Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzep

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Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten ...
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Oliver Frey
Über die Bedeutung von sozialräumlichen Konzepten im Kontext zunehmend polarisierter Stadtentwicklung
Sozialräumliche Konzepte haben Konjunktur! Dieser Bedeutungszuwachs von sozialraumorientierten Konzepten soll im Folgenden in den
Kontext einer zunehmend polarisierten Stadtentwcklung gestellt werden.
These dabei ist, dass das Leitbild der Sozialräumlichkeit mit den Vorgaben „integrativer Stadtteilkonzepte“ übereinstimmt, die unter dem Druck
wachsender sozio-ökonomischer Probleme in benachteiligten Stadtquartieren entwickelt wurden. Sozialräumliche Konzepte werden heute als
eine Antwort auf die Verräumlichung von Armut in benachteiligenden
und ausgegrenzten Stadtquartieren gesehen.
Seit einiger Zeit wird von der Sozialarbeit und Sozialpädagogik die Sozialraumorientierung sozialen Handelns und Planens eingefordert. Im Zuge zunehmender Polarisierungen zwischen arm und reich und einer Verräumlichung von Armut in benachteiligten Stadtquartieren kommt der
Sozialarbeit oftmals eine Feuerwehrfunktion zuteil. Dabei soll das Konzept einer sozialräumlich ausgerichteten Sozialarbeit auf diese neuen
Herausforderungen reagieren.
Auch auf anderen Ebenen wird mit Sozialraumorientierung in Kombination mit sozialräumlichen Budgets experimentiert: Im Bereich der sozialen Stadterneuerung werden neue Formen des Quartiersmanagement
erprobt, Strategien des Empowerments mit milieu- und quartiersorientierten Interventionsprogrammen verknüpft (Alisch 2002). Dabei wird auf
Prinzipien der Sozialraumorientierung gesetzt: Dezentralität, Ressourcenverantwortung, Infrastrukturentwicklung, Beteiligung, Selbststeuerung, Überwindung der Einzelfallorientierung und Kooperation verschiedener Akteure und Institutionen.
Die neue Sozialraumorientierung in der sozialen Arbeit und die Finanzierung sozialer Dienste mittels Sozialraumbudgets entsprechen den Zielsetzungen einer integrativen Stadtentwicklungspolitik. Das von der Bundesregierung 1999 aufgelegte Bund-Länder Programm „Stadtteile mit
besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ und das Programm
„Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“
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wurden als ressortübergreifende, sozialräumlich orientierte Programme
entwickelt, die bestimmte Förderungen in genau definierten geographisch abgegrenzten Quartieren beinhalten. Im Grunde sind in diesen
beiden staatlichen Programmen die von der Gemeinwesenarbeit schon
in den 70er Jahren formulierten Prinzipien aufgenommen: Der Raumbezug sozialer Arbeit, das Ziel der Verbesserung von Lebensbedingungen
durch Aktivierung, Vernetzung, Partizipation und Prozessorientiertheit.
Doch was wird unter den Konzepten der Sozialraumorientierung in der
sozialen Arbeit verstanden? Ist Sozialraumorientierung mit einer Teilnahme am „Stadtteil-Arbeitskreis“ gleichzusetzen? Erschöpft sich die
Sozialraumorientierung in der Zielsetzung einer verstärkten Vernetzung
unterschiedlicher Akteure und Institutionen? Oder ist damit eher die Überwindung der Einzellfallarbeit gemeint? Lässt sich Sozialraumorientierung auf die Devise „Vom Fall zum Feld“ reduzieren? Oder besteht die
Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit darin, mit anderen Institutionen wie z.B. Schulen zusammenzuarbeiten?
