Liebesbriefe von Gibran Der im Libanon geborene Khalil Gibran

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Paulo Coelho
Globo 619
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Liebesbriefe von Gibran
Der im Libanon geborene Khalil Gibran (1883-1931) hat
einen unvergessenen Klassiker, „Der Prophet“,
geschrieben, der sechzig Jahre nach der
Erstveröffentlichung weltweit immer noch zu den
meistverkauften Büchern gehört. 1995 las ich die
Liebesbriefe, die er mit Mary Haskell austauschte, einer
zehn Jahre älteren Amerikanerin. Darin entdeckte ich
einen komplexen, faszinierenden Mann, was mich dazu
anregte, ausgewählte Briefe zu übersetzen und mit einem
Vorwort zu versehen (Liebesbriefe des Propheten,
erscheinen bei Ediouro, vergriffen). Hier einige Proben
daraus:
10.3.1912
Mary, meine geliebte Mary, wie kannst du nur glauben,
dass du mir mehr Leid als Freude schenkst? Niemand weiß
genau, wo die Grenze zwischen Schmerz und Lust verläuft:
mir kommt es immer wieder so vor, als wären beide
untrennbar miteinander verwoben. Du gibst mir so viel
Freude, dass es schon fast schmerzt, und du verursachst
mir so viel Leid, dass ich beinahe lächle.
8.7.1914
Ich habe immer gedacht, dass jemand, der uns versteht,
uns am Ende zu seinem Sklaven macht – denn wir
akzeptieren alles, nur um verstanden zu werden. Dennoch
hat mir dein Verständnis den größten Frieden und die
größte Freiheit gegeben, die ich jemals empfunden habe.
In den zwei Stunden deines Besuchs hast du den schwarzen
Punkt in meinem Herzen gefunden, ihn berührt und ihm für
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immer zum Verschwinden gebracht – und jetzt kann ich
mein eigenes Licht erkennen.
18.4.1915
Die zwei Tage, die wir zusammen verbracht haben, waren
wundervoll. Indem wir über die Vergangenheit sprachen,
wurden Gegenwart und Zukunft immer greifbarer. Jahrelang
hatte ich immer große Angst davor gehabt, mich meiner
Vergangenheit auseinanderzusetzen und habe lieber stumm
gelitten. Heute habe ich begriffen, dass das Schweigen
uns am meisten leiden lässt.
Du bringst mich zum Reden, dank dir entdecke ich die
Dinge, die in meiner Seele Staub ansetzen, und kann sie
auskehren.
17.7.1915
Wir versuchen nicht, die äußersten Enden anderer
Welten zu berühren. Die großen Dichter der Vergangenheit
haben sich stets dem Leben hingegeben. Sie suchten
nichts Bestimmtes, versuchten auch nicht Geheimnisse zu
enthüllen: sie ließen einfach nur zu, dass ihre Seele
von den Gefühlen übermannt wurde. Die Menschen suchen
immer nach Sicherheit, und manchmal gelingt es ihnen,
sie zu erlangen: aber die Sicherheit ist endlich und das
Leben endlos.
Dichter sind nicht nur die, die Gedichte schreiben,
sondern alle, deren Herz voll des heiligen Geistes der
Liebe ist.
10.5.1916
Liebe Mary: ich schicke dir eine kleine Geschichte,
die ich gerade beendet habe. Ich habe in letzter Zeit
wenig geschrieben, und wenn dann nur auf Arabisch. Aber
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ich hätte gern deine Verbesserungsvorschläge und
Kommentare zu diesem Text gehört:
Im Schatten eines Tempels wies mein Freund auf einen
Blinden. Mein Freund sagte: „Dieser Mann ist ein
Weiser.“
Wir traten näher, und ich fragte: „Seit wann sind Sie
blind?“
„Von Geburt an.“
„Ich bin Astronom“, meinte ich.
„Ich auch“, entgegnete der Blinde. Und, indem er die
Hand auf seine Brust legte, sagte er: „Ich verbringe
mein Leben damit, die vielen Sonnen und Sterne zu
beobachten, die sich in mir bewegen.“
Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann
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