konflikt_in_koepfen - Lise-Meitner

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Autor: Eike Hebecker
Der Konflikt in unseren Köpfen
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Die weltweiten Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA sind einmütig und widersprüchlich zugleich: Entsetzen, Trauer und Betroffenheit
stehen Solidarität, Hilfsbereitschaft und Bündnistreue im Kampf gegen Terrorismus gegenüber. Hinzu tritt in den USA die öffentliche Inszenierung
von nationaler Geschlossenheit und dem Heldentum der Helfer, Helden, die in den kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen gebraucht
werden, vor allem wenn diese mit Bodentruppen geführt werden. Wie immer in Krisensituationen kommt dem Verhalten der Spitzenpolitiker und
den Analysen von Experten innerhalb der medialen Berichterstattung eine herausragende Bedeutung zu. Deren Einfluss auf den Alltag in Schule,
Beruf und Familie sowie für das gesellschaftliche Zusammenleben nimmt in dem Maße zu, wie die persönliche Betroffenheit durch die Ereignisse
und ihre Folgen wächst. Zwar ist der Wille der Politiker zur Demonstration von Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit verständlich und richtig.
Dennoch war in vielen Äußerungen ein behutsames und besonnenes Vorgehen zu vermissen. Die Gefahr, sich im Vokabular zu vergreifen und die
Situation unnötig eskalieren zu lassen, wie die Beispiele des US-Präsidenten George Bush und Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi zeigen,
ist groß.
So sprach US-Präsident Bush in einer Rede von den geplanten "Kreuzzügen" gegen den Terrorismus, was mehr als unüberlegt war. Denn es wurde
nicht nur als Kampfansage an die Terrororganisation Osama Bin Ladens, al-Qaida, deren Mitglieder sich selbst als Kämpfer gegen Kreuzzüge
bezeichnen, verstanden. Vielmehr bedeutete die Aussage eine Verunsicherung der Muslime in den USA sowie eine Irritation der potentiellen
Bündnispartner in islamischen Staaten, die auf den Begriff des Kreuzzugs – verständlicherweise - sehr sensibel reagieren. Daraufhin sah sich
Präsident Bush veranlasst, demonstrativ das Islamische Zentrum von Washington zu besuchen. Dort sprach er sich mit aller Schärfe gegen die
gewalttätigen Angriffe von Amerikanern auf Moslems aus und rief zur Toleranz auf. Auch in Deutschland konnte man verbale Taktlosigkeiten
vernehmen. Gerhard Schröder sprach im Zusammenhang mit den Attentaten von einem "Angriff auf die zivilisierte Welt". Auch diese Äußerung
war nicht ganz unproblematisch, zieht er doch eine Grenze zwischen zivilisierten und "unzivilisierten" Staaten und Kulturen. Damit verkennt der
Kanzler die Tatsache, dass sich die Kulturen schon längst gemischt haben, und zwar auch in der Bundesrepublik, wo sehr viele Muslime leben.
Deshalb musste auch Schröder unmittelbar auf die Ängste in den islamischen Gemeinden in Deutschland eingehen und traf sich demonstrativ mit
Vertretern aller Religionen und Glaubensgemeinschaften in Berlin.
Trotz der ersten Sensibilisierung für diese Problematik, "glänzte" der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit umstrittenen Äußerungen
zum Islam, Er tat dies ganz unverblümt und deutlich, so dass man in seinem Fall nicht mehr von Unachtsamkeit sondern Berechnung reden kann.
"Unsere Zivilisation ist dem Islam überlegen", sagte Berlusconi nach Angaben der Zeitung "La Stampa". Auch die Berichterstattungspraxis der
Medien ist problematisch. Großen Schaden haben etwa jene Fernsehbilder angerichtet, die jubelnde Palästinenser zeigten, die als Reaktion auf die
Terroranschläge auf der Straße tanzten. Das dadurch vermittelte Bild war einseitig und undifferenziert. Zu wenig wurde der Hintergrund, dass es
sich um radikale Gruppen der Hamas handelte, erläutert. Die Hamas befindet sich quasi im Kriegszustand mit Israel, einem Krieg, der u.a. mit USamerikanischen Waffen geführt wird. Wenn derartige Kontexte wegfallen, wird es für die Zuschauer unmöglich, sich eine differenzierte Meinung
zu bilden. Und auch jetzt, nach den Angriffen der USA auf Militärbasen in Afghanistan, besteht die Gefahr, die Fernsehbilder unkritisch zu
betrachten, da sie immer nur minimale Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen zeigen. Die Medienberichte über die amerikanischen und britischen
Angriffe speisen sich alle aus einem Pool zugelassener Bilder und Journalisten und werden ebenso instrumentalisiert wie die Sender, die das
vorbereitete Video mit Osama Bin Laden permanent abspielen.
Dass die Berichterstattung und freie Meinungsäußerung in einer solchen Krisensituation in den Augen der Öffentlichkeit und Politik besonderen
Maßstäben unterliegt, bekam auch der Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert zu spüren. Der schrieb in der Zeitschrift MAX: "Was haben der
amerikanische Präsident und der Terroristenführer Osama Bin Laden gemeinsam? Intolerante Denkstrukturen", und zog damit den Zorn der CDU
auf sich, die seinen Rücktritt forderte. So musste auch Wickert seine Äußerung vor dem Millionenpublikum der Tagesthemen zurücknehmen.