Sozialraumorientierung wird im Blickwinkel eines Sozialarbeiters anders
aussehen, als sie eine Quartiersmanagerin in der Stadtentwicklung definiert. Oftmals ist es auch nur ein Modebegriff. Mit den Konzepten der
Sozialräumlichkeit geht also eine „neue Unübersichtlichkeit“ einher. Einige beklagen, dass die sozialräumliche Orientierung in der Kinder- und
Jugendarbeit zu einem sozialgeografischen Muster verkürzt wird
(Wohngebiet, eingrenzbarer Sozialraum, Planungsraum etc.) (Deinet:1999, Deinet:2001). Deinet sieht das sozialräumliche Konzept der
Kinder- und Jugendarbeit vielmehr als eine inhaltliche Orientierung, die
die subjektiven Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in ihr Blickfeld nimmt und damit auch in einem politischen Sinne Fragen nach Aneignungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum stellt. Andere Autoren sehen als wesentliches Merkmal einer Sozialraumorientierung die Verteilung finanzieller Ressourcen in Sozialraumbudgets. Als Planungsgröße
verstanden ist der Sozialraum ein geographisch beschreibbares Gebiet,
für dessen BewohnerInnen charakteristische und besondere sozialstrukturelle Merkmale bestimmbar sind. Es ist im sozialgeografischen Sinn
dann vielfach ein mit „Eigenidentität“ von BewohnerInnen ausgezeichneter Raum.
Das Problem besteht darin, dass es keinen einheitlichen, allgemein anerkannten Sozialraumbegriff gibt. Der Sozialraum ist durch unterschiedliche Inhalte des Raumbezugs und der räumlichen Zuordnung charakterisiert. Auf der anderen Seite existieren unterschiedliche Inhalte einer
sozialräumlich ausgerichteten Arbeit. Aus diesem Grund soll zunächst
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auf die geschichtliche Wurzel der Sozialraumorientierung eingegangen
werden.
Die Sozialräumlichkeit als Leitbild
Die theoretische Wurzel der Sozialraumanalyse liegt in der Sozialökologie der 20er Jahre, geprägt von der Chicagoer Schule (Park, Burgess,
McKenzie). Die Sozialökologische Theorie hat verdeutlicht, dass soziale
Ungleichheit von räumlichen Faktoren beeinflusst wird. Die Bedeutung
von Sozialräumen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
wurde insbesondere von den Vertretern der systemtheoretischökologischen
Sozialisationstheorie
herausgestellt
(Bronfenbrenner:1976). Die jeweilige soziale Beschaffenheit von Räumen prägt die
spezifischen sozialen Problemlagen von jungen Menschen, da bei ihnen
die aktive Aneignung der Umwelt immer raumbezogen geschieht. (vgl.
Institut für soziale Arbeit e.V: Expertise:2001)
Sozialraumorientierung beruht auf einer Entwicklung, an deren Beginn
die Gemeinwesenarbeit steht. Ihr Ansatz bestand darin, die soziale Infrastruktur von Stadtquartieren zu verbessern. Ihre Prinzipien einer stadtteilorientierten Handlungsstrategie sehen die Vertreter der Gemeinwesenarbeit in der Betonung des Aktivierungs- anstelle des Betreuungsgedanken. Man will an vorgefundene sozialräumlich verankerte Netzwerkstrukturen und Selbsthilfefähigkeit anknüpfen und die Einzelfallfixierung Sozialer Arbeit überwinden. Zu den Perspektiven stadtteilbezogener Sozialarbeit, die auf den GWA-Ansätzen beruht, gehört die Orientierung an der Wohnbevölkerung, also eine offene, aktivierende Suche
nach den Interessen und Problemlagen der BewohnerInnen, die Nutzung der Stadtteilressourcen und die Einbeziehung von örtlichen Initiativgruppen. Sozialarbeit wird als zielgruppenübergreifend verstanden,
wobei der gesamte Stadtteil das Arbeitsfeld bildet.
Gemeinwesenarbeit wird als ein Konzept zur Förderung der Eigeninitiative von Menschen mit gleichen Problemlagen angelegt. In den klassischen GWA-Ansätzen wird hierin eine Chance zur Organisation von Gegenmacht und einem „Widerstand von unten“ gesehen. Der Klassische
GWA-Ansatz versteht sich als ein politisch, gesellschaftskritischer emanzipatorischer Ansatz. (Hinte/Karras:1989).
