5315 Einführung in das Verf.Recht der BRD

Werbung
„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Sachverhalt
Fall 1
Sachverhalt:
Der Bundestagsabgeordnete A beschäftigt sich seit langem mit den gesundheitlichen Schäden,
die durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstehen. In diesem Zusammenhang hält er es
für besonders anstößig, dass die Hersteller alkoholischer Getränke ihre Produkte durch umfangreiche Werbekampagnen anpreisen; dies sei vor allem im Hinblick auf die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen bedenklich. A erarbeitet daher einen Entwurf für ein Gesetz zum
Verbot der Alkoholwerbung (AWVG), das die Werbung für alkoholische Getränke vollständig verbieten soll.
A findet bei seinen Kollegen im Bundestag zunächst keine Unterstützung; die entsprechende
Gesetzesvorlage muss er daher allein einbringen. Während der Beratung des Gesetzentwurfs
vermag A jedoch mit einer flammenden Rede zu überzeugen; besonderen Eindruck macht
dabei sein Hinweis auf neue wissenschaftliche Studien, die belegten, dass die Zahl der Alkoholkonsumenten wesentlich durch die Werbung beeinflusst werde. Das weitere Gesetzgebungsverfahren geht seinen ordnungsgemäßen Gang; das AWVG wird schließlich mit großer Mehrheit beschlossen und nach ordnungsgemäßer Beteiligung des Bundesrates ausgefertigt und verkündet.
Auch die Fraktion F, die 2/5 der Mitglieder des Bundestages stellt, hat unter dem Eindruck
der Rede des A dem Gesetz zugestimmt. Später kommen ihr jedoch Bedenken, da die Interessenvertretungen der deutschen Hersteller alkoholischer Getränke vorbringen, dass das AWVG
die Grundrechte ihrer Mitglieder verletze und dass es außerdem nicht ordnungsgemäß zu
Stande gekommen sei.
1.
Ist das AWVG verfassungsgemäß? (80 Punkte)
2. Können die Mitglieder der F-Fraktion eine Klärung dieser Frage durch das Bundesverfassungsgericht herbeiführen? (20 Punkte)
1
2
„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Musterlösung
Musterlösung
80 Punkte
Aufgabe 1: Ist das AWVG verfassungsgemäß?
15 Punkte
I.
Formelle Verfassungsmäßigkeit
1. Die Kompetenz des Bundes für den Erlass des AWVG folgt aus Art. 74
Abs. 1 Nr. 11 GG. Aus Art. 72 Abs. 2 GG ergeben sich keine Bedenken.
2. Da das übrige Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß verlaufen ist, können
Zweifel nur hinsichtlich der Einbringung des Gesetzentwurfes durch den A bestehen. Nach § 76 I i.V.m. § 75 I a) GeschOBT können Gesetzentwürfe von einer
Fraktion oder von 5% der Mitglieder des Bundestages eingebracht werden, nicht
dagegen von einem einzelnen Abgeordneten. Allerdings führt ein Verstoß gegen
die GeSchOBT nicht zur Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes1; insoweit kommt
es allein auf die Regelungen des Grundgesetzes an. Art. 76 I GG sieht vor, dass
Gesetzesvorlagen „aus der Mitte des Bundestages“ eingebracht werden. Ob auch
die Einzelinitiative dieser Voraussetzung entspricht, ist umstritten.2 Angesichts
der Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des Parlaments davor zu schützen, dass
zahlreiche Gesetzesvorlagen eingebracht werden, die trotz ihrer politischen Aussichtslosigkeit behandelt werden müssten, wird man die Zulässigkeit der Einzelinitiative verneinen müssen. Hier hat sich der Bundestag durch den Gesetzesbeschluss die Vorlage freilich zu Eigen gemacht, so dass ein evtl. Verfahrensfehler jedenfalls unbeachtlich wäre.
II.
Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das AWVG könnte die Grundrechte der Hersteller alkoholischer Getränke verletzen.
