Rechtfertigung der Terrorherrschaft

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09.12.2014
Grundsatzdokument des "Islamischen Staates"
Rechtfertigung der Terrorherrschaft
Die übersehene Gründung: Vor acht Jahren legte der "Islamische Staat" in einem
Manifest seine Ziele und Methoden offen. Der Führungsanspruch "mit dem Schwert"
wird mit strenger Tradition begründet, wie Joseph Croitoru berichtet.
Die islamistischen Terroristen im Irak riefen ihren Staat schon im Oktober 2006 aus und
begründeten dies kurz darauf in einer programmatischen Schrift, die bis heute kaum analysiert
wurde. Dabei ist das Grundsatzdokument ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des
"Islamischen Staats".
Bei der Suche nach der Genese der dramatischen Entwicklungen im Irak mag es abwegig
erscheinen, ausgerechnet Betrachtungen des früheren amerikanischen Präsidenten George W.
Bush wieder ins Gedächtnis zu rufen. Doch muss es einen Grund dafür geben, dass seit der
Ausrufung des IS-Kalifats im Zweistromland seine Rede vom 5. September 2006 in der
Blogosphäre eine Renaissance erlebt.
Die Prophezeiungen des verhassten Präsidenten
Bush warnte damals eindringlich davor, was geschehen würde, sollte es den Dschihadisten
gelingen, die Amerikaner aus dem Irak zu vertreiben. Die sunnitischen Terroristen würden, so
der Präsident, ihren Plan, ein totalitäres islamisches Imperium zu errichten, in die Tat
umsetzen. Ihr herbeigesehntes Kalifat würde sich von Europa (gemeint war wohl Spanien)
über Nordafrika und Nahost bis nach Südostasien erstrecken.
Dieses Szenario wirkte damals mächtig übertrieben. Doch kam den radikalen Islamisten im
Irak die Prognose des Erzfeindes mehr als gelegen. Die Terrororganisation "Al-Qaida im
Irak", die mit einer Reihe anderer Dschihadisten-Organisationen unter dem Etikett "SchuraRat der Mudschahedin im Irak" Mitte Oktober 2006 den "Islamischen Staat Irak" (ISI)
ausrief, nahm Bushs Voraussage in ihr Anfang 2007 veröffentlichtes Staatsgründungsmanifest
mit auf – und kommentierte sie mit der süffisanten Bemerkung, wie recht doch der ansonsten
als "Lügner" bekannte amerikanische Regierungschef mit seiner Prophezeiung gehabt habe.
Die 90 Seiten umfassende Schrift des ISI trägt den Titel "Benachrichtigung der Gläubigen
über die Geburt des Islamischen Staates". Obgleich sie das wichtigste Grundsatzdokument des
ISI darstellt, hat sich selbst in Fachkreisen bislang kaum einer die Mühe gemacht, sie zu
analysieren. Eine Ausnahme ist der Leipziger Islamwissenschaftler Christoph Günther, dessen
2013 vorgelegte Dissertation "Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des
'Islamischen Staates Irak'" mittlerweile als Buch erschienen ist.
Leben unter Fremdherrschaft
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Die Studie greift zentrale Aspekte dieses Dokuments heraus, die im Übrigen zum Teil auch
schon in der Mitte Oktober 2006 von einem Vertreter des ISI-"Informationsministeriums" in
einem Video anonym verlesenen und von Günther nur angerissenen Gründungserklärung des
"Islamischen Staats Irak" eine Rolle spielten.
Die unterschätzte Gefahr: Seit Jahren haben sich die Unruheprovinzen Anbar und Diyala zu
Hochburgen des militanten sunnitischen Widerstands gegen die schiitische Zentralregierung
unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki entwickelt. Die aufständischen
Milizen bildeten rasch Verbindungen und Allianzen mit der aufstrebenden Terrororganisation
"Islamischer Staat Irak" (ISI)
Diese Staatsproklamation gibt Einblicke in die Rechtfertigungsstrategien des ISI in seiner
Entstehungsphase. Als Begründung für die Ausrufung ihres Staates führen die Mudschahedin
an, dass die Sunniten - im Gegensatz zu den Kurden im Norden und den Schiiten im Süden
des Iraks - noch immer nicht über ein eigenes Staatswesen verfügten und nach wie vor unter
Fremdherrschaft lebten.
