Schwindelfreie Untermieter

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29.08.11 11:33:18
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Schwindelfreie
Untermieter
Auf emsländischen Fernmeldetürmen
haben sich Wanderfalken niedergelassen
Elegant und pfeilschnell: Wanderfalken gelten als schnellste Vögel der
Welt.
Foto: Bernhard Volmer
Von Tobias Böckermann
MEPPEN/LINGEN. „Sie sind
gerade weg“. Günter Niehoff bedauert, aber die Wanderfalken sind unterwegs,
irgendwo hier rund um den
Meppener Fernmeldeturm.
Stundenlang streifen sie
umher, kilometerweit, und
kommen doch immer wieder
zurück in ihre schmucklose
Metallkiste in 60 Metern Höhe. Anfang des Jahres hatten die beiden Greifvögel
den Turm erstmals besetzt
und einen Brutversuch unternommen.
Das Auftauchen der Vögel
ist durchaus ungewöhnlich.
Denn nach dem sogenannten
„Pesticide Crash“ in den
1960er Jahren war der größte
Falke Europas auf dem Kontinent beinahe ausgestorben.
Den spektakulären FalkenSturzflug, bei dem sich die
Vögel mit bis zu 300 Stundenkilometern auf ihre Beute
stürzen, konnte man deshalb
nur noch mit sehr viel Glück
beobachten.
Außerdem ist zu vermuten, dass Wanderfalken im
Emsland auch früher nur
sehr selten gebrütet haben.
Denn die Population in Norddeutschland bestand einst
fast
ausschließlich
aus
Baumbrütern – und Wälder
gab es in der emsländischen
Heidelandschaft des 19. Jahrhunderts bekanntermaßen
kaum. Aus dem Samerott
und dem Bentheimer Wald in
der Grafschaft Bentheim
sind aus dem 19. Jahrhundert
Bruten bekannt, ebenso ein
Versuch aus dem Jahr 1937,
als ein Lingener Kirchturm
besetzt war.
2002 dann kehrten die Vögel ins Emsland zurück und
brachten in Lingen-Schepsdorf auf dem dortigen Fernmeldeturm erstmals wieder
Jungtiere hoch. Nun also ziehen ein junges Männchen
und ein älteres Weibchen
auch über der Kreisstadt
Meppen ihre Schleifen. Sie
geben Anlass, einmal genauer auf diesen Rückkehrer in
die heimische Natur zu
schauen, der als schnellster
Vogel der Welt gilt.
erwähnte „Pesticide Crash“
das Überleben fast unmöglich gemacht. Gifte wie DDT
und Lindan sollten seit den
1940er Jahren in der Landwirtschaft Schäden durch Insekten verhindern. Die toxischen Stoffe reicherten sich
aber in der Nahrungskette
an, an deren Spitze der Wanderfalke genauso steht wie
der Mensch. Ersterer fraß be-
Besondere Antennen
Dass Günter Niehoff die
Meppener Falken im zeitigen
Frühjahr dieses Jahres entdeckte, ist jedenfalls kein Zufall. Der 64-Jährige verfügt
als Jäger und Falkner über
ganz besondere Antennen,
was Greifvögel angeht. 1974
hatte er selbst mal den Wanderfalken eines Freundes in
Pflege, „aber nur für ein
Jahr“, sagt er. „Der Vogel hatte einen solchen Flugdrang,
dass ich immer kilometerweit laufen musste, um ihn
wieder einzufangen.“ Seine
Freude an Greifvögeln hat
sich Niehoff aber bewahrt.
Und weil er wusste, dass auf
dem unteren Ring des Meppener Fernmeldeturms ein
Wanderfalkennistkasten angebracht worden war, schaute er immer mal wieder rauf,
wenn er vorbeikam.
Wann genau der Kasten
gesetzt wurde, das wissen
Der Turmfalke
Der Turmfalke (Falco tinnunculus) ist nach dem Mäusebussard der häufigste
Greifvogel in Mitteleuropa.
