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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte,
ISSN 1864-2942
Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
Heft 64 – 2012
USA, China und die EU –
Systeme und ihre
Zukunftsfähigkeit
DuE64_ums.indd Ums1
30.10.12 09:09
Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,
Geographie, Kunst und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
HEFT 64–2012
»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg
herausgegeben.
DIREKTOR DER LANDESZENTRALE
Lothar Frick
REDAKTION
Jürgen Kalb, [email protected]
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, [email protected]
BEIRAT
Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH,
Stuttgart
Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz
Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt
Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar
Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und
Studienhaus Wiesneck
Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, DietrichBonhoeffer-Gymnasium Wertheim
Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische
Bildung
Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für
politische Bildung
Ruderteams der USA, Chinas, Deutschlands und Polens im Doppelzweier bei den Olympischen
Spielen in London im Jahre 2012.
© Rainer Jensen, picture alliance, 2012
ANSCHRIFT DER REDAKTION
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43;
Fax: 0711.16 40 99-77
SATZ
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit
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DRUCK
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH
89079 Ulm
Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr.
Preis der Einzelnummer: 3,– EUR
Jahresbezugspreis: 6,– EUR
Auflage 17.000
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die
Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte
übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für
Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.
THEMA IM FOLGEHEFT 65 (APRIL 2013)
Bürgerbeteiligung in Europa
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Inhalt
Inhalt
USA, China und die EU –
Systeme und ihre Zukunftsfähigkeit
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
SYSTEME IM VERGLEICH
1. Weltpolitische Machtverschiebungen: Wie zukunftsfähig sind die Systeme der
USA, Chinas und der EU? Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2. Ein empirischer Vergleich der Kulturen von China, den USA und der EU Dieter Fuchs I
Edeltraud Roller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA
3. Das politische System der USA – Strukturfragen und Zukunftsfähigkeit Harald Barrios
..
4. Wie zukunftsfähig sind die USA? Wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen
Georg Weinmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
1
26
DIE VOLKSREPUBLIK CHINA
5. Chinas politisches System: Ein Modell mit Zukunft? Björn Alpermann . . . . . . . . . . . . . .
36
6. Die ökonomisch-ökologische Zukunftsfähigkeit Chinas Doris Fischer . . . . . . . . . . . . . . .
46
DIE EUROPÄISCHE UNION
7. EU-Mehrebenensystem im Stresstest: Braucht die EU einen »Legitimitätspakt«?
Martin Grosse Hüttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
8. Die Zukunftsfähigkeit der EU: ökonomische und ökologische Herausforderungen
Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
»Europa in der Schule« – Perspektiven eines modernen Europaunterrichts Jürgen Kalb
D&E
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....
78
D&E Autoreninnen und Autoren – Heft 64 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
Juniorteam Europa der LpB Baden-Württemberg, Außenstelle Heidelberg Wolfgang Berger .
80
Heft 64 · 2012
Inhalt
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2
Vorwort
des Herausgebers
Geleitwort
des Ministeriums
Die Frage nach der »Zukunftsfähigkeit« von Systemen tauchte in
Deutschland zum ersten Mal in einer Studie des Wuppertaler Instituts mit dem Titel »Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu
einer global nachhaltigen Entwicklung« in der öffentlichen Diskussion auf. Drei Jahre zuvor hatte bereits in Rio de Janeiro in Brasilien eine Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und
Entwicklung den Begriff der »Nachhaltigkeit« (engl. »sustainable«
bzw. »sustainability«) zum normativen Ziel einer weltpolitischen
Entwicklung erklärt, die sowohl wirtschaftliche als auch soziale
und ökologische Gesichtspunkte als Überlebensnotwendigkeit
des Planeten Erde formulierte.
Doch wem gehört »die Zukunft«? Wer wird sie vermutlich in besonderem Maße prägen? Unterschiedliche Zukunftsszenarien
prophezeien den Aufstieg der Volksrepublik China. Schon ist die
Rede vom 21. Jahrhundert als dem »Jahrhundert der Chinesen«,
vielleicht noch dem der Inder. Wahrscheinlich, so wird vermutet,
könnten noch die Vereinigten Staaten von Amerika mithalten.
Aber Europa? Wenn auch die Europäische Union im Jahre 2012 den
Friedensnobelpreis erhalten hat, überwiegen aktuell doch deutlich die skeptischen Stimmen. Die Euro- bzw. Staatschuldenkrise
gilt vielen als Beleg dafür, dass der derzeitige Weg der europäischen Integration entweder bereits zu weit ging oder aber nicht
konsequent genug eingeschlagen wurde. Fordern die einen (endlich) eine politische Union, um im globalen Mächtekonzert mitzuspielen, möchten andere lieber wieder zentrale Bereiche der
Vergemeinschaftung in die nationale Verantwortung zurückgeben. Dazu tritt noch der demographische Faktor: die Überalterung in Europa.
Chinas derzeitiger »Aufstieg« beruht vor allem auf seiner Wirtschafts- und Handelsmacht. Die »Werkbank der Welt« löst in
Amerika und in Europa Besorgnis aus. Wird in Zukunft noch mehr
industrielle Produktion nach Fernost verlagert? Droht gar der
politisch-autoritäre Weg als »Modell« für andere Staaten?
Um die Frage der »Zukunftsfähigkeit« zu beantworten, bedarf es
prinzipieller Überlegungen, die letztlich auch Annahmen zur Stabilität von Großräumen betreffen: Die aktuelle Ausgabe von D&E
hat deshalb in sieben Beiträgen Fragen nach der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Stabilität
und Entwicklung in den Großräumen USA, China und Europa näher analysiert und mit kontroversem Material dokumentiert.
Das internationale Machtgefüge unterliegt einem rasanten
Wandlungsprozess. Innerhalb nur weniger Jahre haben sich die
Quantität und Qualität der internationalen Akteure, die Muster
ihrer Beziehungen und die Regeln ihres Verhaltens tiefgreifender
verändert als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Das internationale System ist mehr denn je durch widersprüchliche Entwicklungstendenzen gekennzeichnet. Dazu zählen Krieg und Frieden,
Demokratisierung und Autoritarismus, Globalisierung und
Fragmentierung, wirtschaftlicher Reichtum und bittere Armut.
Die Welt hat sich in zunehmendem Maß in eine Wirtschafts- und
Gesellschaftswelt (Czempiel) verwandelt, dennoch spielt die
Staatenwelt unverändert eine immens wichtige Rolle im internationalen System. Fast 200 Staaten – viermal so viel wie zur Zeit der
Gründung der Vereinten Nationen 1945 – gibt es heute auf dem
Globus. Wenngleich das Souveränitätsgebot zwar eine formale
Gleichheit zwischen den einzelnen Staaten festschreibt, so zeigt
sich im internationalen System eine deutliche Vorherrschaft der
USA. Kaum ein anderes Land verfügt über Machtressourcen wie
die USA, sodass Entwicklungen gegen die USA kaum realisierbar
sind. Zugleich ist das internationale System durch eine zunehmende Demokratisierung von politischen Systemen gekennzeichnet. Rund Dreiviertel aller Staaten der Welt haben inzwischen die
Staatsform der Demokratie eingeführt. Zwar steht diese Staatsform in vielen Ländern zunächst nur auf dem Papier, dennoch sind
dies hoffnungsvolle Entwicklungen, da Demokratien tendenziell
keine Kriege gegeneinander führen. Eine Ausbreitung des Modells der Demokratie könnte somit zu einer weiteren Stabilisierung des internationalen Systems beitragen. Erfreulicher weise
wächst zudem die Erkenntnis, dass die globalen Herausforderungen erfolgreich nur global bewältigt werden können.
Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Systemen kann nur vor
dem Hintergrund der Entwicklungen der internationalen Politik
beleuchtet werden. Dies leistet die vorliegende Ausgabe von
»Deutschland & Europa« in besonderem Maße, indem sie den
Blick auf die Großräume USA, China und Europa richtet und in differenzierter Form deren Geschichte und Gegenwart in den Blick
nimmt und unterschiedliche Zukunftsprognosen zur Diskussion
stellt. Damit ist es dem Autorenteam gelungen, für die Behandlung des Themas in Schule und Unterricht eine hervorragende
Grundlage zu schaffen.
Lothar Frick
Direktor
der Landeszentrale
für politische Bildung
in Baden-Württemberg
Vorwort & Geleit wort
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Jürgen Kalb, LpB,
Chefredakteur von
»Deutschland & Europa«
Renzo Costantino
Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport
in Baden-Württemberg
D&E
Heft 64 · 2012
30.10.12 12:01
SYSTEME IM VERGLEICH
1. Weltpolitische Machtverschiebungen:
Wie zukunftsfähig sind die Systeme der
USA, Chinas und der EU?
JÜRGEN KALB
D
ie Machtverhältnisse in der Weltpolitik und -wirtschaft
haben sich ohne Zweifel seit dem Ende des 20. Jahrhunderts nachhaltig verschoben. Zukunftsszenarien (vgl.
| Abb. 1 |) gehen davon aus, dass die Dominanz westlicher
Staaten weiter schwinden wird. Neue, aufstrebende Märkte
holen rasant auf, während gleichzeitig immer mehr Zweifel
aufkommen, ob das »alte Europa« noch genügend Wachstumskraft und Innovationspotenzial aufbringen kann, um im globalen Wettbewerb langfristig zu bestehen. Darüber kann
auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union im Jahre 2012 nur wenig hinweg täuschen. Einer
Überalterung, wenn nicht gar »Vergreisung« in Europa stehen
enorme Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstumsprozesse
in Asien gegenüber. Angetrieben von einem Humankapital
von rund 1,3 Milliarden Menschen sowie spektakulären technologischen Fortschritten scheint derzeit vielen der Aufstieg
der Volksrepublik China unaufhaltsam, auch wenn speziell
China sich ebenfalls – aufgrund seiner Ein-Kind-Politik – demographischen Herausforderungen gegenüber sieht. Der
deutschstämmige ehemalige us-amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat darüber 2011 mit Professoren aus
China, Indien und den USA (David Daokui Li, Fareed Zakaria
und Niall Ferguson) öffentlich debattiert. Der Titel der Publikation der vier Professoren lautet dadurch etwas reißerisch:
»Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?«. Aus europäischer Sicht wird zumindest zunehmend deutlicher: den aktuellen ökonomischen, ökologischen, demographischen sowie
politisch-institutionellen Herausforderungen können sich nur
noch handlungsstarke Großräume mit Aussicht auf Erfolg
stellen. Ein nostalgisches Zurück zu europäischen Nationalstaaten, wenn sie auch noch im 20. Jahrhundert weltpolitisch
prägend waren, kann kaum noch eine zukunftsfähige Alternative darstellen. Offen bleibt, ob ein Vereintes Europa, seine
über Jahrhunderte tradierte »Kleinstaaterei« überhaupt
überwinden will und kann und wie diese Vereinigung aussehen sollte, um den Vereinigten Staaten von Amerika sowie der
Volksrepublik China global erfolgreich auf Augenhöhe Konkurrenz zu machen. Hierbei spielen neben der ökonomischen
Wettbewerbsfähigkeit der Großräume mit Sicherheit auch
deren politische-soziale Stabilität sowie ihre Fähigkeit eine
Rolle, sich nachhaltig den ökologischen Herausforderungen
zeitnah zu stellen. »Wachstum« bedeutet in diesem Sinne weit
mehr als die numerisch messbare Zunahme des jeweiligen
Bruttoinlandsprodukts. Es geht dabei vermutlich sogar vornehmlich um die politische und gesellschaftliche Stabilität
der Großräume: derzeit stehen freiheitlich-demokratische
Modelle autoritären gegenüber, sozial ausgleichende Modelle
konkurrieren mit Wachstumsmodellen, die zunehmende soziale Ungleichheit nicht nur zulassen, sondern auch befördern.
Reine Wachstumsorientierungen opponieren mit Modellen
eines ökologisch nachhaltigen, qualitativen Wachstums. Welches Modell sich global durchsetzen kann und wird, scheint
im Moment längst noch nicht entschieden.
D&E
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Heft 64 · 2012
Weltpolitische Machtverschiebungen zugunsten Chinas und
Indiens prognostiziert
Anteile an der globalen Machtverteilung nach dem International
Futures Model
70
60
Russland
Indien
China
EU
USA
50
40
30
20
3
10
0
2005
2025
Abb. 1 »Weltpolitische Machtverschiebungen«: Anteil an der globalen Machtverteilung nach einem Index des »International Futures Model«
© International Futures 2009, www.ifs.du.edu
Weltpolitische Verschiebungen
Insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008/09 und
dem massiven Einbruch der Konjunktur in den USA und in Europa
stellte sich in den öffentlichen Diskursen immer wieder die Frage
nach der Zukunftsfähigkeit von Systemen und Großräumen. Zur
Krisenbewältigung hat sich institutionell längst das Gewicht von
den »G 7-« bzw. »G 8-Staaten« (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada sowie Russische Föderation) auf Gipfeltreffen der »G 20-Staaten« unter Einschluss von
China, Indien, Brasilien u. a. verlagert. Es setzte sich zunehmend
die Einsicht durch, dass globale Probleme nicht mehr ausschließlich durch den »OECD-Club der Reichen« (Globale Trends 2010) zu
lösen seien, auch weil diese »westlichen« Staaten nur eine Minderheit der Weltbevölkerung repräsentierten und ihnen schon
deshalb die Legitimation, für den ganzen Globus zu sprechen,
fehle. Die von Ulrich Beck beschriebene »Weltrisikogesellschaft«
bedürfe, so die Erkenntnis von immer mehr politischen und ökonomischen Entscheidungsträgern, neuer »Weltordnungskonzepte«, die sich nicht nur auf sicherheitspolitische Fragen konzentrieren, sondern auch ökonomische, soziale, ökologische und
politische Fragestellungen mit umfassen. Die »Vereinten Nationen« scheinen allerdings derzeit weder über den Sicherheitsrat
Wie zukunf tsfähig sind die S ys teme der USA , China s und der EU?
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JÜRGEN KALB
Die größten Exporteure der Welt
Die größten Importeure der Welt
Ausfuhren im Jahr 2011 in Milliarden Dollar
China
USA
Deutschland
Japan
Niederlande
Frankreich
Südkorea
Italien
Russland
Belgien
Großbritannien
Hongkong*
Kanada
Singapur*
Saudi-Arabien**
Mexiko
Taiwan
Spanien
Indien
Verein. Arab. Emirate**
Australien
Brasilien
Schweiz
Thailand
Malaysia
4914
© Globus
Einfuhren im Jahr 2011 in Milliarden Dollar
1.899
1.481
1.474
823
660
597
555
523
522
476
473
456
452
410
365
350
308
297
297
285
271
256
235
229
227
*einschl. Transitwaren **geschätzt
Abb. 2 Die größten Exporteure der Welt
Quelle: WTO
© Globus Infografik, 2012
noch über die Generalversammlung ein dafür geeignetes Problemlösungskonzept entwickeln bzw. gar durchsetzen zu können.
Unilaterale Lösungen, wie sie noch nach den Terroranschlägen in
den USA ab 2001 angedacht waren, scheinen hierbei ebenso wenig Erfolg zu versprechen. Bevor sich weitere »global governance«Strukturen herausbilden, kann noch viel Zeit vergehen. Es lohnt
deshalb, so das Konzept dieser D&E-Ausgabe, ein Blick auf die
mittelfristig vermutlich erscheinenden Großräume: die Vereinigten Staaten von Amerika, die Volksrepublik China sowie als möglicher dritter Großraum: Europa bzw. dessen größte multilaterale
Organisation – die »Europäische Union«.
4
Problemstellungen
Betrachtet man nur die Indikatoren Fläche und Bevölkerung
(| Abb. 3 |), ist die Europäische Union im Vergleich zu China längst
im Hintertreffen. Andererseits ist die EU derzeit noch im Bereich
des Bruttoinlandsprodukts durch ihre Osterweiterungen in den
Jahren 2004 und 2007 der mächtigste Wirtschaftsraum der Erde.
Nach wie vor exportieren und importieren die EU-Staaten insgesamt immer noch wesentlich mehr als die USA und China
(| Abb. 2 |, | Abb. 4 |). Was den Welthandel betrifft, hat zwar
Deutschland allein seinen »Titel« des »Exportweltmeisters« an die
Abb. 4 »Die EU in der Welt«
USA
China
Deutschland
Japan
Frankreich
Großbritannien
Niederlande
Italien
Südkorea
Hongkong*
Kanada
Belgien
Indien
Singapur*
Spanien
Mexiko
Russland
Taiwan
Australien
Türkei
Brasilien
Thailand
Schweiz
Polen
Verein. Arab.
Emirate**
2.265
1.743
1.254
854
715
636
597
557
524
511
462
461
451
366
362
361
323
281
244
241
237
228
208
208
205
Quelle: WTO
4923
© Globus
Abb. 3 Die größten Importeure der Welt
**geschätzt
© Globus Infografik, 2012
Volksrepublik China verloren, ganz Europa bleibt hier dennoch
auf absehbare Zeit führend. Andererseits weisen die jährlichen
Wachstumsraten in der Volksrepublik, sollten sie sich tatsächlich
in den nächsten Jahren weiter fortsetzen, einen Weg, der den asiatischen Raum ingesamt und speziell China auf Dauer zur Wachstumsregion Nr. 1 führen wird. Bereits jetzt ist China nach den USA
und Japan zur drittgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen.
Schätzungen der us-amerikanischen Investment-Bank GoldmanSachs zufolge, wird China die USA etwa um 2029 bei der Höhe des
jährlichen BIP überholen.
Nicht zu Unrecht sollte auch deshalb heute bereits von einer
»multipolaren Welt« gesprochen werden. Die USA, die EU und
China erscheinen derzeit als die führenden »Kraftzentren« der
Weltwirtschaft (| Abb. 5 |).
Um die Zukunftsfähigkeit der ausgewählten drei Großräume zu
beschreiben und zu beurteilen, erscheint es dabei als sinnvoll, dafür zunächst Beurteilungskriterien zu formulieren. Diese Ausgabe
von D&E geht dabei davon aus, dass insbesondere die »Effektivität« sowie die »Legitimität« der Systeme und zwar in den Subsystemen (1) Politik (Partizipation/Entscheidungen), (2) Gesellschaft (Demographie/soziale Gerechtigkeit/Normen bzw.
Einstellungen), (3) Ökonomie und (4) Ökologie/Nachhaltigkeit
als Leitkriterien eines Vergleichs von herausragender Bedeutung
sind.
Das (1) »Effektivitäts«-Kriterium meint zunächst die eingesetzten (1 a) Kosten-Nutzen-Relationen der eingesetzten Mittel im
internationalen Konkurrenzkampf um die
globalen Märkte. So wird z. B. vom Institut
der deutschen Wirtschaft in Köln (IWD)
gerne betont, dass sich die (Brutto-)Arbeitskosten im verarbeitenden Gewerbe in
Deutschland derzeit (2011) auf einem Niveau
von 34,29 Euro, in den USA bei 22,95 und in
China bei 2,25 Euro (2009) bewegten. Ähnliche Berechnungen könnten auch für die Faktoren Kapital und »Boden« angestellt werden. Hier gerieten die westlichen Großräume
sehr schnell ins Hintertreffen, es sei denn, im
Zuge der Modernisierung Chinas erhöhten
sich die Arbeitskosten, wozu neben Löhnen,
Sozialleistungen auch die Arbeitsbedingungen zählen, drastisch.
Zu berücksichtigen sind aber zudem Faktoren wie die (1 b) Ausbildung und Qualifikation der eingesetzten Arbeitskräfte sowie
die (1 c) infrastrukturellen Voraussetzungen und Leistungen im jeweiligen Großraum.
© Zahlenbilder, Bergmoser + H.ller Verlag
Wie zukunf tsfähig sind die S ys teme der USA , China s und der EU?
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*einschl. Transitwaren
D&E
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Dazu gehören z. B. Verkehrsanbindung, Transport, Strom,
Wasser, Kommunikation u. a.
Übersehen wird gerne auch,
dass ein vernachlässigter
(1 d) Umgang mit Ressourcen und der Umwelt (Aspekt
der Nachhaltigkeit) schon
mittelfristig zu einem enormen, die Effizienz beeinträchtigenden, wenn nicht
Anteil an der globalen
Anteil am
Anteil an der
gar die Produktion am StandWirtschaftsleistung*
weltweiten
Weltbevölkerung
ort insgesamt gefährdenden
in %
Export in %
in %
Belastung werden kann.
USA
20,4
10,0
4,6
Dazu treten Faktoren, die mit
der Verwaltung und BürokraEuro-Zone
4,9
15,1
28,3
tie zu tun haben, sogenannChina
12,6
8,5
19,9
ten (1 e) »Throughput- oder
6,0
4,3
1,9
Japan
Entscheidungsverfahren«.
Insbesondere in autoritären
Indien
5,1
1,7
17,8
Staaten, so lautet zunächst
© Globus 4162
*Bruttoinlandsprodukt
Stand 2009
Quelle: IWF
die Vermutung, dauerten
Entscheidungsprozesse weAbb. 5 Die Kraftzentren der Weltwirtschaft
© dpa, Globus-Infografik 2010
niger lang und seien viel effektiver, vorausgesetzt allerweiterung durch Erfolg im Leben und den Erwerb von Reichtum«
dings, dass nicht politische Rivalitäten oder Korruption diese
bekennen. Diese Werte sind im Übrigen signifikant höher als in
Verfahren erschwerten oder gar unmöglich machten.
den USA oder gar Deutschland. Die internationalen DatenerheBeim Kriterium des Effektivität geht es dabei insgesamt um die
bungen folgen dabei in Europa übrigens noch dem nationalstaat»Problemlösungskompetenz bzw. -effektivität«. Mathematisch
lichen Paradigma. Die These, es gebe gemeinsame »europäische
leicht messbare Indikatoren müssten hier in einem engen ZusamWerte« ist dabei nicht unangreifbar. Die Datensituation lässt aber
menhang mit den schwieriger zu erfassenden Indices gesehen
keine anderen Schlüsse zu.
werden. Ab- und Zuwanderungen von Firmen, von Kapital sowie
Überraschend scheint auch, dass es in China ein noch stärkeres
von Arbeitskräften könnten hier als erste Indizien gelten.
Bekenntnis zur »Einkommensungleichheit als Leistungsanreiz«
Als weiteres Bewertungskriterium im Systemvergleich sollte aber
gibt als in den beiden anderen Großräumen. Lediglich der niedere
unbedingt auch die (2) Legitimtät der Systeme mit berücksichchinesische Wert beim »Vertrauen in das unbekannte Andere«
tigt werden, wobei die Legitimierung zunächst durchaus auch
weist hier auf vormoderne Normen hin.
durch materielle Güter oder Möglichkeiten des soziale Aufstieges
Die USA erweisen sich in diesem Vergleich erwartungsgemäß als
geschehen kann. Eine »demokratische Legitimierung«, wie sie im
das Land mit dem größten Bekenntnis zur Eigen- statt zur StaatsEinzelnen immer auch gestaltet sein mag, so die hier vertretene
verantwortung sowie ganz in ihrer Tradition zur Religiosität. In
These, stellt auf Dauer zwar mehr Loyalität und Stabilität her, ist
Deutschland bzw. Europa dominiert dagegen im Systemvergleich
in ihrer Gültigkeit allerdings keineswegs unumstritten.
das Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat und der Unterstützung der
Dabei können bestimmte Formen der (2 a) Partizipazion (freie
Armen, was hier wiederum ähnlich hohe Werte erreicht wie in der
Wahlen, Bürgerbeteiligung) zwar kurzfristig durchaus die Kossozialistischen Volksrepublik China.
ten (vgl. Kosten-Nutzen-Relationen) einer Modernisierung deutZum Wert der »Demokratie« bekennen sich im Übrigen die allerlich erhöhen, mittelfristig müssten sie die Akzeptanz und Stabilimeisten in allen Großräumen, wenn auch das Ergebnis in China
tät sichern. Der unerwartete Zusammenbruch der UdSSR könnte
deutliche Fragezeichen hinterlassen muss. Die Mehrheit der Chihierfür als Beispiel angeführt werden.
nesen ist nämlich der Meinung, die Demokratie sei in ihrem Land
Ähnlich verhält es sich mit Fragen der (2 b) sozialen Absicherung
bereits Realität. Dies korrespondiert denn auch mit dem Beund Gerechtigkeit, wozu man z. B. auch die Arbeitsbedingungen
kenntnis fast der Hälfte der Chinesen zur Aussage, dass es im
und die Möglichkeiten zur sozialen Mobilität rechnen sollte. ForFalle eines Scheiterns einer Regierung die Möglichkeit einer Milimen des Protestes, vor allem wenn dieser gewaltsam verläuft,
tärherrschaft geben müsse. Hier erscheinen demokratische
könnten ein System schnell insgesamt in Frage stellen. Die Frage
Werte deutlich weniger nachhaltig internalisiert wie auch die spenach der Legitimierung stellt also immer auch die Frage nach der
ziellen Fragen zur Frauenemanzipation. Auch hier erscheint China
Gültigkeit und Akzeptanz der vorherrschenden Werte in einem
deutlich als vormodern. Roller und Fuchs kommen insgesamt zu
System.
dem Ergebnis, dass das Streben nach »harter Macht« aus ganz unterschiedlichen Kulturen entstehen könne, sei es nun die chinesiDie politischen Kulturen der drei Großräume
sche Tradition des Konfuzianismus oder des Maoismus oder die
us-amerikanische Tradition der protestantischen Sekten. Offen
Edeltraud Roller und Dieter Fuchs arbeiten in ihrem Beitrag »Ein
bleiben müsse die Frage, welche Kultur langfristig erfolgreicher
empirischer Vergleich der Kulturen von China den USA und der EU« in
sein werde.
dieser Ausgabe von D&E deshalb zunächst heraus, welche NorInwieweit »europäische Werte« konkurrenzfähig sein können, ist
men und grundlegenden Wertorientierungen sich in aufwändizudem besonders schwer zu beantworten.
gen internationalen Befragungen im Rahmen des »World Value
Survey« (vgl. auch: www.worldvaluessurvey.org) in den untersuchten
Großräumen als stabil erwiesen haben.
Ein erstaunliches Ergebnis ist dabei, wie stark sich die Befragten
in der Volksrepublik China mit ihrem Land identifizieren, aber
auch zu einem Bekenntnis zu harter Arbeit und einer »Selbster-
Die Kraftzentren der Weltwirtschaft
D&E
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5
Wie zukunf tsfähig sind die S ys teme der USA , China s und der EU?
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JÜRGEN KALB
6
Die Zukunftsfähigkeit der Volksrepublik China
Es folgen in der aktuellen D&E-Ausgabe
schließlich Einzeluntersuchungen, jeweils
des politisch-gesellschaftlichen sowie des
ökonomisch-ökologischen Subsystems.
Björn Alpermann beschreibt in seinem Beitrag »Chinas politisches System: Modell mit
Zukunft?« die Besonderheiten politischer Partizipation und politischer Entscheidungsfindung in der Volksrepublik. Die autoritäre
Herrschaft der kommunistischen Partei und
ihres Repressionsapparats scheinen derzeit
gefestigt, ihre Legitimierung durch Propaganda- und Überzeugungsarbeit stärker als
vor 20 Jahren, als es nicht nur auf dem »Platz
des Himmlischen Friedens« in Beijing zu Aufständen kam. Alternativen wurden damals
und seither bereits im Keim erstickt. Zudem
scheint eine Angst vor Chaos und BürgerAbb. 6 »Im Sog des Kommunismus: Haste mal nen Euro ...«
© Klaus Stuttmann, 1.7.2011
krieg in China eine lange Tradition zu besitzen. Die KPCh werde nicht müde, diese »Gederstand gescheiterte Transrapid fährt seit Jahren in der chinesifahren« zu beschwören.
schen Megagroßstadt Shanghai, um nur ein in Deutschland sehr
Und trotzdem zeigten sich auch in China »Dysfunktionalitäten«
beliebtes Beispiel für die wirtschaftliche Dynamik des Infrastrukund »Pathologien« (Alpermann). Hier sei etwa an die krassen und
turausbaus in China zu nennen. Gleichzeitig investieren chinesisich ausweitenden regionalen und sozialen Gegensätze in der
sche Unternehmen in europäischen und us-amerikanischen FirVolksrepublik erinnert. Auf Dauer wird sich auch zeigen müssen,
men, speziell in technologisch anspruchsvollen Branchen wie z. B.
ob die in der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong bisdem des baden-württembergischen Pumpenherstellers »Putzher noch geduldeten politischen Freiheiten nicht auch auf das
meister«.
ganze »Reich der Mitte« ausstrahlen werden. Derzeit versucht die
Allerdings wird die innere ökonomische Entwicklung der »soziachinesischen Partei- und Staatsführung jegliche freie Meinungslistischen Marktwirtschaft« Chinas nicht unwesentlich davon abund Willensbildung zu kanalisieren, selbst das Internet wird in
hängen, ob und wie es ihr gelingen kann, die sich derzeit verChina zensiert (| Abb. 7 |). Wie erfolgreich solch eine Repression
auf Dauer gelingen kann, wird dabei sicherlich vor allem von der
schärfenden internen sozialen und regionalen Konflikte in den
ökonomischen Dynamik der Volksrepublik abhängen.