1. Art. 5 I 1 GG (Meinungsfreiheit)
10 Punkte
a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst das Äußern und Verbreiten
von Meinungen, d.h. von wertenden Stellungnahmen. Dass auch kommerzielle
Äußerungen und reine Wirtschaftswerbung als Meinungsäußerungen geschützt
werden, wurde zunächst bestritten, da Werbung nicht durch argumentative Überzeugung zur Meinungsbildung beitragen, sondern den Konsumenten lediglich im
Sinne der Kaufentscheidung beeinflussen wolle.3 Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG erfasst Art. 5 I 1 GG aber auch die Werbung, soweit diese „einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen.“4 Fraglich ist, ob diese Voraussetzung bereits durch das
_________________________________________________
1
Schmidt-Jortzig/Schürmann, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 76 Rn. 64.
2
Vgl. dazu ausführlich Schmidt-Jortzig/Schürmann (o. Fußn. 1), Rn. 333 ff. m.w.N.
3
Vgl. etwa BVerwGE 2, 172 (178 f.); BVerfGE 40, 371 (382); ohne Rückgriff auf Art. 5 I GG
auch BVerfGE 60, 215 (229 ff.).
4
BVerfGE 71, 162 (175); 102, 347 (359); zuletzt BVerfG, 1 BvR 1188/92 vom 1. 8. 2001,
Abs. 11. Offengelassen dagegen in BVerfG, NJW 1994, 3342; einschränkend BVerfGE 95,
173 (182): Anwendung des Art. 5 I 1 GG auf kommerzielle Werbung „allenfalls, wenn“ die
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„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Musterlösung
bloße Anpreisen eines Produkts erfüllt ist oder ob die Äußerungen darüber hinausgehen müssen, indem etwa nähere Produktinformationen vermittelt werden.
Wohl keinen Schutz genießt mangels Aussagegehalt jedenfalls die einfache „Erinnerungswerbung“ (Schild „Campari“). Auf Art. 5 I 1 GG können sich die Hersteller alkoholischer Getränke mithin allenfalls berufen, soweit ihre Werbung den
Anforderungen entspricht, die die Verfassungsrechtsprechung für das Vorliegen
einer Meinungsäußerung aufgestellt hat. Soweit jeweils ein „wertender, meinungsbildender Inhalt“ gegeben ist, stellt das Werbeverbot des AWVG nach dieser Ansicht aber einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar.
b) Ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist, hängt zunächst davon ab, ob die
(1) Schrankenregelung des Art. 5 II GG beachtet ist. Als eine „gesetzliche Bestimmung zum Schutze der Jugend“ wird man das Werbeverbot nicht ansehen
können, da diese Schranke kein totales Werbeverbot rechtfertigt, sondern nur auf
Unzugänglichmachung für Jugendliche zielt. Daher wird etwa ein Verbot der Alkoholwerbung bei Kinofilmen, die Jugendlichen nicht zugänglich sind, durch den
Zweck des Jugendschutzes nicht abgedeckt.
In Betracht kommt daher lediglich die Schranke der „allgemeinen Gesetze“. Nach
der Sonderrechtslehre sind „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art. 5 II GG solche, „die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, die
vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen“.5 Ob das Alkoholwerbeverbot dieser
Anforderung entspricht, ist durchaus zweifelhaft, weil es sich bei der Verfolgung
gesundheitspolitischer Ziele nicht nur „reflexiv“ auf die Meinungsfreiheit auswirkt6, sondern sich unmittelbar gegen die Äußerung bestimmter Meinungen nämlich gegen das kommerzielle Anpreisen alkoholischer Produkte - wendet. Allerdings relativiert die h.M. diese Schärfe der Sonderrechtslehre, indem sie diesen
Ansatz mit der Abwägungslehre verbindet und die „Allgemeinheit“ eines Verbotes bereits daraus ableitet, dass überhaupt ein Ziel - hier: der Gesundheitsschutz verfolgt wird, das über den Freiheitseingriff als solchen hinausgeht und Vorrang
vor der Meinungsfreiheit genießt. Weil diese Voraussetzung für alle Freiheitseingriffe gilt, läuft die spezifische Allgemeinheitsforderung damit letztlich leer; Art.