Für ihr neues Staatsgebiet beanspruchten die Gotteskrieger bereits damals die sechs irakischen
Provinzen Bagdad, Anbar, Diyala, Kirkuk, Salah al-Din und Ninive sowie Teile zwei weiterer
Provinzen (Babil und Wasit), was in etwa dem Raum entspricht, der von ihnen heute –
mittlerweile sollen es neun Provinzen sein – kontrolliert wird.
Auf die politische Rechtfertigung der Staatsausrufung folgte die religiöse. Dabei berief man
sich auf einen Spruch des Propheten Mohammed aus den Hadith-Sammlungen, der besagt,
dass Muslime von einem Muslim regiert werden müssen: Befänden sich auch nur drei
muslimische Personen auf fremdem Boden, seien sie verpflichtet, einen zu ernennen, dessen
Befehlen sie folgten – von "Befehl" (amr) leitet sich im Arabischen der Begriff Emir
(Befehlshaber, arabisch: amir) ab.
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Mit der Bezeichnung "Amir al muminin" (Anführer der Gläubigen), die schon zur Zeit der
ersten vier "rechtgeleiteten" Kalifen in Gebrauch war, schmückte sich denn auch der im April
2010 bei einem Raketenangriff nahe Takrit getötete ISI-Chef Abu Omar al Baghdadi – so wie
dies heute auch sein Nachfolger, der "Kalif" und Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi tut.
Mit dem Rückgriff auf den Hadith gaben sich die Mudschahedin des ISI traditionstreu. Das
hinderte sie aber nicht daran, was selbst in Dschihadistenkreisen revolutionär war, von der
eigenen Lage eine direkte Linie zu der des islamischen Propheten am Beginn seiner
Herrschaft in Medina zu ziehen – mit dem selbstbewussten Kommentar, dass man bereits über
ein größeres Gebiet herrsche als seinerzeit der Stifter des Islam.
Al-Qaidas Instrumentalisierung des Nahostkonflikts
Auch standen sie auf dem Standpunkt, dass "ihr Staat" größere Anerkennung verdiene als die
"international breit anerkannte palästinensische Regierung", zumal diese ein kleineres
Territorium kontrolliere und bei weitem nicht im Besitz so schlagkräftiger Waffen sei. Zudem
werde der ISI auch nicht am Gängelband geführt wie die "von den Zionisten unterdrückten
Palästinenser". Der Versuch, den Nahostkonflikt zu instrumentalisieren, trug die Handschrift
der Al-Qaida. Damit und auch mit dem Bild von den Juden als den erbittertsten Feinden des
Propheten hoffte man, Sympathisanten zu gewinnen.
Straff-militärisch geführte Organisation nach frühislamischem Vorbild: Mittlerweile hat der
Islamische Staat in seinem Herrschaftsbereich im Irak und in Syrien im Schatten seines
Eroberungsfeldzugs organisatorische und staatliche Strukturen errichtet. Innerhalb der
Organisation gibt es inzwischen sogar ein Krankenversicherungssystem, Heiratsbeihilfen und
Unterstützungszahlungen für die Familien getöteter oder inhaftierter Kämpfer.
Als ihre wichtigsten Ziele nannten die Gründer des ISI die Vertreibung sämtlicher
"Invasoren" und "Aggressoren" aus dem Irak und die Schaffung von Frieden und Sicherheit
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sowie die buchstabengetreue Anwendung der Scharia und eine damit einhergehende gerechte
Verteilung der Ressourcen des Landes unter den Gläubigen.
An die irakisch-sunnitischen Stammesführer richteten sie einen eindringlichen Appell, dem
"Anführer der Gläubigen", Abu Omar al-Baghdadi, die Treue zu schwören. Auch wurden
Sunniten in der ganzen Welt dazu aufgerufen, sich "beginnend mit Worten und endend mit
Blut" für den "Islamischen Staat Irak" einzusetzen.
Die nur eineinhalb Monate später, im Januar 2007, veröffentlichte programmatische Schrift
"Benachrichtigung der Gläubigen über die Geburt des Islamischen Staates" –herausgegeben
vom "Ministerium für religionsgesetzliche Angelegenheiten" – präsentiert sich in ihrem
Untertitel als "Studie". Sie teilt sich in vier Abschnitte: "Die Bedeutung des (islamischen)
Staates und warum die Umma ihn braucht", "Die Existenzberechtigung des Islamischen
Staates Irak", "Was man uns vorwirft und was wir antworten" und "Die Pflicht, den
Islamischen Staat zu unterstützen".