Griff zu bekommen. Der weltweit erhobene Gini-Koeffizient ordDoris Fischer geht in ihrem Beitrag »Die ökonomisch-ökologische
net China bereits – auf gleicher Stufe wie die USA – als ein Land
Zukunftsfähigkeit Chinas« speziell dieser Frage nach. Der Erfolg des
mit enormen sozialen Unterschieden ein. Längst hört man in der
chinesischen Wirtschaftsaufschwungs ergebe sich nicht nur
internationalen Presse von Streiks und Arbeitsniederlegungen
durch Chinas fast grenzenloses Reservoir an gut ausgebildeten
wegen inhumaner Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken,
und aufstiegswilligen Arbeitskräften, sondern zunehmend auch
vor allem dann übrigens, wenn dort technologisch anspruchsaufgrund eigener wissenschaftlicher und technischer Höchstleisvolle Produkte großer amerikanischer Computerhersteller für
tungen, wenn dies auch der derzeit noch häufig zu beobachteten
den Weltmarkt gefertigt werden. Manche Textilproduzenten
»Raubkopierpraxis« in der chinesischen Industrie widersprechen
scheinen zudem bereits wieder aus China abgewandert zu sein,
mag. China ist zweifelsohne bereits heute eine wirtschaftliche
um an noch billigeren Standorten wie z. B. Bangladesh, Textilien
Großmacht, zugleich Nuklearmacht und ständiges Mitglied im
fertigen zu lassen.
UN-Sicherheitsrat. Mit seinen enormen HandelsbilanzüberschüsSeit der Olympiade im Jahre 2008 in Beijing wurde einer bereiten
sen und Devisenreserven kann China bereits heute als größter
internationalen Öffentlichkeit außerdem deutlich, dass der bisGläubiger der USA (| Abb. 7 |) sowie mancher europäischen Naher betriebene Raubbau an den Ressourcen in China im Zuge des
tion selbstbewusst auftreten. Insbesondere bei Entwicklungslänrasanten wirtschaftlichen Aufstiegs bereits kurzfristig zu ökolodern fungiert China als Kreditgeber und Handelspartner. Sein
gisch destruktiven Folgeerscheinungen führt. Wasser-, Luft- und
Rohstoffhunger scheint unersättlich, d. h. deutlich auf eine mitBodenverschmutzung liegen in vielen Teilen des chinesischen
tel- bis langfristige Strategie ausgerichtet. Zudem tritt die VolksReichs bereits heute weit über den in den USA oder der EU akzeprepublik im Unterschied zu Maos Zeiten international als Partner
tieren Werten. Zukunftsszenarien wie z. B. der Stern-Report aus
und nicht mehr als »antiimperialistische Avantgarde der Blockdem Jahre 2007 prognostizieren bereits mittelfristig für China
freienbewegung« auf (Nuscheler/Messner, in: Globale Trends
ökologisch bedingte Wachstumsverluste. Hohe Wachstumsraten
2010).
des BIP bilden im Moment immer noch die größte LegitimationsDie häufig als »Werkbank der Welt« titulierte Großmacht hat ihre
basis für die chinesische Partei- und Staatsführung. Wenn auch
Anteile an den Weltexporten | Abb. 2 |) seit seiner Öffnung zum
China im Vergleich zu den USA und der EU die WeltwirtschaftsWeltmarkt geradezu exponential gesteigert. Seit zwei Jahren hat
krise relativ unbeschadet verkraften hat, so zeigten doch die
sie Deutschland den Titel des »Exportweltmeisters« streitig genachlassenden Wachstumsraten, dass sich die latenten Konfliktmacht. Die USA und Japan verloren dagegen prozentuale Anteile.
potenziale in der chinesischen Gesellschaft durchaus explosiv
Dazu kommt die Attraktivität des chinesischen Binnenmarktes
entladen könnten.
für ausländische Direktinvestoren, nicht nur wegen billiger und
Deshalb wird beispielsweise vom Parteitag der KPCh im Novemwilliger Arbeitskräfte, sondern auch wegen einer in vielen Fällen
ber 2012, bei dem die gesamte Partei- und Staatsspitze neu aufraschen und effektiven Entscheidungsstruktur (»Troughout-Entgestellt wird, erwartet, dass neue Investitionsprogramme, nicht
scheidungen«). Insbesondere der Ausbau und die Modernisierung
nur in die Industrie, sondern auch in den Konsum der chinesider Infrastruktur scheinen weit unkomplizierter zu geschehen als
schen Bevölkerung fließen. Noch immer ist der chinesische Wirtin anderen Weltregionen. Der in Deutschland an politischem Wischaftsaufschwung, der wesentlich vom Export der »Werkbank
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der Welt« lebt, erkauft durch künstlich niedrig gehaltene Löhne und
nach westlichen Maßstäben inhumaLänder mit eingeschränktem Internetzugang
nen Arbeitsbedingungen. Die in der
kommunistischen Ideologie heroiLänder, deren Umgang
sierten Lohnarbeiter und Lohnarbeimit dem Internet von
Russland
„Reporter ohne Grenzen“
terinnen partizipieren nach wie vor
kritisch beobachtet wird
nur zu einem sehr geringen Anteil am
Weißrussland
Aufschwung. Gleichzeitig leidet das
Kasachstan
Frankreich
Länder mit Zensur,
Gros der Bevölkerung in den Städten
Usbekistan
Netz-Sperren, OnlineTürkei
Nordkorea
an den nach westlichen Maßstäben
Propaganda oder NachSyrien Iran
China
Tunesien
Südkorea
verfolgung
von
Bloggern
unzumutbaren Umweltbedingungen.
Ägypten SaudiSpannend bleibt, ob sich im Zuge des
Indien
Birma
Arabien
Kuba
Wirtschaftsaufschwungs sowie der
Eritrea
Vietnam
seit Jahren anhaltenden BildungsofVereinigte
fensive zunehmend eine starke MitSri
Arabische
Malaysia
Lanka
telschicht bilden und artikulieren
Emirate
kann, deren Partizipationsansprüche
Turkmenistan Thailand
sich auf Dauer weder ökonomisch
Bahrain
noch politisch zurückweisen lassen.
Auch international spielt China auf
Australien
4898 © Globus Quelle: Reporter ohne Grenzen Stand 2012
den internationalen Umwelt- und Klimagipfeln – zusammen mit den USA
Abb. 7 Die Feinde des Internets
© Globus Infografik, 2012
– nach wie vor eine Bremserrolle.
Noch ist nicht sicher, ob sich die chials früher mit dem Schwerpunkt auf den ferner Osten und den Panesische Führung bei den Verhandlungen über ein Kyoto-Nachzifik. Die Konflikte im Nahen Osten (Israel/ Palästina/ Syrien/Iran,
folgeabkommen zur CO2-Reduzierung auch weiterhin verweigern
wird. Verbal wird neuerdings zumindest stark betont, dass China
u. a.) zeigen jedoch , dass auch die USA nicht alle globalen Konbereits starke eigene Anstrengungen zur CO2-Reduktion und zu
flikte lösen können. Andererseits wird aber auch deutlich, dass in
einer Green Economy unternommen habe.
diesem konfliktträchtigen Raum ohne die USA die Probleme erst
Scheint Chinas Entwicklung insgesamt unter dem Gesichtspunkt
recht nicht zu lösen sind.
einer – zumindest vordergründigen – Effektivität durchaus atDie Terrorbekämpfung in Folge von »9/111« hatte Amerika außentraktiv, z. B. auch für Entwicklungsländer, die in dieser sogenannpolitisch über Jahre hinweg zunächst geeint, später, als die
ten »sozialistischen Marktwirtschaft«, gepaart mit einer autokramenschlichen und finanziellen Kosten für die öffentlichen Haustischen Herrschaftsform, gar ein Modell sehen könnten, so muss
halte deutlich wurden, aber dann auch wieder entzweit.
doch bezweifelt werden, ob in einer sich modernisierenden GeIm aktuellen Präsidentschaftswahlkampf Ende 2012 treten sich
sellschaft, die sich in riesigen Schritten von einer Agrargeselldie beiden Lager in den USA in aller Deutlichkeit gegenüber. Haschaft zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft wandelt,
rald Barrios beschreibt in seinem Beitrag: »Das politische System
auf Dauer eine derartige autokratische Herrschaft sich halten
der USA – Strukturfragen und Zukunftsfähigkeit« das Aufeinanderkann. Ein Zusammenbruch ähnlich der der Sowjetunion scheint
treffen eines religiös motivierten, stark auf die Eigen- und Marktnicht ausgeschlossen. Ähnlich wie in der UdSSR wäre solch eine
kräfte vertrauenden republikanischen Lagers unter dem KandiEntwicklung aber sicher auch mit regionalen Konflikten im Vieldaten Mitt Romney auf das mit dem ersten afroamerikanischen
völkerstaat China verbunden.
Präsidenten Barack Obama verbundene demokratische Lager,
Durch den intensiven Handel mit Europa und den USA scheinen
das – nach europäischen Maßstäben zaghaft – z. B. die staatliche
sich einstweilen die Machthaber in China allerdings weitere LegiFürsorge in Form einer verpflichtenden Krankenkasse für alle eintimation zu sichern. Die enormen Devisenreserven in China, vor
geführt hat. Die Widerstände im Kongress waren riesig. Und so
allem in US-Dollar, beunruhigen manche Beobachter soweit, dass
ist auch von Obamas ökologischer Trendwende, die er bei seiner
sie im Krisenfall gar eine Destabilisierung der USA über die interersten Wahl versprochen hatte, nach vier Jahren Präsidentschaft
nationalen Waren-, Devisen- und Finanzmärkte befürchten. Die
nicht viel übrig geblieben. Noch immer weigern sich die USA als
Angst und der Respekt vor der Volksrepublik China sind groß in
einziges Industrieland, das Kyoto-Protokoll zur CO2-Reduktion
der Welt, vor allem in den USA.
zu ratifizieren. Dafür haben Obamas Sozialreformen und Subventionen z. B. für die us-amerikanische Automobilindustrie Milliarden gekostet. Von seinem Vorgänger waren zudem noch
Die Zukunftsfähigkeit der USA
milliardenschwere Verpflichtungen aus dem misslungenen IrakAbenteuer übrig geblieben.
Noch immer sind die »Vereinigten Staaten von Amerika« die wohlZurecht weist Harald Barrios darauf hin, dass innen- und wirthabendste Nation der Erde und der Einwanderungswunsch in die
schaftspolitisch keineswegs der amerikanische Präsident das al»Staaten« scheint global ungebrochen. Im Bereich der Computerleinige Sagen hat, sondern dass im komplexen System der »checks
technologie, der Flugzeug- und Raumfahrttechnik, der Musikand balances« die beiden Häuser des Kongresses stets ein geund Filmindustrie, aber auch der Banken- und Finanzdienstleiswichtiges Wort mitzureden haben. Dies führte zeitweise dazu,
tungen ist ihre globale Stellung gar dominant zu nennen. Nach
dass sich die beiden Lager, auch wenn sie längst nicht so weltandem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Jahren ab 1991
schaulich fest gefügt sind wie in Europa, unversöhnlich gegenschienen die USA gar als einzige militärische Weltmacht übrig geüber standen: Den USA drohte der (öffentliche) Staatsbankrott,
blieben zu sein. Erst die Terrorattentate vom 11. September 2001
während der private Reichtum in den USA längst von keiner ande(»9/11«) und die sich davon ableitenden Kriege in Afghanistan und
ren Nation auch nur annähernd erreicht werden kann.
dem Irak haben ins weltweite Bewusstsein geführt, dass auch die
Das republikanische Lager, getrieben von der »Tea-Party-Bewe(militärischen) Möglichkeiten der Supermacht USA in einer immer
gung«, wünscht nach wie vor den weiteren Rückzug des Staates
multipolarer werdenden Welt begrenzt sind. Trotzdem treten die
aus der Wirtschaft und Gesellschaft und damit auch die RedukUSA nach wie vor auch militärisch global auf, wesentlich stärker
tion von Sozialleistungen. Ein innenpolitisch zu stark intervenie-
Die Feinde des Internets
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Wie zukunf tsfähig sind die S ys teme der USA , China s und der EU?
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JÜRGEN KALB
8
getriebene amerikanische Wirtschaft nach
wie vor innovativ und vital. Zudem scheinen
Kyoto-Protokoll und Klima-Sünder
bürokratische Hemmnisse (»Troughout-EntStaaten mit den größten energiebedingten CO2-Emissionen im Jahr 2009
scheidungen«) nur selten ein amerikanisches
in Millionen Tonnen
Problem zu sein.
(Veränderung gegenüber 1990 in %)
Und auch im Bereich der Legitimität macht
China*
6.832 Mio. t (+ 208,9 %) Die USA sind das einzige Industrieland,
den US-Amerikanern so schnell niemand etdas die Ratifizierung ablehnt:
USA
5.195 (+ 6,7)
was vor. Wenn auch aus europäischen Augen
ratifiziert
nicht
bisher keine
Indien
1.586 (+ 172,3)
ratifiziert Teilnahme
die Präsidentschaftswahlkämpfe eher unRussland
1.533 (- 29,7)
sachlich und emotional verlaufen, so fordert
Japan
1.093 (+ 2,7)
das amerikanische Traditions- und SelbstbeDeutschland
750 (- 21,1)
wusstsein insbesondere vor Ort (lokal, im
Iran
533 (+ 197,0)
Bundesstaat) Partizipation auch in Form von
USA
Afghanistan
direkter Demokratie ein, zumeist weit mehr
Kanada
521 (+ 20,4)
Westals im »alten Europa«.
Südkorea
516 (+ 124,8)
sahara
Zudem besitzen die Vereinigten Staaten von
Großbritannien
466 (- 15,2)
Amerika nicht den demographischen Nachteil Europas, der im Übrigen durch Chinas
Ein-Kind-Politik über kurz oder lang auch das
Das Kyoto-Protokoll wurde 1997 vereinbart und ist im Februar 2005 in Kraft getreten. Danach verpflichten
Reich der Mitte einholen wird (| Abb. 9 |).
sich die teilnehmenden Staaten, die Emission von sechs Treibhausgasen (u.a. Kohlendioxid) bis 2012
weltweit um mindestens fünf Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.
Andererseits wird sich erst noch erweisen
müssen, ob es in den Staaten tatsächlich geStand
Oktober
2011
Quelle: UNFCCC, IEA
*ohne Hongkong
© Globus 4612
lingt, die zahlenmäßig stark zunehmenden
»Hispanics« in das amerikanische AufstiegsAbb. 8 Klima-Sünder und Kyoto-Protokoll
© dpa Infografik, Dezember 2011
versprechen einzubinden. Sollte sich herausstellen, dass soziale Mobilität für allzu viele
renden Staat, störe nur die Freiheit des Einzelnen. In weiteren
ein leeres Versprechen bleibt und die Reichen sich zunehmend in
Steuererleichterungen und der Stärkung der amerikanischen Uneigenen Wohnvierteln schützen müssten, könnten auch im ameriternehmer sehen diese Republikaner die einzige Möglichkeit zur
kanischen Traum nach »unbegrenzten Möglichkeiten« enorme
Zukunftssicherung der USA und ihres Wohlstands. Ökologische
Konfliktpotenziale schlummern. Zudem lauern vermehrt auch in
Bedenken müssen dabei ganz hinten an gestellt werden. In Obaden Vereinigten Staaten ökologische Risiken, die sich bereits in
mas Prämissen sehen sie gar eine verfehlte »europäische Ideoloden letzten Jahren z. B. drastisch in der deutlichen Zunahme von
gie« oder gar die Tendenz zum »Sozialismus«.
Naturkatastrophen (Überschwemmungen, Hurrikans, WaldbänBarack Obama, der in Deutschland Zustimmungsraten bei Meiden, Dürre, u. a.) zeigen.
nungsumfragen von über 80 % besitzt, verspricht dagegen einen
vorsichtigen Umbau der us-amerikanischen Gesellschaft zu mehr
Die Zukunftsfähigkeit der EU
wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und hin zu einem ökologisch
angepassten Wachstum. Für breite Schichten des us-amerikaniUnd Europa? »Ach, Europa« hatte der Sozialphilosoph Jürgen Haschen Volkes will er bezahlbare öffentliche Schulen und Universibermas im Jahre 2008 seine Abhandlung über die EU und ihre aus
täten, was im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« mit seinen
der philosophischen Aufklärung abgeleiteten europäischen
teuren Privatschulen und Privatuniversitäten längst keine SelbstWerte genannt, die er dann schließlich mit einem Plädoyer für ein
verständlichkeit ist.
debattierendes, deliberatives und demokratischeres Europa verGeorg Weinmann untersucht in seinem Beitrag: »Wie zukunftsfäband, näher ausgeführt in seinem Essay »Zur Verfassung Europas«
hig sind die USA? Ökonomische und ökologische Herausforderungen«,
(2011).
weshalb die Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie der USA zeitMartin Große Hüttmann beschreibt in seinem Beitrag das »EUweise ins Hintertreffen geriet und wie darauf zu reagieren sei.
Mehrebenensystem im Stresstest. Braucht die EU einen LegitimitätsÖkologische Bedenken werden dabei inzwischen quer durch alle
pakt« anhand von sprechenden Beispielen die Komplexität und
Lager als kostspieliges Hindernis betrachtet.
die Fortschritte im europäischen Meinungs-, WillensbildungsDas große Plus der US-Wirtschaft stellen nach wie vor die technound Entscheidungsprozess. Überzeugten Europäern scheint inlogischen Ideenschmieden besonders in der Software-Welt dar.
zwischen überdeutlich, dass es weiterer Schritte hin zu einer poliTradierte industrielle Produktion verlagert sich zunehmend, nicht
tischen Union bedarf, schon um die ökonomischen Probleme des
zuletzt auf die »Werkbank der Welt«. Da wundert es kaum, wenn
Euro bzw. der Staatschuldenkrisenländer in den Griff zu bekomprotektionistische Überlegungen oder sogar »Handelskriege«
men. Die Delegation von Macht auf die europäische Ebene ist damit China populär werden. Der legendäre Optimismus der USbei allerdings keineswegs so einfach, zumal die Gefahr besteht,
Amerikaner schien zeitweise fast am Erodieren.
dass ureigene parlamentarische Rechte wie das Haushaltsrecht
Deutlich gestiegene Arbeitslosenzahlen prägten den Wahlkampf
den nationalen Parlamenten entrissen würde. »Mehr Europa«
2012. Fraglich scheint z. B., ob die (Noch-) Minderheiten der Hiskönnte immer auch heißen, dass es sich noch weiter von seinen
panics und der Afroamerikaner tatsächlich die auch ihnen zugeBürgerinnen und Bürger entfernt. Lediglich einen (weiteren) »EUsagten adäquaten Aufstiegschancen im Land der »unbegrenzten
Sparkommissar« im Rahmen einer Fiskalunion zu etablieren führt
Möglichkeiten« genießen, wie es der »amerikanische Traum«
für Große Hüttmann am eigentlichen Legitimitätsproblem der EU
gerne verspricht.
vorbei. Noch immer verfügt das Europäische Parlament über weAndererseits hat selbst die als Ausgangspunkt der Weltwirtniger Rechte als die nationalen Parlamente gegenüber ihren Reschaftskrise ab 2008 identifizierte Banken- und Finanzwelt ihre
gierungen, deren Kontrolle ihre wichtige Aufgabe ist. Immerhin
dominante globale Position längst wieder gefestigt. Über die
wurde mit der Europäischen Bürgerinitiative im Lissaboner VerMöglichkeiten der US-Amerikaner zur raschen und innovativen
trag nunmehr ein Instrument geschaffen, das mittelfristig zu
Kehrtwende sollte eigentlich kein Zweifel bestehen. Trotz zum
mehr länderübergreifender Meinungs- und Willensbildung und
Teil veralteter Industrieproduktion (z. B. bei den großen drei Aumehr Bürgerbeteiligung sowie einer fortschreitenden europäitomobilkonzernen der USA) und manches Mal maroder Infraschen Öffentlichkeit führen könnte. Noch ist die EU im Westlistruktur in Teilen der USA scheint die von der Privatinitiative an-
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chen für viele Bürgerinnen und Bürger nicht
Die Welt wird alt
mehr als ein ferner Staatenbund, weit weg
von den eigenen Interessen.
Ich selbst beschreibe in meinem Beitrag: »Die
Anteil der
über 60-Jährigen
Zukunftsfähigkeit der EU – ökonomische und ökoin Prozent
logische Herausforderungen« ausgewählte Stati0-9
onen der europäischen (ökonomischen) Eini10-19
20-24
gung und die derzeitigen Diskussionen und
25-29
Ansätze zur Lösung der Staatsschuldenkrise.
30 und mehr
Keine Daten
Dies setzt die in D&E bereits dokumentierten
Auseinandersetzungen um die »Finanz- und
Wirtschaftskrise« (Heft 59) sowie den »Euro
und die Schuldenkrise« (Heft 63) fort. Dabei
wird die Krise des Euroraums auch als Chance
gesehen, einen weiteren Integrationsschritt
zu wagen, der nicht nur die gemeinsame
Währung stabilisieren und die nationalen
Haushalte nachhaltig an Stabilitätskriterien
binden können, sondern auch offen mit den
Anteil der
über 60-Jährigen
bisher bereits geleisteten Transferzahlungen
in Prozent
umgeht. Dies soll allerdings nicht einer be0-9
dingungslosen »Transferunion« das Wort re10-19
20-24
den, aber doch an das Entwicklungs- und
25-29
Aufstiegsversprechen einer »Sozialen Markt30 und mehr
wirtschaft« erinnern, die der Lissaboner VerKeine Daten
trag für Europa erstmals rechtverbindlich
kodifiziert. Strukturschwache Regionen werden zwar auch derzeit schon durch die EU gefördert, aber noch immer hinkt der insgesamt erfolgreiche europäische Binnenmarkt
2,5
im Vergleich zum us-amerikanischen weit
2,0
Menschen
hinterher. Jugendarbeitslosigkeit, wie sie
über 60 Jahre
1,5
derzeit in den Krisenregionen wie Griechenin Millionen
1,0
land oder Spanien herrscht, wird keine fortIndustrieländer
Entwicklungsländer
0
schreitende europäische Identität herstellen
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050
können. Und ganz ähnlich verhält es sich in
der ökologischen Frage. Der vielen als vorbildlich geltende marktkonforme »EmissiAbb. 9 »Planet der Alten«: Demografische Entwicklung weltweit bis 2050
© SZ vom 2.10.2012, S. 8
onshandel« der EU kennt nach wie vor allzu
viele Ausnahmen.
Literaturhinweise
Insgesamt bedarf es einer wesentlich stärkeren Koordinierung
von Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Ökologiepolitiken der MitUlrich Beck (2007): Weltrisikogesellschaft. Suhrkamp Verlag. Frankfurt.
gliedsländer auch mit dem Ziel, die strukturellen Ungleichgewichte im gemeinsamen Währungsraum auszugleichen.« Dies
Bergmann, Jan (2012) (Hrsg.): Handlexikon der Europäischen Union. Nomoskann aber, das macht die derzeitige Krise und das Aufkommen
Verlag. Baden-Baden. 4. Auflage
nationaler Gegenbewegungen deutlich, nur mit Zustimmung und
CIA (Hrsg.) (2004): Mapping the Global Future. Report of the National Intelliunter demokratischer Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger
gence Council›s 2020 Project. www.foia.cia.gov/2020/2020.pdf
geschehen, um auch langfristig akzeptiert zu werden. Die Bevölkerungen müssen zustimmen, wenn sie ihr sozialstaatliches euroCohn Bendit, Daniel / Verhofstadt, Guy (2012): Für Europa. Ein Manifest.
päisches Gesellschaftsmodell und ihre nationalstaatlich organiHanser Verlag. München.
sierte Vielfalt ihrer Kulturen im globalen Wettbewerb bewahren
Gellner, Wienand / Kleiner, Martin (2012): Das Regierungssystem der USA:
wollen. Ohne eine Kostentransparenz, aber auch eine weitere
Eine Einführung. UTB. München.
Demokratisierung der EU wird dies nicht umzusetzen sein. So leidet die Effizienz des Euroraums derzeit noch deutlich unter der
IMF (Hrsg.) (2012): World Economic Outlook Reports. www.imf.org/extererst rudimentären politisch-fiskalischen Integration. Und die denal/ns/cs.aspx?id=29
mokratische Legitimierung der europäischen Ebene im MehreInternational Futures (2009): Measuremet of State Power as a Percentage of
bensystem weist trotz aller Fortschritte seit dem Lissaboner VerGlobal Power. www.ifs.du.edu
trag nach wie vor gravierende Demokratiedefizite auf. Die
Akzeptanz einer politischen Union durch die Bevölkerungen der
Kissinger, Henry, u. a. (2012): Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?
Mitgliedstaaten kann allein durch eine Reihung von Gipfeltreffen
Pantheon Verlag. München.
der Staats- und Regierungschefs nicht hergestellt werden. Erst
OECD (Hrsg.) (2012): Economic outlook to 2030. www.oecd-ilibrary.org/
ein breiter, ergebnisoffener europäischer Diskurs über die Finalieconomics/oecd-economic-outlook_16097408
tät der EU könnte die Bereitschaft zu einer weiteren Integration
herstellen. Sicher ist das keineswegs.
Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.) (2012): Globale Trends 2013. Fischer
Verlag. Frankfurt.
2012
2050
9
SZ-Grafik: Ilona Burgarth; Quelle: UNDESA
Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.) (2009): Globale Trends 2010. Fischer Verlag. Frankfurt.
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Wie zukunf tsfähig sind die S ys teme der USA , China s und der EU?
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SYSTEME IM VERGLEICH
2. Ein empirischer Vergleich der Kulturen
von China, den USA und der EU
DIETER FUCHS I EDELTRAUD ROLLER
N
ach dem Zerfall des Sowjetsystems
Ende der 1980er-Jahre war die Weltpolitik vor allem durch den Aufstieg der
Volksrepublik China geprägt. Dieser war so
dramatisch und verlief so rasant, dass sich
eine Debatte darüber entwickelte, wie die
zukünftige Weltordnung aussehen wird.
Eine Position behauptet, dass auf das amerikanische 20. Jahrhundert ein chinesisches
21. Jahrhundert folgt (Ferguson 2011). Eine
andere, häufiger vertretene Position geht
von einer multipolaren Weltordnung aus, in
der sowohl China als auch die USA die wichtigsten Mächte sein werden (Zakaria 2008,
Kissinger 2011). Beide Positionen teilen die
Auffassung, dass die Europäische Union
(EU) eine Macht zweiter Ordnung sein wird.
Welche Rolle die EU in der zukünftigen
Weltordnung letztlich spielen wird, dürfte
maßgeblich davon abhängen, inwieweit sie
sich als einheitlicher Spieler zur Geltung
bringen kann.
10
Abb. 1 »Postmoderne Laokoon-Gruppe«
Die Kultur dieser Länder wird als ein zentraler Faktor betrachtet,
der sowohl den Aufstieg der USA im 19. und 20. Jahrhundert als
auch den Aufstieg von China im 21. Jahrhundert befördert hat. Die
Kulturen beider Länder werden jeweils als besondere eingeschätzt und sie begreifen sich auch selbst so. Lipset (1996) spricht
von einer »Einzigartigkeit von Amerika« und Kissinger (2011) von
einer »Singularität von China«. Das amerikanische Wertesystem,
das die Kultur der USA konstituierte, bildete sich im 18. Jahrhundert heraus und ist in seinem ideologischen Kern bis heute wirksam. Es ist das Resultat der amerikanischen Revolution und
wurde von den protestantischen Sekten getragen, die aus Europa
eingewandert sind (u. a. Hofstadter 1964, Lipset 1996). Für die Besonderheit der amerikanischen Kultur im Vergleich zur europäischen gibt es eine Vielzahl empirischer Belege (u. a. McClosky/
Zaller 1984, Lipset 1996, Fuchs 2000, Roller 2000). Die Besonderheit der chinesischen Kultur im Vergleich zur Kultur der USA und
der der EU ist demgegenüber empirisch nur schwach belegt.
Mehrheitlich wird angenommen, dass die chinesische Kultur immer noch stark konfuzianisch geprägt ist (u. a. Huntington 2002;
Kissinger 2011; Aust/Geiges 2012). Diese kulturellen Wurzeln im
Konfuzianismus habe die Phase des maoistischen Kommunismus
und vor allem die Kulturrevolution überdauert und seit einigen
Jahrzehnten wird ein »Comeback des Konfuzianismus« behauptet
(Aust/Geiges 2012).
Empirischer Ansatz
In diesem Beitrag werden die Kulturen von China, der USA und der
EU systematisch auf empirischer Grundlage miteinander verglichen. Bei der EU beschränken wir uns auf Deutschland, und zwar
aus zwei Gründen. Erstens ist das EU-Regime gegenwärtig noch
ein relativ heterogenes Gebilde und ein europäisches Volk existiert lediglich ansatzweise. Zweitens wäre eine Berücksichtigung
mehrerer Mitgliedsländer der EU zu komplex und würde die Analyse unübersichtlich machen. Die Auswahl von Deutschland, das
die EU gewissermaßen substituiert, ist gerechtfertigt, weil
Deutschland – neben Frankreich – gemeinhin als einer der Kernstaaten der EU betrachtet wird.