Eingeflossen in die Konzepte der Sozialraumorientierung ist auch der
Lebensweltansatz. Die GWA nach Oelschlägel setzt an dem Ort an
(Quartier, Institution), wo die Menschen und deren Probleme zu finden
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sind. Die Lebensverhältnisse, Lebensformen und Lebensumstände rücken ins Blickfeld. Die subjektiven Deutungsmuster und Handlungsweisen der Handelnden selbst treten in den Vordergrund. Die Bedeutung
präventiver, ambulanter, offener Angebote nimmt einen zentralen Platz
ein. (Oelschlägel:1992)
Die Ansätze der Gemeinwesenarbeit haben viel zu den sozialräumlichen
Konzepten in der Jugend- und Sozialarbeit beigetragen. 1990/91 wurden
der „Lebensweltbezug“ und die „Beteiligung“ sowie ein Sozialraumbezug
im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJGH) festgeschrieben. Im 8. Jugendbericht von 1990 beschreibt die handlungsleitenden Strukturprinzipien der Jugendhilfeplanung: Sozialraumorientierung statt quantitativer
Flächendeckung, Lebensweltorientierung statt Einrichtungsplanung und
offensive Prozessplanung statt statischer Festschreibung. Diese Konzepte gewannen durch die sozialräumliche Spaltung und die Zunahme
sozialer Ungleichheit an Bedeutung. Diese Entwicklung soll im Folgenden nachgezeichnet werden.
Modernisierung und soziale Ungleichheit - Strukturierung der Gesellschaft
Jede Gesellschaft ist strukturiert in ihrer inneren und äußeren Ordnung
durch Institutionen , Regeln, Normen und Werte sowie durch gelernte
Verhaltensweisen der Individuen. Diese Strukturierung sorgt für die Integration der Individuen in die Gesellschaft. Jede Gesellschaft hat immer
einen Kontext der sich in einem Orts- und Zeitbezug ausdrückt. Das bedeutet, dass die Strukturierung zwischen den (nationalen) Gesellschaften variiert und über die Zeit angepasst werden muss.
Auch jeder Mensch ist sozial strukturiert und durch mehrere Ebenen geprägt: Zuerst stehen objektive Lebens- und Handlungsbedingungen,
welche das Ausmaß der Ressourcen und der Beschränkungen festlegen. Die Stellung im Erwerbsleben oder der Wohnort, sowie
Freizeitmöglichkeiten können den individuellen Handlungsspielraum des
Individuums begrenzen oder erweitern. Dabei spielen zentrale Werte,
Normen und Handlungsziele des Individuums eine Rolle. Im Habitus des
Individuums drückt sich sowohl die objektive gesellschaftliche Struktur
wie auch die individuellen Wertsetzungen des Menschen aus. Die Wahrnehmungen und Interpretationen der Lebenswelt sind kognitive Einstellungen, die die Handlungsweisen und Aktivitäten in der Praxis strukturieren. (Bourdieu:1995)
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Industriegesellschaftliche Strukturen sozialer Ungleichheit
In der Industriegesellschaft legte die Stellung im Produktionssystem das
Ausmaß der Ressourcen und damit die Lebensbedingungen fest. In der
Soziologie wird diesbezüglich von Klassen- und Schichtzugehörigkeit
gesprochen. Der Sozialstaat intervenierte zu Gunsten der Benachteiligten mit dem Ziel einer allgemeinen Integration in die Gesamtgesellschaft. Die Klasse bzw. Schicht determiniert die maßgeblichen individuellen Leitvorstellungen und Kulturmuster. Diese Leitvorstellungen drücken sich in sog. Klassen- bzw. Schichtmentalitäten aus. Diese wiederum prägen die zentralen politischen Interessen und Präferenzen. Diese
Klassen- und Schichtmentalitäten sowie die Präferenzen bestimmen ebenfalls die Alltagshandlungen der Individuen.
Für die Übergangsgesellschaft von der Industriegesellschaft zur postfordistischen Gesellschaft wird von einer Heterogenisierung und
Pluralisierung von Lebensstilen gesprochen. Dabei verlieren, so die
These, die Klassen- bzw. Schichtprägungen für die Bestimmung der
Sozialen Ungleichheit an Bedeutung. Es entstehen „neue“ Dimensionen
sozialer
Ungleichheit.
Darunter
sind
die
Arbeitsund
Freizeitbedingungen, die Wohn- und Wohnumweltbedingungen sowie
die soziale Sicherheit zu verstehen. In der Soziologie wird von neuen
Zuweisungsmerkmalen gesprochen, die die Stellung des Individuums in
der Gesellschaft strukturieren. Das Geschlecht, die Herkunftsregion, die
Familienverhältnisse, das Alter und die Nationalität werden neue
Merkmale sozialer Ungleichheit.
