Antike Tragödie heute - H-Net

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Antike Tragödie heute. Berlin: SFB „Transformationen der Antike“, das Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin
und das Deutsche Theater, 02.03.2007-04.03.2007.
Reviewed by Matthias Dreyer
Published on H-Soz-u-Kult (June, 2007)
Antike Tragödie heute
derner Wissenschaftsmythen anhand der Debatte um
den Ursprung des antiken Theaters. Neben Nietzsches
Rückführung der Tragödie auf einen Satyrchor und den
Cambridge Ritualists unterzieht sie Walter Burkert These vom griechischen Opferritual als Wurzel des Theaters und Aristoteles’ Poetik eine Überprüfung: Die Annahme, dass die frühe Tragödie von Satyrn bzw. Tänzern in Bocksfellen aufgeführt wurde, die Gleichsetzung
von Satyrn mit Böcken und die Übersetzung von tragôdia als Gesang von Böcken“ erwiesen sich als nicht halt”
bar. Generell scheint bei wissenschaftlichen UrsprungsKonstruktionen der Wunsch vorherrschend zu sein, diese
als fremd, wild und naturverbunden erscheinen zu lassen.
Parallel zu den Aufführungen drei antiker Tragödien ( Orestie“, Perser“, Medea“) am Deutschen Thea”
”
”
ter Berlin veranstaltete der Sonderforschungsbereich
Transformationen der Antike“, das Institut für Thea”
terwissenschaft der FU Berlin und das Deutsche Theater eine gemeinsame Konferenz mit philologischen, religionswissenschaftlichen und theaterwissenschaftlichen
Beiträgen. Beleuchtet werden sollten die Relevanz und
die Potentiale einer aktuellen Beschäftigung mit der antiken Tragödie. Im Mittelpunkt standen kritische Revisionen kultureller Ursprungskonstruktionen, die Frage des
Tragischen, neue Lektüren antiker Tragödien und Erörterungen ihrer Aufführungsgeschichte in der Gegenwart.
Bernd Stegemann (Berlin) unterscheidet in seinem
Vortrag zur Tragödie der Kontingenz“ vier Haltungen
”
Oliver Taplin (Oxford) eröffnete mit einer Präsenta- zum Tragischen:
das Tragische als Begründung für die
tion neuer Forschungsergebnisse zur antiken VasenmaNotwendigkeit menschlichen Leids, die Ablehnung dielereien, aus denen er Rückschlüssen auf die Anfänge der
ser Begründung, die Zersetzung des tragischen Konflikts
Tragödienrezeption (4. Jahrhundert v. Chr.) zog. So zei- durch Kontingenz und das Bedauern dieser Abschaffung
gen die Malereien nur selten tatsächliche Aufführungen, des Tragischen. Innerhalb dieser Haltungen versucht Stewurden aber von den Aufführungstraditionen inspiriert. gemann die Tragödie und ihre Wirkung zu verorten, inHier zeigt sich, wie die Transformationen der tragischen dem er Hegels Antigone-Analyse und Luhmanns SystemStoffe gleich nach ihrer Uraufführung begonnen haben.
theorie gedanklich verbindet: Die Kontingentsetzung, die
Ein Beispiel sind Darstellungen von Medeas Schlangendem Tragischen seine Unbedingtheit nimmt, und der
bzw. Drachenwagen, der bei Euripides nur als Triumph- damit verbundene Versuch der Aufdeckung sämtlicher
wagen bezeichnet wird, so dass man annehmen muss, blinder Flecken“, resultieren in menschlicher Hybris.
dass die Schlangen aus der Aufführungspraxis stammen. ”Mit einer Analyse des Dramas Die Zeit und das ZimÄhnliches gilt für die Darstellung der Erinnyen als jun- mer von Botho Strauß illustrierte Stegemann seine These,
ge, schöne, geflügelte Frauen, die jedoch bei Aischylos als
dass jedes menschliche Handeln seine Negation in sich
hässliche, flügellose Wesen beschrieben werden.
trägt. Die Darstellung von Handlung und dem aus ihr reSusanne Gödde (Berlin) analysiert die Bildung mo- sultierenden Untergang in der Tragödie erzeugt das traVON DEN ANFÄNGEN
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gische Gefühl.