Die empirische Analyse wird auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsumfragen durchgeführt, die im Rahmen des sogenannten World Values Surveys in den Jahren 2005–2008 erhoben worden sind. Diese Bevölkerungsumfragen zeichnen sich dadurch
aus, dass die kulturellen Wertorientierungen mit denselben Fragen in allen Erhebungsländern, darunter auch China, die USA und
Deutschland, erhoben worden sind. Diesem Kulturvergleich liegt
die Annahme zugrunde, dass Kulturen nur dann handlungsleitend
sein können, wenn sie sich in den Orientierungen individueller
Akteure auffinden lassen, die eine gesellschaftliche Gemeinschaft konstituieren.
Kulturbegriff
Der Kulturbegriff, der unserer Analyse zugrunde liegt, ist kein essentialistischer, der zu bestimmen versucht, was die Kultur eines
Landes eigentlich ausmacht. Bei einem solchen essentialistischen
Kulturbegriff entspinnen sich fast immer kontroverse Debatten,
bei denen die Autoren sich vor allem auf theoretische Argumente
stützen und auf historische Sachverhalte verweisen, um ihre Positionen zu untermauern. In der Regel wird dabei nicht systematisch auf die empirische Realität Bezug genommen. Wir verwenden demgegenüber einen sozialwissenschaftlichen Kulturbegriff,
der eine solche systematische empirische Analyse ermöglichen
und steuern kann.
Danach besteht die Kultur eines einzelnen Landes aus einem System von Werten. Werte wiederum können als zeitlich relativ stabile und sachlich relativ abstrakte Konzeptionen einer wünschenswerten Gesellschaft begriffen werden (Gerhards 2006).
Diese Werte (z. B. Demokratie) können sich zum einen in den Institutionen der Gesellschaft und zum anderen in den Orientierungen der Bürger manifestieren. In Bezug auf die Bürger besteht
dann die Kultur eines Landes in einem System gemeinsam geteilter Wertorientierungen. Diese beeinflussen die konkreten Ein-
Ein empirischer Vergleich der Kult uren von China , den USA und der EU
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© Oliver Schopf, September 2012
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stellungen (z. B. Befürwortung der DurchfühChina – USA
China – Deutschland
USA – Deutschland
rung von Volksabstimmungen) und das
Grundlegende Wertorientierungen
Verhalten der Individuen (z. B. Wahlbeteili(+) Harmonische Einbettung
(+) Harmonische Einbettung
gung) und wirken sich darüber hinaus auf die
der Individuen in ihre sozider Individuen in ihre soziStabilität und den Wandel der gesellschaftliale und natürliche Umwelt
ale und natürliche Umwelt
chen Institutionen aus (Fuchs 2002).
(+) Selbsterweiterung durch
(+) Selbsterweiterung durch
Zur Analyse der Kulturen von China, der USA
Erfolg im Leben und den
Erfolg im Leben und den
und Deutschland wird ein Konzept verwenErwerb von Reichtum
Erwerb von Reichtum
det, das insgesamt vier Dimensionen von
(–) Religiosität
(+) Religiosität
Wertorientierungen unterscheidet, die auf
Gesellschaftliche Gemeinschaft
verschiedene Aspekte der Gesellschaft Bezug
(+) Identifikation mit dem
(+) Identifikation mit dem
(+) Identifikation mit dem
nehmen (| Abb. 2 |):
eigenen Land
eigenen Land
eigenen Land
Moderne Gesellschaften sind differenzierte
(–) Vertrauen in unbekannte
(–) Vertrauen in unbekannte
Gesellschaften und untergliedern sich in TeilAndere
Andere
bereiche. Die beiden zentralen Teilbereiche,
(–) Gleichheit der Frau
(–) Gleichheit der Frau
die auch im Folgenden untersucht werden,
Wirtschaft
sind die »WIRTSCHAFT« und die »POLITIK«.
(+) Einkommensungleichheit (+) Einkommensungleichheit (+) Einkommensungleichheit
Die Wertorientierungen der Bürger, die sich
als Leistungsanreiz
als Leistungsanreiz
als Leistungsanreiz
auf diese Teilbereiche beziehen, können als
(+) Besseres Leben durch
(+) Besseres Leben durch
Konzeptionen des Wünschenswerten für
harte Arbeit
harte Arbeit
diese Teilbereiche begriffen werden. WirtPolitik
schaft und Politik werden in der Soziologie
(+)
Staatsverantwortung
statt
(–) Staatsverantwortung statt
als gesellschaftliche Funktionssysteme beEigenverantwortung
Eigenverantwortung
griffen, die sich dadurch auszeichnen, dass
(+) Wohlfahrtsstaat (Unter(+) Wohlfahrtsstaat (Untersie für die Gesellschaft bestimmte Leistunstützung von Armen und
stützung von Armen und
gen erbringen.
Arbeitslosen)
Arbeitslosen)
Die »GESELLSCHAFTLICHE GEMEINSCHAFT«
(+) Möglichkeit von Militär(+) Möglichkeit von Militärist zwar kein Funktionssystem, aber ein eigeherrschaft
herrschaft
ner gesellschaftlicher Teilbereich. Dieser
Legende:
liegt den gesellschaftlichen Funktionssyste(+) Der Wert im erstgenannten Land ist deutlich stärker ausgeprägt als im zweitgenannten Land.
men wie der Wirtschaft und der Politik zu(–) Der Wert im erstgenannten Land ist deutlich schwächer ausgeprägt als im zweitgenannten Land.
grunde: Eine intakte gesellschaftliche Gemeinschaft ist eine Bedingung dafür, dass
Abb. 2 Vergleich der Kulturen
© Fuchs/Roller
diese Funktionssysteme ihre Leistungen erbringen können. Die gesellschaftliche Getierungen, bei denen sich die jeweiligen Länderpaare besonders
meinschaft umfasst zwei Aspekte: erstens das Kollektiv als eine
stark unterscheiden. Auf diese Weise kann die Frage der EinzigarEinheit z. B. die Chinesen, die Amerikaner und die Deutschen;
tigkeit der jeweiligen Kultur auch am ehesten geklärt werden. Ein
zweitens die individuellen Mitglieder aus denen das Kollektiv be(+) vor jeder der Wertorientierung bedeutet, dass in dem jeweils
steht. Es werden Wertorientierungen untersucht, die sich auf
erstgenannten Land des Paarvergleichs der Wert deutlich stärker
diese beiden Aspekte beziehen.
ausgeprägt ist als im zweitgenannten Land. Ein (−) bedeutet umÜberlagert werden diese gesellschaftlichen Teilbereiche von den
gekehrt, dass der Wert im erstgenannten Land erheblich schwä»GRUNDLEGENDEN WERTORIENTIERUNGEN«. Bei der Spezifikacher ausgeprägt ist als im Vergleichsland. Bei der Interpretation
tion dieser grundlegenden Wertorientierungen stützen wir uns
der Befunde wird selektiv auf prozentuale Verteilungen von Wertauf die Theorie kultureller Wertorientierungen von Schwartz
orientierungen eingegangen. Darüber hinaus werden in verein(2006). Nach Schwartz entwickeln sich diese kulturellen Wertorizelten Fällen auch Befunde beschrieben, die nicht auf die in
entierungen im Zusammenhang mit der Lösung basaler Probleme
| Abb. 2 | dargestellten Inhalte Bezug nehmen.
bei der Regulierung menschlicher Aktivitäten, mit denen jede Gesellschaft konfrontiert ist. Der wichtigste Aspekt dabei ist, wie in
der jeweiligen Kultur der Bezug des Individuums zum Kollektiv
Grundlegende Wertorientierungen
gesehen wird: Wird die Autonomie des Individuums betont oder
aber die Eingebundenheit des Individuums in das Kollektiv. Die
In seiner Theorie kultureller Wertorientierungen unterscheidet
Autonomie der Individuen wird theoretisch vor allem der Kultur
Schwarz (2006) insgesamt neun Wertedimensionen, die im World
der USA zugerechnet und die Eingebundenheit der Individuen in
Values Survey von 2005–2008 in Form einer Fragebatterie erhoben
das Kollektiv vor allem China mit seiner konfuzianischen Tradiworden sind. Wir gehen bei unserem Vergleich nicht auf die diffetion.
renzierte Ebene dieser neun Wertedimensionen ein, sondern nehmen eine Verdichtung vor. In Anlehnung an die Terminologie von
Vorgehensweise
Schwartz wird eine dieser verdichteten Dimensionen als »harmonische Einbettung der Individuen in ihre soziale und natürliche
Die repräsentativen Bevölkerungsumfragen, die im Rahmen des
Umwelt« bezeichnet und eine andere als »Selbsterweiterung
World Values Survey 2005–2008 durchgeführt worden sind, entdurch Erfolg im Leben und den Erwerb von Reichtum« (| Abb. 2 |).
Nach Schwartz stellen beide Wertedimensionen polare Gegenhalten Fragen zu den unterschiedenen vier Dimensionen von Wersätze dar, weil beim erstgenannten Pol die Gemeinschaft und
torientierungen. Der Vergleich der Wertorientierungen erfolgt
beim zweitgenannten Pol das Individuum den Vorrang besitzt.
über drei Paarvergleiche, d. h. wir vergleichen China mit den USA,
Die empirische Analyse zeigt, dass die »harmonische Einbettung
China mit Deutschland sowie die USA mit Deutschland.
der Individuen in ihre soziale und natürliche Umwelt« in China als
Bei der Vielzahl der untersuchten Wertorientierungen ist eine difsehr viel wichtiger erachtet wird als in den USA und in Deutschferenzierte Darstellung der prozentualen Verteilungen nicht
land. Das entspricht der Erwartung, dass in China die konfuzianimöglich. Deshalb beschränken wir uns bei der Präsentation der
sche Tradition, die der Gemeinschaft einen Vorrang vor dem IndiBefunde in | Abb. 2 | auf eine verbale Benennung der Wertorien-
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DIETER FUCHS I EDELTRAUD ROLLER
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viduum einräumt (Huntington 2002; Aust/Geiges 2012), immer
noch eine Geltung besitzt. Überraschend ist aber, dass auch der
Gegenpol der »Selbsterweiterung durch Erfolg im Leben und den
Erwerb von Reichtum« in China als noch bedeutsamer angesehen
wird als in den USA und in Deutschland. Diese Wertorientierung
wird im Allgemeinen eher als eine Besonderheit des westlichen
Kulturkreises gesehen. Dieser Befund kann in unterschiedlicher
Weise interpretiert werden. Zum einen als eine Anpassung der
chinesischen Kultur an Anforderungen der Modernisierung. Zum
anderen kann dieser Widerspruch dadurch aufgelöst werden,
dass man den Erfolg im Leben und den Erwerb von Reichtum
nicht primär auf das individuelle Selbst bezieht, sondern auf die
eigene Familie als die grundlegende soziale Einheit.
Im Unterschied zu Schwartz (2006) begreifen wir auch die »Religiosität« als grundlegende Wertorientierung (| Abb. 2 |). Die Religion und Religiosität wird von Huntington (2002) als der Kern von
Kulturen betrachtet, die auch die anderen Wertorientierungen
stark beeinflusst. Die Analyse ermittelt erhebliche Differenzen in
der Religiosität zwischen China und den USA. In China geben lediglich 15 Prozent der Befragten an, dass Gott in ihrem Leben
wichtig ist, demgegenüber ist dies bei 73 Prozent in den USA der
Fall. Auch diese geringe Bedeutung von Religion in China entspricht nach Aust/Geiges (2012) der konfuzianischen Tradition.
Religiöse Maximen werden bei Konfuzius gewissermaßen durch
sittliche Regeln ersetzt. Der zentrale Stellenwert der Religion in
den USA, der letztlich auf die protestantischen Sekten zurückgeht, ist demgegenüber einer der zentralen Bestandteile des
amerikanischen Ethos (McClosky/Zaller 1984).
Die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland sind bei
den grundlegenden Wertorientierungen relativ gering. Das
spricht für die These, dass beide dem westlichen Kulturkreis angehören. Die geringere Bedeutung von Religiosität in Deutschland gegenüber den USA (| Abb. 2 |) – und einigen Wertorientierungen im Bereich der Politik, auf die wir noch eingehen – kann
als ein empirischer Beleg dafür interpretiert werden, dass im
Sinne von Huntington (2002) der westliche Kulturkreis weiter in
einen nordamerikanischen und einen westeuropäischen differenziert werden kann.
Gesellschaftliche Gemeinschaft
Die Wertorientierungen in Bezug auf die gesellschaftliche Gemeinschaft beziehen sich zum einen auf die Gemeinschaft als Kollektiv und zum anderen auf die anderen Mitglieder des Kollektivs.
Die erstgenannte Wertorientierung gegenüber dem Kollektiv
wird in der empirischen Kulturforschung häufig mit Fragen nach
der »Identifikation mit dem eigenen Land« erfasst (| Abb. 2 |). Ein
sogenannter harter Indikator für diese Identifikation ist die Bereitschaft, im Falle eines Krieges für das eigene Land zu kämpfen.
Das heißt also, im Zweifelsfall auch das eigene Leben einzusetzen.
In dieser Hinsicht besteht eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit
zwischen China und den USA, die Bereitschaft dafür ist sehr stark
ausgeprägt. Die Bereitschaft, gegebenenfalls für das eigene Land
zu kämpfen, ist in China mit 87 Prozent Zustimmung aber noch
deutlich stärker als in den USA, wo die Zustimmung bei 65 Prozent
der Befragten liegt. Demgegenüber ist diese Bereitschaft in
Deutschland mit 34 Prozent erheblich schwächer.
In modernen gesellschaftlichen Gemeinschaften sind die anderen
Mitglieder der Gemeinschaft vor allem unbekannte Andere. In der
politischen Kulturforschung wird davon ausgegangen, dass das
Vertrauen nicht nur in die bekannten Personen des unmittelbaren
sozialen Umfeldes, sondern auch das »Vertrauen in unbekannte
Andere« ein soziales Kapital darstellt, das für die Kooperation
zwischen den Individuen wichtig ist und eine der Grundlagen einer funktionierenden Demokratie darstellt. Im Hinblick auf diesen zweiten Aspekt der gesellschaftlichen Gemeinschaft zeigen
sich ganz andere empirische Muster als beim ersten Aspekt der
Identifikation mit dem Kollektiv (| Abb. 2 |). In China ist das Ver-
trauen in unbekannte andere Mitglieder der Gemeinschaft deutlich geringer als in den USA. In den USA geben 44 Prozent der Befragten an, dass sie einer Person vertrauen, die sie zum ersten Mal
treffen, und 81 Prozent vertrauen einer Person mit einer anderen
Religion. In China haben lediglich 11 Prozent Vertrauen in eine
Person, die sie zum ersten Mal treffen, und 18 Prozent in eine Person mit einer anderen Religion. Im Unterschied zum geringen
Vertrauen in unbekannte Andere ist das Vertrauen in die eigene
Familie und in die Nachbarschaft in China sehr hoch. Mit dem relativ geringen Vertrauen in unbekannte Andere in China ist eine
der Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie in diesem Land geringer ausgeprägt als in den USA und in Deutschland.
Eine grundlegende demokratische Norm ist die Anerkennung der
anderen Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft als Gleiche. Als eine Messung dieser Norm kann die Anerkennung der
»Gleichheit der Frau« betrachtet werden, da Frauen ungefähr die
Hälfte jeder gesellschaftlichen Gemeinschaft ausmachen. Auch
diesbezüglich ergeben sich deutliche Unterschiede bei dem Vergleich der Länder (| Abb. 2 |). Die Gleichheit der Frau wird in China
weitaus geringer präferiert als in den USA und in Deutschland,
und das bezieht sich sowohl auf die Gleichheit der Frau im Bereich
der Wirtschaft als auch im Bereich der Politik. Der Aussage ‚Männer sollten eher einen Job bekommen als eine Frau‘, stimmen in
China 42 Prozent zu, in den USA sind es 7 Prozent und in Deutschland 19 Prozent. Dass Männer bessere politische Führer sind als
Frauen, meinen in China 54 Prozent, in den USA 27 Prozent und in
Deutschland 19 Prozent. Die geringe Anerkennung der Frau in den
beiden öffentlichen Bereichen in China ist vermutlich ebenfalls
von der konfuzianischen Tradition beeinflusst (Aust/Geiges 2012).
Sie bedeutet aber auch, dass eine grundlegend demokratische
Norm nicht in dem Maße anerkannt wird wie in den beiden westlichen Vergleichsländern.
Wirtschaft
Der Wettbewerb ist ein konstitutives Merkmal einer marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie. Bei der Einstellung der Bürger zum Wettbewerb ergeben sich relativ geringe Länderunterschiede. Der Wettbewerb wird in allen drei Ländern als positiv
eingeschätzt, dabei ist die positive Bewertung in China (61 Prozent) noch etwas stärker als in den USA (56 Prozent). Signifikante
Unterschiede zwischen China einerseits und den USA und
Deutschland andererseits sind bei »Einkommensungleichheit als
Leistungsanreiz« festzustellen (| Abb. 2 |). Dieser Wert wird in
China interessanterweise noch stärker präferiert als in den beiden anderen Ländern. Der Befund sollte aber nicht überbewertet
werden, da die Frageformulierung lautet: ‚Wir benötigen stärkere
Einkommensunterschiede als Leistungsanreiz‘. Es wird dabei also
auf die Veränderungen des Status Quo Bezug genommen; die Einkommensunterschiede sind im Erhebungszeitraum 2005–2008 in
den USA und in Deutschland sicherlich größer als in China.
Ein weiterer Unterschied zwischen China einerseits und den USA
und Deutschland andererseits besteht bei dem Wert harte Arbeit.
Dass ein »besseres Leben durch harte Arbeit« ermöglicht wird,
glauben in China 61 Prozent, in den USA sind es 49 Prozent und in
Deutschland lediglich 36 Prozent (| Abb. 2 |).
Insgesamt sprechen diese empirischen Befunde für den Bereich
der Wirtschaft dafür, dass bei den chinesischen Bürgern keine
Priorität für eine kommunistische Planwirtschaft mit einer egalitären Zielsetzung festgestellt werden kann. Die Wettbewerbsund Leistungsorientierung ist in China mindestens so stark ausgeprägt wie in den USA und eindeutig stärker als in Deutschland.
Politik
Das andere wichtige Funktionssystem neben der Wirtschaft ist
die Politik. Was sind die Konzeptionen des Wünschbaren in die-
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sem Bereich? Und worin unterscheiden sich
die drei Länder am stärksten?
Zunächst einmal muss festgehalten werden,
dass in allen drei Ländern ca. 90 Prozent der
Bürger die Demokratie als politische Herrschaftsordnung befürworten. Eine demokratische Herrschaftsordnung kann aber verschieden
ausgestaltet
werden
und
diesbezüglich zeigen sich Unterschiede zwischen den Ländern. Bei den Alternativen
»Staatsverantwortung versus Selbstverantwortung« für das eigene Leben zeigt sich für
China eine deutlich stärkere Präferenz »für«
die Staatsverantwortung als in den USA
(| Abb. 2 |). Dieser Befund passt zu der Befürwortung eines »Wohlfahrtsstaates«, der zum
Beispiel die Armen und Arbeitslosen unterstützt (| Abb. 2 |). Diese Befürwortung ist in
China erheblich stärker als in den USA und sie
ist auch in Deutschland stärker als in den
USA. Die Betonung der Selbstverantwortung
der Individuen und einer eingeschränkten
Rolle des Staates in den USA stellen eine Besonderheit der amerikanischen Kultur dar,
die sich in dieser Hinsicht sowohl von der Kultur Chinas als auch der von Deutschland unterscheidet.
Die Unterstützung der Demokratie als Herrschaftsordnung bei der überwiegenden
Mehrheit in China ist zunächst einmal ein beAbb. 3 Der World Values Survey (Weltweite-Werte-Umfrage – WVS) ist die umfangreichste und weitmerkenswerter empirischer Befund. Darüber
räumigste Umfrage über menschliche Werte, die je durchgeführt wurde. Es ist ein anhaltendes akademihinaus wird von den chinesischen Bürgern
sches Projekt von Sozialforschern, um den Status von soziokulturellen, moralischen, religiösen und politidas Merkmal ‚Die Bürger wählen ihre Führer
schen Werten verschiedener Kulturen der Welt zu ermitteln. Die detaillierten Ergebnisse sind größtenteils
in freien Wahlen‘ von 81 Prozent als essentiauf der Website des Projekts zu finden: www.worldvaluessurvey.org. Die Fragebögen der jüngsten Welle beelle Charakteristik von Demokratie anstanden aus etwa 250 Fragen. In jedem Land werden die Fragebögen an etwa 1.000 bis 3.500 Befragte
ausgeteilt, in der vierten Welle (2005–2008) mit einem Durchschnitt von 1.330 Interviews pro Land und
gesehen. Das entspricht wiederum der
einer weltweiten Gesamtzahl von etwa 92.000 Befragungen.
© www.worldvaluessurvey.org
Demokratienorm und insofern ist das Demokratieverständnis der Chinesen ‚korrekt‘.
Diese im Sinne der Demokratienorm positiTradition. Zu dieser These passt auch die sehr geringe Religiosität
ven Ergebnisse müssen aber durch andere Befunde wie z. B. die
in China und die sehr starke Religiosität in den USA.
»Möglichkeit von Militärherrschaft« relativiert werden (| Abb. 2 |).
In (| Abb. 3 |) sind die Ergebnisse einer anderen Analyse auf der
In China stimmen 45 Prozent der Befragten der Aussage zu ‚Die
Basis des World Values Survey dargestellt. Im Unterschied zu unArmee übernimmt die Regierung, wenn die Regierung inkompeserer Analyse beruht diese auf einem sehr vereinfachten Wertetent ist‘. Das ist ein eklatant höherer Prozentsatz als in den USA
konzept, das nicht verschiedene Ebenen und Bereiche einer Geund in Deutschland, und das widerspricht der Demokratienorm.
sellschaft unterscheidet, aber sie berücksichtigt alle Länder, in
Darüber hinaus sind 42 Prozent der chinesischen Bürger der Aufdenen der World Values Survey durchgeführt worden ist. Diese
fassung, dass ihr eigenes Land ‚vollständig demokratisch ist‘. Und
Analyse kommt grundsätzlich zu vergleichbaren Ergebnissen. Dadas in einem Land, dessen Herrschaftsordnung von Experten einnach gehören China, die USA und Deutschland drei unterschiedlideutig als Autokratie eingestuft wird (u. a. Heilmann 2004). Die
chen Kulturkreisen an. Die Kulturen Chinas und der USA liegen
Unterstützung der Demokratie in China ist nach diesen Befunden
relativ weit auseinander, die Kultur Deutschlands liegt dazwiim Unterschied zu den USA und Deutschland zumindest ambivaschen. In China dominieren »säkular-rationale Werte« und »Überlent, oder aber man postuliert ein anderes Demokratieverständlebenswerte« und in den USA »traditionelle Werte«, die vor allem
nis als das westliche.
auf religiösen Orientierungen beruhen, sowie »Selbstentfaltungswerte«, bei denen das Individuum im Vordergrund steht.
Deutschland liegt vor allem aufgrund schwächerer religiöser OriDiskussion der empirischen Befunde
entierungen beim Pol »säkular-rationaler Werte« (wie China),
weist aber aufgrund stärker etatistischer Orientierungen gerinEs wird häufig angenommen, dass die Kultur von China und die
gere »Selbstentfaltungswerte« auf als die USA.
der USA sich erheblich unterscheiden und sie jeweils einzigartig
Ein bemerkenswertes Ergebnis und ein Ausdruck dessen, dass die
sind. Für diese Annahme liefert unsere Analyse einige empirische
Besonderheit der eigenen Kultur auch im Bewusstsein der Bürger
Evidenzen. Besonders deutlich wird das bei den grundlegenden
Chinas und der USA vorhanden ist, ist die in beiden Ländern vorWertorientierungen, die in Bezug auf die Theorie von Schwartz
liegende außerordentlich hohe Identifikation mit dem eigenen
analysiert worden sind. Dabei zeigt sich, dass auf dem Kontinuum
Land. Diese Identifikation bezieht sich aber auf ganz unterschiedmit den beiden Polen ‚Vorrang des Individuums‘ und ‚Vorrang der
liche Inhalte und Traditionen.
Gemeinschaft‘ die USA eindeutig dem individuellen Pol zuzurechDass die amerikanische Kultur mit Marktwirtschaft und Demonen ist und China dem gemeinschaftlichen Pol. Dieser Befund
kratie verträglich ist oder diese sogar fordert, ist ein wenig überentspricht der These, dass die amerikanische Kultur vor allem von
raschender Sachverhalt, der auch schon vielfach empirisch bestäden Wertorientierungen der protestantischen Sekten geprägt
tigt worden ist. Nach unseren empirischen Befunden werden aber
worden ist und die chinesische Kultur von der konfuzianischen
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Ein empirischer Vergleich der Kult uren von China , den USA und der EU
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DIETER FUCHS I EDELTRAUD ROLLER
Literaturhinweise
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Weltmacht. Das chinesische Jahrhundert, Quadriga,
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Democracy, 23, S. 5–13.
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Wiesbaden, S. 33–72.
Abb. 4 Abkommen zwischen den USA, China und der EU über gemeinsame Qualitätsstandards von
Kinderspielzeug
© picture alliance, 2008
14
wettbewerbs- und leistungsorientierte Werte in China ebenso
stark präferiert wie in den USA. Dieses Merkmal der Kultur Chinas
dürfte zu der positiven ökonomischen Entwicklung beigetragen
haben, nachdem in der Ökonomie strukturelle Reformen durchgeführt worden sind.
Nicht ganz so eindeutig ist der Befund für den Bereich der Politik.
Zwar befürwortet auch in China die ganz überwiegende Mehrheit
eine Demokratie, aber sie schließt in bestimmten Fällen eine Militärherrschaft auch nicht aus. Eine interessante, aber hier nicht
weiter zu diskutierende Frage ist, inwieweit bei dieser Auffassung
die autoritäre Tradition Chinas zu Geltung kommt. Bemerkenswert ist auch, dass in China fast die Hälfte aller Befragten (42 Prozent) meint, dass ihr Land schon vollständig demokratisch sei. Bei
diesen Befunden lassen sich Zweifel anmelden, dass die politische Kultur Chinas mittelfristig einen Druck auf die Veränderungen der institutionellen Struktur des politischen Systems in Richtung auf das Modell der westlichen Demokratien ausübt, wie das
einige Autoren annehmen (u. a. Diamond 2012).
Die Kultur der EU wurde anhand der Wertorientierungen der Bürger Deutschlands ermittelt. Das schränkt die Verallgemeinerbarkeit der empirischen Befunde für die EU natürlich erheblich ein.
Andere empirische Studien können aber zeigen, dass die Wertorientierungen von Frankreich und Deutschland, den beiden Kernstaaten der EU, sich sehr ähneln und dass auch der Vergleich beider Länder mit den USA ein ähnliches Muster aufweist (Fuchs/
Klingemann 2008).
Die vergleichende Analyse hat gezeigt, dass die Annahme der Besonderheit und der Unterschiedlichkeit der Kultur von China und
der Kultur der USA auch empirisch bestätigt werden kann. Die
theoretischen Thesen, dass die Kultur Chinas immer noch stark
konfuzianisch geprägt ist und die Kultur der USA immer noch von
den Traditionen der protestantischen Sekten beeinflusst ist, sind
mit unseren empirischen Befunden zumindest verträglich. Offenbar kann »harte Macht« (Huntington 2002) im ökonomischen und
politischen Bereich auf der Grundlage ganz unterschiedlicher
Kulturen entstehen. Inwieweit sich die Unterschiedlichkeit beider
Kulturen auch auf die Konstellation der zukünftigen Weltordnung
auswirkt und welche Kultur langfristig erfolgreicher sein wird, ist
eine offene Frage.
