent,
bevor 2013 erstmals wieder ein
kleines Wachstum zu verzeichnen
war. Jeder zehnte Einwohner verfügt
über weniger als fünf US-Dollar
Kaufkraft täglich und gilt damit als
arm. Der private Konsum ist seit
Jahren rückläufig, der Binnenmarkt
schwach entwickelt. Bosnien ist auf
Exporte angewiesen, doch erfüllen
nur wenige einheimische Unter-
Demonstranten während der Proteste in der bosnischen Stadt Tuzla. Die
Proteste richteten sich gegen Arbeitslosigkeit und Korruption. Mindestens
90 Menschen wurden verletzt.
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nehmen die Wettbewerbsbedingungen für den EU-Markt. Etwa 60
Prozent der Ausfuhren gehen in die
Eurozone. Das macht Bosnien besonders anfällig für die Auswirkungen
der Währungskrise im Euroraum.
Eine ausgedehnte Schattenwirtschaft
schmälert die ohnehin geringen
Steuereinnahmen des Staates. Nach
wie vor machen die Überweisungen
von Auslandsbosniern einen großen
Teil des Bruttoninlandsproduktes aus,
was wiederum indirekt der Senkung
der Arbeitslosenrate entgegenwirkt.
Diese liegt landesweit bei 28 Prozent,
unter den 15- bis 24-Jährigen gar
bei 60 Prozent. Von der bosnischen
Jugend schließlich zeichnete jüngst
eine Studie ein wenig dynamisches
Grafik 1
Bild: Den Hochschulabsolventen
mangele es an Einsatzbereitschaft
und Mobilität, schon in jungen Jahren strebten sie überwiegend nach
gut abgesicherten Posten beim Staat
aber nicht nach Arbeit.
Europa als Perspektive und Motor
bosnischer Staatlichkeit? Die
meisten in Bosnien-Herzegowina
vertretenen Gruppen und Parteien
priesen lange Zeit die Europäische
Union als politische Perspektive und
für alle akzeptablen Überbau. Von
einer Annäherung wurde vor allem
steigender Wohlstand erwartet.
Mittlerweile fühlen sich viele Bürger von der europäischen Politik
enttäuscht und bevormundet. Für
das Festhalten am Gesamtstaat, die
Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten, Aussöhnung und Grenzöffnung erwartet die Bevölkerung
die Belohnung der schrittweisen EUIntegration. Diese liegt allerdings seit
Jahren auf Eis.
Ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Union
vom 16. Juni 2008 kam beinahe nicht
zustande, weil es nicht gelang, die
Exekutive beider Landeshälften im
Rahmen einer Polizeireform zur
Zusammenarbeit zu verpflichten. Und
trotz seiner schlussendlichen Ratifizierung konnte das Abkommen bis heute
nicht in Kraft treten, weil Bosnien
es versäumte, sein Wahlrecht der
Europäischen Menschenrechtskon-
Wirtschaftsentwicklung 2010 - 2014 in Bosnien-Herzegowina.
2014
2013
2012
2011
2010
-15
-10
-5
0
5
10
Leistungsbilanz in % des BIP
Arbeitslosenquote in %, Jahresdurchschnitt LFS
Verbraucherpreise Veränderung gegen das Vorjahr in %
Brutto-Inlandsprodukt Reale Veränderung gegen das Vorjahr in %
30
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15
20
25
30
if - Grafik
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vention anzupassen und außer den
Serben, Kroaten und Bosniaken auch
Angehörigen kleiner Minderheiten
die Bewerbung um politische Ämter
zu ermöglichen. Neben Kosovo ist
Bosnien das einzige Land des Westbalkans, das bislang keinen formellen
Antrag auf Mitgliedschaft in der EU
stellen konnte. Im Vergleich mit dem
EU-Mitglied Kroatien und auch mit
Serbien hat sich das Land durch seine
mangelnde politische Handlungsfähigkeit vom Annäherungsprozess an
die Union abgekoppelt.
