Mary Shelley: Frankenstein

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WOZ DIE WOCHENZEITUNG NR. 15
15. APRIL 2010
KULTUR
AGENDA
IMMER UND EWIG
© 2009: GABRIEL OROZCO
Frankenstein
«My Hands Are My Heart» (1991): In Basel sind neben Fotografien auch Installationen, Skulpturen, Malereien und
Zeichnungen des Mexikaners Gabriel Orozco zu sehen.
AUSSTELLUNG
Gabriel Orozco
Das Kunstmuseum Basel hat zusammen
mit dem New Yorker Museum of Modern
Art eine grosse Überblicksausstellung
zum Werk von Gabriel Orozco konzipiert.
Neben den bekannten Installationen und
Skulpturen des 1962 geborenen mexikanischen Künstlers sind auch Fotografien,
Malereien und Zeichnungen zu sehen.
Seit den frühen neunziger Jahren
hat sich Orozco auf das Alltägliche und
Flüchtige konzentriert. Unscheinbare
Situationen – etwa Beobachtungen auf
einem Spaziergang – können Ausgangspunkt für eine Orozco-Arbeit sein.
Orozcos erste Werke entstanden noch
in der mexikanischen Hauptstadt. Später
begann er auch den nordamerikanischen
und westeuropäischen Raum zu erkunden. Mit zunehmender Geschwindigkeit
bewegte er sich im Dreieck zwischen Mexiko-Stadt, New York und Paris und wurde zum Pendler zwischen den Welten.
Orozco schuf aus Alltäglichem eine
Vielzahl von originellen Kleinstskulpturen: Vier Velos verband er zu einer
Skulptur mit dem Titel «Four Bicycles
(There Is Always One Direction)»; einen in Längsrichtung entzweigeschnittenen Citroën DS fügte er 1993 zum
Einsitzer zusammen; aus Orangenhaut
und Plastilin fertigte er Fussbälle. Einige solcher Kleinstkunstwerke dienten
ihm auch als «Skizzen» für spätere Arbeiten. Als Objekte auf diversen «Working Tables (Mexico 1991–2006)», die
zur Sammlung des Kunstmuseums
Basel gehören, sind sie Teil der Ausstellung geworden. ibo
Jean Perret einerseits das Thema «Krieg
und Gewalt», andererseits werden intimere Filme sowie Beispiele kontemplativen Filmschaffens zu sehen sein.
«Trotz wachsender Schwierigkeiten
bei Produktion und Verleih des Autorendokumentarfilms und einer audiovisuellen Landschaft, die zur Standardisierung, Banalisierung und Globalisierung
tendiert», so Perret unlängst in einem
Interview im «Ciné-Bulletin», «stellen
wir mit Genugtuung fest, dass es Autoren, Produzenten und Journalisten gibt,
die ihn wertschätzen und feiern». süs
«Visions du Réel» in: NYON mehrere Kinos,
Do, 15., bis Mi, 21. April.
www.visionsdureel.ch
FILM
Gefährliches Spiel
Ihre berühmteste Rolle hatte sie in «King
Kong und die weisse Frau» (1933), in
dem sie mit ihren Schreien Filmgeschichte schrieb: Die Schauspielerin Fay
Wray (1907–2004) trat anschliessend
häufig in Horrorfilmen auf.
Doch schon vor «King Kong» war
Wray in «The Most Dangerous Game»
(1932, vgl. Foto) in einem Abenteuer- und Horrorfilm zu sehen, der jetzt
im Zürcher Filmpodium zu sehen ist.
Als Eve Trowbridge landet Wray hier
bei einem Schiffbruch auf einer Insel.
Hier herrscht Graf Zaroff, dessen Leidenschaft die Jagd auf Menschen ist.
Gemeinsam mit dem Grosswildjäger
und Reiseberichterstatter Bob Rainsford (Joel McCrea) versucht Eve, aus
Gabriel Orozco in: BASEL Kunstmuseum,
Sa, 17. April, 17 Uhr. Einführung: Bernhard
Mendes Bürgi. Di–So, 10-18 Uhr. Bis
8. August. www.kunstmuseumbasel.ch
Es ist das sechzehnte und gleichzeitig
letzte Mal, dass Jean Perret und Gabriela Bussmann für das Filmfestival Visions du Réel in Nyon verantwortlich
sind. In den sechzehn Jahren unter ihrer Leitung hat sich die Veranstaltung
zu einem international anerkannten
Dokumentarfilmfestival entwickelt, an
dem jedes Jahr grossartige Neuentdeckungen gemacht werden können.