Fuchs, Dieter (2002): Das Konzept der politischen Kultur: Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver
Absicht, in: Dieter Fuchs, Edeltraud Roller und Bernhard
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Ein empirischer Vergleich der Kult uren von China , den USA und der EU
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MATERIALIEN
M 1 Hans Vorländer: »Politische Kultur« der USA
Die amerikanische Selbstdeutung, dies macht die öffentliche Rhetorik der USA deutlich, ist durchzogen
vom Glauben der Einzigartigkeit (»uniqueness«). Dieser Gedanke der Exzeptionalität einer Neuen Welt
und der amerikanischen Nation findet sich indes
nicht nur in Predigten, Texten und öffentlichem Diskurs, sondern auch in der Selbsteinschätzung der
amerikanischen Bevölkerung wieder. Eine internationale Wertestudie zeigt, dass die USA mit Abstand die
»stolzeste« Nation sind. Auf die Frage: »Sind Sie stolz
… (Angehöriger einer bestimmten Nationalität) zu
sein?«, antworteten 98,5 % mit ja. Damit stehen die
USA unter den untersuchten 10 Staaten an erster
Stelle. Dabei zeigen sich keine großen, allenfalls graduelle Unterschiede in Bezug auf Alter, Ausbildung,
Einkommen, Region und Parteiidentifikation. AllerM 2 »The American Way of Life …«
© Gerhard Mester, 2012
dings sind weiße Bevölkerungsgruppen deutlich
stolzer als die schwarze Minorität. Auch Jugendliche
sind in den USA sehr patriotisch: 98 % geben an, stolz
auf ihre Nationalität zu sein, wohingegen nur 58 % in Großbritangesetzten Gesellschaften Europas der Fall ist. Die Bedeutung von
nien, 65 % in Deutschland und 80 % in Frankreich den Stolz für ihr
Religion und aus religiösen Vorstellungen abgeleiteten Moraljeweiliges Land teilen. (…)
werten verleihen der politischen Auseinandersetzung in den USA
In den USA, so haben politische und wissenschaftliche Beobachbisweilen einen fundamentalistischen Charakter. Zum anderen
ter immer wieder festgestellt, dominieren in der breiten Bevölkeverkennt die These von der liberalen politischen Kultur auch jene
rung Werte und Einstellungen, die man als klassisch-liberal kenngesellschaftliche Fragmentierung und ethnokulturelle Diversität,
zeichnen kann. Viele empirische Studien haben gezeigt, dass
die zu deutlichen Differenzierungen in den Einstellungen der BeAmerikaner die zentralen Werte von Individualismus, Gleichheit,
völkerungsgruppen zum politischen System und zu einzelnen PoFreiheit, Konstitutionalismus, Demokratie und Schutz des Eigenlitikfeldern führen. (…)
tums ganz überwiegend unterstützen. Diese Wertetradition, so
Die USA sind ein zutiefst religiöses Land. Im Grunde gilt auch
wird weiter argumentiert, zeigt sich erstens nahezu unverändert,
heute, was Alexis de Tocqueville schon vor mehr als 170 Jahren bei
seitdem es Meinungsumfragen gibt, also seit den 1930er-Jahren.
seinem Besuch in den USA beobachtet hatte, dass nämlich »die
Zweitens erscheint die liberale politische Kultur der USA weitestangloamerikanische Gesellschaft (…) aus der Religion hervorgegehend homogen, von einem Kanon gesellschaftlicher Wertvorgangen« ist und in den USA »die Religion daher mit allen nationastellungen und politischen Einstellungen charakterisiert, die sich
len Gewohnheiten und mit fast allen vaterländischen Gefühlen«
einem liberalen Traditionszusammenhang zurechnen lassen.
verschmolzen sei. Die Religion ist ein bleibender Faktor des perDrittens, so zeigt sich, erstreckt sich die Geltung dieser Wertesönlichen Lebensraumes und der amerikanischen Gesellschaft
und Einstellungsmuster auf alle Bevölkerungsteile, unabhängig
geblieben. Die Kirchgangshäufigkeit hat sich von 1939 bis heute
von Religion, Rasse, Ethnie und sozialer Schicht bzw. Klassenzuso gut wie nicht verändert. Nach wie vor sind 70 % der Amerikaner
gehörigkeit. Und schließlich, so wird gefolgert, haben auch die
Mitglieder einer Kirche oder einer kirchlichen Gemeinschaft. Ingroßen politisch-ideologischen Konflikte und Richtungsparteien
ternational vergleichende Studien haben immer wieder gezeigt,
an Geltung und inhaltlichem Zuschnitt nichts zu ändern verdass religiöse Werte in den USA nicht oder kaum an Bedeutung
mocht. Gesellschaftliche Wertvorstellungen und politische Einverlieren. 94 % der Amerikaner glauben an Gott, aber nur 70 %
stellungen, die einer liberalen Tradition zuzurechnen sind, könnder Briten und 67 % der Westdeutschen teilen diesen Glauben.
ten zum einen jene Besonderheiten in Politik und Gesellschaft der
86 % der Amerikaner glauben an die Bedeutung des Himmels, in
USA erklären, die im Eigen- bzw. Fremdbild immer als einzigartig
England sind es nur 54 % und in Westdeutschland 43 %. Dass der
herausgestellt worden sind: Die besondere Wertschätzung des
Teufel wirklich existiert, bejahen 69 % der Amerikaner, aber nur
Kapitalismus, des Unternehmertums, des Wettbewerbs und der
18 % der Westdeutschen und ein Drittel der Briten.
individuellen Leistungsethik auf der einen Seite; das Misstrauen
Sind religiöse Wertvorstellungen in den USA nach wie vor sehr
gegen Zentralstaat und Bundespolitik, die Ablehnung von Wohlstark verankert, so nimmt die Religion auch Einfluss auf das täglifahrtsstaat und Sozialprogrammen, die den Ärmsten der Armen
che private, soziale und politische Leben. 1995 sagten 58 % der
zugute kommen, auf der anderen Seite. Mit der Dauerhaftigkeit
befragten Amerikaner, dass Religion sehr bedeutend, und imeines liberalen Weltbildes, das dem 19. Jahrhundert entstammt
merhin noch 30 %, dass Religion bedeutsam für ihr privates eigeund auch für das 20. Jahrhundert Gültigkeit beanspruchen kann,
nes Leben sei. (…)
könnten die USA, die weder eine starke sozialistische Bewegung
ie USA sind, was die Stärke ihrer religiösen Orientierung angeht,
noch eine schlagkräftige sozialdemokratische Partei kannten, als
ohne Zweifel eine konservative Demokratie. Mit der Auffassung,
eine konservative Demokratie gekennzeichnet werden.
dass die Religion durchaus einen starken Einfluss auf Politik und
So bestechend die These und die Erklärungskraft der liberalen
Gesellschaft haben sollte und dass Politik, in Grenzen, auch von
politischen Kultur der USA auch ist, eine empirische Überprüfung
der »Kanzel herunter« gemacht werden kann, geht eine konservamacht auch Differenzierungen notwendig: Zum einen ist die politive Werteorientierung mit Blick auf gesellschaftliche und sexutische Kultur der USA nicht verständlich, wenn die Bedeutung von
elle Normen einher. Familie und familiäre Geborgenheit nehmen
Religion und Moral auf Weltanschauung und Politik unterschätzt
einen sehr hohen, wenn nicht gar den höchsten Rang in der Skala
wird. Gesellschaftliche Wertvorstellungen sind in den USA in eipersönlicher Wertvorstellungen ein.
nem weitaus größerem Maße religiös verankert, als es in den weiHans Vorländer: Politische Kultur, in: Lösche, Peter/von Loeffelholz, Hans Dietrich (Hrsg.):
testgehend säkularisierten und einem rapiden Wertewandel ausLänderbericht USA. Frankfurt 4/2004, S. 294, 299f., 303 (Lizenzausgabe bpb)
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M 3 Aust/Geiges: »Mit Konfuzius zur Weltmacht.
Das chinesische Jahrhundert«
Für chinesische Jugendliche ist Bill Gates ein Idol wie
für ihre amerikanischen Altersgenossen Britney
Spears. Das Idol der amerikanischen Jugendlichen
aber ist – eben Britney Spears.
Diesen Vergleich bringt Thomas L. Friedman gern,
Kolumnist der New York Times, dreifacher Pulitzerpreisträger und Autor des internationalen Bestsellers
Die Welt ist flach. Weiter sagt er dann: »Und genau
das ist unser Problem.«
Fragt man Bill Gates persönlich, so erzählt er, dass
die »Qualität der Ideen« im Forschungszentrum von
Microsoft in Peking am größten ist. Auf der ACM SIGGRAPH (Association for Computing Machinery›s Special Interest Group on Computer Graphics and Interactive Techniques), der globalen Konferenz für
Computergrafik und interaktive Technologien, überholten die Microsoft-Entwickler aus Peking die Eliteuniversitäten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Stanford in der Zahl wissenschaftlicher
Aufsätze.
M 5 »Das kommunistische China mit 60«
© Chappatte, 2.1.2009
Historisch gesehen ist das nichts Neues. Noch im
Jahr 1820 erwirtschaftete das Reich der Mitte ein
Drittel des Bruttosozialprodukts der Welt. 800 Jahre
heitsorgane. Vielmehr spielten besondere Methoden der Kontvor Gutenberg schon druckten die Chinesen Bücher. 1300 Jahre
rolle eine wichtige Rolle bei der Herrschaftssicherung, insbesonvor den Europäern stellten sie Stahl her. Sie erfanden das Papier,
dere politische Kampagnen, die Danwei-Organisation und eine
das Porzellan, das Schießpulver und den Kompass. (…)
restriktive Wohnsitzregistrierung. Erst die Schwächung dieser
Der Kontrast könnte größer nicht sein. In Stuttgart protestieren
Kontrollmechanismen hat seit den Achtzigerjahren einen rapiden
»Wutbürger« gegen einen neuen Bahnhof, der seit 15 Jahren geAusbau des Polizeiapparates nach sich gezogen. (…)
plant ist. Monatelang dreht sich alles um den Protest der »WutZu den charakteristischen Herrschaftsinstrumenten der KPC gebürger« gegen das Projekt. Der Schutz des Juchtenkäfers, welcher
hörten bis zum Ende der Siebzigerjahre die sogenannte »Massenzur Unterfamilie der Rosenkäfer gehört, wird vorgeschoben, um
linie« und der »Klassenkampf. In einer nicht abreißenden Serie
die Bauarbeiten zu stoppen. Polizeieinsätze mit Wasserwerfern
von politischen Kampagnen wurden die »Volksmassen« zur
und Knüppeleien, endlose Fernsehdebatten und am Ende ein ReDurchsetzung der revolutionären Ziele der Partei und zur »Säubegierungswechsel demonstrieren die Verweigerungshaltung grorung« der Gesellschaft von »Klassenfeinden« (Grundbesitzer, Prißer Teile der Bevölkerung. In eineinhalb Jahrzehnten stampften
vatunternehmer und sämtliche politische Gegner der KPC) mobidie Chinesen andererseits ganze Mega-Citys aus dem Boden.
lisiert. Unter dem Druck des »Klassenkampfes« erzwang die KPC
Während an Berliner Schulen der Unterricht im Chaos versinkt,
ein hohes Maß an politischer Konformität (Bennett 1976). Die
erreicht Shanghai bei der Pisa-Studie Platz 1. Es folgen Hongkong,
durch willkürliche Demütigungen, Denunziationen und GewaltSingapur und Südkorea. Sie alle berufen sich auf einen Mann, der
akte gekennzeichneten Massenkampagnen fanden in der »Groseit fast 2500 Jahren tot ist: Konfuzius. Er predigte Lernen und
ßen Proletarischen Kulturrevolution« (1966–1976) ihren HöheDisziplin, genau das, was heute im globalen Wettlauf zählt. Eine
punkt. Diese von Mao Zedong initiierte Massenbewegung sollte
repräsentative Umfrage unter 1878 Studenten von 24 chinesioffiziell der Überwindung feudalistischer und bourgeoiser Reschen Universitäten kam 2011 zu dem Ergebnis: Konfuzius gilt ihlikte, der Schaffung eines neuen sozialistischen Menschen sowie
nen als erster Symbolbegriff für ihre Nation und als die wichtigste
der »Säuberung« von Partei und Gesellschaft dienen. Mit den AufPerson, die chinesische Werte nach außen vermitteln kann. Mao
rufen Maos, die »Klassenfeinde« auch in der KP zu suchen, taten
landet weit abgeschlagen auf Rang 30.
sich tiefe Risse in der Herrschaftsordnung auf. Zuvor unterdrückte
Aust, Stefan/Geiges, Adian (2012): Mit Konfuzius zur Weltmacht. Das chinesische Jahrhunsoziale Spannungen entluden sich in blutigen bürgerkriegsähnlidert. Quadriga-Verlag. Berlin, S. 9 und S. 12f.
chen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen in
Partei und Gesellschaft. Nach den Wirren der »Kulturrevolution«
und dem Tode Mao Zedongs 1976 schwenkte die chinesische FühM 4 Sebastian Heilmann: »Kontrollmechanismen in China
rung Ende der Siebzigerjahre unter der Regie Deng Xiaopings auf
unter Wandlungsdruck«
einen Kurs der administrativen und wirtschaftlichen Konsolidierung um. Die KPC bedient sich heute nur noch gelegentlich –
Seit die Parteiführung in den Achtzigerjahren weitgehend auf
etwa bei der Bekämpfung der Kriminalität oder illegaler religiöideologische Massenkampagnen zur Politikdurchsetzung verser Gruppen – maoistischer Kampagnenmethoden, ohne
zichtete und den politischen Konformitätsdruck verringerte, ging
allerdings offen auf die »Klassenkampf-Ideologie der Mao-Ära
die Kontrolle der KPC über das Privatleben der Bevölkerung
zurückzugreifen.
schrittweise zurück. Es setzte eine fortschreitende Pluralisierung
In Chinas Städten wurde in den Fünfzigerjahren – in einer eigenvon Lebensformen, Konsumgewohnheiten, Wertvorstellungen
tümlichen Kombination sozialer Kontrollmechanismen des tradiund sozialen Milieus ein. Welche politischen Auswirkungen hat
tionellen ländlichen Chinas, der kommunistischen Basisgebiete
der soziale Wandel der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte? Ist
und des sowjetischen Systems – ein dichtes Netz sogenannter
die chinesische Gesellschaft etwa auf dem Weg zur SelbstbehaupDanwei (»Basiseinheiten«) in Unternehmen, Behörden, Schulen
tung gegenüber der Autorität von Partei und Staat? (…)
und Straßenvierteln etabliert. Jeder Chinese wurde an seiner ArDie politische Kontrolle der Bevölkerung stützte sich in der VRC
beits-, Ausbildungs- oder Wohnstätte einer von der KPC beaufbis in die Achtzigerjahre hinein nicht primär auf staatliche Sichersichtigen Basisorganisation zugeordnet. Die Danwei nahm wich-
Ein empirischer Vergleich der Kult uren von China , den USA und der EU
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tige Funktionen im Alltag wahr, von der Wohnungsversorgung
und Krankenversicherung über die Streitschlichtung bis hin zu
Eheberatung und Familienplanung. Die weitreichenden Eingriffsund Verteilungsbefugnisse der Danwei ermöglichten ein nahezu
lückenloses System sozialer Beaufsichtigung und politischer Bevormundung in Chinas Städten. Mit dem Vordringen der Marktwirtschaft seit den Achtzigerjahren allerdings büßten die »Basiseinheiten« viele ihrer Funktionen ein: Mit dem Wachsen des
privaten Wirtschaftssektors entstanden
neue marktwirtschaftliche Alternativen etwa bei der Arbeitssuche
oder der Wohnraumversorgung. Der Niedergang vieler Staatsunternehmen trug ebenfalls zu einem Funktionsverlust der Danwei
bei. Für viele Chinesen bringt diese Entwicklung einerseits neue
Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten mit sich, andererseits
aber auch höhere Lebensrisiken, da eine umfassende soziale Absicherung im Rahmen der Danwei immer seltener gewährleistet
ist. (…)
Insgesamt verlieren die aus der Mao-Ära stammenden Mechanismen der sozialen Kontrolle durch wirtschaftliche Veränderungen
und zunehmend räumliche Mobilität an Wirksamkeit. Deshalb
verfügt die chinesische Bevölkerung heute über größere private
– rechtlich allerdings nicht abgesicherte Freiheiten als jemals zuvor unter kommunistischer Herrschaft. So haben sie die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Betätigung, zur Meinungsäußerung ir
privaten Kreis, zu Inlands- und Auslandsreisen sowie künstlerische und wissenschaftliche Ausdrucksmöglichkeiten stark ausgeweitet. Die politische Führung duldete die Entstehung neuer Freiräume, die allerdings durch willkürliche Repressalien verwundbar
bleiben.
Heilmann, Sebastian (2/2004): Das politische System der Volksrepublik China. SV-Verlag,
Wiesbaden, S. 194–197
M 6 Helmut Schmidt: »Nachbar China«
Frank Sieren: Die ideologische Überzeugungskraft des Kommunismus
verblasst täglich mehr. Gleichzeitig gibt es keine übergreifende Religion,
die in China massenhaft und fest verankert wäre. Ist das ein fruchtbarer
Boden für einen unangenehmen Nationalismus jenseits des Nationalstolzes?
Helmut Schmidt: Um dieses Problem zu betrachten, müssen wir
über China hinausblicken. Schauen wir in den Irak, schauen wir
nach Syrien, schauen wir nach Ägypten oder nach Algerien. Dort
leben viele Millionen Menschen, denen es – an unseren Maßstäben gemessen – ökonomisch nicht gut geht. Gleichzeitig bekommen diese Menschen übers Fernsehen jeden Tag vorgeführt, wie
gut es Herrn Müller und Herrn Johnson und inzwischen auch
Herrn Li geht. Das empfinden sie als ungerecht und suchen nach
Ausdrucksformen für ihren Protest. Viele finden als Leitlinie dafür
ihre Religion, den Islam. Aber auch die Amerikaner halten sich,
wenn sie unter Druck geraten wie anlässlich des 11. September, an
den christlichen Gott. Diesen Gott gibt es in China für die allermeisten der 1,3 Milliarden Menschen nicht. Natürlich gibt es Buddhisten, es gibt auch Christen, es gibt auch Andersgläubige; aber
die allermeisten haben keinen Gott, an den sie sich halten können. Das ist ganz anders als in Indien. In Indien ist man Hindu
oder Muslim oder man gehört einer Sekte an; Indien ist religiös
orientiert, China nicht. Das war in China immer so.
Die Chinesen haben zwar vom Himmel geredet, der war jedoch
nicht personifiziert. In China gab es keine Engel und keine Propheten. Die großen Religionen sind durch charismatische Gestalten geprägt worden, wie Jesus von Nazareth, Buddha, Mohammed. Die Chinesen haben seit zweitausend Jahren nur die
vernunftbegründete Ethik des Konfuzius. Als die Kommunisten
ihre Herrschaft 1949 antraten, haben sie zunächst den Konfuzianismus beiseite geschafft und an dessen Stelle den Marxismus,
Leninismus, Stalinismus, Maoismus setzen wollen. Das ist ihnen
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M 7 »Chinesischer Kompass«
© Heiko Sakurai, 15.3.2010
allerdings nicht gelungen. Stattdessen ist ein Vakuum entstanden. Nun ist die Frage, wie dieses Vakuum gefüllt wird. (…)
Frank Sieren: Ist der wirtschaftliche Aufstieg leichter für eine Nation,
die nicht am Glauben hängt, oder ist er schwieriger? Der Soziologe Max
Weber hielt die protestantische Ethik für außerordentlich nützlich.
Helmut Schmidt: Das ist eine schwierige Frage. Der ökonomische
Aufstieg der USA, der bei weitem die größte Höhe erreicht hat im
Vergleich zu allen anderen Staaten der Welt, ist nicht einhergegangen mit einem Verzicht auf den lieben Gott, eher im Gegenteil. In Europa ist der ökonomische Aufstieg durchaus einhergegangen mit einem Verlust an Religiosität. Dieser Verlust ist aber
nicht primär eine Folge des ökonomischen Aufstiegs Europas,
sondern eine Folge der Aufklärung. Die Amerikaner sind mit einem relativ hohen Maß an Religiosität zur Weltmacht aufgestiegen. Andererseits haben es die Europäer mit abnehmender Religiosität auch sehr weit gebracht. In einem Land von der Größe
Chinas ist ein Zusammenhalt dringend nötig, dringender als in
einem kleinen Land. Dabei sollte man sich nicht auf den Nationalismus verlassen, der kann im Krisenfall unerwünschte Nebeneffekte hervorbringen. Die Füllung des Vakuums kann sehr langfristige Entwicklungen über mehrere Generationen erfordern. (…)
Frank Sieren: Das klingt nach Konfuzianismus. Ist der wünschenswert?
Helmut Schmidt: Was wünschenswert ist und was nicht, kann ich
nicht beantworten. Die Chinesen müssen ihre eigenen Wertskalen aufstellen und befolgen. Aber ich halte es nicht für ganz unwahrscheinlich, dass wir es im Verlauf dieses Jahrhunderts erleben werden, dass eine Reihe von Prinzipien des Konfuzianismus
im Bewusstsein dieser riesigen Nation wieder auferstehen wird.
Sicherlich nicht in der gleichen Form, in der Konfuzius und seine
Nachfolger ihn gelehrt haben. Ich sehe vieles wiederkommen, sogar die Pflicht des Kaisers, dafür zu sorgen, dass es seinem Volk
gut geht. Wenn er diese Pflicht nicht erfüllt, muss er abgesetzt
werden. Dies ist den führenden Köpfen der kommunistischen Regierung heutzutage mehr denn je bewusst.
Frank Sieren: Und deswegen strengen sie sich an, obwohl sie formell
nicht abgewählt werden können.
Helmut Schmidt: Ich bin überzeugt, dass sie sich nicht nur anstrengen, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, sondern sie
strengen sich Chinas und des Volkes wegen an. Ihr Glauben daran, dass China wieder in seine angestammte Position als Weltmacht zurückkehren wird, ist nicht zu unterschätzen. (…)
17
Schmidt, Helmut/Sieren, Frank (2/2008): Nachbar China. Helmut Schmidt, Gespräch mit
Frank Sieren. Ullstein. Berlin. S. 221–223
Ein empirischer Vergleich der Kult uren von China , den USA und der EU
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DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA
3. Das politische System der USA –
Strukturfragen und Zukunftsfähigkeit
HARALD BARRIOS
Z
weifellos ist es in den USA alles andere als einfach, ein
weitreichendes und konsistentes Reformprogramm umzusetzen. Die Spielregeln des politischen Systems verhindern
ein »Durchregieren« und fördern die punktuelle Kompromisssuche. Vom Standpunkt der Anhänger Obamas mag man dies
beklagen, man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass die
komplizierten Regelungen der »checks and balances«, also
der wechselseitigen Kontrolle und Ausbalancierung der Gewalten, auch die Transformationsversuche in die entgegengesetzte, konservative Richtung erschweren. Nur bei einem
breiten gesellschaftlichen Konsens wären die institutionellen
Hürden ohne weiteres zu überwinden. Aktuell kann freilich
von einem breiten Konsens keine Rede sein, im Gegenteil: Der
politische Wettbewerb ist ideologisch polarisiert, wobei sich
die politischen Lager nahezu gleichstark gegenüberstehen.
Obwohl somit keine der beiden Seiten ihre Maximal-Agenda
durchzusetzen vermag, ist die überparteiliche Kompromissfindung, die in den USA eigentlich Tradition hat, zur Seltenheit
geworden und es droht immer wieder die wechselseitige Blockade. Diese Situation aber ist in erster Linie gesellschaftlichkulturellen und nicht politisch-institutionellen Faktoren geschuldet.
18
Die Präsidentschaft Obamas und die Opposition
der Republikaner
Vor vier Jahren erlebten die USA einen Moment von historischer
Bedeutung: Mit Barack Obama wurde erstmals ein »African American« zum Präsidenten gewählt, ein wichtiger Meilenstein angesichts der Vergangenheit von Sklaverei, Bürgerkrieg, Segregation
und mühsamer Durchsetzung der Bürgerrechte. Durch seine Herkunft verkörperte der junge, charismatische Politiker zugleich
den multikulturellen Charakter Amerikas und mit seiner Programmatik des politischen Wandels signalisierte seine Wahl einen politischen Aufbruch. »Change«, das Versprechen, das Land
entschlossen in eine neue Richtung zu führen, durch eine authentisch wirkende, leidenschaftliche Rhetorik beschworen, stieß in
Schichten, die sich bislang am politischen Leben wenig beteiligten oder beteiligen konnten, vor allem bei den African Americans
und den Einwanderern aus Lateinamerika sowie jungen Leuten,
auf enormen Widerhall.
Zugleich fand dieser politische Richtungswechsel im Kontext der
schwersten Wirtschaftskrise in den USA seit 50 Jahren statt.
Würde dies die versprochenen Reformen eher erschweren oder im
Gegenteil ihre Durchsetzung erleichtern? »Never waste a good
crisis!« (»Verschwende niemals eine gute Krise!«) hieß es sinngemäß bei den Beratern Obamas. Mit anderen Worten: Die Dramatik der Krise mit einem Ende 2008 rapide zurückgehenden Bruttoinlandsprodukt (um ca. 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) sollte
allen die Dringlichkeit der Strukturreformen vor Augen führen.
Gleichwohl hatten es Obama und die demokratische Kongressmehrheit dann trotz einiger Erfolge unerwartet schwer. Bei den
Kongresswahlen 2010 siegten die Gegner Obamas und dem Präsidenten wurden damit enge Grenzen bei der Umsetzung seines
politischen Programms gesetzt.
Die Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2012 finden daher unter veränderten Vorzeichen statt. Die Aufbruchstimmung von
2008 ist längst einer deutlichen Ernüchterung gewichen. Zwar
konnte die Wirtschaftskrise eingedämmt und das Schlimmste –
Abb. 1 Präsident Barack Obama sprach am 24.1.2012 vor den beiden Häusern
des Kongresses in Washington
© Sandy Schaeffer Hopkins, picture alliance, 2012
ein Absturz in eine Wirtschaftsdepression, wie dies nach 1929 geschehen war – durch hohe Staatsausgaben verhindert werden.
Die wirtschaftliche Erholung aber kam dann langsamer in Fahrt
als erhofft und ist bisher für die Masse der Bevölkerung kaum
spürbar. Umstritten ist unter Experten, ob der akuten Finanzkrise
nun eine längere Zeit eines chronisch schwachen Wachstums
folgt oder ob im Gegenteil ein markanter Aufschwung unmittelbar bevorsteht. Letztere Sichtweise gewinnt an Plausibilität, da
sich neue Möglichkeiten der Erdöl- und Erdgasgewinnung in
Nordamerika mit einem entsprechenden Investitionsboom (und
entsprechenden Kosten für die Umwelt) abzeichnen. Vor diesem
Hintergrund sind Erfolg und Reichweite der wenigen tatsächlich
realisierten Reformen Obamas bislang nicht klar. Ihre Wirkung
können sie erst in den nächsten Jahren entfalten, sofern sie, wie
Romney dies im Fall der Gesundheitsreform angekündigt hat,
nicht nach einem Wahlsieg des republikanischen Herausforderers
wieder zurückgenommen werden. Gerade die mit dem gigantischen Konjunkturpaket Obamas und der damals noch demokratischen Kongressmehrheit Anfang 2009 in Höhe von rund 800 Milliarden Dollar angestoßenen industriepolitischen Initiativen und
Investitionen in Forschungsprojekte, die auf eine verbesserte
Wettbewerbsfähigkeit der USA und auf eine höhere Energieeffizienz zielen, können sich erst langfristig auszahlen.
Hört man sich die Reden Obamas aus dem Wahljahr 2008 heute
nochmals an, so bemerkt man, dass es ihm bereits damals um
eben diese langfristige Perspektive ging, seine kurzfristigen Versprechen aber moderat und begrenzt blieben. Insofern muss eine
Evaluierung seiner bisherigen Bilanz nicht zwangsläufig enttäuschen. Einige große Reformvorhaben, wie die hart umkämpfte
Gesundheitsreform und die Neuregulierung der Finanzmärkte,
konnten mit Abstrichen verwirklicht werden. Im Bereich der ökologischen Umsteuerung und der Energiewende bleibt das Erreichte allerdings weit hinter den Erwartungen zurück und mit
dem anstehenden Energieboom steht möglicherweise sogar ein
Rückschritt hinsichtlich der CO2-Bilanz bevor.
Die Republikaner interpretierten ihre Oppositionsrolle in den Jahren nach 2008 als harten Konfrontationskurs, indem sie die von
Obama beschworene Zusammenarbeit über die Parteiengrenze
hinweg konsequent verweigerten. Nach ihrem Sieg bei den Kongresswahlen 2010 wurden freilich ihre internen Unstimmigkeiten
deutlicher und es zeigten sich Schwierigkeiten bei dem Versuch,
eine konsistente konservative Programmatik zu entwickeln. Letz-
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ten Endes gelang dies erst unmittelbar vor
dem Nominierungsparteitag im Sommer
2012, wobei einige Ungereimtheiten zwischen dem eher moderaten Präsidentschaftskandidaten Romney und der radikalkonservativen Agenda der »Tea Party«-Basis
nicht völlig aufgelöst werden konnten.
Zu Beginn der heißen Wahlkampfphase im
Herbst 2012 bietet sich den amerikanischen
Wählern nunmehr folgende Alternative: auf
der einen Seite ein erneuter grundsätzlicher
Kurswechsel, diesmal in die entgegengesetzte, konservative Richtung. Auf der anderen die Fortsetzung der Präsidentschaft
Obamas – mit einer allerdings wesentlich
kompromissbereiteren und weniger ambitionierten Agenda. Da ein durchschlagender
Erfolg der Demokraten bei den Kongresswahlen nicht zu erwarten ist, erscheint eine
energische Komplettierung der Obama-Programmatik von 2008 als weniger wahrscheinlich.
Abb. 2 »In diese Richtung …«
Strategische Ausgangssituation der Wahlen 2012
Somit scheint Obama im Kontext der anhaltenden Wachstumsflaute und der resultierenden gesellschaftlichen Verunsicherung
über keinen nennenswerten Amtsbonus bei den Wählern zu verfügen – untypisch für eine Präsidentschaftswahl, in der ein Herausforderer gegen einen Amtsinhaber antritt. Allenthalben wird
darauf hingewiesen, dass in historischer Langzeitperspektive
noch nie ein amtierender Präsident die Wahl gewonnen habe,
wenn die Arbeitslosenquote über acht Prozent lag, wie dies noch
im Frühherbst 2012 der Fall war. Andererseits ist es der republikanischen Seite offensichtlich schwergefallen, eine Gegenkandidatur »aus einem Guss« aufzubauen. Präsidentschaftskandidat und
Programmatik harmonieren alles andere als perfekt. Die republikanische Herausforderung bei der Präsidentschaftswahl vermag
bisher nicht aus eigener Kraft zu überzeugen, sondern lebt von
der verbreiteten Enttäuschung über Obama.