Die EU ist in Bosnien seit 2004 mit
der heute noch 600 Mann starken,
durch den österreichischen Generalmajor Dieter Heidecker geführten
Militärmission EUFOR Althea präsent. Innerhalb der Staatengemeinschaft fehlt jedoch eine einheitliche
politische Strategie. So stellen nicht
wenige Stimmen die Funktion des
Hohen Repräsentanten, der seit
1995 die Einhaltung des Daytoner
Vertrags überwacht und BosnienHerzegowina von der vollständigen
Souveränität trennt, grundsätzlich
in Frage. Der seit 2009 amtierende
Österreicher Valentin Inzko geriet
in den vergangenen Jahren zwischen
die politischen Fronten, ohne in
seinem Amt bezüglich der ausbleibenden Reformen Akzente setzen
oder Druck auf die Regierung
ausüben zu können. Unter EUDiplomaten gibt es Überlegungen,
Bosnien neu in wirtschaftlich sinnvolle Einheiten einzuteilen, ihm den
notwendigen Minderheitenschutz
zu verordnen aber zukünftig auf den
ethnischen Schlüssel zu verzichten.
Dies würde aber die Vertragsbestimmungen von Dayton außer Kraft
setzen und ist damit vorerst keine
realistische Option. Einzelne EUStaaten schlugen vor, weitere Gelder
der Weltbank und des IWF, auf die
das hoch verschuldete Bosnien-Herzegowina angewiesen ist, strikt vom
Fortgang der Reformen abhängig zu
machen. Auch ein solches Vorgehen
ist allerdings höchst unwahrscheinlich, da ein Staatsbankrott die internationalen Geldgeber weit teurer
käme als die weitere Unterstützung
Bosniens.
Zweifel am eigenen Staat. Viele
Einwohner zweifeln an der Lebensfähigkeit Bosnien-Herzegowinas als
Staat. Insbesondere junge Menschen
suchen ihr Heil in der Emigration.
Dass die in ihrem Führungsanspruch
bestätigten nationalistischen Parteien
die grundlegenden strukturellen
und wirtschaftlichen Probleme
des Landes lösen werden, steht
zu bezweifeln. Und während die
Ausstrahlung Europas in Bosnien
abnimmt, bieten sich zunehmend die
Türkei, China, Indien oder Russland
als Investitions- und Handelspartner
an. Die Führungen in Ankara, Moskau und Peking haben ein politisches
Interesse daran, ihre Präsenz auf
dem Westbalkan zu verstärken. Im
Gegensatz zu Europa fordern sie
von Bosnien-Herzegowina keine
Reformen und Fortschritte bei der
guten Regierungsführung als Gegenleistung für ihr Engagement.
Autor
Dr. Bernhard Chiari, Jahrgang 1965, ist
Director Organisations & Government
im Beratungsunternehmen EXOP in
Konstanz. Bis 2014 arbeitete er am
Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
in Potsdam.
Zusammenfassung
Bosnien-Herzegowina befindet sich
seit Jahren in einer permanenten
Staatskrise. Die Regelungen des
Friedensabkommens von Dayton aus
dem Jahr 1995, insbesondere die Vorgaben zu einem ethnischen Proporz
in Politik und Verwaltung zwischen
bosnischen Muslimen, Kroaten und
Serben, haben zu einem aufgeblähten und redundanten Staatsapparat
geführt, der einen Großteil des
Staatshaushalts auffrisst. Die Zentrifugalkräfte zwischen den ethnisch
geprägten Landesteilen nehmen
zu. Hinzu kommt eine anhaltende
Wirtschaftskrise, die durch eine starke
Abhängigkeit von Exporten in die
Eurozone, die sich selbst in einer Währungskrise befindet, noch verschärft
wird. Die Wahlen am 12. Oktober 2014
zeigten keinen Weg aus der Krise auf.
Fotos
Seite 25: picture alliance/dpa
Seiten 26 und 28 picture alliance/AA
Seite 29: picture alliance/AP Photo
Grafiken
Seite 27: Bundeswehr/Hebbel
Seite 30:
WienInternational.at/Bundeswehr/
Hebbel
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