Die wissenschaftliche Artbezeichnung
„tinnunculus“
weist auf den Ruf des Turmfalken hin, der an ein „ti, ti, ti,
ti“ erinnert und in Ton und
Rufgeschwindigkeit variiert.
Übersetzt bedeutet das Wort
tinnunculus etwa „klingend“
oder „schellend“.
Sein deutscher Name deutet auf die Vorliebe für
menschliche Siedlungen als
Brutplatz hin, dichte Wälder
und baumlose Steppen mag
er hingegen gar nicht. Turmfalken ernähren sich hauptsächlich von Mäusen, die sie
manchmal im Rüttelflug erbeuten, bei dem sie durch
schnelles Flügelschlagen in
10 bis 20 Metern Höhe fast
stehen zu bleiben scheinen.
Auch Insekten zählen zur
Beute des Falken, der jeden
Tag etwa 50 Gramm Nahrung
auch Franz-Otto Müller und
Rudolf Schockmann vom Arbeitskreis
Wanderfalkenschutz Nordseeküste (AWN)
nicht. Müller leitet den AWN
und ist an diesem Sommervormittag eigens aus Brake in
der Wesermarsch angereist,
um sich die emsländischen
Neuzugänge anzuschauen.
Er ist nicht nur Vorsitzender
des Naturschutzbundes Ver-
Ein Mäusejäger: Der Turmfalke.
Foto: Bernhard Volmer
aufnehmen muss – was einem Viertel seines Körpergewichtes entspricht.
Die Zahl der Brutpaare unterliegt erheblichen Schwankungen, die eng an die Feldmausbestände und den
Schweregrad der Winter gekoppelt sind. Turmfalken
bleiben in der Regel im Winter in der Heimat.
Blick nach oben: Franz-Otto Müller, Rudolf Schockmann und
Günter Niehoff am Meppener Fernmeldeturm. Foto: Böckerman
den, sondern auch Jäger und
Falkner – genauso wie Rudolf
Schockmann.
Letzterer
wohnt in Wachendorf bei
Lingen und betreut im Auftrag der Jägerschaft die Falken auf dem Fernmeldeturm
in Schepsdorf.
Dem Wanderfalken hatte
einst nicht die direkte Nachstellung durch den Menschen den Garaus gemacht,
obwohl es diese gab und trotz
strengen Schutzes auch heute noch gibt. Dem großen Falken hat vielmehr der bereits
lastete Vögel und sammelte
so in seinem Körper jede
Menge Umweltgifte an. Die
Folge: Die Fruchtbarkeit der
Falken sank, die Embryonen
starben oder Eierschalen
wurden so dünn, dass sie
beim Brüten zerbrachen.
Vor dem Einsatz von DDT
und Co hatte es in Norddeutschland rund 500 Wanderfalkenpaare gegeben, die
hauptsächlich auf Bäumen
brüteten. In Süddeutschland
nisteten etwa gleich viele Falkenpaare auf Felsen. Die Vor-
liebe für Baum oder Fels wird
den Küken noch im eigenen
Nest eingeprägt. In den 1950er Jahren brachen beide Populationen wegen der Giftbelastung dann plötzlich ein
und 1975 hatten lediglich in
Bayern und Baden-Württemberg jeweils 25 Brutpaare
überlebt. Ganz ähnlich sah es
in fast ganz Mitteleuropa
aus: ausgerechnet der weltweit erfolgreichste Greifvogel stand vor dem Aus. Verschärfend wirkten direkte
Nachstellungen und das illegale Aushorsten der letzten
Jungtiere – sie wurden aus
den Nestern geraubt und für
fünfstellige Summen an Falkner in aller Welt verkauft.