Die Strukturen sozialer Ungleichheit im Post-Fordismus
Im Post-Fordismus entfaltet das Produktionssystem wieder seine
polarisierende Wirkung. Das Risiko den Arbeitsplatz zu verlieren nimmt
zu und damit auch die Unsicherheiten für eine geplante abgesicherte
ökonomische Zukunft. Die Dominanz des ökonomischen Sektors über
den politischen Sektor ist allenthalben zu beobachten. Gerade bei der
Stadtentwicklung steht die kommunale Steuerung oft hinter
ökonomischen Interessen von Investoren im Hintergrund. Durch den
Begriff der „De-Regulierung“ wird die flexiblere Handhabung von
staatlichen Steuerungen bezeichnet.
Der Staat verlagert Kompetenzen nach oben (supra-staatlich) und unten
(Region) . Die Verwaltungsmodernisierung steht unter einem Druck leerer Kassen und einer geforderten Effizienzsteigerung. Auch das Konzept
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der Sozialraumorientierung wird unter diesen Rahmenbedingungen oftmals als ein Mittel zur Einsparung angesichts angespannter Haushalte
gesehen.
Im Post-Fordismus werden die Klassenverhältnisse wieder sichtbar. Zusätzlich entwickeln die Strukturmerkmale „Geschlecht“ und „Herkunftsnationalität“ an Prägekraft. Die Polarisierung der städtischen Teilräume
nimmt zu. In der Stadtsoziologie wird von der „zweigeteilten“ oder „viergeteilten“ Stadt gesprochen, eine Spaltung in arme und reiche Quartiere.
Außerdem sind erneute Schließungsmechanismen zu beobachten, insbesondere in der Hierarchie sehr weit oben („neue Dienstleistungsklasse“) und unten („urban underclass“). Klassenspezifische Habitusformen
(„culture of poverty“ vs. „Yuppie-Mentalitäten“) besitzen eine neue Konjunktur meist einhergehend mit einer Entsolidarisierung.
Das Ende der „Arbeitnehmer- und Industriegesellschaft“
Das Buch von Robert Castel (2000) „Die Metamorphosen der sozialen
Frage“ steht exemplarisch für eine Perspektive auf die Ausgrenzung, die
das Ende der „Arbeitnehmergesellschaft“ und ein langsames Zerfallen
des Arbeitnehmerstatus mit seinen Rechten, Pflichten sowie Absicherungen konstatiert. Die Industrialisierung hat die Arbeitnehmerschaft
zum zentralen Motor der sozialen Integration gemacht. Der wirtschaftliche Wandel wirkt auf die durch Lohnarbeitsverhältnisse strukturierten
sozialen Beziehungen ein. Das Phänomen der Exklusion wird erklärt als
ein Prozess der langsamen Ablösung einzelner Personen aus der Welt
der Arbeit und ein damit einhergehender Verlust sozialer sowie familiärer
Bindungen. Die abnehmende Stabilität von Erwerbsverhältnissen geht
mit dem Risiko der Verarmung an sozialen Beziehungen einher.
Das Buch von Lapeyronnie/Dubet (1994): Im Aus der Vorstädte steht
dabei exemplarisch für den Befund vom „Ende der Industriegesellschaft“. Der Kern der sozialen Integration wird im Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesehen. Im Zentrum des Phänomens
der Exklusion steht die abnehmende Bedeutung der Arbeiterbewegung.
In der Industriegesellschaft hat die Arbeiterbewegung Arme und Ausgegrenzte in sich integrieren können und die Lebenswelten in den banlieues rouges, den roten Vorstädten, symbolisierten ein Klassenbewusstsein als eine kulturelle und soziale Bewegung. Exklusion erscheint damit
als Problem dort, wo die Armen und Ausgegrenzten sich nicht mehr zu
einem kollektiven Akteur der Gesellschaft formieren können.
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Hier wird die Verräumlichung der sozialen Frage konstatiert. Die Vorstadt (la banlieue) wird zum Ort, an dem tagtäglich Ausgrenzung erfahren wird, weil BewohnerInnen am stärksten vom Wandel des Arbeitsmarktes betroffen sind. Die soziale Frage geht über den Produktionsbereich hinaus und verbindet sich in den Vorstädten mit kulturellen Fragestellungen der Migration. Die soziale Frage verlagert sich in den Raum.
