mehrheitsPrämie und mandatsausgleich

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Publicus 2014.6
Parlament/Wahlen/Parteien  Italiens Wahlsystem
Inhalt
Mehrheitsprämie und Mandatsausgleich
Verfassungsrichter in Rom misten einen „Saustall“ aus
Es sind die Italiener selbst, die ihr bisheriges Wahlrecht mit
Verachtung gestraft und deshalb als „porcellum” bezeichnet
haben. Und das kann man nur mit Schweinerei, Ferkelei oder
Saustall übersetzen. Die Verhältniswahl der politischen
Parteien ist nun einmal kein Mehrheiten bildendes Wahlsystem, die relative Mehrheit deshalb der Regelfall. Und das ist
der große „Pferdefuß” des Verfahrens. Der Regierung
Berlusconi gelang jedoch die „Schweinerei“, sich in diesem
allgemein bevorzugten System einen Vorsprung zu verschaffen und die relative durch eine „Mehrheitsprämie” in die
absolute Mehrheit zu verwandeln. Die Zahl der Mandate
wurde nach der Wahl bei der stärksten Partei einfach auf
54 % der Sitze im Parlament aufgestockt. Eine gesonderte
Wahlhandlung des Wahlvolkes gab es für diese aus der Luft
gegriffene Mehrheitsbeschaffung nicht.
Missbrauch abgestellt
Nicht genug mit dieser empörenden „Schweinerei“; die
Wahlberechtigten in Italien konnten auch die alles entscheidende Platzierung der Bewerber in den Listen nicht beeinflussen. Wer einen aussichtsreichen Listenplatz bekam,
wurde in den Hinterzimmern der Macht von der Parteispitze
allein entschieden. Und Berlusconi schreckte nicht davor
zurück, auf diese Weise sogar Models aus der Modebranche
in das Parlament zu hieven. Beiden Missbräuchen hat der
Corte Costituzionale mit seiner Entscheidung Nr. 1 vom
13. 01. 2014 den Garaus gemacht.
© bilderstoeckchen – Fotolia
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Die närrischen Zeiten sind vorbei: Kehraus im „porcellum“ („Saustall”) des italienischen Wahlsystems.
Das Italienische Verfassungsgericht (itVerfG) hat seinen
Sitz im Palazzo Consulta auf dem Quirinal in Rom. Die 15
Richter des Palazzo stellten sich auf die Seite des Wahlvolkes, verwarfen das porcellum und hielten in ihrer Urteilsbegründung fest, es fehle „der Gesamtheit der gewählten
Parlamentarier ohne jede Ausnahme die Unterstützung der
persönlichen Ernennung durch die Bürger”. Das Urteil
wirkte wie ein Donnerschlag (Vgl. dazu auch Francesco
Palermo, www.verfassungsblog.de). Die Richter in der
Consulta haben jedoch keine Wahlwiederholung angeordnet,
also das eigentlich verfassungswidrig entstandene Parlament nolens volens akzeptiert. Die Stunde der Wahrheit
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Parlament/Wahlen/Parteien  Italiens Wahlsystem
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schlägt demnach erst zur nächsten Wahl. Falls überhaupt
werden sich jedoch die politischen Parteien auf ein neues
Wahlrecht nur dann verständigen, wenn sie sich davon einen
Vorteil versprechen. Und den schloss das Urteil ja gerade aus.
Keine Legitimation durch die Wähler
Ohne gültiges Wahlrecht keine Neuwahl. Um der drohenden
Anarchie zu entgehen, griff der neue Regierungschef Matteo
Renzi wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm. Ausgerechnet mit Berlusconi tat sich Renzi zusammen und vereinbarte
mit ihm – dem Consulta zum Trotz! – wenn auch in kosmetisch modifizierter Fassung an der „Mehrheitsprämie”
grundsätzlich festzuhalten. Zu diesem Preis konnte die
Gefahr zwar gebannt werden, dass die Legislaturperiode
endet, ein gültiges Wahlrecht aber fehlt. Trotzdem werden
Tage kommen, von denen der Prophet sagt: „Sie gefallen mir
nicht!” Denn bleibt das porcellum, könnte der Corte Costituzionale in der nächsten Runde nicht nur das neue Wahlrecht,
sondern auch die nächste Wahl verwerfen.
Das Urteil des ItVerfG in Rom weist über das Land hinaus.
Mandatsaufstockung und geschlossene Listen gibt es nicht
nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Beides zwar in
anderer Spielart, die in ihrem verfassungswidrigen Kern
jedoch in beiden Punkten vergleichbar ist. Eine ohne konkrete Wahlhandlung herbeigeführte Mandatsvermehrung ist der
Volksherrschaft fremd. Volksvertreter werden vom Volk und
nur vom Volk gewählt. Art. 38 Grundgesetz ordnet es unmissverständlich an: „Die Abgeordnete werden (…) gewählt”. Niemand kann daher ohne konkrete Wahlhandlung
an den Wählern vorbei gleichsam durch eine Hintertüre in
das Parlament gemogelt werden.
Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat es ausdrücklich
bestätigt, Abgeordneter könne man nicht durch Ernennung,
sondern allein durch Wahl werden (vgl. BVerfG 26. 02. 1998
BVerf GE 97, 317 ff. (319 und 323)). Daraus zogen die Verfassungsrichter in Schleswig-Holstein den nahe liegenden
Schluss, es könne nicht mehr Mandate geben als im Parlament Sitze zur Verfügung stünden (vgl. LVerfG/SchleswigHolstein v. 30. 08. 2010 – Az 3/09 u. 3/10). Das alles bleibt
aber Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Bei der Bundestagswahl vom 22. 09. 2013 wurden erstmalig auch im Bund
sog. „Ausgleichsmandate” eingeführt, die Zahl der Abgeordneten also nachträglich, ohne gesonderte, konkret auf den
Ausgleich bezogene Wahlhandlung aufgestockt. Wie in
Schleswig-Holstein waren auch in Baden-Württemberg und
anderen Bundesländern Ausgleichsmandate schon vorher
anzutreffen. Daher wähnte man sich bei der Einführung im
Bund auf der sicheren Seite. Doch dem ist nicht so.
Niemand ist befugt, den Willen der Wähler auszugleichen
In Deutschland gilt das duale Wahlsystem mit zwei Stimmen.
Erzielt eine Partei in dieser Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme im Wahlgebiet mehr Direktmandate als Listenplätze,
wird der sog. „Überhang” der Erst- über die ZweitstimmenMandate zu Gunsten der anderen Landesparteien, die ohne
Mandatsüberhang blieben, ausgeglichen. Dadurch verschiebt sich aber der Proporz gegenüber den anderen Bundesländern, der bundesweit ebenfalls ausgeglichen wird.
Der springende Punkt ist dabei: Für die doppelte Mandatsaufstockung zuerst im Land, dann im Bund, gibt es auf der
Seite des Wahlvolkes keine auf den Mandatsausgleich bezogene Wahlhandlung in den Reihen des Wahlvolkes. Ausgleichsmandate sind deshalb verfassungswidrig.
Vor dem in Art. 20 Grundgesetz niedergelegten Prinzip
der Volksherrschaft kann die Rechtsfigur des nicht gewählten Abgeordneten keinen Bestand haben. Niemand ist befugt, nach der Wahl den Willen der Wähler nachzubessern
oder auszugleichen. Die 29 Abgeordneten, die nach der
Wahl v. 22. 09. 2013 ein verfassungswidriges Ausgleichsmandat erlangt haben, müssen den Deutschen Bundestag wieder
verlassen (Vgl. dazu auch Hettlage, Publicus 2013.9 und
2013.10).
Es mag bei den Landtagswahlen zum Teil anders sein, bei
den Wahlen für den Bundestag in Berlin gehören jedenfalls
die geschlossen Listen zum gewohnten Erscheinungsbild.
Nach dem Urteil des Palazzo Consulta sind sie fraglicher
denn je. Immerhin ordnen § 27 Abs. 5 BWahlG und § 39
Abs. 4, Ziff. 3 BWahlO gleichlautend an, dass wenigstens bei
der Nominierung „die Festlegung der Reihenfolge der Bewerber in den Landeslisten in geheimer Wahl erfolgt ist”.
Zwar steht das – sogar in wortgleicher Ausführung – in
Wahlgesetz und Wahlordnung, aber eben nur auf dem Papier. Nicht einmal die Delegierten der Parteien können die
Reihenfolge auf den Listen beeinflussen, um von den Wählern gar nicht zu sprechen.
Bei der Nominierung der Kandidaten durch die Delegierten der Parteien wird über die chancenreichen Plätze nicht
in ergebnisoffener Sammelabstimmung, sondern von Listenplatz zu Listenplatz voranschreitend in Einzelabstimmung
oder z. T. auch in Blockwahl entschieden. Es kann also
passieren und passiert oft genug, dass ein Bewerber bei der
Nominierung mit weniger Stimmen der Delegierten einen
besseren Listenplatz erreicht als ein Mitbewerber, der sich
mit einem schlechteren Listenplatz zufrieden geben muss,
obwohl er mehr Stimmen erhalten hat als der Besserplatzierte in der Reihenfolge. (Vgl. dazu Hettlage, Wie wählen wir
2013?, S. 139 ff.) Hier wird der Grundsatz der Demokratie:
„Mehrheit entscheidet” auf den Kopf gestellt. Die von oben
her vorgegebene Reihung steht – contra legem! – sogar
schon bei der Aufstellung der Kandidaten von vorne herein
fest und kann im eigentlichen Urnengang auch vom Wahlvolk nicht mehr beeinflusst werden.
Dem porcellum in Italien stehen die Verhältnisse in
Deutschland also kaum nach. Und was das Verfassungs­
gericht in Karlsruhe dazu sagt, steht in den Sternen.
Dr. rer. pol. Manfred C. Hettlage,
Publizist,
München
www.manfredhettlage.de
[email protected]
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