5 II GG wird zu einem einfachen Gesetzesvorbehalt.7 Schließt man sich dieser
Auffassung trotz ihrer dogmatischen Inkonsistenz an, lässt sich auch das Alkoholwerbeverbot als „allgemeines“ Gesetz qualifizieren.8
o.g. Voraussetzung eines wertenden, meinungsbildenden Inhalts vorliegt. Die Literatur
spricht sich überwiegend für die Anwendbarkeit der Meinungsfreiheit aus; vgl. umfassend
Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993; ferner Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 5 I, II Rn. 125 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner
GG I, 4. A. 1999, Art. 5 I, II Rn. 25.
5
BVerfGE 7, 198 (209 f.); st. Rspr.
6
Zu dieser Konkretisierung vgl. Ipsen, StaatsR II - Grundrechte, 3. A. 2000, Rn. 440 ff.
7
Zur Diskussion dieses Punktes vgl. - neben Ipsen (o. Fußn. 6) - Sachs, VerfassungsR II Grundrechte, 2000, S. 310 ff.
8
Bearbeiter, die dies vermeiden, aber das Werbeverbot dennoch „retten“ wollen, können noch
überlegen, ob sich der Gesundheitsschutz über Art. 2 II GG als kollidierendes Verfassungs-
20 Punkte
4
„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Musterlösung
(2) Das AWVG müsste schließlich den Schranken-Schranken, insbesondere dem
Verhältnismäßigkeitsgebot genügen. Das Werbeverbot verfolgt mit dem Schutz
der Gesundheit ein legitimes Ziel und ist grundsätzlich geeignet, den Alkoholkonsum und die sich aus ihm ergebenden gesundheitlichen Gefahren zu bekämpfen.
Es ist auch erforderlich: Andere Maßnahmen (etwa Aufklärungskampagnen oder
Warnhinweise auf alkoholischen Produkten)9 greifen zwar weniger stark in das
Grundrecht der Meinungsfreiheit ein, sind aber nicht in gleicher Weise wirksam
oder verursachen anderweitige Kosten und Nachteile; sie können daher nicht als
mildere Mittel angesehen werden.10
Sehr fraglich ist aber, ob das Werbeverbot auch verhältnismäßig i.e.S. ist. Neben
der Intensität des Grundrechtseingriffs, die ein vollständiges Werbeverbot mit
sich bringt, muss hier vor allem der spezifische Charakter des Eingriffs berücksichtigt werden: Da nicht die Alkoholwerbung als solche, sondern erst das dadurch angeregte Verhalten der Verbraucher eine Gesundheitsgefährdung verursacht, stellt das Werbeverbot eine paternalistische Maßnahme dar, die von der
mangelnden Autonomie der Werbeadressaten ausgeht und diese „vor sich selbst“
in Schutz nimmt. Derartige Regelungsansätze sind im Bereich der Meinungsfreiheit gefährlich, weil sie dazu tendieren, den freien Kommunikationsprozess mit
dem Argument unter staatliche Kontrolle zu stellen, dass die Bürger zur kritischen
Verarbeitung bestimmter Meinungsäußerungen nicht in der Lage seien - eine Annahme, die zu dem Modell der liberalen Öffentlichkeit, wie es Art. 5 GG vor Augen hat, in einem Spannungsverhältnis steht. Derartiger Paternalismus mag gegenüber Jugendlichen gerechtfertigt sein; auch dürfte es nicht ausgeschlossen
sein, die Suggestivwirkung von Werbung zu berücksichtigen. Grundsätzlich müssen die Bürger aber als autonome, kritikfähige Teilnehmer am Kommunikationsprozess angesehen werden. Deutlich wird dies, wenn man berücksichtigt, dass
ansonsten auch zahlreiche andere Meinungsäußerungen mit „schädlichen“ Folgen
verboten werden könnten. Es spricht daher einiges dafür, dass ein für den gesamten öffentlichen Bereich geltendes Werbeverbot, das hinsichtlich Ort, Zeit, Adressat und Art der Werbung keine Differenzierungen enthält, im Lichte der Bedeutung des Art. 5 I GG unverhältnismäßig ist.11
rechtsgut oder verfassungsimmanente Schranke der Meinungsfreiheit darstellen lässt. Allerdings ist es fraglich, ob und inwieweit diese Vorgehensweise auch bei Grundrechten zulässig
ist, die über eine ausdrückliche Schrankenregelung verfügen. Zur Diskussion vgl. etwa
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GGK I, Art. 5 I, II Rn. 121 ff.
