Psychisch belastete Kinder und Jugendliche verstehen, sichern

Werbung
22.06.2014
Psychisch belastete Kinder und Jugendliche
verstehen, sichern, stärken
Einstieg
«Heimkinderstudien»
Definition psychische Erkrankung,
Erklärungsmodell(e)
Qualifizierungsprogramm, Modul 1 – SOS-Kinderdorf e.V.
Gera 30.06.2014
Nils Jenkel
KJPK Basel
Input 1
Gliederung
› «Heimkinderstudien»
› Psychische Belastung(en) platzierter Kinder
› Was ist eine psychische Erkrankung?
› Wann wird jemand psychisch krank?
› Resilienz
› Erklärungsmodelle
› der «gute Grund»
› Zusammenfassung
1
22.06.2014
«Heimkinderstudien»
Belastungen platzierter Kinder, Jugendlicher
und junger Erwachsener
Empirische Ergebnisse
Belastungen von Heimkindern
› Ulmer Heimkinderstudien:
› 689 aus 20 Institutionen (Prävalenzen)
› Schmid 2007
› 781 aus 26 Institutionen (Interventionsstudie)
› Besier 2008
› MAZ. Modellversuch Abklärung und Zielerreichung in
stationären Massnahmen in der Schweiz:
› 592 aus 64 Institutionen
› Schmid et al. 2013
2
22.06.2014
MAZ.
Teilnehmende Institutionen
Heimkinderstudien
Was untersucht man da?
›
›
›
›
Was bringen die Kinder an Belastungen mit?
Aktuelle Problembereiche?
Als «wie auffällig» werden sie von den Betreuern beurteilt?
Wie viele «erfüllen die Kriterien zur Diagnose einer psychischen
Erkrankung»?
› (Reduziert sich die Belastung über den Betreuungszeitraum?)
› (Wirkung liaisonpsychiatrischer Versorgung)
3
22.06.2014
Herkunftsfamilie
Was bringen die Kinder an Belastungen mit?
› 28% Sucht der Eltern
› 30% psychiatrische Auffälligkeiten der KM
› 11% KV im Gefängnis
›
›
›
›
Disharmonie
Scheidung
Armut
Migration
Diversität der Belastung
Aktuelle Problembereiche
› Entwicklung & Vorgeschichte, soziale Situation, Funktionieren in
der Familie, Ausbildung, Freizeit & Freunde, internalisierende
Probleme, externalisierende Probleme, Sucht , delinquentes
Verhalten
4
22.06.2014
Beziehungsabbrüche
Was bringen die Kinder an Belastungen mit?
› Jeder zweite war vor der aktuellen Betreuung mindestens
einmal platziert
›
30% ≥ 2
Beziehungsabbrüche
je mehr, desto…
› schlechter die Wirksamkeit der aktuellen Jugendhilfemassnahme
› EVAS, 2004, Schmidt et al. 2002
› höher das Risiko für weitere Abbrüche
› EVAS, 2004, Schmidt et al. 2002
› mehr und schwerere Delinquenz
› Ryan & Testa 2004
› stärker die Teilhabebeeinträchtigung
› Aarons et al. 2010
› Höher die medizinischen Folgenkosten
› Rubin et al. 2004
› schlechter die Bindungsqualität
› Schleiffer 2002, Pérez et al. 2011
5
22.06.2014
Traumata
Was bringen die Kinder an Belastungen mit?
› 80% mind. 1 potentiell traumatisierendes Erlebnis
› 50% ≥ 3
CBCL t1: MAZ.
Als «wie auffällig» werden sie beurteilt?
› 76% im «klinisch auffälligen» Bereich
› Ulm 2: 88%
› 32% im «hoch auffälligen» Bereich
› Ulm 2: 44%
6
22.06.2014
Prävalenzen
Wie viele «erfüllen die Kriterien zur Diagnose
einer psychischen Erkrankung»?
Prävalenzen
Wie viele «erfüllen die Kriterien zur Diagnose
einer psychischen Erkrankung»?
› Ulm 1: 60%
› (VD nur bei auffälligem Screening)
7
22.06.2014
Nicht nur bei uns so hohe Prävalenzen
Zahlen im internationalen Vergleich
Störungsbilder
Wie viele «erfüllen die Kriterien zur Diagnose
einer psychischen Erkrankung»?