Ebenso wie aufgebrachte Islamisten nach den ersten Angriffen auf Afghanistan in Pakistan, Palästina und anderen Staaten gewaltsam
demonstrierten, waren auch die direkten Reaktionen auf die Terroranschläge in der so genanten zivilisierten Welt nicht nur durch Betroffenheit,
sondern auch durch Hass, Intoleranz und Gewalt geprägt. Amerikaner übten Selbstjustiz und attackieren Moslems bzw. Bürger, die sie wegen ihres
Aussehens für solche hielten. Britische Rassisten gingen gewaltsam gegen Moslems vor und gaben die Parole "Kill a muslim now" aus. Muslime in
Deutschland wurden telefonisch bedroht und auf offener Straße beschimpft. Ein Anschlag auf eine Moschee in München konnte nur knapp
verhindert werden.
Die Reaktionen auf die Ängste und Verunsicherung der muslimischen Bevölkerung sind ihrerseits von Widersprüchlichkeit geprägt. Überall wird
betont, dass nicht alle Moslems mit den Tätern sympathisieren, sondern die Mehrheit ebenso bestürzt ist, trauert und Hilfe anbietet. Doch eben
diese permanente Wiederholung einer Selbstverständlichkeit des alltäglichen Zusammenlebens wirkt hilflos und verweist auf die Vorurteile
innerhalb unserer westlichen Gesellschaft, in der das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen eben doch nicht selbstverständlich zu
sein scheint. Deutlich wird vor allem, dass jetzt Konfliktlinien zu Tage treten, die längst im alltäglichen Zusammenleben bestehen, denen man aber
angesichts der gegenwärtigen Eskalation nicht mehr ausweichen kann.
Sicher gibt es islamische Fundamentalisten in Deutschland, die wie in anderen Ländern offen oder heimlich mit den Attentätern sympathisieren.
Die Täter konnten ihre Verbrechen unerkannt und unbehelligt in Deutschland vorbereiten, unter anderem deshalb, weil sie ihren religiösen
Fanatismus nicht öffentlich machten. Religiöser Fundamentalismus ist jedoch keine Eigenart des Islam. Protestantische Theologen in den
Vereinigten Staaten haben zu Beginn des letzten Jahrhunderts die konsequente Durchsetzung der in der Schrift fixierten Glaubensgrundsätze für
alle gesellschaftlichen Bereiche zu ihrem Ziel erklärt und damit den Fundamentalismus begründet. Der Islam hat den Fundamentalismus daher nicht
aus sich heraus entwickelt, sondern aus der westlichen Welt importiert, nicht zuletzt als Reaktion auf die Einflüsse von westlichen Kultur und
Kolonialismus. Diese Abwehrrhetorik einer bedrohten islamischen Kultur dient fundamentalistischen Regimen, Glaubensgemeinschaften und
terroristischen Clans als Argument für die Instrumentalisierung und Pervertierung der islamischen Lehre. So argumentiert auch der Islamist Osama
Bin Laden, der seinen Terror u.a. als Befreiungskampf für die von Israel und den USA unterdrückten Palästinenser bezeichnet. Eine Legitimation
des Terrors, die erst jetzt und auch nur zögerlich von palästinensischen Politikern zurückgewiesen wird.
Die Auseinandersetzung innerhalb des Islam mit dem politischen und fundamentalistischen Islamismus stellt ein Problem dar. Obwohl in vielen
islamischen Staaten vor allem im Zuge des Kolonialismus Bürokratien und Demokratien westlichen Typs eingeführt wurden, herrscht hier ein
Demokratiedefizit vor. Funktionierende Demokratien mit Presse- und Meinungsfreiheit, Mehrparteiensystem und der durch Wahlen herbeigeführte
Wechsel der politischen Macht sind eine Seltenheit. Ein Prozess der Säkularisierung, der Trennung von Staat und Religion, hat nicht stattgefunden,
gilt er doch als unvereinbar mit der islamischen Lehre. Selbst in Staaten wie Ägypten, Pakistan und Saudi Arabien, die sich an der Koalition gegen
den Terror beteiligen, stellt der Islamismus eine Bedrohung der inneren Stabilität dar. Aus Furcht vor islamistischem Terror wird einerseits mit
harter Hand und undemokratische Mitteln regiert, andererseits werden den Islamisten Zugeständnisse gemacht und Freiräume gewährt, so dass der
fundamentalistische Einfluss der Religion auf die Gesellschaft zunimmt. Unter dem Einfluss des Islamismus leiden demnach vor allem die
Moslems in den betroffenen Staaten. Sie sind so gesehen immer die ersten Opfer von fundamentalistischem Terrors.
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des Textes stellen.
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4. erläutern Sie zentrale Unterschiede zwischen dem Islam und Islamismus. Recherchieren Sie dazu mit Hilfe der empfohlenen Links.
5. Erläutern Sie die These Samuel Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“. Wie stehen Sie zu seiner Position?
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Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien?
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