Dieses Jahr sind gleich vier Schweizer Filme im Internationalen Wettbewerb vertreten: «Aisheen (Still Alive in
Gaza)» von Nicolas Wadimoff, «Beyond
This Place» von Kaleo La Belle, «Guru – Bhagwan, His Secretary and His
Bodyguard» von Sabine Gisiger und
Beat Häner und «Together» von Pavel
Kostomarov. Auch in anderen Sektionen – «Regards neufs», «First Step»
oder «Tendances» – ist das Schweizer
Dokumentarfilmschaffen gut vertreten.
Als inhaltliche Schwerpunkte nennt
«Marienglas» in: BASEL Maurerhalle der
Allgemeinen Gewerbeschule, Vogelsangstrasse 15. Premiere: Fr, 16. April,
20.30 Uhr (19.45 Uhr Einführung durch
den Komponisten); Sa, 17. April, 20.30 Uhr
und 22.30 Uhr (18.45 Einführung); So,
18. April, 20.30 Uhr (19.45 Einführung);
Mo, 19. April, 20.30 Uhr und 22.30 Uhr.
Konzertante Aufführung in: BERN Ono,
Do, 6. Mai. www.beatgysin.ch
KONZERT
FESTIVAL
Visions du Réel
Titel «Marienglas» entstanden. Speziell dabei ist, dass das Publikum zugleich
zwei Musiken zu hören bekommt: live
gespielte Musik – und aus einem Kopfhörer eine zweite Komposition.
Damit knüpft «Marienglas» über
Kafka hinaus auch an eine moderne
Alltagserfahrung an: Viele Menschen
gehen heute mit Kopfhörern durch die
Strassen und hören zeitgleich ihre «eigene Musik» und die Geräusche des
Alltags. In Gysins Stück passen die beiden Klangebenen oft zusammen. Doch
manchmal sind es auch zwei fremde
Sphären. Dann, so die Absicht des Komponisten, fühlt sich das Publikum vielleicht am nächsten bei K., dem Protagonisten in Kafkas berühmtem Text, der
auf der Bühne durch zwei Künstler dargestellt wird: einen Sänger und einen
Artisten. Aufgrund des ausgeklügelten
Aufnahme- und Wiedergabesystems
weiss das Publikum nicht, welche Figur
der wirkliche Sänger ist.
Über Kopfhörer hören die ZuhörerInnen auch sechs hörspielartige Szenen
aus dem Roman (deren Auswahl der
Philosoph Hans Saner besorgte). Und
noch etwas: Ein Teil des Publikums
liegt im «Marienglas»-Kunstraum auf
dem Rücken, während sich im Verlauf
der Aufführung eine halbdurchsichtige
Decke senkt, bis sich ein neuer eigener Raum bildet. Die Isolation von K.
könnte also auf ziemlich direkte Weise
spürbar werden. adr
Michael Jaeger
Fay Wray, Filmschauspielerin.
den Fängen des verrückten Grafs zu
entkommen … «The Most Dangerous
Game» von Ernest B. Schoedsack und
Irving Pichel basiert auf einer Kurzgeschichte von Richard Connell und ist
heute ein Horrorklassiker. süs
«The Most Dangerous Game» in: ZÜRICH
Filmpodium, Mi, 21. April, 18.15 Uhr, mit
einer Einführung von Bernhard Uhlmann.
www.filmpodium.ch
MUSIKTHEATER
Marienglas
Der Basler Komponist Beat Gysin hat
sich an Franz Kafkas Romanfragment
«Das Schloss» herangewagt. Daraus ist
eine «raumakustische Oper» mit dem
Der Tenorsaxofonist Michael Jaeger
veröffentlicht demnächst die zweite CD
mit seiner Gruppe Kerouac. Neben dem
Pianisten Vincent Menbrez, dem Bassisten Luca Sisera und dem Schlagzeuger Norbert Pfammatter sind auf «Outdoors» als Gäste der Gitarrist Philipp
Schaufelberger und der Altsaxofonist
Greg Osby dabei. Ende Monat spielen
sie in Zürich, Lugano und Baden.