Anfang der 1970er Jahre
wurde DDT in Deutschland
verboten und das Gift verschwand langsam aus der
Umwelt. Gleichzeitig schützten engagierte Falkenfreunde jahrelang die letzten Brutpaare – wenn es sein musste,
Tag und Nacht. Überraschend entdeckte ein Biologe
1981 in der Wesermündung
auf zwei Leuchttürmen brütende Wanderfalken. Eigentlich war der Mann auf der Suche nach Kormoranen, als er
bemerkte, dass die Greifvögel
unbemerkt
menschliche
Bauwerke als Brutplatz angenommen hatten. „Das war
der Startschuss für den Falkenschutz in Norddeutschland“, sagt Franz-Otto Müller. Leuchttürme und Seezeichen an der Nordsee wurden
fortan mit Nisthilfen versehen und die Falkenpopulation wuchs wieder.
Der Baumfalke
Wenn ein Baumfalke (Falco
subbuteo) satt werden will,
muss er fleißig sein. Denn zu
seinen Leibspeisen gehören
fliegende Ameisen und er
muss eine ziemlich große
Menge erbeuten, um seinen
Hunger zu stillen.
Der kleine Bruder des
Wanderfalken ist allerdings
nicht auf Ameisen alleine angewiesen. Im Emsland ernährt er sich in den Mooren
und Heiden gerne von Libellen, von denen er nur die Flügel übrig lässt. Aber auch Käfer und viele Kleinvögel stehen auf der Speisekarte des
Baumfalken, der seine Beute
wie der Wanderfalke in der
Luft schlägt.
Auch seine Flugkünste
sind mit denen des großen
Bruders vergleichbar: der
Baumfalke kann im Sturzflug
seinen Luftwiderstand so
stark verringern, dass er in
Tropfenform quasi vom Himmel fällt – mit bis zu 200
Insektenjäger: Der Baumfalke,
Foto: Bernhard Volmer
Stundenkilometern geht es
in Richtung Erdboden.
Genaue Angaben über die
Zahl der Brutpaare fehlen, im
Emsland kam der Baumfalke
früher stets selten, aber doch
viel häufiger vor, als der Wanderfalke. Er nutzt Nadelwälder am Rande von Offenlandgebieten für seine Brut, die er
wegen des großen Insekten-
angebotes zu dieser Zeit erst
im Juni beginnt.
Da der Baumfalke selbst
kein Nest errichtet, ist er auf
freundliche Vermieter angewiesen und nutzt fast immer
verlassene Nester der Rabenkrähe. Ende August bis Anfang
September
ziehen
Baumfalken dann ins Winterquartier und zwar nicht
wie noch vor 100 Jahren vermutet nach Indien, sondern
ins südliche Afrika, wo sie
von Termiten leben.
Auch der Baumfalke ist
durch Insektizide gefährdet –
durch Wegfall der Nahrungstiere und Verringerung der
Fruchtbarkeit.
Der weltweite Gesamtbestand des Baumfalken wird
zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf 71 000 bis 120 000
Brutpaare geschätzt. Der
Verbreitungsschwerpunkt ist
Russland, die Population in
Deutschland liegt bei 2700
bis 3000 Brutpaaren.
In den 1990er Jahren begannen Falkenfreunde damit, auch andere hohe Bauwerke
wie
Kirchtürme,
Schornsteine oder Kraftwerke mit Nisthilfen auszustatten, die im Wesentlichen aus
einem Kasten bestehen, auf
dessen Boden ein Gemisch
aus Kies und Erde liegt. „Wir
imitieren ganz einfach den
Nistplatz Felsen“, sagt Müller.
Tagebuch geführt
Ein glücklicher Umstand
sorgte dafür, dass auch viele
Fernmeldetürme der Deutschen Telekom mit Kästen
ausgestattet wurden: der bei
dem Unternehmen beschäftigte Bauingenieur Harald
Gerken hatte ein Herz für
Falken und trieb deren
Schutz voran. Aus dem Emsland war Hermann Brake aus
Esterwegen mit dabei. „So
muss damals auch ein Kasten
auf den Turm in Meppen gekommen sein“, vermutet Rudolf Schockmann.