9
Zu denkbaren Maßnahmen vgl. v. Hippel, ZRP 1999, 132 ff.
10
Bei der Prüfung der Erforderlichkeit darf - was häufig übersehen wird - nur mit Maßnahmen
verglichen werden, die ebenso geeignet sind, das Regelungsziel zu erreichen. Dies führt dazu, dass die Frage, ob eine Maßnahme ein milderes Mittel darstellt, von der Perspektive abhängt. So hat BVerfGE 95, 173 (186 f.), bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung der
Verpflichtung, Warnhinweise auf Tabakerzeugnissen anzubringen, ausgeführt, diese Maßnahme sei gegenüber der Alternative eines Werbeverbotes für Tabakwaren das mildere Mittel. Dies ist zutreffend, weil ein Werbeverbot der intensivere Grundrechtseingriff wäre. Wird
dagegen das Werbeverbot selbst überprüft, kann die Verpflichtung zum Aufdruck von
Warnhinweisen nicht als milderes Mittel bezeichnet werden, weil sie den Regelungszweck
nicht in gleicher Weise verwirklicht.
11
Dieses Ergebnis ist angesichts der Funktion des Art. 5 I 1 GG, einen freien Meinungs- und
Willensbildungsprozess zu gewährleisten, gegenüber einem totalen Werbeverbot fast zwingend. Allerdings könnte dies durchaus Anlass sein, nochmals kritisch zu fragen, ob und in
5
„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Musterlösung
2.
Art. 12 GG (Berufsfreiheit)
Das Alkoholwerbeverbot könnte ferner (auch) Art. 12 GG verletzen.
a) Eingriff in den Schutzbereich: Die Herstellung von alkoholischen Getränken
ist eine Tätigkeit, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung oder
Erhaltung der Lebensgrundlage dient; sie stellt daher einen Beruf dar. Da sie auch
erlaubt ist - daran soll das AWVG nichts ändern -, kommt es auf dieses streitige
Tatbestandsmerkmal nicht an.12 Auf die Berufsfreiheit des Art. 12 GG können
sich die inländischen Hersteller auch berufen, soweit sie juristische Personen
i.S.d. Art. 19 III GG sind.13 Da Art. 12 I 1 GG ein einheitliches Grundrecht der
Berufswahl und -ausübung enthält14 und Werbung als berufliche Außendarstellung eine berufsbezogene Tätigkeit ist, fällt sie in den Schutzbereich des Grundrechts.15 Erfasst wird hier die gesamte Werbung; die für Art. 5 I 1 GG diskutierten Eingrenzungen spielen keine Rolle. Das Werbeverbot greift daher in den
Schutzbereich des Art. 12 GG ein.
5 Punkte
b) Rechtfertigung des Eingriffs: (1) Die Schrankenregelung des Art. 12 I 2 GG
enthält einen - ebenfalls einheitlichen - Vorbehalt, dem das AWVG genügt.
15 Punkte
(2) Hinsichtlich der Schranken-Schranken/Verhältnismäßigkeit ist anhand der
Stufentheorie zwischen Ausübungsregelungen und Zulassungsvoraussetzungen zu
differenzieren.16 Werbeverbote stellen grundsätzlich Regelungen der Berufsausübung dar. Dass den Herstellern die Ausübung ihres Gewerbes durch das AWVG
unmöglich gemacht wird, wird man nicht annehmen können.