Bis es so weit ist, nutzt Jaeger die
Zeit und bildet im Rahmen eines Artist-in-Residence-Programms im Zürcher Moods ein seltenes Duo mit seinem
Bruder Chris, der sich als Perkussionist
einen Namen gemacht hat. Am gleichen
Abend ist Schaufelberger zusammen mit
dem Schlagzeuger Pierre Favre zu hören.
Auch von diesen beiden erscheint in naher Zukunft eine CD: «Albatros». ibo
Michael und Chris Jaeger, Philipp Schaufelberger und Pierre Favre in: ZÜRICH
Moods im Schiffbau, Mi, 21. April,
20.30 Uhr. www.michaeljaeger.ch
Frankenstein ist kein Monster! Zwar
ist der Name seit der Verfilmung mit
Boris Karloff von 1931 zum Synonym
für Ungeheuer geworden, doch dieses
leichenblasse, menschenartige Wesen
mit einer Schraube im Hals hat mit
der Romanvorlage der englischen
Autorin Mary Shelley von 1818 nur
wenig gemein. Entstanden ist die literarische Urfassung während eines
Urlaubs in den Schweizer Alpen, als
Shelley und ihre Begleiter – ihr Ehemann Percy und Lord Byron – eine
Wette abschlossen, wer die gruseligste
Erzählung schreiben könne. Mary gewann und hat nicht nur eine unsterbliche Kultfigur, sondern überhaupt
«die Mutter aller Horrorgeschichten»
geschaffen. Die alpine Gletscherlandschaft bildet daher die Kulisse für die
Gräueltaten des künstlich erschaffenen Monsters, das sich an seinem
Schöpfer grausam rächt, bevor es mit
ihm im arktischen Eis den Tod findet.
Shelley gelingt es, neben Ekel und
Grauen auch Verständnis und Mitleid
CD
für diese tragische Kreatur zu erwecken. Aus Teilen verschiedener Leichen zusammengesetzt, ist das Monster derart hässlich, dass es von seinem
Erzeuger verstossen wird. Allein in der
Welt, die ihm ebenfalls feindlich gesinnt ist, richtet es ohne böse Absicht
nur Unheil an. Schliesslich gelingt es
ihm, im Versteckten zu leben, es lernt
sprechen und lesen, entdeckt durch
die Lektüre von Goethes «Werther»
die Liebe und sucht daraufhin seinen
Erzeuger auf, um ihn um die Herstellung einer Partnerin zu bitten.
Doch auch dieser Erzeuger ist eine
tragische Figur. Er gehört wie Faust
zu jenen Forschernaturen, die durch
ihren masslosen Wissensdrang auf
tödliche Abwege geraten. Anders als
Faust bereut er sein anmassendes Experiment. Viel zu schnell hat er die
Kontrolle über seine Kreatur verloren.
Was würde erst geschehen, wenn sich
diese fortpflanzen würde? Der Schöpfer und sein Werk sind sich in ihrer
Tragik zum Verwechseln ähnlich. Das
ist wohl der Grund, warum der Name
des genialen Genfer Medizinstudenten
Viktor Frankenstein – eigentlicher
Protagonist des Romans – im Laufe
des 20. Jahrhunderts auf das Monster
überging. Martina Süess
MARY SHELLEY: «Frankenstein oder der
moderne Prometheus». Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 2009.
224 Seiten. Fr. 15.90.
BUCH
Die Gainsbourg
Scharfe Zähne
Gainsbourg
warf lange einen
Schatten auf
Gainsbourg:
der Vater, Serge
(1928–1991),
auf die Tochter,
Charlotte (* 1971). 1984 hauchten
die beiden gemeinsam das Stück
«Lemon Incest», dessen allzu
deutlicher Text einen Skandal
auslöste, wie ihn der versierte
Provokateur (und grossartige
Chanteur-compositeur) Gainsbourg
mit Lust inszenierte. Die erste CD
der Tochter, «Charlotte For Ever»,
die zwei Jahre danach erschienen,
enthielt bezeichnenderweise nur
Kompositionen des Vaters. Dann
stand für die Tochter jahrelang die
Schauspielerei im Vordergrund, was
oft zu Vergleichen mit ihrer Mutter
Jane Birkin anregte, die ebenfalls
vor allem Schauspielerin ist. Im
Schauspiel befreite sich Charlotte
Gainsbourg von den elterlichen
Überfiguren.