Hinsichtlich der Kongresswahlen haben die Republikaner die
deutlich größeren Erfolgschancen, da hier die Verhältnisse vor
Ort eine überragende Rolle spielen und die im Gesamtmaßstab
der USA widersprüchlich erscheinenden Positionen innerhalb der
republikanischen Partei (z. B. zur Haushaltspolitik) auf den jeweiligen Wahlkreis bezogen geklärt bzw. angepasst werden können.
Außerdem können die Republikaner hinsichtlich der auf der
Ebene der Wahlkreise wichtigen oder sogar entscheidenden »weichen« social issues (wie z. B. Abtreibung, gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaften, Immigration) auf konservative »schweigende Mehrheiten« hoffen, deren Positionen in der veröffentlichten Meinung auf gesamtnationaler Ebene wenig oder gar nicht
präsent sind. In diesen Regionen verbinden sich die genannten
gesellschaftlichen Fragen, bei denen sich traditionalistische Wähler subjektiv an den Rand gedrängt fühlen, mit den Auswirkungen
der Wirtschaftskrise, da Arbeitslosigkeit ebenfalls Gefühle sozialer Ausgeschlossenheit mit sich bringt. Bereits seit einigen Jahren
haben im Süden und Südwesten die Republikaner die Rolle der
Partei der durch Arbeitsplatzverlust bedrohten weißen Mittelschicht angenommen. Auch der evangelikale christliche Fundamentalismus spielt hierbei eine große Rolle. In vielen Wahlkreisen
geht es nicht mehr darum, ob ein Republikaner oder ein Demokrat Wahlsieger wird, sondern welcher Republikaner am Ende das
Mandat erhält. Oft stehen sich dabei ein moderater bisheriger
Amtsinhaber und ein/e rechtsgerichtete Newcomer/in der »Tea
Party« gegenüber.
Freilich hat diese Entwicklung für die Republikaner die Kehrseite – worauf einige Vertreter der republikanischen Partei bereits
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© Gerhard Mester, 2011
warnend hingewiesen haben – dass sich die lateinamerikanischen
Einwanderer auf Dauer zu den Demokraten hin zu orientieren
scheinen, wie die Amerikaner afrikanischer Abstammung bereits
seit langem. Hinsichtlich dieser Minderheiten würde es für die Demokraten dann in erster Linie darum gehen, eine möglichst große
Zahl von Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu motivieren.
Ob die Republikaner ihre regionale kulturelle Hegemonie bei der
Präsidentschaftswahl 2012 ausspielen können, scheint aus zwei
Gründen eher fraglich: Erstens entspricht ihr Kandidat Mitt Romney als Mormone sowie als ehemaliger Manager des Großunternehmens Bain, das marode Unternehmen aufkauft und um den
Preis von Arbeitsplatzreduzierung saniert, nicht dem Leitbild der
»Tea Party« und bietet der vom Abstieg bedrohten weißen Mittelschicht wenig Identifikationsmöglichkeiten. Entsprechend gedämpft bleibt der Enthusiasmus der republikanischen Basis für
ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten.
Zweitens lässt der sich abzeichnenden Erfolg der Republikaner
bei den Kongresswahlen die von ihnen geschürten Befürchtungen, Obama werde das Land nach links führen, unglaubwürdig
werden. Denn bei einer Wiederwahl wird Obama sich aller Voraussicht nach einem republikanisch dominierten Kongress gegenübersehen, sodass er eine noch stärkere Kompromissbereitschaft
zeigen wird. Gerade dies könnte wiederum die Unentschlossenen
und Wechselwähler am Ende doch dazu bewegen, für ihn zu votieren. Denn die verschiedenen, in der republikanischen Partei kursierenden Vorschläge zur Kürzung staatlicher Ausgaben können
auf Angehörige der Mittelschicht durchaus bedrohlich wirken.
Aus Sicht der Anhänger Obamas freilich ist diese Entwicklung ihres Kandidaten vom Charismatiker zum »kleineren Übel« alles
andere als schmeichelhaft.
19
Kompromiss oder Blockade?
Im Kontext der institutionellen Gegebenheiten und der Funktionsweise des politischen Systems der USA betrachtet ist diese
Entwicklung freilich keineswegs untypisch. Die strikte Gewaltenteilung bringt Sand ins Getriebe und erschwert die Umsetzung
weitreichender Reformprogramme. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um einen Defekt, sondern um eine seit dem Inkrafttreten der Verfassung intendierte Wirkung im Zusammenspiel
von Exekutive und Legislative. Ohne eine deutliche Mehrheit für
seine Partei im Kongress kann der Präsident sein Programm nicht
durchsetzen, sondern muss mit Hilfe loyaler Kongressmitglieder
Da s p olitische S ys tem der USA – Struk t urfr agen und Zukunf tsfähigkeit
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HARALD BARRIOS
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versuchen, überparteiliche Kompromisse für einzelne Punkte
auszuhandeln.
Dass Präsident und Kongressmehrheit unterschiedlicher politischer Couleur sind – eine Situation, die in den USA als divided
government bezeichnet wird – ist dabei alles andere als unwahrscheinlich, denn der Kongress, genauer gesagt das Repräsentantenhaus und jeweils ein Drittel des Senats, wird alle zwei Jahre neu
gewählt, während die Amtsperiode des Präsidenten vier Jahre beträgt. Zur Mitte der Amtszeit des Präsidenten finden demnach
Kongresswahlen statt, die mid-term elections, zuletzt also 2010.
Sind die Wähler zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich mit ihrem Präsidenten unzufrieden, so steigen die Chancen seiner Gegner, die
Mehrheit in zumindest einer Kammer des Kongresses zu erhalten.
Zwar stehen folglich alle vier Jahre Präsident und der Großteil des
Kongresses zur Wahl, dies geschieht aber in getrennten Wahlen,
d. h. jeder Wähler befindet mittels verschiedener Stimmzettel
über Präsident, Abgeordnete und Senatoren. Zwar kann ein Begeisterung auslösender Präsidentschaftskandidat bzw. amtierender Präsident die Wähler dazu bewegen, seine Parteifreunde in
den Kongress zu wählen. Möglich ist aber auch das split vote, das
bewusste Wählen politischer Gegensätze. Tatsächlich hat divided
government in den USA viele Anhänger, da dies als Sicherung
wechselseitiger Kontrolle und Kompromissorientierung gesehen
wird. Aber selbst wenn die Parteifreunde des Präsidenten über die
Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses verfügen, wie in
den beiden Jahren nach der Wahl Obamas, ist eine reibungslose
Umsetzung einer ehrgeizigen Reformagenda keineswegs garantiert. Formal liegt die Gesetzesinitiative nicht beim Präsidenten,
der von der Verfassung auf exekutive Aufgaben beschränkt ist.
Anders als in den europäischen parlamentarischen Systemen bilden Regierung und Parlamentsmehrheit keine Einheit. Somit
können sich im Gesetzgebungsprozess (der in Repräsentantenhaus und Senat unabhängig voneinander erfolgt) Vorschläge entwickeln, die mit den Vorstellungen des Präsidenten nicht deckungsgleich sind. Schließlich sind dann noch die beschlossenen
Vorlagen beider Kammern miteinander zu harmonisieren. Im
Laufe dieses komplizierten Prozesses ergeben sich zudem viele
Ansatzpunkte für den Lobbyismus gesellschaftlicher Interessengruppen. Tatsächlich hatten auch die demokratischen Präsidenten Carter und Clinton trotz vorübergehender Mehrheiten der
Demokraten keinen leichten Stand. Die Gesundheitsreform Clintons scheiterte in den Jahren 1992–94 an einem damals demokratisch dominierten Kongress.
Eine Sondersituation ergibt sich überdies für die Mehrheitspartei
im Senat: Verfügt sie nicht mindestens über 60 der 100 Sitze, so
können Vertreter der Minderheitspartei den Gesetzgebungsprozess durch Dauerreden auf unbestimmte Zeit verzögern, da das
Reglement keine Redezeitbeschränkung vorsieht. Solche Verzögerungen können den eng getakteten Zeitplan einer ehrgeizigen
Reformagenda torpedieren. Erst mit einer Mehrheit von 60 Stimmen können solche Dauerredner von Mehrheit zurückgewiesen
werden. Fällt die Mehrheit geringer aus, wie dies nach den Wahlen
2008 für die Parteifreunde Obamas der Fall war, so genügt bereits
die Androhung dieser »filibuster« genannten Blockademöglichkeit
durch die Opposition, um Verhandlungen über eine Kompromisslösung zu erzwingen.
Die Gestaltungsmöglichkeiten der Kongressmehrheit,
die einem Präsidenten durch
Obstruktion
das
Leben
schwer machen kann, sind
freilich ebenfalls begrenzt,
da der Präsident mit einem
Veto die vom Kongress beschlossenen Gesetze stoppen kann. Ein solches präsidentielles Veto kann nur von
einer denkbar unwahrscheinlichen Mehrheit von zwei
Dritteln beider Kammern des
Kongresses überstimmt werden. Freilich wird der Präsident ein solch extremes Mittel nicht bei jeder Gelegenheit
einsetzen können, ohne seine
politische Reputation zu
schädigen. Für die angekündigte Rücknahme der Gesundheitsreform und auch
für andere radikale Maßnahmen, die z. B. der Kandidat
für die Vizepräsidentschaft
Paul Ryan vorschlägt, benötigen die Republikaner allerdings 2012 das Präsidentenamt, um die bei einer
Wiederwahl Obamas drohenden Veto-Entscheidungen gegen Beschlüsse einer republikanischen Kongressmehrheit
zu vermeiden.
Mit dem Supreme Court hat
die Judikative in grundsätzlichen Streitfragen das letzte
Wort und bei weitreichenden
Reformvorhaben, wie dies
Abb. 3 Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 umstrittene Bundesstaaten (Prognosen, Stand September 2012)
z. B. auch in der Ära des New
© RCP, 26.9.2012, www.realclearpolitics.com/epolls/2012/president/2012_elections_electoral_college_map.html
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Deal-Programms F. D. Roosevelts der Fall war, ist vermehrt mit
Klagen der Reformgegner vor dem höchsten Gerichtshof zu rechnen. Nach einer langen Phase der liberalen Ausrichtung tendiert
der Supreme Court seit den 1980er-Jahren mehrheitlich in die
konservative Richtung. Daher war es ein überraschender Erfolg
für Obama, dass die obersten Richter Ende Juni 2012 die Gesundheitsreform mit knapper Mehrheit passieren ließen. Man kann
aber sicherlich nicht von diesem Fall auf weitere Unterstützung
des Supreme Court für Obamas Reformvorschläge schließen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Gewaltenteilung ist der ausgeprägte Föderalismus der USA: Die Einzelstaaten sind historisch
wie verfassungstheoretisch dem Bund vorgeschaltet und verfügen über weitreichende Kompetenzen. Wirtschaftliche und soziale Entscheidungen des Bundes sind von daher immer nur von
begrenzter Relevanz. In Fragen der Bildung oder auch hinsichtlich
der Details der Steuergesetzgebung kann der Bund letztlich nur
Rahmenregelungen bzw. Harmonisierungsvorgaben beschließen. Hieraus ergeben sich für die Einzelstaaten vielfältige Möglichkeiten, die Tendenz der Bundespolitik zu unterlaufen. Tatsächlich konterkarierten die von Republikanern regierten
Einzelstaaten Teile des Konjunkturprogramms Obamas, das
durch Erhöhung der öffentlichen Ausgaben die Wirtschaftsaktivität wiederzubeleben und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen versuchte, durch radikale Sparmaßnahmen.
Gleichwohl ist das politische System der USA nicht auf wechselseitige Blockade festgelegt, da bei einem inhaltlichen Konsens
der politischen Kräfte schnelle und weitreichende Entscheidungen durchaus möglich sind. Stimmen Präsident und Kongressmehrheit in wichtigen Fragen überein, wie dies beispielsweise
während der Präsidentschaft Ronald Reagans der Fall war, so sind
Weichenstellungen mit langfristigen Wirkungen möglich. Über
Jahrzehnte hinweg waren die Grenzen zwischen den beiden Großparteien inhaltlich und auch personell durchlässig. Parteiwechsel
galten nicht als ehrenrührig, so hat beispielsweise Ronald Reagan
seine politische Laufbahn als Demokrat, Hillary Clinton die ihre
als Republikanerin begonnen. Bekanntlich kennen die US-Parteien gar keine formelle Parteimitgliedschaft, als Demokrat oder
Republikaner definiert man sich über die Wahlabsicht bei der Registrierung, über seine ehrenamtliche Tätigkeit als Aktivist im
Wahlkampf, über seine Wahl zum Parteitagsdelegierten oder zum
Kandidaten für ein politisches Amt. Lehrbücher über das politische System der USA hoben stets den Mangel an ideologischer
Trennschärfe zwischen den Parteien hervor, es gab konservative
Demokraten und liberale Republikaner. Die Kompromissfindung
im Alltag war dadurch freilich leichter, in Krisenzeiten ließen sich
auch weitreichende Reformen durchsetzen. Populären Präsidenten wie F. D. Roosevelt gelang es, Widerstände zu überwinden,
auch wenn dies die Ausnahme war.
Heute dagegen sind die beiden Parteien ideologisch deutlich
konsistenter und programmtreuer, sie stehen sich fast durchgängig konfrontativ gegenüber. Diese Entwicklung geht letzten Endes auf die bewegten 1960er-Jahre zurück, als VietnamkriegsProteste und Bürgerrechtsbewegung zu einer ideologischen
Polarisierung in Richtung libertär-emanzipatorischer Werte einerseits und, als Reaktion, in Richtung eines zunehmend radikalen christlichen Fundamentalismus andererseits führten. Die sozialen Verteilungskämpfe in wirtschaftlichen Krisenzeiten
intensivierten dann in der Folgezeit die Konfliktorientierung. Seit
20 Jahren bewegen sich Demokraten und Republikaner in einem
jeweils eigenen gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, der Konkurrenzkampf um Ämter und damit um Gestaltungsmöglichkeiten
hat sich intensiviert.
Da es angesichts des Mehrheitswahlsystems in den USA wahlstrategisch kontraproduktiv wäre, eine neue Partei zu gründen, siedelte sich die Tea Party (nach der Boston Tea Party von 1773 benannt, anspielend auf die Steueraversion und den Patriotismus
der damaligen Bewegung), eine rechtsgerichtete Protestbewegung, unter dem Dach der republikanischen Partei an. Als Partei
in der Partei verstärkt sie dabei die ideologische Festlegung der
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Abb. 4 Obama und die wirtschaftliche Entwicklung in den USA
© Chappatte, 4.9.2012
Republikaner auf einen christlichen Konservatismus. Die gesellschaftlich-politischen Mehrheitsverhältnisse sind auf Bundesebene seit 20 Jahren stets knapp, Wahlsiege wie der Obamas 2008
werden daher immer nur als vorläufig und im Prinzip revidierbar
verstanden. Unter diesen Verhältnissen tendenziell gleich starker,
sich ideologisch wechselseitig ausschließender Optionen wurde
aus der Kompromisse nahelegenden Situation von »divided government« eine Situation des »gridlock«, also der wechselseitigen politischen Blockade.
Zukunftsfähigkeit des politischen Systems der USA
Es wäre etwas hoch gegriffen, dem politischen System der USA
mangelnde Zukunftsfähigkeit zu attestieren, zumal es durchaus
denkbar erscheint, dass sich die ideologische Polarisierung durch
demographische Entwicklungen mittelfristig wieder abschwächt.
In der Vergangenheit hat das politische System weit größere existenzielle Herausforderungen überstanden und dabei eine hohe
Anpassungsfähigkeit und Überlebenskraft bewiesen. Da die Hürden für eine Änderung der institutionellen Regelungen ohnehin
extrem hoch sind und sich perspektivisch keinerlei Konsens zu
einer grundlegenden Transformation des politischen Systems abzeichnet, werden soziale und ökonomische Reformprojekte auch
in Zukunft systemkonform zu erfolgen haben. Dies bedeutet
nicht, dass sie nicht tiefgreifend sein können, denn das politische
System ist flexibel genug, um inhaltlich ganz unterschiedliche
Sachpolitiken zuzulassen. Somit ist die Zukunftsfähigkeit der USA
weniger eine Frage der Funktionalität des politischen Systems als
eine gesamtgesellschaftlich zu leistende Aufgabe.
21
Literaturhinweise
Barrios, Harald (2006): Brave New Deal? Die systemische Wettbewerbsfähigkeit der USA, Verlag Dr. Kovaç, Hamburg.
Geier, Wolfgang (2012): Obamerika. Berichte aus dem Land der Gegensätze,
Galila Verlag, Etsdorf am Kamp.
Grunwald, Michael (2012): The New New Deal. The Hidden Story of Change
in the Obama Era, Simon & Schuster, New York.
Holtfrerich, Carl-Ludwig (2000): Wirtschaft USA. Strukturen, Institutionen,
Prozesse, R. Oldenbourg Verlag, München/Wien. 2. Auflage
Hübner, Emil (2007): Das politische System der USA. Eine Einführung, Verlag
C. H. Beck, München. 5. Auflage
von Marschall, Christoph (2012): Der neue Obama. Was von der zweiten
Amtszeit zu erwarten ist, Orell Füssli Verlag, Zürich.
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MATERIALIEN*
M 1 Peter Lösche: »Die USA sind anders«
Land der unbegrenzten Möglichkeiten und
der unbegrenzten Widersprüche; einzig verbliebene Supermacht nach Ende des OstWest-Konflikts; Speerspitze des Imperialismus und Hort von Demokratie und Freiheit.
Urteile und Vorurteile, Klischees und Stereotype prägen häufig unser Bild von den Vereinigten Staaten.
Es fällt Außenstehenden mitunter schwer,
dieses Land zu begreifen, seine Kultur, seine
Gesellschaft und auch sein politisches System. Das beginnt manchmal schon mit der
irrigen Annahme, die USA seien, da im 18.
und 19. Jahrhundert ganz überwiegend von
Europäerinnen und Europäern besiedelt,
M 2 »Wir müssten …« – »Wie Obama den Amerikanern Mut macht!«
© Klaus Stuttmann, 25.2.2009
nichts anderes als die Verlängerung Europas
über den Atlantik, gleichsam die westliche
Ausdehnung Großbritanniens.
rung. Gesellschaftliche Segmentierung meint also die schichtenWir erwarten Bekanntes und gehen nicht auf jene Distanz, die
und klassenmäßige, geografisch-räumliche, ethnische, kulturelle
zum Verstehen notwendig ist. Dies ist bereits der Ausgangspunkt
und religiöse Aufgliederung der US-Gesellschaft, die im Grad ihvieler Missverständnisse. Wer die Vereinigten Staaten tatsächlich
rer Aufteilung und Abschottung der einzelnen Teile gegeneinanbegreifen will, sollte sie zunächst als fremdes Land analysieren
der bei weitem das übertrifft, was in Deutschland und Westeuund versuchen, sie von innen heraus zu verstehen, nicht allein in
ropa gewohnt ist. Damit wird das Klischee relativiert, die
der Rolle, in der sie uns immer wieder begegnen, nämlich als
US-amerikanische Nation sei ein riesengroßer Schmelztiegel, in
Weltmacht im internationalen System.
dem nationale, sprachliche, kulturelle und religiöse Unterschiede
Die USA unterscheiden sich fundamental von Deutschland und
zwischen den Einwanderern eingeschmolzen würden. In Wirklichanderen europäischen Ländern. Um die Besonderheiten amerikakeit gleicht die US-amerikanische Nation einem bunten Flickennischer Politik und Gesellschaft kenntlich zu machen, werden im
teppich, in dem die einzelnen Bestandteile sehr wohl erkennbar
folgenden drei analytische Kategorien benutzt, die aus dem Verbleiben.
gleich Deutschlands bzw. Westeuropas mit den Vereinigten StaaDie segmentierte Struktur der Gesellschaft in den Vereinigten
ten gewonnen worden sind.
Staaten widerspiegelt sich in der Gestaltung ihrer politischen EinWährend die Gesellschaften Westeuropas – einschließlich
richtungen und Verfahrensweisen. Die politische Fragmentierung
Deutschlands – durch vergleichsweise zusammenhängende,
ist von den Gründungsvätern in Abgrenzung gegen den europäiübersichtliche Klassen- und Schichtenstrukturen gekennzeichnet
schen absolutistischen Staat des ausgehenden 18. Jahrhunderts
sind, die sich in vielen Lebensbereichen – wie dem Bildungssysbewusst angestrebt worden und blieb aufgrund der fundamentatem – niederschlagen, ist die US-amerikanische charakterisiert
len Skepsis der US-Bevölkerung gegen jede Art von Machtanhäudurch Segmentierung im Sinne von vielfältiger, unzusammenhänfung bis heute erhalten.
gend erscheinender, unübersichtlicher Zergliederung. Diese SegZweck US-amerikanischer Verfassungsregelungen und auch gementierung verlief als naturwüchsiger, unbewusster, prinzipiell
zielter politischer Praxis ist die Machtaufteilung. In diesen Zuungesteuerter und bis in die Gegenwart andauernder Prozess in
sammenhang gehört das, was als System der checks and balances
Geschichte und Gesellschaft, der jeweils erst im Nachhinein deut(Machtkontrolle und Machtausbalancierung) bezeichnet wird,
lich wird.
nämlich ein System prinzipieller Gewaltenteilung und nur punkZur Segmentierung haben verschiedene Faktoren beigetragen:
tueller Gewaltenverschränkung. Die relative Schwäche des Zentdie zeitlich je unterschiedliche Einwanderung verschiedenster
ralstaates und die Konkurrenz, ja Anarchie zwischen unzähligen
ethnischer Gruppen und die damit verbundene Besiedlung des
Ämtern und Institutionen, die sich in ihren Kompetenzen zum Teil
Landes, der Regionalismus und der Lokalismus. Konkret: Provinüberschneiden, sind ganz bewusst gewollt.
zialismus und Lokalpatriotismus in den USA wurzeln in den NachDies widerspricht gängigen europäischen Vorstellungen von der
barschaften und Stadtvierteln, als seien diese selbstständige
Allmacht des US-Präsidenten. Im Vergleich zum britischen Premikleine Inseln. Auf diesen Nachbarschaftsinseln leben häufig Menerminister, selbst im Vergleich zum Kanzler der Bundesrepublik
schen gleicher ethnischer Herkunft, die sich in punkto EinkomDeutschland ist die Stellung des Mannes im Weißen Haus weitaus
men, Sozialprestige, Kirchenzugehörigkeit, Schulbildung, Ausbilangreifbarer. Er hat beispielsweise im Kongress in der Regel keine
dungsweg ihrer Kinder und Wohnverhältnisse weitgehend
Mehrheit und wird von diesem, von den Gerichten, von der Presse
annähern. Dies sind Inseln der Gleichheit und Glückseligkeit
sowie selbst von den eigenen Regierungsbehörden in seinem
(oder – in sozial benachteiligten Wohnvierteln – eher Inseln der
Spielraum erheblich eingeengt, ja kontrolliert.
Unglückseligkeit), auf denen der amerikanische Traum geträumt
werden kann und deren Bewohnerinnen und Bewohner ähnliche
Peter Lösche (2008): »Die USA sind anders«, www.bpb.de/internationales/amerika/
Werte, Einstellungen und Überzeugungen haben.
usa/10636/einfuehrung-die-usa-sind-anders?p=0
Die Segmentierung der US-amerikanischen Gesellschaft lässt ein
Solidaritätsgefühl, das mehrere Klassen und Schichten, verschiedene ethnische Gruppen und alle Landesteile vereint, nur schwer
entstehen. Sie enthält immer auch ein Element der Entsolidarisie-
1 | Materialien von Redaktion zusammengestellt.
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M 3 Emil Hübner: »Das politische System der USA«,
Kapitel: Präsident und
Kongress
Nicht selten findet man das amerikanische Regierungssystem beschrieben als eine Verwirklichung
der Montesquieuschen Gewaltenteilungslehre. Dass Montesquieu neben John Locke einer der
wichtigsten Ideengeber der amerikanischen
Verfassungsväter
war, ist nicht zu bestreiten. Jedoch wollte Montesquieu keine
rigide Trennung der Staatsfunktionen in Legislative, Exekutive
und Judikative, und die amerikanische Verfassung hat kein entsprechendes System verwirklicht.
Bestenfalls ein äußerst oberflächlicher Vergleich des in Europa dominierenden parlamentarischen Regierungssystems mit
dem präsidentiellen System der
USA könnte für die obige These
M 4 Das politische System der USA
herangezogen werden:
– Präsident und Kongress werden in den Vereinigten Staaten in getrennten Wahlen bestellt, während im parlamentarischen Regierungssystem eine einzige Wahl über die Zusammensetzung von Parlament und Regierung entscheidet, auch
wenn die Möglichkeit unterschiedlicher Koalitionen gegeben
ist.
– Die Regierung wird im parlamentarischen Regierungssystem
also vom Parlament bestellt und sie kann von ihm (…) auch
wieder abberufen werden. Dem Kongress steht dieses Abberufungsrecht im Normalfall nicht zu. Er kann den Präsidenten
nicht wegen schlichter politischer Meinungsverschiedenheiten oder wegen veränderter Mehrheiten stürzen. Ihm bleibt
nur die Waffe des sog. »impeachment«, d. h. er muss in einem
justizähnlichen Verfahren dem Präsidenten strafrechtlich relevante Vergehen nachweisen: (…)
Auch heute sprechen die Amerikaner in Bezug auf ihr Regierungssystem selten isoliert von einer »seperation of power«, sie betonen jeweils auch das Prinzip der »checks and balances« und stellen so die gewaltenteilenden neben die gewaltenvermischenden
Elemente. (…)
Die Faktoren, die seit dem 19. Jahrhundert zu einer Machtverlagerung vom Parlament zur Regierung führen, gelten für parlamentarische und präsidentielle Regierungssysteme gleichermaßen.
Nur: sie zeigen in beiden Systemen nicht die gleichen Ergebnisse.
Von einem Parlament, dem man – wie dem britischen – allerdings
mit nicht geringer Übertreibung nachsagt, es sei zum Freistempler für Regierungsvorlagen degradiert, ist der amerikanische
Kongress jedenfalls Meilen entfernt. Die Intention der Gründungsväter, dem Kongress die zentrale Rolle im politischen Entscheidungsprozess einzuräumen, ist von der politischen Entwicklung überrollt worden, und ebenso kann heute niemand mehr die
These vom »Congressional Government« (…) vertreten: Die Behauptung nämlich, der Kongress sei das alleinige und eigentliche
Machtzentrum des Regierungssystems der Vereinigten Staaten.
Der entscheidende Faktor, der den Prozess der Machtverlagerung
zugunsten der Exekutive in Gang setzte, war in allen westlichen
Demokratien der Ende des letzten Jahrhunderts -in einigen Ländern früher, in anderen später – beginnende Wandel vom liberalen Nachtwächterstaat zum modernen »etat actif« (Bertrand de
Jouvenel). Dieser Wandel der Staatsfunktionen brachte eine Vermehrung der Staatsaufgaben mit sich – und zwar in einem Aus-
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© Bergmoser + Höller Verlag AG
maße, dass sie nur noch von Großbürokratien bewältigt werden
konnten. Weiterhin setzt – wie erwähnt – in diesem Jahrhundert
eine Internationalisierung der Politik ein: Die internationale Zusammenarbeit gewann wesentlich an Bedeutung, was wiederum
die Machtposition der verhandlungsführenden Regierung gegenüber dem auf bloße Zustimmung oder Ablehnung beschränkten
Parlament zementiert. (…)
Diese Entwicklung kann allerdings nicht zur These von einem generellen Funktionsverlust der Parlamente hochstilisiert werden.
(…) Wer das relativ stromlinienförmige Funktionieren des Zusammenwirkens von Mehrheitsfraktion(en) und Regierung in der
Mehrzahl der parlamentarischen Regierungssysteme Europas
zum alleingültigen Maßstab erhebt, wird George Bernard Shaws
1932 in der Metropolitan Opera geäußerten bissigen Bemerkung
nur zustimmen können: »Wer die amerikanische Verfassung untersucht, findet, dass es sich in Wahrheit nicht um eine Verfassung handelt,
sondern um eine Charta der Anarchie. Sie ist keine Regierungsordnung,
sondern eine Garantie dafür, dass das amerikanische Volk niemals regiert
werden kann. Und das ist genau das, was die Amerikaner wollen.«
Einschränkungen erscheinen jedoch notwendig: (…) die Furcht
vieler Amerikaner vor einer übermächtigen, alles dominierenden
Institution, deren Verhinderung bereits die Verfassungsväter zu
einem ihrer obersten Ziele erklärt hatten, (ist) alles andere als unverständlich. Außerdem reicht Effizienz als einziges Bewertungskriterium für das Regierungssystem einer Weltmacht wohl nicht
aus: Wer – wenn nicht ein relativ mächtiger Kongress und ein
ebenfalls einflussreicher Supreme Court – soll einen machthungrigen, imperialen amerikanischen Präsidenten in Schranken halten?
23
Emil Hübner (6/2007): Das politische System der USA. Becksche Reihe, München, S. 109,
112, 142, 150.
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M 5 Reymer Klüver: »Schuldenkrise in
den USA. Das System versagt«.