Die Verräumlichung der sozialen Frage
Mit der ökonomischen Umstrukturierung und der gesellschaftlichen
Polarisierung und Heterogenisierung hat sich die residentielle
Segregation in Großstädten verschärft. Es haben sich - lange kaum
beobachtet – „pockets of poverty“ unmittelbar neben Inseln des
Wohlstandes gebildet (Dangschat:1999). Die Segregationstendenzen
und gesellschaftliche Abspaltungen scheinen sich zu Beginn des 21.
Jahrhunderts zu verstärken. Auch konstatieren wir eine schwindende
Integrationskraft der „Integrationsmaschine Stadt“. Diese schwindende
soziale Integrationskraft der Stadt bedeutet mit Blick auf sozialräumliche
Entwicklung, dass sich soziale Ungleichheit bei einer wachsenden
Heterogenität der Bevölkerung als zunehmende soziale Segregation
ausbildet. Es entstehen Prozesse sozialer Selektion an deren Ende
Quartiere mit einer kumulativen Abwärtsentwicklung stehen. Im Laufe
dieser Abwärtsspirale von Wohnquartieren ziehen Haushalte mit
Wahlmöglichkeiten aus dem Quartier weg. Auch die bessergestellten
ausländischen Familien suchen sich einen Wohnort außerhalb der
benachteiligten und ausgegrenzten Quartiere. Am Ende des Prozesses
steht eine Konzentration und Dichte sozialer Problemlagen. Diese
ausgegrenzten Quartiere werden selbst zur Ursache sozialer
Ungleichheit.
Aufgrund
mangelnder
Infrastruktur,
fehlenden
Verkehrsanschlüssen an die prosperierenden Stadtregionen, aufgrund
von Stigmatisierungen ganzer Quartiere und Wohnadressen und nicht
zuletzt aufgrund schlechter Schulen und Lernorte verlieren diese
Stadtquartiere den Anschluss an die Gesamtstadt. Die Vorstadt wird
zum Ort, an dem tagtäglich Ausgrenzung erfahren wird, weil BewohnerInnen am stärksten vom Wandel des Arbeitsmarktes betroffen sind. Die
soziale Frage geht über den Produktionsbereich hinaus und verbindet
sich mit kulturellen Fragen. So lebt meistens in diesen Quartieren eine
signifikant höhere MigrantInnenbewohnerschaft. Die soziale Frage verlagert sich in den Raum: statt zentraler staatlicher Finanzierung von sozialer Hilfe müssen Verträge in bezug auf Projekte mit „Verantwortungsgemeinschaften“ in den einzelnen Quartieren geschlossen werden. Diese vertragliche Konzeption sozialer Absicherung fließt in eine soziale
Stadtpolitik ein.
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In den ausgegrenzten und ausgrenzenden Quartieren geht das Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen verloren. Die vorherrschenden subkulturellen Normen und Verhaltensmuster in den Quartieren bringen eine hohe Distanz zu den sozial vorherrschenden erwarteten Normen. Daraus folgt, dass die Lebensführung
und Handlungsmöglichkeiten objektiv eingeschränkt sind. Das negative
Image dieser Quartiere entfaltet Stigmatisierungseffekte nach innen und
außen, die Handlungs- und Darstellungsmöglichkeiten der BewohnerInnen ebenfalls einschränken.
„Die Soziale Stadt“ – ein Programm gegen die sozialräumliche
Spaltung in den Städten
Das 1999 von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte BundLänder Programm mit dem Titel „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ versucht auf diese Situation zu reagieren und eine strategische Neuorientierung der Städtebauförderung einzuleiten: Aufgrund der Erfahrungen mit der klassischen Städtebausanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz und den verschiedenen
Programmen auf Länderebene zur sozialen Stadtentwicklung, wird mit
dem neuen Forschungs- und Handlungsfeld „Soziale Stadt“ versucht,
investive und nicht-investive Vorhaben zu fördern und zu verknüpfen.