Rekurs auf sunnitischen Rechtskonsens
Das Dokument zeugt davon, wie sehr sich der ISI im sunnitischen Rechtskonsens zu
positionieren suchte. Unter Berufung auf Koranverse und Stellungnahmen berühmter
mitteralterlicher sunnitischer Rechtsgelehrter wurde die Notwendigkeit des Aufbaus eines
islamischen Gemeinwesens nach dem Vorbild jener geoffenbarten Ordnung propagiert, wie
sie der Prophet und später seine Nachfolger (Kalifen) etabliert hatten.
Nur so – und unter der Bedingung der uneingeschränkten Anwendung der Scharia – ist nach
den angeführten sunnitischen Quellen die Voraussetzung für das Heil der Muslime
geschaffen, die allerdings zu absolutem Gehorsam verpflichtet sind.
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Für eine Ausdehnung des "Kalifats des Schreckens": Abu Bakr al-Baghdadi hatte im
vergangenen November die Ausdehnung seines selbst ernannten Kalifats auf weitere Staaten
verkündet. In einer jüngst verbreiteten Rede wurden Saudi-Arabien, Jemen, Ägypten, Libyen
und Algerien genannt. Al-Baghdadi rief seine Anhänger auf, die saudische Herrscherfamilie den "Kopf der Schlange" - sowie die Schiiten in dem Königreich anzugreifen.
Auch bei der Art der Wahl ihres Staatsoberhaupts (Imam), bei der man sich ebenfalls an die
Vorschriften der Rechtsautoritäten hielt, präsentierten sich die ISI-Dschihadisten, wie
Christoph Günther hervorhebt, als konsensorientiert. Die Ernennung des Herrschers sei durch
die "Leute des Lösens und Bindens" erfolgt – eine traditionell dazu bestimmte Elite.
Im Falle des ISI rekrutierten sie sich aus der "Allianz der Wohlduftenden", deren Gründung
im Juni 2006 bekanntgegeben worden war und aus einem Zusammenschluss des "Schura-Rat
der Mudschahedin" und den, wie es hieß, "guten sunnitischen Stämmen" bestand, die dem ISI
Treue geschworen hätten.
Vollständige Transparenz konnte der damals noch im Untergrund agierende ISI freilich nicht
vorweisen. So bezog man sich, auch um möglicher Kritik vorzubeugen, auf ein weiteres im
sunnitischen Gelehrtenkonsens verankertes Verfahren zur Einsetzung des islamischen
Herrschers, nämlich die "Usurpation durch Unterwerfung mit dem Schwert", welches in
Krisenzeiten oder im Streitfall dem waffenstärksten Aspiranten den Rechtsanspruch auf das
Amt des Imams einräumt.
Führungsanspruch mit dem Schwert
Vor dem Hintergrund der Krise im Irak wie auch sonst in der islamischen Welt halten die
Autoren des Manifests diese Option im Fall des ISI für angemessen, zumal gegenwärtig die
muslimische Umma ohne Führung und etliche islamische Gebiete unter der Kontrolle fremder
Invasoren seien. Das programmatische Beharren auf dem Recht, den Führungsanspruch "mit
dem Schwert" durchzusetzen, ist nicht nur ein Beleg dafür, wie schon der ISI es verstand, sein
Herrschaftssystem als konsenskonform erscheinen zu lassen. Es vermag auch teilweise die
Gewaltexzesse zu erklären.
Arroganz der Macht spricht auch aus dem dritten Abschnitt "Was man uns vorwirft und was
wir antworten", wo die Verfasser sich anschicken, möglichen Einwänden hinsichtlich der
Legitimität ihres Staats zu begegnen – etwa dem, dass der ISI über ein klar umrissenes
Territorium nicht verfüge.
Für die Autoren lässt sich die Frage der Gebietskontrolle nur im Kontext des asymmetrischen
Kriegs, wie er im Irak stattfinde, diskutieren: Dass die Feinde der Mudschahedin ihre
beanspruchten Gebiete nicht wirklich zu kontrollieren vermöchten, bewiesen allein schon die
vielen tödlichen Schläge, die ihnen von den Gotteskriegern versetzt würden – sogar in
Bagdads Grüner Zone, die die irakische Regierung der "Abtrünnigen" (Schiiten) glaube mit
amerikanischen Truppen sichern zu können.