› von Angst bis Zwang
›
›
›
›
Verhaltensstörungen mit Beginn in der Kindheit & Jugend (~50%)
Persönlichkeitsstörungen (~25%)
Angst- und Belastungsstörungen (~15%)
substanzbezogene Störungen (~15%)
› Wenn Du Leiter dieser Institution wärst, was würdest Du
ändern?
› «Ich würde anstatt dem Fussballplatz ein riesiges
Hanffeld machen.» Codename B A U L U
8
22.06.2014
Störungen des Sozialverhaltens
SSV
SSV sind durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster
dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert.
Es übersteigt mit seinen gröberen Verletzungen die
altersentsprechenden sozialen Erwartungen.
› Beispiele für Diagnosebegründungen:
› ein extremes Mass an Streiten oder Tyrannisieren
› Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren
› erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum
› Feuerlegen, Stehlen
› häufiges Lügen
› Schulschwänzen oder Weglaufen von zu Hause
› ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche und Ungehorsam
Girls vs. Boys
MAZ. (N=483)
9
22.06.2014
Komorbidität
Auftreten von mehr als einer diagnostizierbaren
Störung in einem definierten Zeitintervall
Abbrüche
Einfluss der Psychopathologie auf den Verlauf
10
22.06.2014
Oder haben doch alle das gleiche?
Traumafolgestörungen
Oder haben doch alle das gleiche?
Traumafolgestörungen
11
22.06.2014
Herausforderungen
auch künftig
› Durch den Ausbau der ambulante Hilfen, steigt die traumatische
und psychische Belastung von fremduntergebrachten Kindern
› Indikationsstellung nur bei schlechter Prognose, bestehender
Kindeswohlgefahrdung oder bereits gescheiterten ambulanten
Hilfen.
› Oft erfolgt der Eintritt erst in oder nach der Pubertat –
Bindungsentwicklung dann nicht mehr an padagogische
Bezugspersonen sondern eher an Gleichaltrige.
› Defensive Position der stationaren Hilfen wegen der
vergleichsweise hohen Kosten.
www.capmh.ch
Ulmer Heimkinderstudie
12
22.06.2014
www.equals.ch
MAZ.
Zusammenfassung
Psychische Belastung(en) von Heimkindern
› Die psychische Belastung der untersuchten Heimkinder ist
immens
› Psychische Störungen sind eher Regel als Ausnahme
› Häufig komplexe Störungsbilder mit Mehrfachdiagnosen
› Aber wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
13
22.06.2014
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
Definition
› Erleben und/oder Verhalten
› Kognition, Emotion, Handeln
› Persönliches Leid oder Leid im Umfeld
› Kulturelle Normabweichung
› Relative Seltenheit
› Teilhabebeeinträchtigung - Dysfunktion
› Unerwartetes Verhalten
› Konvention
› „eminenz-“ nicht evidenzbasiert
Generelle Aspekte
Wann ist man psychisch krank?
› Intensität
› Stärke der Funktionsbeeinträchtigung ist nicht mehr mit einer
Teilhabe vereinbar
› Pervasivität
› Funktionsbeeinträchtigung auf andere Bereiche
› Chronizität
› Dauer der Funktionsbeeinträchtigung
› Multikausalität
14
22.06.2014
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
kategorial vs. dimensional
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
Probleme in der Diagnostik
› Gr. Diagnosis = Unterscheidung oder Entscheidung
› Krankenversicherer bezahlen Behandlung von Krankheiten
(=Diagnosen), nicht von einzelnen Symptomen
› „Vor die Therapie hat der liebe Gott die Diagnose gestellt.“
› Diagnosestellung in der somatischen Medizin unbestritten, bei
psychischen Störungen ist Übergang vom Gesunden zum
Kranken oft schwieriger zu definieren.
› Spezielle Herausforderungen bei K&J:
› Viele Faktoren spielen eine Rolle (Entwicklungsverlauf,
psychosoziale Systemfaktoren, Komorbiditäten, kognitive
Leistungsfähigkeit etc.)