Dabei wird im Kontext einer wachsenden sozio-ökonomischen Polarisierung in benachteiligten Stadtquartieren die Notwendigkeit von „integrativen Handlungsansätzen“ auf Stadteilebene erkannt. Die Schwäche von
sektoralen Politikansätzen verdeutlichte die Notwendigkeit zur Anwendung integrativer Handlungsansätze, was auch für die Sozial- und Jugendhilfe erkannt wurde. Der 8. Jugendbericht konstatiert 1990, dass
die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien „zunehmend von Entwicklungen in anderen Bereichen“ strukturiert wird, „auf die
die Jugendhilfe bisher keinen Einfluss hat“. Aus diesem Grund würden
„Ansätze zur Kooperation und Kommunikation mit anderen Politikfeldern“ benötigt, und es komme darauf an, „in aufgabenbezogenen, offenen und vernetzten Arrangements Räume und Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern“. Auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wird der
Auftrag an die Jugendhilfe erteilt, „positive Lebensbedingungen für junge
Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche
Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“. Damit tritt der Sozialraum als
Aufgabenfeld in den Vordergrund. Für die Jugendhilfe erscheint eine
Übereinstimmung mit dem Programm „Soziale Stadt“ in den Bereichen,
wo der Sozialraum stärker in das Blickfeld gerät und die Kooperation mit
anderen Akteuren und Institutionen zur Zielsetzung wird. (Be-
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cker/Löhr:2000) Das Bund-Länder Programm „Soziale Stadt“ versucht
die Ressourcen auf der Quartiersebene zu bündeln und zu vernetzen.
Das wesentliche Ziel ist eine Verbesserung der Lebensbedingung in den
benachteiligten Stadtquartieren durch eine aktive und integrative Stadtentwicklungspolitik. Neben Aktivierung und Beteiligung von Bürgern soll
insbesondere die Integration und Vernetzung bislang nebeneinander
stehender politischer Handlungsfelder erfolgen. Die Entwicklung sozialraumbezogener Handlungsansätze in der sozialen Arbeit ist anschlussfähig an die Handlungsgrundsätze des Programms „Soziale Stadt“ und
sollte im Hinblick auf eine enge Kooperation mit den lokalen Strukturen
eines Quartiers und den dortigen Akteuren wie z.B. dem Quartiersmangement erfolgen.
„Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ E&C
Das Programm E&C ist im Sinne einer ressortübergreifenden Bündelung
von Ressourcen und Aktivitäten in jenen Stadtquartieren angesiedelt,
die im Rahmen des Bund-Länder Programms „Soziale Stadt“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gefördert werden. Das Programm, ein Programm für benachteiligte Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten und strukturschwachen ländlichen
Regionen, (E&C) wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jungend (BMFSFJ) initiiert. Es soll Ressourcen und Maßnahmen für diese benachteiligten Sozialräume qualifizieren und weiterentwickeln. Ziel des Programms ist es die vorhandenen Mittel und Fördermöglichkeiten sowie Ressourcen gebietsbezogen und gebietsspezifisch für die Sozialräume zu nutzen. Dabei soll der Blick in der Kinderund Jugendhilfe stärker als bisher auf die Probleme und Schwierigkeiten
junger Menschen in diesen Sozialräumen gerichtet werden. Die Einzelmaßnahmen und Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sollen zu einem Gesamtpaket verknüpft werden. Dabei sollen Bedarfslücken durch
neue Maßnahmen und Angebote gedeckt werden. Im Zentrum des Programms stehen die unterschiedlichen Lebenslagen der hier geborenen
und zugewanderten Mädchen und Jungen. Die Eröffnung gleicher
Chancen für diese junge Bevölkerung ist Anspruch des Programms.
(vgl.: Stiftung SPI, DJI: Entwicklung und Chancen junger Menschen in
sozialen Brennpunkten, Oktober 2000)
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Wie haben die Programme „Soziale Stadt“ und „E&C“ die räumliche Frage auf die Tagesordnung gestellt?