und schuldfähig ist, ob sie vorsätzlich mordet oder ob
Gründe vorliegen, die Strafe zu mildern. Das Stück beNEUE LEKTÜREN
handelt als erstes in der westlichen TheatergeschichDrei Vorträge widmeten sich Neu-Lektüren der an- te den Mord als Verbrechen. Der Zuschauer steht den
tiken Tragödien, die am Deutschen Theater aufgeführt gleichen rechtlichen und psychologischen Grenzbereiwerden. Anton Bierl (Basel) interpretiert Aischylos’ Per- chen gegenüber, die Richter und Geschworene heutzutaser als prädramatische Performance, welche nicht Zeit- ge bearbeiten müssen. Die Auffassung, dass uns Euripigeschichte darstellen, sondern vielmehr den Sieg Athens des die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen vorgegen die Perser anhand von Symbolen und Bildern der sätzlichem und nicht vorsätzlichem Mord untersuchen
Klage, des Todes und des Opfers ins kulturelle Gedächtnis lässt, wird gestützt von der Tatsache, dass diese Unterüberführen soll. Eine Voraussetzung hierfür ist die Ein- scheidung im Rechtsystem seiner eigenen Zeit anerkannt
bindung des Tragödienwettbewerbs in die Dionysien der wurde. Im athenischen Gesetz war beispielsweise die ErPolis. Das Politische der Tragödie äußert sich in der Dis- mordung des Liebhabers der eigenen Frau unter gewiskussion von Problemen und Handlungsoptionen der Po- sen Umständen legitim. Im Zuge der Übertragung dieses
lis auf der Folie des Anderen bzw. des Mythos. So wird Rechts auf die Frau kann von einer Dekonstruktion der
auch das zeitgeschichtliche Ereignis der Schlacht von Sa- psychologischen Kategorien männlich und weiblich auslamis in eine mythisch-religiöse Matrix überführt. Die gegangen werden, die von Medeas maskuliner Sprache
Wirkung der ritualisierten Sprache und der Gesten auf unterstützt wird. Euripides’ Tragödie untersucht die Gedie Zuschauer steht im Vordergrund, nicht die Identifi- schlechtszugehörigkeit der Psyche Medeas und die Frazierung oder Distanz vom politischen Gegner: So eröff- ge, wie weit sie als Frau zu moralischen Überlegungen
net die Tragödie Reflexionsräume und überführt die Er- im Stande ist. Faszinierend an der Tragödie ist ihr Widerstand gegen klare psychologische und gesetzliche Kaeignisses ins kulturelle Gedächtnis.
tegorisierungen.
Michael Jaeger (Berlin) stellt den Zusammenhang von
150 JAHRE THEATERGESCHICHTE
Blutopfer und Revolution dar und zeigt Aischylos’ Orestie als Modell für das Geschichtsbild der Moderne. So
Drei weitere Vorträge widmeten sich Aufführungen
stellt Klytaimestra mit ihrem Handeln die Ordnung auf griechischer Tragödien von Mitte des 19. Jahrhunderts
den Kopf: Sie negiert die Herrschaft des Mannes. Gleiches
bis in die Gegenwart. Erika Fischer-Lichte (Berlin) zeigt,
gilt für das Opfer, welches Orest an Klytaimestra und Aiwie Berliner Antikenprojekte“ das (Text-)Material des
”
gisth vollzieht und welches wiederum einen politischen griechischen
Theaters einsetzen, um neue Formen von
Umsturz bedeutet. Orest wird hier gleichgesetzt mit Per- Theater zu erproben oder ein neues Bild der griechiseus, welcher Medusa enthauptet. Parallelen hierzu fin- schen Kultur zu entwerfen. Die Aufführung der Antigone
den sich in den öffentlichen Enthauptungen während der von 1841 in Potsdam fungierte mit ihrem antikisierenden
Französischen Revolution. Auch hier findet ein Opfer, ein
Konzept als kulturelles Gedächtnis. Das an Winckelmann
politischer Umsturz inkl. Präsentation des abgeschlageangelehnte Griechenlandbild drückte ein neues Selbstnen Medusen-/Königshaupts statt. Dies geschieht im Sin- verständnis des preußischen Staates aus. In Max Reinne eines Vernunftprinzips (wie es bei der Orestie Apollo, hardts Inszenierungen 1910/11 bewirkte die neue WahrAthene und Zeus verkörpern), welches aber paradoxer- nehmung, die von der Beherrschung des Raums durch
weise in einer archaischen Bluttat mündet. Dabei wird Massen und dynamische Körper geprägt war, eine Indas Allerheiligste (Mutter, König) geopfert; dieser Frevel
dividualisierung der Mitglieder der Aufführungsgemeinist ebenfalls Voraussetzung für die Revolution. Ein weiteschaft. 1936 präsentierte Lothar Müthels Orestie dem inrer Umsturz der bisher geltenden Rechtsverhältnisse fin- ternationalen Publikum der olympischen Spiele Nazidet sich in der Einsetzung des Aeropag, welcher seine Deutschland als Nachfolger des antiken Griechenland.
Parallele im Konvent hat, der über den König abstimmt.