Die Geeignetheit des Werbeverbots für die Verbesserung der Volksgesundheit
kann nicht von vornherein bestritten werden; insoweit wird man gerade im Bereich berufsbezogener Regelungen einen gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum annehmen müssen. Die Erforderlichkeit des Verbots setzt voraus, dass das
welchem Umfang Wirtschaftswerbung tatsächlich durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt wird. Wollte man nämlich in der Abwägung argumentieren, dass ein Verbot
der Werbung allein für Produkte (und nicht für Ideen) diesem Prozess nicht schade, so läge
es wohl näher, bereits auf der Ebene des Schutzbereichs anzusetzen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das in der Literatur vielfach vorgebrachte rechtsvergleichende Argument, auch andere Verfassungsordnungen und Grundrechteerklärungen betrachteten Werbung als Meinungsäußerung (vgl. nur Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG,
Art. 5 I, II Rn. 127), nicht recht überzeugt, weil insoweit häufig kein besonderer Schutz der
Berufsausübungsfreiheit zur Verfügung steht, so dass die Meinungsfreiheit als grundrechtlicher Notbehelf herangezogen werden muss. Das Grundgesetz erlaubt es dagegen zwanglos,
kommerzielle Werbung grundsätzlich als das einzuordnen, was sie der Sache nach ist: von
Art. 12 GG geschützte Berufsausübung (vgl. dazu den folgenden Text).
12
Zur Diskussion vgl. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 5. A. 2000, Art. 12 Rn. 7.
13
Vgl. BVerfGE 50, 290 (363); st. Rspr.
14
Grdl. BVerfGE 7, 377 ff.
15
BVerfGE 95, 173 (181).
16
BVerfGE 7, 377 ff. Zum Verhältnis von Stufentheorie und Verhältnismäßigkeitsprüfung in
der Fallbearbeitung vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte - StaatsR II, 16. A. 2000, Rn. 846 ff.
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„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
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Schutzziel durch eine Beschränkung der Berufsfreiheit auf niedrigerer Stufe nicht
ebenso effektiv erreicht werden könnte. Das Werbeverbot stellt allerdings nur eine
Regelung der Berufsausübung dar, so dass es sich bereits auf der untersten Stufe
bewegt; insoweit ergeben sich aus der Stufentheorie keine Anforderungen. Unabhängig von den Anforderungen der Stufentheorie ist zu verlangen, dass das Verbot auch im Übrigen - d. h. verglichen mit anderen Ausübungsregelungen - das
mildeste Mittel darstellt. Da andere Regelungen mit gleicher Wirksamkeit nicht
ersichtlich sind, ist dies der Fall.17
Für die Verhältnismäßigkeit i.e.S. folgt aus der Stufentheorie, dass Berufsausübungsregelungen bereits durch „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“
gerechtfertigt werden können.18 Der Gesundheitsschutz ist eine derartige Erwägung. Daneben wird man auch die Eingriffsintensität der konkreten Regelung
betrachten müssen. Allerdings vermag der Gesundheitsschutz auch einschneidende Ausübungsregelungen zu rechtfertigen; jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass
die hier geplante Regelung evident unverhältnismäßig wäre, weil ihr Erfolg außer
Verhältnis zu der Grundrechtsbeeinträchtigung stände.
Eine Verletzung des Art. 12 GG liegt daher nicht vor.
10 Punkte
3.
Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit)
Das Werbeverbot stellt bereits keinen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 14
GG dar. Selbst wenn man das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als Schutzgegenstand des Art. 14 I GG grundsätzlich anerkennt, erfasst
dieses Recht jedenfalls nicht zukünftige Gewinnchancen und -erwartungen und
tatsächliche Gegebenheiten; dies gilt z. B. für bestehende Geschäftsverbindungen,
einen erworbenen Kundenstamm oder die Marktstellung eines Unternehmens.19
Art. 14 I GG schützt lediglich den Bestand des Unternehmens, das durch unternehmerische Tätigkeit bereits Erworbene, nicht dagegen den Vorgang des Erwerbs; insoweit greift allein Art. 12 I GG ein. Dies gilt auch für die rechtliche
Möglichkeit der kommerziellen Werbung.20
_________________________________________________
17
Allerdings könnte dies mit Blick auf einzelne Werbeformen problematisiert werden: So ist es
fraglich, ob die reine „Erinnerungswerbung“, die nicht den Konsum von Alkohol als solchen
positiv darstellt, sondern lediglich ein bestimmtes Produkt in Erinnerung ruft, tatsächlich
Einfluss auf die Anzahl der Alkoholkonsumenten und den Konsumumfang besitzt. Sollte
dieser Einfluss nicht bestehen, läge ein milderes Mittel darin, diese Art der Werbung von
dem Verbot auszunehmen.