In der Popmusik brauchte sie
dafür länger. Erst 2006 kehrte sie
mit dem Album «5:55», für das das
Elektropopduo Air (Jean-Benoît
Dunckel und Nicolas Godin) die
Musik schrieb, in diese Disziplin zurück. «IRM» die neue CD von Charlotte Gainsbourg, passt noch besser
zu ihrer Person. Auch hier ist der
Komponist ein Garant für Stilsicherheit: Beck Hansen, der kalifornische
Singer-Songwriter und Produzent.
Ihm übergab Gainsbourg ihre Notizen und Skizzen, Beck schrieb für
sie ein ganzes Album. Dem französischen Musikmagazin «Les Inrockuptibles» sagte die Gainsbourg,
sie habe wegen ihrer Stimme viele
Komplexe, Beck habe ihr geholfen,
ihre Zurückhaltung zu überwinden.
Die dreizehn Stücke der Platte
bestätigen diese Einschätzung. Noch
nie klang Gainsbourg so frei. Die CD
«IRM» – der Titel verweist auf die
Kernspintomografie, der sich Charlotte Gainsbourg 2007 nach einem
schweren Unfall unterzog – ist eine
atmosphärisch dichte und variantenreiche Platte: folkbeeinflusste Titel, von elektronischen Geräuschen
rhythmisierte Elektrosongs, sogar
etwas lärmaffinen Rock hören wir
hier. Und gespenstische Tracks wie
«Le Chat du Café des Artistes», den
wunderbar britischen Sixties-Groove
von «Heaven Can Wait» und «Dandelion», das uns fast an die Wiederauferstehung von Marc Bolan glauben lässt. Diese CD ist eine grosse
Überraschung. Raphael Zehnder
Es braucht ein
gerüttelt Mass
an Selbstüberwindung, wenn
man ein Buch
empfehlen will,
das auf fast jeder
Seite ein bis zwei
Druckfehler der
übelsten Sorte aufweist: Verwechslungen von
«dass» und «das», «indem» und
«in dem», kleingeschriebene Höflichkeitsformen et cetera et cetera.
Aber dieses Buch, dessen Zweitauflage wir wenigstens einen einzigen
gründlichen Korrekturdurchgang
wünschen würden, verdient trotz
allem einen Hinweis. Nicht nur
der schönen Aufmachung wegen:
gebunden, mit Lesebändchen und
prächtigen Illustrationen von Jörg
Vogeltanz. Nicht nur wegen des
Vorworts, das – fehlerfrei – Carl
Weissner beigesteuert hat (es allein
rechtfertigt für Beat-Aficionados
den Kauf des Bandes). Nein: Vor
allem die fantasievolle Behandlung
des Werwolfthemas in einem Versepos, dessen Sprache sich aus der
Rap-Culture und dem US-amerikanischen Underground nährt, fordert
diesen Hinweis ein.
Der als Werbetexter in Detroit arbeitende Toby Barlow hat mit seinem
Debütroman «Scharfe Zähne» den
Werwolfstoff ins zeitgenössische Los
Angeles transponiert. Lange galt:
Vampire können unsere Empathie
wecken, weil sie lieben und begehren
wie wir. Dank Barlow können das
nun auch Werwölfe. Er schildert
weitschweifende Rudel wölfischer
MutantInnen; sie bekämpfen sich
in den leeren Fabrikarealen der
Grossstadt oder in der angrenzenden
Wüste, lösen sich auf, formieren sich
neu. Sie tun das, meist unbemerkt,
unter Menschen. So ist da Cop
Peabody, der versucht, eine Serie
rätselhafter Morde aufzuklären. Er
kommt den Werwölfen nicht auf die
Schliche, kann dann aber doch aus
einem Helikopter den finalen Showdown zweier befeindeter Rudel verfolgen. Dann ist da der Hundefänger
Anthony, bei dem, ohne dass er es
weiss, eine davongelaufene Werwölfin Unterschlupf findet. Die beiden
verlieben sich: «Romeo and Juliet –
werewolf style», kommentierte das
«Wall Street Journal». Ein Buch mit
Kultpotenzial! Wir wünschen ihm,
um mit Carl Weissner zu schliessen:
«viele Opfer»! Florian Vetsch
CHARLOTTE GAINSBOURG: «IRM». Because
Music/Warner Music.
TOBY BARLOW: «Scharfe Zähne». Aus dem
Amerikanischen von Thomas Ballhausen
und Verena Bauer. Mit einem Vorwort
von Carl Weissner. Milena Verlag. Wien
2009. 362 Seiten. Fr. 39.90.
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