Konfrontation statt Kooperation: Amerikas
Demokratie ist auf Ausgleich angelegt – aber
im Streit um die US-Schuldengrenze verweigern sich die Republikaner völlig, und zwar
aus ideologischen Gründen. Ihre Unnachgiebigkeit könnte den USA noch weitaus größere Probleme bescheren als die Schuldenkrise. Amerika steckt in der Krise. Wie tief die
Nation im Schlamassel sitzt, wird klar, je länger sich das bizarre Ringen um die Schuldengrenze hinzieht.
Eine Woche vor dem, was die US-Medien lapidar, aber treffend als haushaltspolitische
Kernschmelze oder als Finanz-Armageddon
umschreiben, eine Woche also bevor die Regierung ihren Offenbarungseid leisten
müsste, haben die Politiker in Washington
keine Lösung gefunden. Das ist in der Tat ein
»gefährliches Spiel«, wie Präsident Obama in
M 6 »Der Kongress brennt …«
© Gerhard Mester, 2012
einer Rede an die Nation feststellte – und unverantwortlich in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst mal ist die Krise, die Amerikas finanzielle Fundamente zu bedrohen beginnt, hausgemacht und
publikaner wollen Letzteres: Sie verweigern sich – nicht erst seit
völlig unnötig. Nie war die Erhöhung der Schuldengrenze GegenBeginn der Schuldenkrise – jeder Zusammenarbeit.
stand eines grundsätzlichen Disputs. Seit Reagans Zeiten hat der
Damit stellen sie in Frage, was bisher immer funktioniert hat: Bei
Kongress die Grenze Dutzende Male erhöht.
allen Winkelzügen und Verfahrenstricks gab es das grundlegende
Jetzt aber macht die Tea Party, also die Fraktion selbst ernannter
Einverständnis, dass am Ende ein Kompromiss stehen wird. Den
haushaltspolitischer Saubermänner bei den Republikanern, ein
gibt die Mehrheit vor, aber sie trägt den Bedenken der Minderheit
Gegengeschäft daraus: Nur wenn die Staatsausgaben im selben
Rechnung. Dieses Übereinkommen gilt nicht mehr. Und so wird
Umfang reduziert werden, wie Schulden aufgenommen werden –
die Schuldenkrise vielleicht eine noch ernstere Konsequenz nach
nur dann wollen sie der Erhöhung zustimmen.
sich ziehen: Amerikas politisches System könnte versagen.
Dabei gäbe es eine Lösung für das Problem. Die Minderheit der
Reymer Klüver: Das System versagt. in: Süddeutsche Zeitung vom 27.7.2011, www.sued
Tea-Party-Anhänger im Repräsentantenhaus ließe sich durch eine
deutsche.de/politik/schuldenkrise-in-den-usa-das-system-versagt-1.1125030
große Koalition der Vernünftigen bei Republikanern und Demokraten überstimmen. Doch es fehlt den Moderaten auf beiden
Seiten an Mut für den großen Kompromiss in der Schuldenkrise.
M 7 »Vom Überschussland zum Schuldenberg«
Dessen Umrisse hatten Präsident Obama und der Vormann der
Republikaner im Kongress, John Boehner, im Prinzip schon verWASHINGTON, 29. Juli 2011. Vor einem Jahrzehnt war in den Vereieinbart. Zum einen müssen mittelfristig die Staatsausgaben
nigten Staaten die Welt noch in Ordnung. Der republikanische
runter. Deshalb ist es richtig, bei den größten Ausgabentreibern
Präsident George Bush hatte zum Amtsantritt einen kleinen
anzusetzen, bei den Renten und den staatlichen KrankenversiHaushaltsüberschuss übernommen. Das unabhängige Budgetcherungen und auch bei den exorbitanten US-Militärausgaben.
büro des Kongresses prognostizierte, dass bis 2006 die Schulden
Zum anderen müssen die Einnahmen rauf. Nach Jahren extrem
zurückgezahlt wären und bis 2011 gebe es Überschüsse von insgeniedriger Steuersätze können die USA es sich nicht länger leisten,
samt 2,3 Billionen Dollar. Dazu kam es nicht. Seit 2002 haben die
die Reichen von der Finanzierung des Gemeinwesens so zu entlasVereinigten Staaten jedes Jahr mit Defiziten gewirtschaftet, allein
ten wie bisher.
in diesem Fiskaljahr wird das Minus rund 1,4 Billionen Dollar beDoch die Ideologen bei den Republikanern haben diese Lösung
tragen. Die Bundesregierung wird am Ende dieses Fiskaljahres im
sabotiert. Nicht weil ihnen die Schulden so viele Sorgen bereiten
September mit etwa 10,4 Billionen Dollar verschuldet sein. Der
würden – dann müssten sie dem Kompromiss sogar zustimmen,
Schuldenberg wird also etwa 12,7 Billionen Dollar höher sein als
weil er die Aufnahme neuer Schulden enorm reduzieren würde.
noch vor zehn Jahren erwartet. Dieser drastische Zuwachs ist der
Die Sorge um die Schulden ist indes ein vorgeschobenes ArguHintergrund, vor dem die republikanischen Tea-Party-Anhänger
ment. Sie haben vielmehr Größeres vor Augen. Sie sehen den
im Kongress eine Verpflichtung zum Haushaltsausgleich fordern
Schuldenstreit als Gelegenheit, um mit der Demontage des (ohund sich mit mageren Kompromissen im Schuldenstreit nicht
nehin eher anämischen) amerikanischen Wohlfahrtsstaats zu bemehr zufriedengeben wollen.
ginnen, wie er im letzten Dreivierteljahrhundert entstanden ist.
Wie kam es zu dem rasanten Zuwachs der Staatsschuld? Rund
Ihre ideologisch motivierte Unnachgiebigkeit offenbart eine
zwei Drittel des Schuldenzuwachses gründet darin, dass die PoliSchwäche des Regierungssystems in Washington, das auf eine
tik in Washington sich nicht zurückhielt und Steuersenkungen
Politik der Blockaden und des Boykotts nicht ausgelegt ist. Die
oder Mehrausgaben beschloss. Das zeigt eine Analyse der unabAmerikaner hatten eine Art Kohabitationsregierung gewählt: eihängigen Pew-Stiftung. Die politische Aktivität konzentrierte sich
nen demokratischen Präsidenten und einen republikanisch domidabei stärker auf mehr Ausgaben als auf niedrigere Steuern. Auf je
nierten Kongress. Das setzt Kooperation voraus, nicht Konfron2 Dollar Steuererleichterungen kamen nach der Pew-Analyse 3
tation um jeden Preis.
Dollar mehr Staatsausgaben. Der Rest der höheren Schulden reDie Entscheidung der Wähler war, wie Präsident Obama zu Recht
sultiert weitgehend darin, dass die Prognostiker vor einem Jahrin seiner Rede am Montag feststellte, ein Votum für eine zwischen
zehnt die Rezession nach dem Platzen der Internet-Blase 2001
Demokraten und Republikanern »geteilte Regierungsverantworund die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 nicht vorhergesetung, nicht für eine funktionsunfähige Regierung«. Doch die Re-
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hen haben. Die damit verbundenen Steuerausfälle erhöhBush-Politik
(2001 bis 2008)
ten das Defizit im Vergleich
Vergleich der Schuldenprognose der Vereinigten Staaten
7000
zur Prognose.
Stimulus 2008,
von 2001 mit der aktuellen Schuld
200
Keine der beiden Parteien in
inklusive TARP
300
in Milliarden Dollar
400
Washington kann sich von
Zuschüsse für
der Schuld am SchuldenzuObama-Politik
Verschreibungen
1400
(2009 bis 2011)
wachs freisprechen. Republifür Senioren
4300 Zusatzeffekte
Konjunkturprogramm
kaner und Demokraten antFinanzschulden
Weitere Ausgaben, u.a.
1700
700 (etwa für
Dezember 2010
worteten auf Rezessionen mit
Landwirtschaft
(u.a. Steuersenkungen)
Studentenkredite)
niedrigeren Steuern und höKriege in Afghanistan
Unterstützung für
heren Ausgaben und gewährund Irak
3600
kleine Unternehmen,
ten weitere schuldenfinan1450
Arbeitsmarkt,
3000
Prognosekorrekturen,
Ausgaben für Bildung,
250
zierte Wohltaten. Das zeigt
Bildung etc.
u.a. Steuerausfälle in
Verteidigung und Veteranen
400
eine Analyse des Weißen
der Rezession
Stimulus
2009
Steuersenkungen
800
Hauses. Danach hat der frühere Präsident George Bush
in acht Jahren die Schulden
Quelle:
um rund 7 Billionen Dollar erSumme
12,75 Bio. $
Weißes Haus
höht. Ins Auge stechen dabei
F.A.Z.-Grafik Niebel
3 Billionen Dollar für Steuersenkungen, die unter Bush
M 9 Staatsschulden der USA unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama
© FAZ, 30.7.2011, S. 10
2001 und 2003 für zehn Jahre
festgeschrieben wurden. 1,4
Billionen Dollar entfallen auf
StZ: Wenn Sie den Umgang mit den Haushaltsproblemen in der EU und
die Kosten der Kriege in Afghanistan und Irak. Obama hat in etden USA vergleichen: Erschreckt es Sie, wie wenig handlungsfähig die Rewas mehr als zwei Jahren den Schuldenberg schon um 1,4 Billiogierungen sind?
nen Dollar erhöht. 800 Millionen Dollar gab er gleich nach AmtsWeidenfeld: Ich war in beiden Fällen überzeugt, dass es eine Einiantritt für das Konjunkturpaket 2009 aus. Weitere Finanzhilfen im
gung gibt. Beide Lösungen haben aber nur Zeit verschafft, mehr
Kampf gegen die Rezession folgten. Die Pew-Stiftung, die mit etnicht. In Europa wird ein echter Rahmen für die Währungsunion
was anderen Zahlen hantiert als das Weiße Haus, zieht den
gesucht und gebraucht, darum wird weitergerungen. In den USA
Schluss, dass keine einzelne politische Maßnahme für den Schulprallen unterschiedliche Gesellschaftsperspektiven heftiger aufdenanstieg verantwortlich sei. Das zielt auf die Demokraten und
einander als früher. Die wirtschaftliche und damit gesellschaftliauch Obama, die das Schuldenproblem gerne weitgehend auf die
che Lage hat sich verschärft. Die USA sind nicht mehr konsensfäSteuersenkungen unter Bush schieben.
hig.
Die 10,4 Billionen Dollar öffentliche Schuld in diesem Jahr sind
StZ: Und dieser Konflikt wird weiterkochen, wenn ein Ausschuss bis Ende
weniger als die Schuldengrenze von 14,29 Billionen Dollar, die im
November über 1,5 Billionen Dollar Einsparungen beraten soll?
Mai erreicht wurde und um deren Anhebung derzeit in WashingWeidenfeld: Genau, da geht der Machtkampf in die zweite Runde.
ton gerungen wird. Der Unterschied ergibt sich daher, dass für die
Die große Explosion ist vermieden worden, das gesellschaftliche
Schuldengrenze auch bestimmte Verbindlichkeiten von RegieProblem aber nicht gelöst. Denn es gibt keinen Konsens, was man
rungseinrichtungen untereinander mitgezählt werden. Dazu gein der neuen Runde tun soll. Obama hofft, Steuererhöhungen zu
hören Staatsanleihen, die der staatliche Rentenfonds hält.
erreichen. Die Republikaner sind strikt dagegen.
pwe: Vom Überschussland zum Schuldenberg, FAZ vom 30.7.2011, S. 10
StZ: An den Finanzmärkten wird immer als Argument für Staatsanleihen
aufgeführt, dass Staaten im Zweifelsfall die Steuern erhöhen, um die
Schulden zu begleichen. Ginge das in den USA?
M 8 Interview mit Professor Werner Weidenfeld, LM MünWeidenfeld: Nein, in der gegenwärtigen Machtlage nicht.
chen: »Die USA sind nicht mehr konsensfähig«
StZ: Was steckt hinter der Kritik der Republikaner?
Weidenfeld: Die Partei merkt, dass sie langfristig droht Macht zu
StZ (Stuttgarter Zeitung): Wie, Herr Professor Weidenfeld, bewerten
verlieren. Denn die Republikaner hängen an einer gesellschaftliSie die Einigung im US-Schuldenstreit?
chen Konstellation, die ein Stück weit Vergangenheit ist. Durch
Weidenfeld: Das ist nach dem klassischen Drehbuch eines Machtmehr Einwanderer, Vielsprachigkeit und den Bedeutungsverlust
spiels gelaufen. Es gab in letzter Minute einen Kompromiss, der
der Familie verlieren sie Rückhalt. Deswegen sind sie so verbissen
keinen der Beteiligten zum eindeutigen Gewinner oder Verlierer
im Kampf um die Verantwortung ab 2013. (…)
macht. Präsident Obama konnte zumindest erreichen, dass die
StZ: Es bleibt wahrscheinlich, dass die USA die beste Bonitätsnote »AAA«
Schuldengrenze vor der Wahl Ende 2012 nicht mehr angefasst
der Ratingagenturen verlieren. Welche Auswirkungen hätte das?
werden muss.
Weidenfeld: Das wäre schon ein Schlag in die Magengrube der
StZ: Insgesamt sollen bis zu 2,5 Billionen Dollar gespart werden. Ist das
US-Gesellschaft. Auch der Rat Chinas, dass sich die USA in der
eine ausreichende Summe?
Schuldenfrage vernünftig verhalten sollten, ist sensibel aufgeWeidenfeld: Ich reduziere das nicht auf eine haushaltstechnische
nommen worden.
Frage. Der politische Konflikt dreht sich weniger um die Summe
Interview mit Werner Weidenfeld: Die USA sind nicht mehr konsensfähig. Stuttgarter Zeials den Weg, wie diese erreicht werden soll. Die beiden Kräfte hatung vom 2.8.2011, S. 2
ben unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen: Die Republikaner wollen weniger Staat und daher Steuersenkungen. Die Demokraten sind für eine sozial unterfütterte Gesellschaft. Wenn man
dafür mehr Geld braucht, soll es zu Steuererhöhungen vor allem
bei den Reichen kommen. Es ist wie beim Euro: da geht es auch
um Finanzen, aber vor allem um ein Politikum.
12,75 Billionen Dollar mehr Schulden
+
+
=
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DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA
4. Wie zukunftsfähig sind die USA?
Wirtschaftliche und ökologische
Herausforderungen
GEORG WEINMANN
Z
ukunftsfähigkeit hat sich im neuen Jahrtausend zu
einem Dauerthema der US-amerikanischen Politik entwickelt. Zahlreiche Prognosen gehen davon aus, dass die Weltmacht vor allem wirtschaftliche und ökologische Vorsorge
betreiben sollte. Starre Strukturen, fest verankerte Verhaltensmuster, durchsetzungsstarke Interessen, Schattenseiten
des Wirtschaftsliberalismus und globale Einflüsse sind nach
Auffassung vieler Beobachter die Ursachen dafür, dass dies in
der letzten Dekade nur in Ansätzen gelungen ist. Optimisten
setzen bei der Bewältigung neuer Herausforderungen auch
künftig auf klassische US-amerikanische Tugenden wie Unternehmergeist, Patriotismus, Innovationsfreude, Risikobereitschaft und Zuversicht. So soll auch für die folgenden Generationen der Traum von einem selbstbestimmten Leben in
Wohlstand und Freiheit Wirklichkeit werden. Andere Szenarien gehen indessen davon aus, dass die Vereinigten Staaten
beim Ausbau ihrer Zukunftskompetenz sowohl in wirtschaftlicher als auch in ökologischer Hinsicht vor tiefgreifenden Veränderungen stehen. Derartige Entwicklungen zu begleiten
und zu gestalten gehört nach dieser Auffassung zu den Kernaufgaben US-amerikanischer Zukunftspolitik.
26
Was wird aus dem amerikanischen Traum?
Der Historiker und Sozialwissenschaftler Jürgen Kocka versteht
unter »Zukunftsfähigkeit« das Vermögen, »anstehende und neu
aufkommende Probleme (…) nachhaltig, d. h. dauerhaft oder mittel- bis langfristig zu lösen, unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume und voraussichtlichen Bedürfnisse nachfolgender Generationen.« (Kocka (Hrsg.) 2004, S. 8). Den Zusammenhang
zwischen Herausforderungen für die USA und der Nachhaltigkeit
von Politik stellte Barack Obama in den Mittelpunkt seiner Antrittsrede, nachdem er im Januar 2009 als 44. Präsident des Landes auf dem Kapitol vereidigt worden war. Dabei wies er auf die
zahlreichen krisenhaften Entwicklungen hin, mit denen sich die
US-Amerikaner konfrontiert sehen. Besonders ausführlich befasste sich der erste afro-amerikanische Präsident neben der Außen-, Gesundheits- und Bildungspolitik mit den Bereichen Umwelt und Wirtschaft. Defizite auf diesen Gebieten verdichteten
sich in weiten Teilen der Bevölkerung nach seiner Wahrnehmung
zu einem düsteren Zukunftsbild (| Abb. 1 |). Dabei spiele die Angst
vor dem wirtschaftlichen Niedergang eine besondere Rolle. Unmittelbar verbunden sei damit die Befürchtung, dass sich die Lebensumstände für künftige Generationen negativ entwickeln
werden (| M 1 |, | M 3 |).
Die Bedenken, dass der amerikanische Traum von einem selbstbestimmten Leben in Wohlstand und Freiheit (| M 2 |) künftig immer seltener Wirklichkeit werden könnte, spiegeln auch Umfragen wider. In der Ausgabe des TIME-Magazins vom 11. Juli 2011
geben 52 Prozent der Befragten zu Protokoll, dass ihre Kinder
später wohl Einbußen in der Lebensqualität hinnehmen müssen
(ebda., S. 29). Gleichzeitig sind 66 Prozent der Auffassung, dass
die größten Bedrohungen für die langfristige Stabilität des Landes von den USA selbst ausgehen und nicht von außen an die Vereinigten Staaten herangetragen werden (ebda.). Studien internationaler Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds
Wie zukunf tsfähig sind die USA?
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Abb. 1 »Identitätskrise der USA«
© Burkhard Mohr
(IWF) und dem World Economic Forum kommen ebenfalls zu dem
Ergebnis, dass sich das Potenzial der USA zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben im letzten Jahrzehnt zu ihrem Nachteil verändert
habe (IWF 2012; World Economic Forum 2012). Zu den Ursachen
gehören in erster Linie die astronomische Staatsverschuldung
(| Abb. 2 |), der wirtschaftliche Strukturwandel im Rahmen der
Globalisierung (| M 11 |), Gefährdungen der Energiebasis und damit verbundene »blinde Flecken« in der Wahrnehmung ökologischer Probleme (| M 13 |, | M 14 |, | M 15 |) sowie die Hypotheken
der Finanzkrise.
Aus der individuellen Bestandsaufnahme vieler US-Amerikaner
und aus den international vergleichenden Studien ergeben sich
weitreichende Handlungsaufträge an die Politik. Deshalb wird im
Folgenden die Frage im Mittelpunkt stehen, wie diese versucht,
eine Balance zwischen Lösungen für akute Probleme und Antworten auf längerfristige Herausforderungen zu finden, um so das
Zukunftspotenzial der Vereinigten Staaten auszubauen.
Schadensbegrenzung oder Gestaltung der Zukunft?
Vergleicht man die wirtschaftliche Situation der USA in den
1990er-Jahren mit dem Zustand im neuen Jahrtausend, werden
erhebliche Unterschiede deutlich (| Abb. 2 |, | M 4 |, | M 5 |,
| M 6 |). Die Dekade zwischen 1990 und 1999 wird wegen des ökonomischen Höhenfluges nicht selten als »roaring nineties« bezeichnet (Mildner 2008). Wichtige wirtschaftliche Kennziffern
haben sich seitdem nach unten entwickelt (| Abb. 2 |). In der
Rückschau kommen auch Analysen der US-amerikanischen Regierung zu dem Ergebnis, dass dieses Wachstum auf keiner soliden Grundlage stand. So waren das Platzen der Internet-Blase um
die Jahrtausendwende sowie die Wirtschafts- und Finanzkrise aus
ihrer Sicht Folgen kurzsichtigen Profitstrebens, das nicht zuletzt
von Regierungsseite unterstützt worden war. Durch die einseitige
Ausrichtung des Wachstums an bestimmten Wirtschaftsberei-
D&E
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chen wie der IT-Branche oder dem Immobilien- bzw.
Bankensektor seien andere wichtige Felder ins HinUSA: Staatsschulden, Wirtschaft und Preise
tertreffen geraten. Dazu zählen in erster Linie die BeEntwicklung jeweils im Vergleich zum Vorjahr in Prozent:
reiche Verkehrsinfrastruktur, Bildung, Forschung
1980
1990
2000
2010
und Entwicklung, regenerative Energien, Gesundheit
und Kommunikation.
+20,6 %
Trotz der kapitalintensiven Stützungsmaßnahmen
+18,9
für den Finanzsektor entschloss sich die Regierung
Staatsschulden
Obama vor diesem Hintergrund zu einem staatlichen
Bruttoinlandsprodukt
+13,5
Investitionsprogramm in Höhe von 787 Milliarden
Verbraucherpreise
+12,2
US-Dollar. Der Präsident unterzeichnete den »American Recovery and Reinvestment Act« am 17. Februar
+5,3
2009 und stellte ihn in eine Reihe mit Franklin D. Roo+5,2
sevelts »New Deal« und John F. Kennedys Apollo-Programm. Beide Maßnahmen gelten als erfolgreiche
Vorbilder für die Bewältigung von grundlegenden
+8,9
Problemen, die durch tiefe Krisen an die Oberfläche
getreten waren und wirtschaftliche, soziale und poli-0,3
+1,9
tische Verwerfungen zur Folge hatten. Angesichts der
+2,0
+0,4
sehr angespannten Haushaltssituation macht der
-2,1
Umfang der Initiative die aktuelle Dramatik deutlich.
ab 2011: Prognose
Der »Recovery Act« ist zum einen konzipiert als Inst15117
Quelle: US-Office of Management and Budget, IWF
rument der akuten Krisenintervention, um die Talfahrt der US-amerikanischen Wirtschaft zu stoppen
Abb. 2 Die Entwicklung der Staatsverschuldung, des BIP und der Preise in den USA
(| M 7 |). Sie befindet sich seit dem Ausbruch der Fi© dpa-Infografik, picture alliance, 2011
nanzkrise in der schlimmsten Rezession seit Jahrzehnten. Darüber hinaus hat die Intervention zum
Ziel, durch eine Erhöhung der staatlichen Nachfrage in der Wirtlemlösungen versprechen bzw. neue Wachstumsimpulse erschlieschaft neues Vertrauen zu schaffen und das allgemeine Investitißen können.
onsklima zu verbessern. Ein wichtiges Anliegen ist dabei das Bestreben, die stark angestiegende Zahl an Arbeitslosen zu senken
»Innovation« als Leitbild für eine umfassende
und somit zahlreichen Menschen wieder eine Perspektive zu erTransformation
öffnen. Darüber hinaus geht es darum, das Land auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. So sollen die staatlichen
Der »Recovery Act« war nicht die einzige Reaktion der ObamaMittel das Innovationstempo beschleunigen, um die USA in ZuAdministration auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Unter dem
kunftsfeldern einer globalisierten Wirtschaft auf den vorderen
Titel »A Strategy for American Innovation: Driving Towards SustaPlätzen zu positionieren oder gar zur Weltmarktführerschaft zu
inable Growth and Quality Jobs« wurde im September 2009 ein
verhelfen. Zu den zentralen Anliegen gehört dabei das Ziel, ZuMaßnahmenkatalog veröffentlicht, der vor allem drei Ziele verkunftstechnologien konkurrenzfähig zu machen und durch ein
folgt: Zum einen geht es um den Ausgleich von Defiziten in Bereigünstiges Preis-Leistungsverhältnis Marktanteile zu sichern bzw.
chen mit erheblichem Entwicklungsbedarf Darüber hinaus soll
neue Märkte zu erschließen (| M 9 |). Um diese Entwicklung zu beschleunigen, umfasst der »Recovery Act« auch ein umfangreiches
die Gründung von Unternehmen stärker unterstützt werden, um
Modernisierungsprogramm für die Infrastruktur des Landes. Es
zukunftsträchtige Ideen bis zur Marktreife entwickeln zu können.
soll nicht nur zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen, sonAls dritter Schwerpunkt wurden »National Priorities« festgelegt.
dern das Wirtschaftswachstum langfristig auf eine stabile GrundWeil ihnen aus Sicht der Regierung für das Gemeinwohl eine
lage stellen.
große Bedeutung zukommt, werden sie in besonderem Maße geDer »Recovery Act« war von Anfang an nicht unumstritten. Vor alfördert. Dazu zählen die Erschließung regenerativer Energiequellem marktliberale Meinungsführer vertraten die Auffassung, dass
len, der Ausbau des technikgestützten Gesundheitswesens sowie
der Staat zusätzliche Schulden anhäufe, obwohl man derzeit nicht
ressourcenschonende Antriebssysteme für die Automobilindusvon einem gesicherten Erfolg der Maßnahmen ausgehen könne
trie. In erster Linie zielen alle Schritte darauf ab, die internatio(| M 10 |). Die Investitionen seien kontraproduktiv, weil sie den
nale Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu steigern (| M 11 |), die
Strukturwandel unnötig verzögern und überkommene StruktuAbhängigkeit vom Energieträger Erdöl zu reduzieren und Innovaren konservieren würden. Die Regierung hingegen forderte angetionen im Bereich des Umweltschutzes als Wachstumsimpulse zu
sichts der dramatischen Situation den Abschied von ideologierschließen. Darüber hinaus zielen die Initiativen darauf ab, sozischen Grabenkämpfen zwischen Non-Interventionisten und den
ale Entwicklungen wie die Verlängerung der Lebenszeit zu beBefürwortern staatlicher Eingriffe. Aus der Sicht dieses Lagers hat
rücksichtigen. Gerade im Bereich des Gesundheitswesens sollen
der Markt als einziges Regulativ für wirtschaftliche Prozesse seine
Neuerungen dazu beitragen, die Lebensqualität auch derjenigen
Funktionen nicht erfüllen können und eine Reihe unerwünschter
zu steigern, die am Rande der Gesellschaft stehen. Vor diesem
Nebeneffekte ausgelöst. Darüber hinaus liege es in der VerantHintergrund erscheint es folgerichtig, dass der Kampf gegen Geiwortung der Regierung, einen wesentlichen Beitrag zur Verbesseßeln der Menschheit wie Krebs oder Influenza zu den acht »‘Great
rung der Lebensbedingungen in den USA zu leisten. Durch ökonoChallenges’ of the 21st Century« zählt, die die Obama-Regierung
mische Impulse des Staates und industriepolitische Maßnahmen
am 4. Februar 2011 in einer Ergänzung des »Innovation«-Prokönnen nach Auffassung der Obama-Administration private Ingramms verkündet hat. Als weitere Herausforderungen gelten die
vestitionen flankiert werden und eine stabilisierende Wirkung auf
effiziente Nutzung der Sonnenenergie, der Ausbau von Compudie Gesellschaft nach sich ziehen. Die Realität habe die Diskusterkapazitäten, neue Anwendungsgebiete in der Nanotechnolosion um die Rolle des Staates in der Wirtschaft in eine neue Richgie, die Entwicklung strapazierfähiger, energiesparender Materitung gelenkt: Vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzalien u. a. für den Flugzeugbau, ein Programm zur verlässlichen
krise sei es unbedingt notwendig, dass der Staat zur Beseitigung
Übersetzung von Fremdsprachen in Echtzeit sowie die Züchtung
der Malaise beitrage und Zukunftsfelder mitgestalte, die Probvon Mikroben zur Beseitigung von Abfallprodukten aus Privat-
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haushalten und Industrie. Sicherheitsüberlegungen spielen
ebenfalls eine Rolle. Dies zeigt die Tatsache, dass auch die Kriminal- und Militärtechnik von den neuen Lösungen profitieren sollen.
Trotz des beachtlichen Engagements ist sich die US-Regierung
darüber im Klaren, dass Zukunftspolitik immer auch als ein offener Prozess zu verstehen ist, der mit Risiken und Unsicherheiten
einhergeht. Sensibilität, Flexibilität und ein ausgeprägtes politisches Reaktionsvermögen sind deshalb notwendig, um auf Entwicklungen eingehen zu können, die keineswegs oder nur ansatzweise vorherzusehen waren. Nicht zuletzt geht es bei den
Initiativen der Regierung auch darum, nach den Turbulenzen der
letzten Jahre weiterhin Handlungskompetenz zu demonstrieren,
die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern und die Bevölkerung auf neue Wege im Umgang mit Zukunftsfragen einzustellen.
Die Marsmission »Curiosity« ist deshalb für viele US-Amerikaner
in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Symbol: Zum einen stellt sie
eine Reminiszenz an den Glanz vergangener Tage dar, als die USA
durch die Landung auf dem Mond ein neues Kapitel in der Raumfahrt aufgeschlagen haben und den Wettlauf zum Nachbarplaneten der Erde für sich entscheiden konnten. Zum anderen bestärkt
das Projekt den Glauben an die Fähigkeit der Vereinigten Staaten,
im Bereich der Hochtechnologie Außergewöhnliches zu leisten
und in der globalen Spitzenforschung immer noch den Takt vorzugeben (| M 8 |).