Und da die sunnitischen Quellen an keiner Stelle vorschrieben, wie groß das Territorium sein
müsse, auf dem ein "Islamischer Staat" ausgerufen werden dürfe, gilt aus Sicht des ISI, dass
dieses überall dort ist, wo seine Kämpfer sich öffentlich mit ihren Waffen präsentieren – vor
dem Hintergrund dieser Argumentation wird die bekannte Selbstinszenierung der
Dschihadisten umso verständlicher.
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Zwar stünden ihnen, wie die ISI-Ideologen einräumten, nach wie vor mächtige Feinde
gegenüber, doch sei es dem Propheten zu Beginn seiner Herrschaft in Medina auch nicht
anders ergangen. Wie sein Staatsgebiet werde auch das des ISI immer weiter wachsen.
Kein Treueeid gegenüber einem unsichtbaren Imam
Auch wenn in der Schrift darlegt wurde, dass die Organisation aus Sicherheitsgründen noch
im Untergrund agieren müsse – Abu Omar al-Baghdadi meldete sich nur mit
Audiobotschaften –, stellte man sich auch der erwartbaren Kritik, dass al-Baghdadi den
meisten als Person unbekannt bleibe und man dem "Anführer der Gläubigen" deshalb auch
nicht die Treue schwören könne. Es genüge, so die Antwort, dass ihn wichtige
Entscheidungsträger persönlich kennten und ihm stellvertretend den Treueschwur leisteten.
Tatsächlich meldete sich mit einer solchen Beanstandung, wie Christoph Günther vermerkt,
im April 2007 der Kuweiter Hamid Abdallah al Ali zu Wort, ein der Al-Qaida ideologisch
nahestehender salafistischer Rechtsgelehrter. Er zweifelte die Rechtmäßigkeit des
"Islamischen Staates Irak" mit dem Argument an, dass der Islam einen Treueeid gegenüber
einem unbekannten, unsichtbaren Imam nicht kenne. Dieser zentrale Vorwurf wurde von den
Mudschahedin erst sieben Jahre später entkräftet: Wohl auch deshalb ließ sich Abu Bakr alBaghdadi, der bis dahin ebenso wie sein Vorgänger physisch nicht in Erscheinung getreten
war, nur wenige Tage nach der Gründung seines "Kalifats" Anfang Juli erstmals filmen.
Nicht zuletzt diesem Rechtfertigungszwang scheint die Bildpropaganda der Dschihadisten
geschuldet zu sein, in der in den vergangenen Monaten auffällig oft Treueschwur-Zeremonien
zelebriert werden. Offenbar sollen die letzten Zweifel an der Existenz des
"IslamischenStaates" ausgeräumt werden, der jetzt in der Tat – wie schon vom ISI mit Bezug
auf den Frühislam verheißen – expandiert.
Dass er auch tatsächlich Realität geworden sein könnte, daran zweifelte nicht nur die seit
2009 amtierende Regierung Obama, die mit ihren Verbündeten, den sunnitischen
Stammesmilizen, die irakischen Gotteskrieger nur vorübergehend zurückdrängen, aber nicht
endgültig zerschlagen konnte.
Verharmlosung der ISI als Fiktion
Auch von Islamismusforschern und US-Militärkreisen wurde der "Islamische Staat Irak"
immer wieder als "Fiktion" abgetan. Dabei hatten seine Anführer schon im April 2007 die
Gründung einer Reihe von "Ministerien" bekanntgegeben – staatsähnliche Strukturen, die,
wie man heute feststellt, offenbar im Untergrund ausgebaut wurden. Im Kern dürften sie aber
schon lange vorher bestanden haben.
Al-Qaida habe bereits einen detaillierten Regierungsplan für die westirakische Provinz Anbar
ausgearbeitet, warnte schon George W. Bush in seiner erwähnten Ansprache unter Verweis
auf Unterlagen des Terrornetzwerks, die den US-Truppen im Irak in die Hände gefallen
waren.
Bereits vorgesehen und in der Planung enthalten, so der amerikanische Präsident damals,
seien "eine Erziehungs-, eine Sozial- und eine Rechtsabteilung sowie ein
'Hinrichtungskommando', zuständig für 'Aussortieren, Verhaften, Töten und Vernichten'".
Joseph Croitoru
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