„In den ersten Jahren war
nichts los“, erinnert sich
Günter Niehoff. „Aber dann
kamen für einige Zeit Turmfalken, um zu brüten.“ Als
Niehoff dann im Februar
2011 unter dem Turm stand,
fuhr ihm ein Falkenruf durch
Mark und Bein, den er 30
Jahre zuvor zuletzt gehört
hatte: ein durchdringendes,
scharfes „eeek-eeeek-eeeeek“
tönte ihm entgegen, das typische „Lahnen“ eines Wanderfalken.
In den folgenden Tagen
flogen Niehoff ein junges
Männchen, dessen Jugend er
an der noch leicht rötlichen
Brustfärbung erkannte, und
ein älteres Weibchen vor die
Linsen seines Fernglases. Er
begann, ein Wanderfalkentagebuch zu führen und trug
wichtige Daten ein, zum Beispiel, dass sich die Vögel am
18. März gepaart hatten. Aber
die Hoffnung auf Nachwuchs
erfüllte sich in diesem Jahr
noch nicht. „Später waren
Monteure oben auf dem
Turm und haben in den Nistkasten geschaut – aber es lagen keine Eier drin“, sagt
Schockmann. Der Falkenmann sei vermutlich noch zu
jung zur Fortpflanzung und
das sei nicht ungewöhnlich.
Die Falkenschützer sind
froh, dass die Telekom beziehungsweise die jetzt für die
Masten zuständige Deutsche
Funkturm GmbH ihre Anliegen seit Jahren unterstützen,
auch wenn schon lange keine
neuen Kästen mehr angebracht werden. „Wenn Wanderfalken brüten, müssen die
Kästen ab und zu mal gereinigt werden. In großer Höhe
ist das nicht gerade einfach“,
sagt Franz-Otto Müller. Er
hofft darauf, dass der Meppener Günter Niehoff auch in
Zukunft am Ball bleibt und
die Wanderfalken am Turm
beobachtet. „Die Chancen
stehen gar nicht so schlecht,
dass sie im kommenden Jahr
hier brüten“, glaubt Müller.
Die Tiere wären dann in
guter Gesellschaft: Auf dem
Turm in Schepsdorf wurden
2011 wieder vier Junge flügge.
Der Wanderfalke
Die letzte Brut vor dem großen Bestandseinbruch in
der Mitte des 20. Jahrhunderts im Emsland hat ein
Wanderfalke im Jahr 1937
in Lingen auf dem Turm der
Bonifatiuskirche versucht.
Aber das Weibchen lag Aufzeichnungen des Ornithologen Helmut Seifert zufolge irgendwann tot unter
dem Turm – die vier Eier
blieben kalt.
Erfolgreicher sind die
Greifvögel derzeit in Lingen-Schepsdorf, in Lindern bei Werlte und in
Nordhorn, wo jeweils Fernmeldetürme besetzt sind.
In Osnabrück brüten ebenfalls Wanderfalken. 2010
gab es in Niedersachsen 80
Paare, von denen 50 erfolgreich brüteten. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren vor
einem Jahrhundert sind
viele Wanderfalken Norddeutschlands nicht mehr
Baum- sondern Felsbrüter,
die Sonderstandorte wie
Fernmeldetürme nutzen.
Wanderfalkenweibchen erreichen eine Spannweite
von bis zu 115 Zentimetern
und ein Gewicht von 1000
Gramm. Männchen sind
ein Drittel kleiner. Beide ernähren sich ausschließlich
von Vögeln bis Taubengröße. Die Alttiere sind in Mitteleuropa relativ standorttreu, die Jungtiere ziehen
im ersten Winter meistens
nach Frankreich oder Spanien. Das Weibchen legt
zwei bis drei, manchmal
vier Eier, die ab März bebrütet werden.
Zu den natürlichen Feinden
des Wanderfalken zählt vor
allem der Uhu. Obwohl es
noch immer Menschen
gibt, die dem Vogel nachstellen, hat sich der Bestand
so weit erholt, dass der einst
extrem gefährdete Vogel
von der Roten Liste genommen werden konnte.
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