18
BVerfGE 7, 377 (Ls. 6 a).
19
Vgl. BVerfGE 77, 84 (118). Weitergehend aber etwa Engel, AöR 118 (1993), 169 ff.
20
Hier könnte man auf den Gedanken kommen, das Werbeverbot als eine Beeinträchtigung des
Markenrechts der Hersteller zu betrachten, da sie nicht mehr mit ihrer Marke werben dürfen.
Das Markenrecht wird von Art. 14 GG geschützt (vgl. BVerfGE 51, 193 [216 ff.] zum alten
Warenzeichenrecht; 78, 58 [71 ff.] zum neuen Markenrecht); fraglich ist aber, ob das Markenrecht auch das Recht gewährleistet, mit der Marke zu werben. Dies wird man nur insoweit annehmen können, als der Eigentümer Dritte von der Werbung mit seiner Marke ausschließen kann; die Frage, ob und inwieweit überhaupt Werbung stattfinden darf, ergibt sich
dagegen nicht aus dem Markenrecht. Vgl. näher dazu unter verfassungsrechtlichen Gesichts-
7
„Einführung in das Verfassungsrecht der BRD“
Fall 1: Grundrechte
Musterlösung
III. Ergebnis: Das AWVG ist formell verfassungsmäßig. In materieller Hinsicht
hängt die Verfassungsmäßigkeit im Wesentlichen davon ab, ob und inwieweit
kommerzielle Werbung durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt
wird; soweit man dies annimmt, ist ein totales Werbeverbot problematisch. Aus
der im Übrigen einschlägigen Berufsfreiheit lassen sich dagegen keine durchgreifende Bedenken herleiten. Die Eigentumsgarantie ist nicht berührt; die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) tritt gegenüber den betroffenen speziellen
Freiheitsrechten - also Art. 5 und/oder 12 GG - zurück.
Aufgabe 2: Können die Mitglieder der F-Fraktion eine Klärung dieser Frage
durch das Bundesverfassungsgericht herbeiführen?
Da es hier nicht um die Geltendmachung von Rechten der Fraktion geht, scheidet
das Organstreitverfahren aus. Zu prüfen ist lediglich eine abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG).
Die Fraktion F selbst ist nicht antragsberechtigt, wohl aber ihre Mitglieder, die
2/5 des Bundestages stellen und daher das erforderliche Antragsdrittel erreichen
können. Das AWVG ist auch ein zulässiger Streitgegenstand. Angesichts der
„Zweifel“ (vgl. Art. 93 I Nr. 2 GG) an der Verfassungsmäßigkeit des AWVG
sind die Mitglieder der F auch antragsbefugt. Die strengere Formulierung des §
76 Nr. 1 BVerfGG („für nichtig hält“) muss gegenüber dieser Regelung zurücktreten.21
Die Normenkontrolle ist ein objektives Beanstandungsverfahren, so dass es
grundsätzlich nicht auf ein Rechtsschutzinteresse des Antragstellers ankommt;
daher kann es auch keine Rolle spielen, dass die Mitglieder der F dem AWVG
zunächst zugestimmt haben. Eine Frist besteht ebenfalls nicht.
Ein Normenkontrollantrag der Mitglieder der F wäre daher zulässig.
punkten Kevekordes, Tabakwerbung und Tabaketikettierung im deutschen und europäischen
Recht, 1994, S. 33 ff., 123 ff.
21
Vgl. nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG (o. Fußn. 12), Art. 93 Rn. 21 m.w.N.
20 Punkte
5 Punkte
5 Punkte
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