› Etablierung des multiaxialen Klassifikationssystems
15
22.06.2014
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
KJP-Diagnostik
› Achse 1
› Diagnose nach ICD-10
› Achse 2
› Entwicklungs- und Teilleistungsstörungen nach ICD-10
› Achse 3
› Intelligenzniveau
› Achse 4
› Somatische Erkrankungen
› Achse 5
› Psychosoziale Risikofaktoren
› Achse 6
› Psychosoziales Funktionsniveau
Diagnostische Kriterien
Beispiel Achse 1: depressive Episode
› Kernkriterien (2 von 3 müssen vorliegen)
› Depressive Stimmung, anhaltend für
› die meiste Zeit des Tages, mindestens 2 Wochen
› Interessen- und Freudeverlust
› Verminderter Antrieb/ gesteigerte Ermüdbarkeit
› Zusatzkriterien (mind. 2)
› Verlust des Selbstwertgefühls
› Selbstvorwürfe, unangemessene Schuldgefühle
› Wiederkehrende Gedanken an den Tod, suizidales Verhalten
› Vermindertes Denk- und Konzentrationsvermögen
› Agitiertheit/ Hemmung
› Schlafstörungen
› Appetitverlust
16
22.06.2014
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
Beispiel Achse 5
› Migrationshintergrund (7.1)
› Unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung (4.1)
› Inadäquate oder verzerrte familiäre Kommunikation (3)
› Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt (4.2)
› Disharmonie in der Familie zwischen den Erwachsenen (1.1)
› Psychische Störung/ abweichendes Verhalten eines Elternteils
(2.0)
Wann spricht man von einer psychischen
Erkrankung?
«Diagnose»
› CONTRA:
› Kind als Symptomträger
› Labelling
› Reduktion von Information
› Gefahr von Fehldiagnosen – wie gut sind Diagnosen?
› PRO:
› Kategoriebildung entspricht der menschlichen Natur
› erleichtern Kommunikation
› Symptomspezifische Interventionen - Leitlinien
› Ohne Diagnosen keine Forschung
› Therapieerfolge können nicht verallgemeinert werden
› Diagnosen können auch entlasten
› Rechtsgrundlage für Krankenbehandlung
17
22.06.2014
Diäthese-Stress-Modell
Erklärungsmodell(e)
Resilienz
Personale und soziale Ressourcen
› Temperament / Persönlichkeit
› -Neurotizimus, +Extraversion, +Offenheit, +Verträglichkeit, +Gewissenhaftigkeit
› Kontrollüberzeugung, hohe Selbstwirksamkeit
› Zielorientierung
› Sozialkompetenz
›
›
›
›
›
Verlässliche Bezugsperson
Demokratischer Erziehungsstil
Unterstützendes Familien- und Erziehungsklima
Zusammenhalt, konstruktive Kommunikation
Schule / Umfeld (z.B. Wertschätzung und Peerkontakte)
18
22.06.2014
Grundbausteine der Resilienz
aus Sicht des Kindes (Daniel und Wassell 2002)
› ICH HABE
› «…Menschen, die mich gern haben und Menschen, die mir helfen.»
› Sichere Basis
› ICH BIN
› «…eine liebenswerte Person und respektvoll mir und anderen
gegenüber.»
› Selbst-Wertschätzung
› ICH KANN
› «…Wege finden, Probleme zu lösen und mich selbst zu steuern.»
› Selbst-Wirksamkeit
Wie entstehen psychische Erkrankungen?
Erklärungsmodell(e)
19
22.06.2014
Wie entstehen psychische Erkrankungen?
Einflussfaktoren
Typisch…
eine schlechte Ausgangslage
› Traumatisierendes Umfeld
› Unberechenbarkeit
› Einsamkeit
› nicht gesehen werden
› nicht gehört werden
› Geringschätzung
› missachtete Bedürfnisse
› ausgeliefert sein – andere bestimmen über mich
› Leid
20
22.06.2014
Der «gute Grund»
die Frage nach Kontingenzen
› Viele Verhaltensweisen kann man auf Grundlage der
psychosozialen Lerngeschichte erklären.
› Jedes Verhalten, mag es noch so bizarr, sinnlos und
dysfunktional erscheinen, ist für die durchführende Person
sinnhaft.
› Bei jedem Verhalten überprüfen, welche positiven und negativen
Verstärker wirksam werden!
› Wie könnte dieser Sinn/Nutzen sonst noch versorgt werden?
› Und: Welche Verhaltensalternativen stehen zu Verfügung?
Welches sind die Hindernisse zu deren Anwendung?
› Was braucht das (innere) Kind?
Störung der Persönlichkeitsentwicklung
«der gute Grund» als Überlebensregel
21
22.06.2014
Zusammenfassung
psychische Erkrankungen
› Multifaktoriell bedingt und aufrechterhalten
› bio-psycho-sozial
› Risikofaktoren, aber nicht jeder wird psychisch krank
› Resilienz
› Der «gute Grund», «Überlebensregeln»
› Bedeutung der «Norm» & Konvention
Danke
für die Aufmerksamkeit
22
Herunterladen