So lässt sich das Opfer in der Tragödie mit der moderKlaus Michael Grüber stellte 1974 mit den Bakchen
nen Geschichtsphilosophie lesen: das Opfer erscheint als die Unzugänglichkeit der griechischen Antike heraus
Voraussetzung für Erkenntnis ( tun, leiden, lernen“).
und die Vorstellung einer kollektiven, kulturellen Identi”
tät in Frage, indem er zeigte, dass verschiedene ZuschauEdith Hall (London) analysiert Medea im Kontext der
er den Elementen auf der Bühne nie dieselben BedeutunRechtsgeschichte. Die Faszination der Medea hängt mit gen zusprechen. Diese enthüllen mehr über uns und under Herausforderung zusammen, dass jeder Regisseur sere Gegenwart als über die vergangene Welt. Anhand
grundsätzlich entscheiden muss, ob Medea zurechnungs2
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der Inszenierung zeigt sich das Vorgehen des sogenannten Regietheaters, das den Text opfern“ muss, damit ei”
ne Aufführung entstehen kann. Peter Stein zeigte 1980
wie sich im dritten Teil der Orestie aus dem Hörraum ein
Schauraum ergab, wie die Inszenierung vom Wort zum
szenischen Bild führt und setzte der mit der Antigone
1841 begonnenen Tradition der kulturellen Identifikation ein Ende.
trachtet werden, die von Bezügen zum Ritual und von
Dekonstruktionsversuchen geprägt sind.
Matthias Dreyer (Berlin) widmet sich dem Thema
der historischen Distanz und den Möglichkeiten einer
anderen Zeitvorstellung durch Aufführungen griechisch
Tragödien. So lassen sich in den letzten 30 Jahren drei
Aufführungsstrategien der Tragödie von Aischylos unterscheiden: Erstens sind die Perser im Kontext deutPlaton Mavromoustakos (Athen) thematisiert mit sei- scher Vergangenheitsbewältigung inszeniert worden, inner Europäischen Aufführungsgeschichte der Orestie“ dem jüngste Vergangenheit im Rahmen der antiken Tra”
ideologische Funktionalisierungen des theatralen Rau- gödie wiederkehrt, etwa in der Stuttgarter Inszenierung
mes. Er geht von vier Entwicklungsphasen aus: In der von H. Heyme. Seit den 1990er-Jahren gibt es zweitens
ersten Phase wurde beginnend mit L. Tiecks Antigone die Tendenz, die dem Drama eingeschriebene Differenz
(1841) antikisierend inszeniert. Die Entscheidung, um des Selbst und des Fremden in Hinblick auf kulturel1900 im neuen Königlichen Theater in Athen, die Orestie le Grenzbereiche zu reinszenieren. Peter Sellars überaufzuführen, war Ausdruck des ideologisch-historischen blendet das Kriegsleid der Iraker mit dem Leid der (anModells der Griechen, das den neugriechischen Staat als tiken) Perser; Theodoros Terzopoulos vereinte ehemals
Erben der antiken Kultur darstellt. Die zweite Entwick- feindliche Kriegsparteien, repräsentiert durch türkische
lungsphase ist durch eine Ästhetik der Monumentalität und griechische Schauspieler, gemeinsam in einem theagekennzeichnet. Sie beginnt mit den Aufführungen Max tralen Erinnerungsprojekt. Als dritte AufführungsstrateReinhardts (König Ödipus und Orestie) 1910/11, in de- gie kann die Annäherung an offene Potentiale der Ge”
nen ein Massenchor das Volk verkörpert, und findet mit schichte“ gelten. Heiner Müllers Übersetzung, die gerader Orestie während der Olympischen Spiele 1936 ihren de durch ihre Nähe zur griechischen Vorlage die heuHöhepunkt. Durch die Betonung eines monumentalen tige Distanz zur Antike betont, sowie die InszenierunStils hat ein großer Teil der Inszenierungen besonders gen von Dimiter Gotscheff in Berlin und der experimenin Deutschland, Griechenland und Italien die gefährliche tellen Gruppe theatercombinat in Genf und Wien lassen
Tendenz, zum Ausdruck der vorherrschenden Ideologie Abstand von der Gegenwart nehmen, öffnen historische
zu werden. Nach einer Übergangsphase der Nachkriegs- Räume und Möglichkeiten einer fremden Zeit“.
”
zeit können Aufführungen griechischer Tragödien in seiEine
Publikation
der
Tagung
(hrsg.
von Erika Fischerner vierten Phase durch die enorme Zahl der AufführunLichte
und
Matthias
Dreyer)
ist
bereits
im Henschelgen seit den 1970er Jahren als beispielhafter ErfahrungsVerlag erschienen: 208 Seiten, 9 Euro, ISBN 978-3-89487und Experimentierraum szenischer Entwicklungen be579-4
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Citation: Matthias Dreyer. Review of , Antike Tragödie heute. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. June, 2007.
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