Stärken und Schwächen
28
Internationale Studien (Bertelsmann-Stiftung 2011) zeigen, dass
die Vereinigten Staaten beim Ausbau ihrer Zukunftsfähigkeit einerseits erhebliche Hindernisse zu überwinden haben. Andererseits öffnet eine Gesamtschau aber auch den Blick für ausgesprochene Stärken der USA, die nicht zuletzt ihre herausragende
Position in einigen zukunftsrelevanten Bereichen begründen.
Auf der Minusseite ist an erster Stelle die inkohärente Umweltpolitik zu nennen. Durch den sehr hohen Energiebedarf haben die
USA die Führungsrolle in der »Triade der Allesfresser« (Wuppertal
Institut 2005, S. 46ff.) inne, zu der neben Nordamerika auch Japan
und die EU gehören (| M 12 |–| M 15 |). Im OECD-Vergleich gibt es
kein Land, dessen Prognose für eine vielversprechende Entwicklung der Umweltpolitik so pessimistisch ausgefallen ist (Bertelsmann-Stiftung 2011, S. 58). Eine ähnliche Hypothek stellt die hohe
Staatsverschuldung dar. In dieser Kategorie rangiert das Land im
OECD-Ranking vor Japan, Irland und Griechenland auf Platz 28
(ebda., S. 39). Die wirtschaftliche Entwicklung und die künftige
Ausgestaltung der Steuerpolitik werden zeigen, welche Wege die
Politik zur Reduzierung des Schuldenberges einschlagen wird.
Nicht zuletzt wird es dabei auch von Bedeutung sein, mit welchen
Folgekosten die Sicherheitskonzepte verbunden sind, die seit
dem 11. September 2001 in den USA auf den Weg gebracht wurden.
Ein weiterer neuralgischer Punkt im »Zukunftsprofil« ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt. In dieser Hinsicht belegen die USA im
Vergleich mit den anderen OECD-Staaten allerdings einen Platz
im Mittelfeld. Hierbei besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen der konjunkturellen Entwicklung in einzelnen Wirtschaftssektoren und den Beschäftigungsaussichten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Obgleich strukturelle Umbrüche ihre
Spuren in der Arbeitslosenstatistik hinterlassen haben, zeigt die
geringere Zahl an Langzeitarbeitslosen, dass der Arbeitsmarkt
über die Fähigkeit verfügt, Arbeitssuchende wieder relativ rasch
in Beschäftigung zu bringen. Dabei sind der Faktor Arbeit und die
Sozialpolitik als Mittel der gesellschaftlichen Inklusion nach dem
Befund der OECD noch immer unterbewertet (ebda., S. 40ff.).
Besondere Stärken zeigen die USA in der akademischen Bildung
sowie im Bereich von Forschung und Entwicklung. Nur Kanada
und Japan weisen im OECD-Maßstab eine höhere Quote an Hochschulabsolventen aus als die Vereinigten Staaten. Dabei wirkt sich
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die enge Kooperation zwischen Industrie und Hochschulen sehr
positiv auf marktrelevante Forschungsleistungen aus. Die Unterstützung der Obama-Administration in diesem Bereich wird voraussichtlich dazu führen, dass sich der staatliche Anteil von 27,1 %
(ebda., S. 63) sichtbar erhöhen wird.
Aus institutioneller Sicht verfügen die USA auf Bundesebene über
einen effektiven Regierungsapparat, der im Gegensatz zu anderen politischen Systemen bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen eine rasche Umsetzung von Programmen ermöglichen
kann. Im Bereich der Steuerungs- und Strategiefähigkeit nehmen
die Vereinigten Staaten sogar die Spitzenposition ein (ebda,
S. 76). Allerdings ist der Kongress als Gegenpol zum Präsidenten
ebenfalls mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Er gilt
deshalb als »mächtigstes Parlament der Welt« (Stüwe 2010,
S. 558). Diese Konstellation in Kombination mit den tiefen ideologischen Gräben zwischen den Demokraten und den Republikanern führt derzeit zu gravierenden Reformblockaden (Falke/
Quirk/Thunert 2011, S. 5f.). Dieser Umstand trifft auch auf Bereiche zu, die für die künftige Entwicklung des Landes von Ausschlag
gebender Bedeutung sind. Ein prominentes Beispiel ist in diesem
Zusammenhang die Gesundheitsreform. So können bestimmte
Machtkonstellationen trotz günstiger institutioneller Bedingungen zu einem labilen politischen Umfeld führen, das nicht ohne
Wirkung auf die Gestaltung von Zukunftspolitik bleiben kann. Die
begrenzte Aussagekraft von Prognosen liegt deshalb nicht nur in
einem limitierten Wissen über künftige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen begründet. Vorhersagen finden ihre Grenzen
auch in schwer kalkulierbaren politischen Prozessen.
Fazit: Eine neue Richtung für den
»American Way of Life«?
Legt man Jürgen Kockas Verständnis von »Zukunftsfähigkeit«
zugrunde, ergeben sich zwei wichtige Ebenen, die sich als Grundlage für ein Resümee eignen. Dabei handelt es sich um die Wahrnehmung voraussichtlicher Probleme sowie die Handlungsspielräume und Bedürfnisse künftiger Generationen.
In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Schaffung von Arbeitsplätzen
und die internationale Konkurrenzfähigkeit der US-amerikanischen Wirtschaft von besonderer Bedeutung sein (| M 16 |,
| M 17 |). Angesichts der Dynamik in den BRIC-Staaten ist es auch
eine Zukunftsaufgabe für die USA, bestehende Handelsallianzen
zu stabilisieren und neue aufzubauen. Die Bereitschaft der aufstrebenden Nationen zur engen Zusammenarbeit mit den USA
könnte künftig jedoch noch häufiger als in der Vergangenheit an
die Bedingung geknüpft sein, protektionistische Schranken zu
beseitigen und US-amerikanische Märkte stärker für ausländische Produkte zu öffnen. Darüber hinaus sind Fragen der wirtschaftlichen Beziehungen oft in den übergeordneten Rahmen der
internationalen Politik eingebettet. Sie werden deshalb nicht selten machtstrategischen Überlegungen untergeordnet. Die wirtschaftliche Entwicklung der USA wird in Zukunft also nicht zuletzt
von globalen diplomatischen und militärischen Konstellationen
abhängig sein. In ökologischer Hinsicht wäre die Unterzeichnung
der internationalen Protokolle zum Klimaschutz ein Symbol für
die Bereitschaft der USA, die Vorsorge für das Wohl künftiger Generationen im weltweiten Maßstab ernster zu nehmen als dies
bislang der Fall gewesen ist (| M 18 |). Die Unterstützung von globalen Innovationsnetzwerken könnte dazu beitragen, jene Technologien fördern und zu verbreiten, die die Schonung von Ressourcen und die Sicherung von Lebensgrundlagen zum Ziel
haben.
Die Verbindung von wirtschaftlichen und ökologischen Zukunftsfragen spielt auch deshalb eine besondere Rolle, weil angesichts
der Endlichkeit fossiler Energieträger eine Steigerung der Energieeffizienz sowie die Erschließung neuer Energiequellen zu den
Kernbereichen nationaler und internationaler Zukunftspolitik gehören. Richtschnur könnte für die USA das Leitbild einer »green
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economy« sein, die sich im internationalen
Wettbewerb auf lange Sicht als Standortvorteil erweist. Die Interdependenz zwischen
Umwelt und Ökonomie soll nicht nur eine
sanftere Art des Wirtschaftens fördern. Sie
könnte auch einen Mentalitätswandel unterstützen, der auf breiter Basis den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen stärkt. Beschleunigt werden könnte
diese Trendwende durch die Tatsache, dass
die bisherige Ausrichtung des US-amerikanischen Wirtschaftssystems und die Lebensweise der Bevölkerungsmehrheit langfristig
mit Risiken behaftet sind, die die Zukunftsfähigkeit des Modells nicht nur beeinträchtigen, sondern grundsätzlich in Frage stellen.
Bislang sind in den USA immer wieder Konzepte entwickelt worden, die veränderten
wirtschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen Rechnung getragen haben.
Einzelne Bundesstaaten wie Kalifornien wirken vor allem im Umweltschutz nicht selten
Abb. 3 »The American Way of Life«
© Gerhard Mester, 2011
als Laboratorien und entwickeln innovative
Ansätze, die weit über die Landesgrenzen hiLiteraturhinweise
naus Aufmerksamkeit finden (Falke 2008). Ähnliche Initiativen
der Regierung Obama deuten eine neue Schwerpunktsetzung auf
Bertelsmann-Stiftung (2011): Nachhaltiges Regieren in der OECD. Wie zuBundesebene an. Die Dominanz des wirtschaftlichen Krisenmakunftsfähig ist Deutschland? Sustainable Governance Indicators. Gütersloh.
nagements hat in den letzten Jahren jedoch dazu geführt, dass
sich der Gestaltungsspielraum für Zukunftspolitik verringert hat.
Falke, Andreas (2008): Föderalismus und Kommunalpolitik, in: Lösche, Peter
Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat somit neue Zielkonflikte
(Hrsg.) (2008): Länderbericht USA. Bonn, 5. Auflage, S. 160–195.
geschaffen oder bestehende verschärft. Trotz eines steigenden
Falke, Andreas/Quirk, Paul J./Thunert, Martin (2011): Sustainable Governance
Bewusstseins um die Notwendigkeit von Veränderungen zur BeIndicators. USA Report. Gütersloh.
wältigung zukünftiger Herausforderungen sind auch die Mehrheitsverhältnisse im Kongress derzeit nicht so gestaltet, dass
Hank, Rainer (2009): Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den
wichtige Regierungsinitiativen auf den Weg gebracht werden
nächsten Crash? Bonn.
können. Zu den zentralen Streitpunkten gehört in diesem ZusamInternational Monetary Fund (2011): Global Financial Stability Report. Grapmenhang die Grundsatzfrage, inwieweit der Staat überhaupt Forping with Crisis Legacies. Summary Version. Washington, D. C.
schung fördern, Bildung unterstützen, Umweltvorschriften erlassen und Eingriffe in die Wirtschaft vornehmen sollte. Marktliberale
International Monetary Fund (2012): IMF Country Report No. 12/213 (August).
und Anhänger staatlicher Interventionen streiten sich dabei nicht
United States. Washington, D. C.
zuletzt um die Notwendigkeit öffentlicher Ausgaben und OberKocka, Jürgen (Hrsg.) (2008): Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissengrenzen für die Staatsverschuldung (| Abb. 3 |, | M 19 |). Diese
Last wird künftige Generationen bei der Gestaltung ihrer Lebensschaftliche Essays. Bonn.
bedingungen auf absehbare Zeit begleiten. Dabei lässt sich heute
Mildner, Stormy-Annika (2008): Wirtschaft und Finanzen, in: Lösche, Peter
schon absehen, dass die Risiken und Entwicklungsmöglichkeiten
(Hrsg.) (2008): Länderbericht USA, Bonn, 5. Auflage, S. 472–578.
ungleich verteilt sein werden. Für mögliche Korrekturen spricht
jedoch der Umstand, dass die allgemeine Reform- und LernfähigMorris, Ian (2011): Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrrschen
keit der USA im internationalen Vergleich als hoch eingeschätzt
oder beherrscht werden. Bonn.
wird (Bertelsmann-Stiftung 2011, S. 82). Darüber hinaus werden
Schmidt, Helmut (2004): Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in
traditionelle Elemente des US-amerikanischen Selbstbewusstder Welt von morgen. München.
seins wie Innovationskraft, Optimismus, Toleranz, Mobilität und
Stüwe, Klaus (2010): Das politische System der USA, in: ders./Rinke, Stefan
Sendungsbewusstsein auch weiterhin von Bedeutung sein
(Hrsg.): Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika. Eine Einfüh(| M 20 |). Dennoch ist vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung nicht zu erwarten, dass sich die Rahmenbedingungen
rung. Bonn, S. 538–580.
für die Umsetzung von Zukunftspolitik innerhalb kurzer Zeit
Weinmann, Georg (2011): Vom einstigen Hoffnungsträger zum Auslaufmogrundsätzlich ändern werden. Stattdessen zeichnet sich – trotz
dell? Die Zukunft der Atomkraft, in: Deutschland und Europa 61, S. 58–67.
des hohen Problemdrucks – eine evolutionäre Entwicklung ab.
The World Bank (2010): Weltentwicklungsbericht 2010. Entwicklung und Klimawandel. Düsseldorf.
29
World Economic Forum (2012): The Global Competitive Report 2011–2012.
Genf.
Wuppertal Institut (Hrsg.) (2005): Fair Future. Begrenzte Ressourcen und
globale Gerechtigkeit. Bonn.
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MATERIALIEN
M 1 Interview Barack Obama:
»A new era of responsibility«
That we are in the midst of crisis is
now well understood. Our nation is at
war (…) Our economy is badly weakened, a consequence of greed and irresponsibility on the part of some,
but also our collective failure to make
hard choices and prepare the nation
for a new age. Homes have been lost;
jobs shed; businesses shuttered. Our
health care is too costly; our schools
fail too many; and each day brings
further evidence that the ways we use
energy strengthen our adversaries
and threaten our planet. These are
the indicators for crisis, subject to
data and statistics. Less measurable
M 3 »Hallo, ich bin David …«
but no less profound is a sapping of
confidence across our land – a nagging fear that America’s decline is inevitable, and that the next generation must lower its sights. (…)
Our challenges may be new. The instruments with which we meet
them may be new. But those values upon which our success depends – hard work and honesty, courage and fair play, tolerance
and curiosity, loyalty and patriotism – these things are old. These
things are true. They have been the quiet force of progress throughout our history. What is demanded then is a return to these
truths. What is required of us now is a new era of responsibility – a
recognition, on the part of every American, that we have duties to
ourselves, our nation, and the world, duties that we do not gruddingly accept but rather seize gladly, firm in the knowledge that
there is nothing so satisfying to the spirit, so defining of our character, than giving our all to a difficult task. This is the price and
the promise of citizenship. This is the source of our confidence –
the knowledge that God call on us to shape an uncertain destiny.
Aus der Rede Präsident Obamas bei seiner Amtseinführung im Januar 2009. http://whitehouse.gov/blog/inaugural-adress; Zugriff: 5.6.2012
M 2 Mitt Romney: »The genius of the American free enterprise system«
We Americans have always felt a special kinship with the future.
When every new wave of immigrants looked up and saw the Statue of Liberty, (…), these new Americans surely had many questions. But non doubted that here in America they could build a better life, that in America their children would be more blessed than
they. But today, four years from the excitement of the last election, for the first time, the majority of Americans now doubt that
our children will have a better future. (…) God bless Neil Armstrong. Tonight that flag is still on the moon. And I don’t doubt for a
second that Neil Armstrong’s spirit is still with us: that unique
blend of optimism, humility and the utter confidence that when
the world need someone to do really big stuff, you need an American. (…) It’s the genius of the American free enterprise system – to
harness the extraordinary creativity and talent and industry of the
American people with a system that is dedicated to creating
tomorrow’s prosperity rather than trying to redistribute today’s.
© Klaus Stuttmann, 2009
M 4 Moritz Koch: »Ein verlorenes Jahrzehnt«
Die Vereinigten Staaten sind eine zerrissene Nation. (…) Die Kluft
zwischen den Reichen und dem Rest wächst ungebremst. Wie aus
den Zensus-Daten für 2011 hervorgeht, setzt sich für die breite
Masse ein verlorenes Jahrzehnt fort, während die Spitzenverdiener ihr Einkommen weiter steigern konnten. Das mittlere Haushaltseinkommen fiel nach Berücksichtigung der Inflation um 1,5,
Prozent auf knapp 50 000 Dollar. Seit 1999 ist die Kaufkraft der
Mittelschicht um 8,9 Prozent gesunken. Hauptgrund dafür sind
die enttäuschende Lohnentwicklung und die hohe Arbeitslosigkeit. Die Wunden, die die Große Rezession von 2008 und 2009
geschlagen hat, schließen sich nur langsam. Und sie hinterlassen
hässliche Narben. So ist die Zahl der Beschäftigten zuletzt zwar
gestiegen. Doch drei von fünf Jobs, die seit dem offiziellen Ende
der Krise entstanden sind, wurden im Niedriglohnsektor geschaffen. (…) Parteiübergreifende Initiativen gegen die soziale Spaltung bringt Amerika nicht zustande. Für die Republikaner im
Kongress kommt jeder Versuch der Umverteilung einem sozialistischen Staatsstreich nahe. Ohnehin darf man sich von der Sozialpolitik nicht zu viel versprechen. Die Erosion der Mittelschicht
wird von Kräften angetrieben, die sich mit Gesetzen und Verordnungen nicht aufhalten lassen. Da ist der technologische Wandel,
der einfache manuelle Tätigkeiten aus dem Arbeitsprozess verdrängt. Und da ist die Globalisierung, die die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer einteilt. Doch dass kein anderes Industrieland ein so hohes Maß an Ungleichheit wie Amerika erduldet,
zeigt, dass politische Entscheidungen durchaus Einfluss auf die
soziale Wirklichkeit haben. Aus Studien geht hervor, dass die
Steuersenkungen der Bush-Ära und die Deregulierungswelle der
1990er-Jahre die ungleichen Einkommenseffekte des Welthandels
und des technischen Fortschritts verstärkt haben. Im Umkehrschluss heißt das: Ein gerechteres Amerika ist möglich. Man muss
es nur wollen.
Moritz Koch: Land ohne Mitte, in: Süddeutsche Zeitung, 14.9.2012, S. 29.
Mitt Romney auf dem Nominierungsparteitag der Republikanischen Partei am 30.8.2012
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M 5 Christian Wernicke: »Die Reichen
und der Rest«
Der Protest sprüht Funken. Was in Süd-Manhattan begann, zündet inzwischen anderswo:
In San Francisco, der alten Hochburg von
Amerikas Linken, marschieren sie, auch im
sonst eher schläfrigen Atlanta blockierten
Demonstranten am Wochenende Platz in der
Innenstadt. Bis auf die weite Mall in Washington ist die Occupy Wall Street, also die Besetzt-Wall-Street-Bewegung inzwischen vorgedrungen. Es ist keine landesweite, gar
flächendeckende Bewegung: Der AntiKriegs- und Anti-Gier-Protest flackert nur in
Großstädten auf, und selten reihen sich mehr
als ein paar hundert Aktivisten ein. Aber immer dabei ist ein Pappschild, auf dem sie reklamieren, in der Mehrheit zu sein: »Wir sind
die 99 Prozent!« 99 Hundertstel gegen das
eine, das reichste Prozent – das ist die Konfliktlinie. Oder genauer: der Graben. Die rasant wachsende Kluft zwischen Arm und
Reich in Amerika, das immer steilere Einkommensgefälle zwischen den wenigen Vielverdienern und Millionen Habenichtsen treibt
sie auf die Straße.
M 6 »Die Schere öffnet sich«
© SZ, 10.10.2011
Der Trend begann Ende der Siebzigerjahre.
Von 1970 bis heute haben sich die Gehälter von
Amerikas Top-Managern real mehr als vervierDie neue Ordnung hat bereits ihr Etikett. Plutonomy hat ein Anafacht; derweil stieg der durchschnittliche Lohn inflationsbereinigt
lystenteam der Citigroup diese »Wirtschaft der Reichen« getauft,
um nur karge 26 Prozent. Wer oben war, bekam immer schneller
in der das bestgestellte Hundertstel jedes Jahr so viel verdient wie
immer mehr: Das Einkommen des bestverdienenden Tausendstels
die unteren sechzig Prozent der Gesellschaft. Auf diese Oberder US-Gesellschaft stieg von 1970 bis 2008um385 Prozent auf 5,6
schicht, die zugleich 90 Prozent allen Vermögens in den USA konMillionen Dollar pro Jahr; die zweitbeste Schicht (die Top 0,1 bis 0,5
trolliere, komme es allein an, rieten die Banker schon 2005. Der
Prozent) legte um 141 Prozent auf 878 139 Dollar zu. Und die dritte
Rest, die 99 Prozent, sei Nebensache: »Wirtschaftliches WachsCremeschicht (die Top 0,5 bis 1,0 Prozent) verbesserte sich um 90
tum wird angetrieben und weitgehend konsumiert von den verProzent auf exakt 443 102 Dollar. Jene 137 Millionen Amerikaner, die
mögenden Wenigen«, schwärmte Ajay Kapur, damals Chefstradie unteren 90 Prozent in der Einkommenspyramide ausmachen,
tege der Citigroup, »die Erde wird getragen von den muskulösen
haben von 1970 bis 2008 mit einem Realeinkommen von 31 244 DolArmen dieser Unternehmens-Plutokraten«, die sich geschickt,
lar nicht einen Cent dazugewonnen. Das ist die neue Wirklichkeit:
kreativ und oft auf Pump technologischen Wandel und GlobalisieAmerika zerfällt in zwei Teile – in die Reichen und den Rest. Die Firung zu Nutze machten.
nanz- und Wirtschaftskrise hat die soziale Not verschärft und MilliDie Zerrüttung von Amerikas Mitte begann lange vor der Krise, in
onen Mittelschichts-Amerikaner um den Job und ihr Eigenheim
den vermeintlich fetten Neunzigerjahren. 27,3 Millionen zusätzligebracht. Aber die sozio-ökonomischen Triebkräfte, die Amerika
che Arbeitsplätze (ein Plus von 22 Prozent) entstanden von 1990
zerreißen, wirken sehr viel länger.
bis 2008 in dieser Ära. Eine Analyse des Nobelpreis-Ökonomen
Bis zu den späten Siebzigerjahren galt ein ungeschriebener KonMichael Spence offenbart aber: Dieser Segen konzentrierte sich
trakt, der Amerikas Arbeitnehmer am Wohlstandszuwachs teilhazu 97,7 Prozent auf jene Sektoren der US-Wirtschaft, die keiner
ben ließ: Von 1947 bis 1979 stiegen Produktivität, mittleres Eininternationalen Konkurrenz ausgesetzt waren. Die beiden größkommen und durchschnittlicher Lohn weitgehend parallel
ten Job-Motoren Amerikas waren das Gesundheitswesen und der
(| M 14 |). Das war der »fair deal«, und der zerbrach Anfang der
Achtzigerjahre. Im Jahr 2007 strich das oberste Hundertstel 23,5
öffentliche Dienst mit zusammen 10,4 Millionen neuen Jobs. Aber,
Prozent des Volkseinkommens ein. 1976 hatte ihr Anteil noch bei
so warnt Spence, dieser Pfad sei nun eine Sackgasse: Staatsver8,9 Prozent gelegen. 23,5 Prozent, das war der höchste Wert seit
schuldung und Sparzwänge würden es verbieten, mehr Verwalter,
1928, und Robert Reich, der Berkeley-Professor und frühere ArPolizisten oder Ärzte einzustellen.
beitsminister von Bill Clinton, sieht historische Parallelen.
Ganz anders verlief die Entwicklung in jenem Teil der US-Wirt1928 sei kurz danach die Great Depression hereingebrochen, 2007
schaft, der sich auf den Weltmärkten behaupten muss. Dort schufolgte die »Große Rezession«. Die Haute-Volée kassiert, die Wirtfen Mega-Banken und Versicherungs-Multis, globale Unternehschaft kollabiert – ein Zufall? »Nein!«, ruft Robert Reich, genau
mensberater wie auch Entwickler großer Computersysteme jede
dies sei der Grund der Malaise. Seit der Ära von Ronald Reagan
Menge hochbezahlter Topjobs. Nur, parallel raubten seit 2000 der
habe Washington sich vor der Macht des Marktes verneigt, nur
Niedergang der Industrie und die Verlagerung vieler Fabriken in
dereguliert und privatisiert und die Steuern für die Reichen im
Niedriglohnländer sechs Millionen Arbeitnehmern ohne CollegeLand gesenkt. Die Mittelschicht habe ihren Konsum bis 2008 nur
Abschluss ihre Existenz. Viele fanden ein neues Auskommen nur in
durch halsbrecherische Verschuldung aufrechterhalten – jetzt
schlecht bezahlten Billigjobs. Dieser Trend setzt sich fort: Die
drohe dauerhafte Stagnation: »Amerikas Wirtschaft kann nicht
Hälfte aller neuen Arbeitsplätze werden bis 2018 Mac-Jobs sein,
aus ihrer gegenwärtigen Flaute rauskommen ohne eine Strategie,
ein Drittel entsteht im Hochlohnsektor. Die Spannungen dürften
die die Kaufkraft der breiten Mittelschicht wiederbelebt.« Allein
wachsen.
die Nachfrage der reichsten fünf Prozent werde die Stagnation
Christian Wernicke: »Die Reichen und der Rest«, Süddeutsche Zeitung vom 10.10.2011, S. 2
der Wirtschaft nicht überwinden.
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Wie zukunf tsfähig sind die USA?
30.10.12 12:01
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M 7 Daniel Schnettler: »Die Supermacht
lebt«
Spätestens seitdem Apple zum wertvollsten
börsennotierten Unternehmen aller Zeiten
aufgestiegen ist, gibt es keinen Zweifel mehr:
Die amerikanische Wirtschaft lebt – und das
trotz aller Unkenrufe.
Hier ein Überblick, wo US-Firmen ganz vorne
mitmischen.
Technologie: Das Silicon Valley als Sitz von
Amerikas Internet- und Technologiefirmen
ist legendär. Aus diesem Tal nahe San Francisco stammen diejenigen Erfindungen, die
das Leben der Menschen auf der Welt verändert haben. Hier residieren Apple und Facebook nur Steinwürfe entfernt von Google und
Intel. Ebenfalls an der US-Westküste niedergelassen haben sich Microsoft oder Amazon.
Sie alle beherrschen den Weltmarkt: Bei
Smartphones und Tablet-Computern (die
meist in China gefertigt werden), beim Kontakte knüpfen im Netz, bei der InternetsuM 8 »Die Marsmission …«
© Heiko Sakurai, 2009
che, bei Computerchips oder bei PC-Software sowie dem Online- Handel. Ein Grund
für den Erfolg ist das enge Beziehungsgeflecht rund um das Silicon Valley: Hierher zieht es nicht nur die
man (Tarnkappenbomber B-2) oder General Dynamics (Kriegsbesten Entwickler aus aller Welt. Es finden sich Risikokapitalgeschiffe, Kampfpanzer Abrams). Die Europäer versuchen gerade
ber, die bereit sind, ihr Geld in aufstrebende Firmen zu stecken.
mit einer Fusion von EADS und der britischen BAE Systems dageAuto: Nicht ganz so offensichtlich wie im Technologiesektor ist
gen zu halten.
der Erfolg der Autoindustrie. Während der Rezession vor drei JahUnterhaltung: Die USA sind mehr als Hollywood, wenngleich jeren entkamen General Motors und Chrysler nur knapp dem Under der großen Medienkonzerne im Land ein eigenes Filmstudio
tergang. Staatshilfen holten die Hersteller aus der Insolvenz herbesitzt. Nummer eins ist Walt Disney. Zu dem Unterhaltungskonaus und ermöglichten den Neustart. Der Schock war heilsam:
glomerat gehören neben Micky Maus und Donald Duck FreizeitVeraltete Werke wurden geschlossen, neue Modelle entwickelt.
parks, eine Kreuzfahrt-Flotte und Fernsehkanäle. Die News Corp.
Nun fahren Amerikas Autobauer zusammen mit Deutschen und
des umstrittenen Rupert Murdoch umfasst Fox-TV, eine BeteiliJapanern wieder vorneweg. Der Opel-Mutterkonzern GM kämpft
gung am Bezahlsender Sky Deutschland sowie Zeitungen vom
mit Toyota und Volkswagen um den Titel des weltgrößten Auto»Wall Street Journal« bis zum britischen Boulevardblatt »Sun«.
bauers. Chrysler sorgt mit seinen Gewinnen dafür, dass der italieWeitere Branchengrößen sind Time Warner (CNN, Warner Bros.)
nische Besitzer Fiat am Leben bleibt. Ford als Dritter im Bunde
und Viacom (MTV).
schaffte unter Führung des ehemaligen Boeing-Managers Alan
Pharma/Biotech: Mit Pfizer, Amgen, Merck & Co. oder BristolMulally aus eigener Kraft die Wende und investiert kräftig in
Myers Squibb sitzen einige der größten Namen des GesundheitsChina. Im Windschatten der »Big Three« erholten sich US-Zuliefegeschäfts in den USA. Allerdings gibt es starke Konkurrenz vor
rer wie Delphi. Mit Tesla und Fisker sind zwei der namhaftesten
allem aus Europa.
Hersteller von Elektroautos neu gestartet.
Daniel Schnettler: Die Supermacht lebt, in: Esslinger Zeitung vom 28.9.2012, S. 23
Finanzen: Die Wall Street ist der Knotenpunkt der weltweiten Finanzströme. In den USA sitzen nicht nur einige der größten Banken der Welt mit JPMorgan Chase, der Citigroup, der Bank of
M 9 Nobelpreisträger Edmund Phelps: »Der US-Wirtschaft
America oder Goldman Sachs. Hier sind die mächtigen Ratingfehlt Innovationskraft«
agenturen daheim (Standard & Poor‘s, Moody‘s, Fitch). Hier haben milliardenschwere Hedgefonds ihren Sitz (Bridgewater, PaulFR (Frankfurter Rundschau): Herr Phelps, in den USA verharrt die
son & Co.) genauso wie Beteiligungsgesellschaften (KKR, Carlyle,
Arbeitslosenquote bei fast zehn Prozent. Die Hälfte aller Erwerbslosen
Bain Capital), Vermögensverwalter (Blackrock, State Street) oder
sucht seit mehr als sechs Monaten nach einem neuen Job. Wann wird es
Börsenbetreiber (NYSE, Nasdaq, CME). Zwar war in den USA das
besser?