Die Pioniere der sozialen Stadt haben durch die zahlreichen Länderund Städteinitiativen das Quartier neu entdeckt. Die Probleme der Quartiere (sozial, baulich, infrastrukturell) wurden für die Augen der Entscheidungsträger sichtbar und das Quartiers als Handlungs- und Wohnort
anerkannt. Insofern entstand auch durch diese beiden Programme eine
neue Konjunktur für sozialräumliche Handlungsansätze im Kontext einer
zunehmend polarisierten Gesellschaft: Die soziale Frage wurde auf der
Quartiersebene verortet, wobei immer die Besonderheit und Unterschiedlichkeit des Lokalen im Vordergrund steht. Es wurde in den Programmen die Leitidee einer „aktivierenden Staates“ entwickelt, der durch
eine übergreifende Kooperation staatlicher, halbstaatlicher oder privater
Akteure ein integriertes Handlungskonzept vor Ort entwickelt. Durch die
beiden Programme erfolgte eine neue „positive Diskriminierung“, die die
in den benachteiligten Quartieren lebende Bevölkerung zu Trägern besonderer Förderungen und Programmstellungen machte. Auf Quartiersebene wurde versucht eine neue Kommunikationskultur zwischen unterschiedlichen Akteuren zu etablieren, die meist durch sogenannte Quartiersmanagementstrukturen institutionalisiert wurde. Die Sozialräumlichkeit der Programme drückt sich auch in dem Versuch ein bestimmtes
geographisch abgrenzbares Gebiet zu zonieren, das in den Einflussbereich staatlicher Förderprogramme kommt.
Schlussfolgerungen für die Jugendhilfe
Die sozio-ökonomische Polarisierung in städtischen Gebieten wächst.
Folge ist eine Verräumlichung von Armut in benachteiligten Quartieren.
Insbesondere die Kinder- und Jugendarmut nimmt in diesen Armutsgebieten zu. Die Sozialarbeit soll diesem Trend, der die soziale Integrationskraft der Städte gefährdet, entgegenwirken. Doch sie ist alleine auf
sich gestellt damit überfordert und kann nur eine Feuerwehrpolitik
betreiben. Um nicht nur kurzfristige Verbesserungen zu erreichen, muss
die Jugendhilfe sich mit anderen Akteuren und Institutionen im Stadtteil
zusammenschließen. Die Konzepte einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit bieten hierfür eine Chance. Gleichzeitig wächst die Bedeutung von interkulturellen Ansätzen in der Jugendarbeit, da in den sozialräumlich benachteiligten Quartieren meist ein hoher Ausländeranteil
lebt. Auch stellt sich die Frage, ob eine Partizipation von Jugendlichen
an der Stadtentwicklung ein Mittel zur Bekämpfung von Ausgrenzung
darstellen kann.
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Der Autor sieht eine gesellschaftliche Aufgabe darin, die bestehenden
sozialräumlichen Konzepte zu politisieren. Die Wirkungsmechanismen
zwischen unterschiedlich nebeneinander existierenden Sozialräumen
sind vermehrt zu hinterfragen:
Der Zusammenhang von Wohlstandsinseln und Armutsgebieten sollte
thematisiert sein. Anhand des Stichwortes "Armut durch Reichtum" wird
verdeutlicht, dass isolierte Strategien zur Bekämpfung von Armut nicht
ausreichend greifen, sondern die Frage der Umverteilung lösungsorientiert untersucht werden muss.
Literatur
Alisch, Monika: Soziale Stadtentwicklung. Widersprüche, Kausalitäten
und Lösungen, Opladen 2002
Becker, Heidede/Löhr, Rolf-Peter: Soziale Stadt. Ein Programm gegen
die sozialräumliche Spaltung in den Städten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2000
Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen, Suhrkamp 1995
Bronfenbrenner, U.: Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976
Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage, 2000
Dangschat, Jens: Modernisierte Stadt. Gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und Ausgrenzung, Opladen 1999
Deinet, Ulrich: „Sozialräumliche Orientierung – mehr als Prävention!“, in
der Zeitschrift „deutsche Jugend“, 3/2001, S. 117-124
Deinet, Ulrich: Sozialräumliche Jugendarbeit. Eine praxisbezogene Anleitung zur Konzeptentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit,
Opladen 1999
Hinte, Wolfgang; Karas, Fritz: Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit, Frankfurt u. Neuwied 1989
Institut für soziale Arbeit e.V. im Auftrag der Regiestelle E&C der Stiftung
SPI: Expertise. Sozialraumorientierte Planung. Begründungen, Konzepte, Beispiele, Münster 2001
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Lapeyronnie, D.; Dubet F. : Im Aus der Vorstädte, 1994
Oelschlägel, Dieter: Gemeinwesenarbeit im Armutsquartier. In: Johannes Boettner (Hg.): Von der Hand in den Mund, Essen 1992
Stiftung SPI, DJI: Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten, Oktober 2000
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