Epizentrum der Finanzkrise des Jahres 2008, als die ImmobilienPhelps: Das dauert noch. Wir haben eine ungewöhnlich tiefe Reblase platzte. Die Investmentbank Lehman Brothers und Hunzession hinter uns, bei der acht Millionen Jobs verloren gingen. Es
derte regionale Kreditinstitute gingen pleite. Doch das Eingreifen
braucht Zeit, um das wieder wett zu machen.
des Staates mit Steuergeldern rettete die anderen großen Banken
FR: Umsätze und Gewinn der Unternehmen steigen seit einem Jahr wieund stabilisierte die Wall Street. Schon bald darauf flossen wieder
der, die Zahl der Stellen stagniert dagegen.
Milliardengewinne. Der Staat verkaufte seine Anteile an den BanPhelps: Die Verunsicherung in den Chef-Etagen ist groß. Die Konken mit Gewinn. Selbst der Versicherer AIG als größte Beinahezerne horten lieber Bargeld statt zu investieren. Das hat mit der
Pleite der Finanzkrise steht wieder auf eigenen Beinen.
Sorge vor einer schnellen Rückkehr der Rezession zu tun. Es liegt
Rüstung: Da die USA von allen Staaten weltweit das meiste Geld
aber auch an der Obama-Regierung. Die Unternehmen wissen
in ihr Militär pumpen, verwundert es nicht, dass hier die größten
nicht, woran sie sind; welche Steuern steigen und welche nicht.
Rüstungskonzerne sitzen. Knapp die Hälfte der Firmen auf der
Die Folgen der Gesundheitsreform etwa sind immer noch nicht
Top-100-Rüstungsliste des Friedensforschungsinstituts Sipri
klar. Die Ausweitung der Krankenversicherung kostet Geld. So
stammen aus den Vereinigten Staaten. In den USA sitzen Boeing
lange die Unternehmen nicht wissen, wie teuer das für sie wird,
(Kampfjet F/A-18, Hubschrauber AH-64 Apache), Lockheed-Marzögern sie bei Neueinstellungen.
tin (Kampfjet F-16, Transportflieger C-5 Galaxy), Northrop Grum-
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FR: Studien belegen immerhin, dass die Lage ohne
das Konjunkturprogramm der Obama-Regierung
noch schlimmer wäre.
Phelps: Naja. Was die Regierung da macht,
ist die Folge einer falschen Diagnose. Allein
die geringe Nachfrage wird als Problem angesehen. Konjunkturhilfen wirken in einem
solchen Fall aber nur, wenn die Wirtschaft
ansonsten intakt ist. Und das ist nicht der
Fall.
FR: Woran liegt es denn?
Phelps: Wir sind nicht nur in einer Wachstumsdelle. Wir stecken in einem strukturellem Schlamassel, den kein Milliardenpaket
lösen kann. Der US-Wirtschaft fehlt, was sie
stets stark gemacht hat: Innovationskraft.
Neuerungen ziehen Investitionen nach sich.
Investitionen münden in Jobs. Hier hakt es.
FR: Das heißt?
Phelps: Manager denken zu kurzfristig. Vielversprechende Forschungsprojekte werden
auf Eis gelegt, nur weil sie das nächste QuarM 10 »Haaaallo!! …«
talsergebnis belasten könnten. In der Pharmabranche etwa ersetzen Computer die Forscher – mit schlechteren Ergebnissen. Viele
Investoren, die früher Geld in neue Unternehmen steckten und so
Arbeitsplätze geschaffen haben, zögern.
FR: Obama investiert in Forschung und Entwicklung: Erneuerbare Energien zum Beispiel profitieren besonders davon.
Phelps: Das alles wird aber nicht in dem Umfang Jobs schafften,
wie es wünschenswert wäre. Der Staat erfindet nichts. Aber er
kann Strukturen schaffen, die zu Innovationen führen. (…) [Ich]
habe kürzlich die Schaffung einer First National Bank of Innovation vorgeschlagen. Ein staatlich gestütztes Netzwerk aus Banken, die in Forschungsprojekte investieren. Start-ups sollten zudem von der Steuer befreit werden.
FR: Die Jobs der Zukunft …
Phelps: … entstehen nur durch Innovation. Sehen sie sich Apple
an.
FR: Der Konzern produziert in Asien.
Phelps: Ja, aber es geht auch nicht darum, in Feldern zu konkurrieren, wo die Globalisierung längst Fakten geschaffen hat. Die
Produktion wird in Asien bleiben, das ist auch okay. Aber schauen
Sie sich die vielen Designer, Marketing- und Vertriebsprofis an.
Neue Produkte führen immer zu mehr Jobs. Darauf müssen wir
setzen. Amerika muss wieder so innovativ werden wie in der Vergangenheit. Dann folgen Investitionen automatisch; nur das
schafft langfristig neue Stellen.
FR: Und kurzfristig? (…)
Phelps: Wir brauchen höhere Steuern, um unsere Schuldenkrise
endlich anzugehen. Ansonsten fürchte ich, dass der Dollar in Gefahr gerät. Es ist an der Zeit, zumindest einen symbolischen
Schritt zu machen, um das Defizit zu senken. Die Steuererleichterungen zu verlängern, wäre deshalb falsch. An einen stimulierenden Effekt für die Wirtschaft glaube ich in diesem Fall nicht.
FR: Und das Arbeitslosengeld? Die Republikaner stemmen sich mit dem
Verweis auf das Rekorddefizit gegen eine Verlängerung.
Phelps: Das alles ist teuer, das stimmt schon, und eigentlich können wir es uns nicht leisten. Doch das sollte der letzte Schritt sein.
Zuvor könnten wir zum Beispiel einige Rüstungsprojekte um ein
paar Jahre verschieben. Aber ich würde das Geld ohnehin lieber
zur Subventionierung von Jobs einsetzen. Wir sollten Unternehmen mit Steuererleichterungen zur Schaffung von Stellen im
Niedriglohnsektor bewegen. Dann bezahlen wir die Leute dafür,
dass sie arbeiten und nicht dafür, dass sie arbeitslos sind. In Singapur hat so ein Programm die Rezession abgemildert, die Arbeitslosigkeit liegt dort bei weniger als drei Prozent.
FR: Vor knapp zehn Jahren lag die Quote in den USA auch nur knapp darüber, bei vier Prozent. Wann wird dieses Niveau wieder erreicht sein?
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© Gerhard Mester, 2012
Phelps: Gar nicht. Eine vollständige Erholung wird es nicht geben,
fürchte ich. Zwar wird die Arbeitslosigkeit wieder sinken. Wir werden vielleicht 7,5 Prozent erreichen. Aber selbst das wird drei bis
vier Jahre dauern.
FR: Vier Jahre? Da könnte der nächste Abschwung bereits beginnen.
Phelps: Ja, wir werden mit einer insgesamt höheren Arbeitslosigkeit in die nächste Krise gehen.
»Der US-Wirtschaft fehlt Innovationskraft« – Interview mit dem US-amerikanischen Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Edmund Phelps in: Frankfurter Rundschau,
24.8.2010, S. 15.
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Gilian Tett: »Globalisierung als Herausforderung«
In recent years, Tupperware has seemed to epitomise the American dream. Seven decades ago, Earl Silas Tupper stimbled on the
idea of using rubber seals for plastic boxes. And from those humble origins, a direct sales giant emerged, with those »Pupperware
parties” selling plastic to millions of housewives. But these days
those airtight boxes come with a twist. Four decades ago, 90 per
cent of the compnay’s sale were in the US. Now however, 90 per
cent are outside the US. Yes, you read right: Tupperware might
look as American as apple pie; its headquarters are even in Orlando, near Disneyworld. But it is not American consumers who
are now driving the group’s success, but those in Indonesia or Korea or Germany. And the company is structured accordingly. It has
shifted much of its production overseas and only 1,000 of its
13,600 employees are in the US. »Our number two is English, our
head of manufacturing and sourcing is Belgian, our head of human resources is German, our head of tax is Czech, one of our
group presidents is a Swede, the other a Colombian”, observes
Rick Goings, Tupperware CEO. »We may be based in America but
not a single piece of our DNA today is that of a purely American
company.” (…) »American” companies are no longer particularly
American. Never mind the well known exodus of manufacturing
jobs or the fact that large companies now hold 60 per cent of their
cash outside the US (…). What is less widely appreciated is that
the corporate dynamos are becoming less tethered to their »domestic” market of demand, too.
Gillian Tett: Global shift in US business is a headache for Washington, in: Financial Times,
13.8.2012, S. 9
Wie zukunf tsfähig sind die USA?
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GEORG WEINMANN
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M 12
Dennis Tänzler: »Die USA im Klimawandel«
Mit der Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten
der Vereinigten Staaten im November 2008 gingen
auch weitreichende klimapolitische Hoffnungen einher. Durch die Präsidentschaft des »Messias der Moderne« sollten Fortschritte in der amerikanischen
wie auch in der internationalen Klimapolitik herbeigeführt werden. Seit dem Ausstieg der USA aus dem
Kyoto-Protokoll unter dem Präsidenten George W.
Bush im Jahre 2001 gingen wesentliche klimapolitische Impulse von Pionieren auf Einzelstaatsebene
oder in den Städten aus. Die internationalen Klimaverhandlungen warteten vergeblich auf ein Signal,
welche alternativen Wege die USA beschreiten würden, um die notwendigen Minderungen beim Treibhausgasausstoß zu erreichen. (…) Präsident Obama
kündigte zu Beginn seiner Präsidentschaft an, bei
der Bekämpfung des Klimawandels eine Führungsrolle übernehmen zu wollen. Der Aufbau eines auf
der Nutzung sauberer Energien basierenden WirtM 14 »U. S. to curb gaz emissions«
© Chappatte, 27.11.2004
schaftssystems sei Merkmal internationaler Führerschaft. Er unterstütze eine umfassende Klimagesetzgebung und setze auf die amerikanische
mutet würden, betonte [US-]Innenminister Ken Salazar. (…) Für
Innovationskraft, welche die USA im friedlichen Wettstreit um die
Washington sind die Bohrungen in der Arktis Teile des Ziels, langEnergien der Zukunft weltweit wirtschaftlich wieder an die Spitze
fristig unabhängiger von den Öl-Importen der OPEC-Staaten zu
bringen könne – eine Position, die insbesondere von China streiwerden. Die Republikaner werfen US[-]Präsident Barack Obama
tig gemacht werde. Die Wichtigkeit einer stärkeren Unabhängigvor, mit der Genehmigung neuer Bohrungen nicht schnell genug
keit von fossilen Energieimporten zusammen mit den Chancen
zu sein und mit dem geplanten Streichen von Steuervergünstidurch saubere Technologie auch Arbeitsplätze zu schaffen, bildegungen die heimische Öl-Industrie zu schwächen. (…) Für die
ten zunächst das Leitbild einer Reihe von Reden des Präsidenten.
Arktis-Region sind die Bohrungen ein wichtiger Wirtschaftsfak(…) Doch die Stimmung kippte zu Beginn der Obama-Präsidenttor. Die Senatoren beider Parteien begrüßten die Entscheidung.
schaft. Bei der Republikanischen Partei baute sich vehementer
(…) Sollte Shell auf Öl stoßen, gilt als sicher, dass andere KonWiderstand gegen die Einführung eines Emissionshandelssyszerne mit Investitionen nachziehen und ebenfalls in die Region
tems auf. Wesentlich von Vertretern der zunehmend an Einfluss
gehen würden. (…) Kritiker werten die Verzögerungen im Genehgewinnenden Tea Party befördert, kehrten schon längst übermigungsprozess als Zeichen dafür, dass das Unternehmen auf die
wunden geglaubte Zweifel an der Existenz des Klimawandels in
Exploration nicht ausreichend vorbereitet ist. Umweltexperten
die innenpolitische Debatte zurück. Auch einige demokratische
warnen vor den Gefahren, die das Bohren in eisbedeckten GebieParteigänger Obamas, die angesichts der Wirtschaftskrise, hoher
ten mit sich bringt. Weder die Regierung noch das Unternehmen
Arbeitslosigkeit und steigender Energiepreise nicht zuletzt um
könnten die Risiken in dem sensiblen Ökosystem abschätzen.
ihre Wiederwahl fürchteten, schlossen sich dieser Opposition an.
(…) Ohne die notwendige innenpolitische Rückendeckung hat es
Thorsten Schröder: Erdöl aus dem Eis, in: Frankfurter Rundschau vom 3.9.2012, S. 13.
die Obama-Administration in den internationalen Klimaschutzverhandlungen nicht geschafft, die erhofften Akzente zu setzen
und den Weg für ein umfassendes Nachfolgeabkommen des KyoM 15 »Little to say about renewable energy«
to-Protokolls zu ebnen. Hierfür hätten die USA auf den Verpflichtungspfad zurückkehren müssen, um die großen Schwellenländer
By concentrating so heavily on oil and gas production (…) in spite
wie China und Indien zu vergleichbaren Schritten zu ermutigen.
of his declared commitment to an »all of the above” energy stratOhne das angestrebte nationale Klimaschutzprogramm, welches
egy – Mr. Romney’s approach is unbalanced. He has little to say
entsprechende Minderungsverpflichtungen zunächst national
about renewable energy, and supports allowing the production
etabliert, fehlt dem amerikanischen Präsidenten ein hinreichentax credit for wind power to expire at the end of the year, cutting
des innenpolitisches Mandat.
that industry off at the knees. He also neglects entirely the quesDennis Tänzler: Die USA im Klimawandel: Zwischen Führungsanspruch und Politikblockation of energy demand. Mr Romney is right to be sceptical of the
den, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 51–52, 2011, S. 25ff.
administration’s push to raise vehicle fuel economy standards,
which are a relatively inefficient way of curbing oil consumption,
but he has proposed no alternative. Fortunately, he has a solution
M 13 »Ölbohrungen in der Arktis«
close to home. Greg Mankiw of Harvard, one of Mr Romney’s principal economic advisers, has long been an advocate of increased
Nachdem die US-Regierung dem britisch-niederländischen Öltaxes on road fuel, making the point that consumption of a prokonzern Shell die Genehmigung erteilt hat, könnten noch in dieduct that creates pollution is a much better target for taxation
ser Woche erste Bohrungen in der Arktis beginnen. Mit der Entthan income or profits. In a country that is as dependent on cars
scheidung ist das Unternehmen seinem Ziel, die Öl- und
as the US, such a move would be politically inflammatory. HoweGasvorkommen der Region zu erschließen, ein großes Stück näver, as a new president with a mandate to cut the budget deficit,
her gekommen. (…) Der Konzern darf zunächst mit vorbereitenno one would ever have a better chance to do it.
den Tiefen bis 1400 Fuß (426 Meter) an einem ersten Standort in
Romney fails to end US oil addiction, in: The Financial Times vom 28.8.2012, S. 8.
der Tschuktschensee am Rande des Polarmeeres beginnen. (…)
Die genehmigten Bohrungen würden nur geringe Risiken bergen,
weil sie nicht in Regionen vorstoßen, in denen Ölvorkommen ver-
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Fareed Zakaria: »Innovate better«
Yet even if the U. S. can put together the combination
of government policy and private initiative that lets
innovation bloom, it won’t solve all its current problems. The U. S. is climbing out of a recession in which
corporate America is doing well but unemployment
remains sky-high. Those with capital are prospering,
but the average worker faces powerful challenges.
Will innovation solve this problem? That’s no easy
question to answer. Consider Apple, now the second
most valuable company in the world by market capitalization, just after ExxonMobil. Its innovative skills
have led to rich rewards for its stockholders and managers, but if you compare it with the Taiwan-based
firm Foxconn, which actually makes many of Apples’s
products, a crucial difference emerges. The companies have comparable revenues, but Apple employs
about 50.000 people; Foxconn, 1.000.000. And there
lies the key lesson. The U. S. needs innovation urgently. But if Americans are to get the U. S. back to
work, they need perhaps even more urgently to rebuilt American education, reform its training system,
revive high-end manufacturing, focus on new growth
industries and rebuild the nation’s infrastructure. In
fact, finding new ways to do these old tasks might be
the greatest and most important innovation of all.
M 19 »Fluchtbewegung …«
Fareed Zakaria: Innovate better, in: TIME, 13. Juni 2011, S. 43.
M 17
David Landes: »Wohlstand und Armut der Nationen«
Diese Welt gehört den Optimisten, nicht weil sie immer recht haben, sondern weil sie positiv eingstellt sind. Selbst wenn sie irren,
denken sie positiv. Deshalb erreichen sie etwas, korrigieren Fehler, kommen weiter und haben Erfolg. Kultivierter, wacher Optimismus zahlt sich aus. Pessimismus bringt nur den leeren Trost,
recht zu haben. Die eine Lehre, die wir daraus ziehen, ist die Notwendigkeit ständigen Erprobens. Keine Wunder. Kein Perfektionismus. Keine Endzeit. Wir müssen einen skeptischen Glauben
entwickeln, das Dogma meiden, gut zuhören und beobachten,
versuchen, Ziele klarzustellen und zu bestimmen. Nur so können
wir die richtigen Mittel wählen.
Landes, David (2010): Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die
anderen arm sind. Bonn, S. 525.
M 18
Ulrich Beck: Weltriskiogesellschaft
Vor einigen Jahren erteilte der US-Kongress einer wissenschaftlichen Kommission den Auftrag, eine Sprache oder Symbolik zu
entwickeln, die noch in zehntausend Jahren (Hervorhebung im
Original) über die Gefährlichkeit amerikanischer Atommüllendlager aufklären sollte (…). Das zu lösende Problem lautete: Wie
müssen Begriffe, Symbole beschaffen sein, um eine Botschaft
über Jahrtausende an die dann Lebenden weiterzugeben? Die
Kommission setzte sich aus Physikern, Anthropologen, Linguisten, Gehirnforschern, Psychologen, Molekularbiologen, Alterumsforschern, Künstlern etc. zusammen. Sie hatten zunächst die
Frage zu klären: Gibt es in 10 000 Jahren überhaupt noch die USA?
Die Antwort fiel der Regierungskommission selbstverständlich
leicht: USA forever!. Doch das Schlüsselproblem heute ein Gespräch mit der Zukunft zu beginnen, erwies sich erst allmählich
als unlösbar. Die Experten suchten Vorbilder in den ältesten Symbolen der Menschheit (…). Aber diese reichten allenfalls ein paar
tausend, nie zehntausend Jahre zurück. (…) Selbst unsere Sprache
versagt vor der Aufgabe, zukünftige Generationen über die Ge-
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© Burkhard Mohr, 2010
fahren zu informieren, die wir wegen des Nutzens bestimmter
Technologien in die Welt gesetzt haben.
Ulrich Beck (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit.
Bonn, S. 383f.
M 20
Das Globalisierungsparadox
Die Vereinigten Staaten, Europa und Japan sind allesamt erfolgreiche Wirtschaftsregionen. Sie alle haben über einen langen
Zeitraum hinweg Wohlstand auf vergleichbarem Niveau geschafften. Doch die Regelwerke, die für ihren Arbeitsmarkt, für die Führung von Unternehmen, für die Verhinderung von Kartellen, für
soziale Sicherungssysteme und auch die Banken- und Finanzwirtschaft gelten, wiesen und weisen erhebliche Unterschiede auf.
Diese Unterschiede ermöglichen es Journalisten und Experten, in
schöner Regelmäßigkeit jeweils eines dieser »Modelle« – in jedem
Jahrzehnt ist es ein anderes – zu dem großartigen Erfolgsmodell
zu küren, dem alle nacheifern sollen. (…). Solche Moden sollten
uns nicht blind machen für die Tatsache, dass wir keines dieser
Modelle eindeutig zum Sieger im Wettbewerb um den besten Kapitalismus küren können. Schon die bloße Vorstellung von einem
»Sieger« ist nicht ganz koscher in einer Welt, in der jedes Land
etwas andere Bedürfnisse und Präferenzen hat, in der zum Beispiel die Europäer sich im Zweifel mehr Einkommenssicherheit
und weniger Ungleichheit wünschen als Amerikaner, selbst wenn
sie dafür den Preis über höhere Steuern zahlen müssen. (…) Die
erfogreichsten Gesellschaften der Zukunft werden Spielräume für
experimentelle Lösungsansätze lassen und bestehenden Institutionen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung einräumen. Eine
Weltwirtschaft, die die Notwendigkeit und Wertigkeit institutioneller Vielfalt erkennt und anerkennt, wird Experimentierfreude
und evolutionäre Veränderung nicht bremsen, sondern fördern.
35
Dani Rodrik (2011): Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. Bonn: BpB, S. 308f.
Wie zukunf tsfähig sind die USA?
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DIE VOLKSREPUBLIK CHINA
5. Chinas politisches System:
Ein Modell mit Zukunft?
BJÖRN ALPERMANN
W
ie zukunftsfähig ist das politische System der Volksrepublik
China?
Diese Frage beschäftigt Politikwissenschaft
und Chinaforscher seit längerer Zeit. Sie wird
immer wieder auch vor dem Hintergrund von
Umbrüchen in anderen Ländern diskutiert. Im
Moment scheint die Zukunft der kommunistischen Herrschaft in China kaum direkt bedroht,
wenn auch immer wieder von Konflikten innerhalb der Herrschaftselite in Beijing sowie zwischen der Zentralregierung und den lokalen
Akteuren berichtet wird. Dennoch weist das
herrschende System eindeutige Dysfunktionalitäten und Pathologien auf, wie Hinweise auf die
verbreiteten Phänomene Korruption und
Machtmissbrauch belegen. Es ist dabei nicht
auszuschließen, dass die in der Volksrepublik
China üblichen repressven Herrschaftstechniken von anderen autoritären Regimen kopiert
werden könnten, um deren Macht zu konsolidieren.
China: Kollaps oder Modell?
36
Abb. 1 11. Volkskongress der Volksrepublik China in der Großen Halles des Volkes in Beijing
© picture alliance, 14.3.2012
Vor rund zwanzig Jahren schien die Sache eigentlich klar zu sein: Die sozialistischen Staaten des
Ostblocks hatten sich aufgelöst und durchliefen nun eine monumentale Transformation hin zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Marktwirtschaft. Es schien unvorstellbar, dass die letzten
Außenposten des kommunistischen Parteistaats noch lange dieser »leninistischen Ausrottung« (Jowitt 1992) entgehen könnten.
Gerade die Volksrepublik China schien ihrem Ende entgegenzugehen: Noch 1989 bot sie Panzer und Soldaten auf, um mit Repression eine großangelegte Protestbewegung in Beijing und
vielen anderen Städten niederzuschlagen. Die anschließende politische Eiszeit, in der die linkskonservativen Hardliner das Sagen
hatten, fror die wirtschaftlichen und sozialen Reformen der späten 1970er- und 80er-Jahre ein. Diese hatten – trotz damit verbundener Korruption und Inflation – das Potenzial besessen, breiten
Bevölkerungsschichten ein besseres Leben in einer Gesellschaft
zu bescheren, die zumindest im Vergleich mit den Jahrzehnten
unter Mao Zedong (von der Gründung der VR 1949 bis zu dessen
Tod 1976) deutlich freier war. Die Ideologie der Kommunistischen
Partei Chinas (KPCh) schien bereits seit den verheerenden sozioökonomischen Experimenten und politischen Massenkampagnen unter Mao bankrott und seit den Reformen in Richtung
Marktwirtschaft beliebig geworden. Wenn nun auch noch Wirtschaftsentwicklung als alternative Quelle der Legitimation wegfiele, könne die Kommunistische Partei keine lange Halbwertszeit mehr besitzen – so lautete die damals weit verbreitete
Meinung unter Chinawissenschaftlern und anderen Beobachtern.
In noch viel stärkerem Maße musste diese Annahme für die von
der aufgelösten Sowjetunion abhängigen Staaten Vietnam, Laos,
Nordkorea und Kuba gelten. In der Politikwissenschaft ergab sich
aus diesen Umbrüchen ein erheblicher Schub für die Demokratisierungsforschung, während das Feld der »Kommunismus-Studien« verödete – entsprechende Fachzeitschriften benannten
sich um, damit der Übergang in ein »post-kommunistisches« Zeitalter sich auch im Titel ausdrückte.
Ein gutes Jahrzehnt später hatte sich diese Einschätzung keineswegs bestätigt. Kein einziger der genannten sozialistischen Staaten hatte einen systemischen Umbruch erlebt. Stattdessen
durchliefen sie alle auf teils recht unterschiedliche Weise Anpassungen an ihre neue Umwelt. Was China anbelangt, so erlebte
seine Wirtschaft im Jahrzehnt von 1992 bis 2001 eine atemberaubende Transformation. Dies begann mit der berühmten Inspektionsreise des Parteiältesten Deng Xiaoping, der bei seinem Besuch in den Sonderwirtschaftszonen des Südens die Reformen
wiederbelebte und das Interregnum der Hardliner beendete.
Schon 1993 nahm die KPCh die Errichtung einer »sozialistischen
Marktwirtschaft« als neues Ziel in die Verfassung auf. Das Jahrzehnt brachte eine fortschreitende Liberalisierung immer weiterer Wirtschaftsbereiche, ständig steigenden Zufluss an ausländischem Kapital und eine an Entschlossenheit gewinnende
Restrukturierung der maroden Staatsbetriebe, von denen viele
geschlossen oder privatisiert wurden (freilich ohne dies so zu
nennen). Binnenmarktreform und außenwirtschaftliche Öffnung
lieferten gemeinsam zweistellige Wachstumsraten der chinesischen Volkswirtschaft. Aber auch politisch konnte sich die Herrschaft der KPCh allem Augenschein nach stabilisieren. Größere
soziale Proteste unterblieben. Statt zu protestieren wie ihre Vorgängergeneration bewarben sich Studenten vermehrt um die
Aufnahme in die Partei, um ihre Karrierechancen zu verbessern.
Und ein neu entfachter Nationalismus diente dem Regime als
weitere Stütze seiner Legitimation. Obwohl die Grundstrukturen
des leninistischen Parteistaates weitgehend unverändert blieben, schien eine erfolgreiche Anpassung an die veränderten Herausforderungen der Zeit geglückt zu sein. Dies verlangte nach
neuen Erklärungsansätzen in der Politikwissenschaft und beflügelte die Diskussion über »autoritäre Widerstandsfähigkeit«
(Nathan 2003; Gilley 2003). Die Idee dahinter: Welche Anpassungsleistungen ermöglichen es autoritären Regierungssyste-
China s p olitisches S ys tem: Ein Modell mit Zukunf t?
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men, dem Druck in Richtung Demokratisierung zu widerstehen, und für
wie lange? Diese Debatte wurde sehr
kontrovers geführt, widersprach die
Vorstellung einer stabilen autoritären Herrschaft doch fundamental
dem Mainstream der Politikwissenschaft, und Bücher wie Gordon
Changs »The Coming Collaps of
China« (2001) fanden nach wie vor
große Beachtung.
Die folgende Dekade begann Ende
2001 mit Chinas Beitritt in die Welthandelsorganisation (WTO), der
weitreichende Folgen für die Öffnung
des Binnenmarktes, die Einbindung
Chinas in die globale Wirtschaft und
eine Verrechtlichung des Wirtschaftslebens mit sich brachte.
Dieser Zeitraum brachte die Informations- und Kommunikationsrevolution nach China mit exponentiell
wachsenden Nutzerzahlen für Mobiltelefone und das Internet, sodass das
Informationsmonopol der KPCh zuAbb. 2 Das politische System der Volksrepublik China
© Zahlenbilder, Bergmoser + Höller Verlag
nehmend unter Druck geriet. Und
dennoch erscheint die kommunistiPartei und Staat
sche Herrschaft in ihrem nach wie vor kaum veränderten Regierungssystem im Jahr 2012 gefestigter denn je. Verglichen mit den
Um es vorweg zu nehmen: Beide Seiten der Debatte können auf
westlichen Volkswirtschaften ging China gestärkt und mit neuem
beeindruckende empirische Belege für eine Revitalisierung des
Selbstbewusstsein aus der 2008 einsetzenden Serie von FinanzParteistaats einerseits (Yang 2004) und für einen fortschreitenund Wirtschaftskrisen hervor. In elf Jahren WTO-Mitgliedschaft
den Verfall staatlicher Kapazität andererseits (Pei 2006) verweistieg China zur weltweit größten Exportnation auf und erwirtsen. Eine eindeutige Antwort auf die oben aufgeworfene Frage
schaftete gigantische Devisenreserven. Chinas Bevölkerung ließ
kann es also nicht geben, sondern es läuft bildlich gesprochen
sich weder von den »Farbenrevolutionen« der Jahre 2003 bis 2005
darauf hinaus, ob man das Glas eher als halb voll oder als halb leer
in den post-sozialistischen Staaten Georgien, Ukraine und Kirgibetrachtet. Entsprechend benennt David Shambaugh (2008)
sistan anstecken, noch von dem gegenwärtigen Umbruch in der
seine Studie über die jüngere Entwicklung der KPCh auch nach
arabischen Welt. Einem Aufruf zu von der tunesischen »Jasminden beiden widerstreitenden Tendenzen »Absterben und AnpasRevolution« 2010/11 inspirierten Demonstrationen in Peking folgsung«. Die Achillesferse der Partei sind sicherlich die weit verbreiten mehr ausländische Journalisten als chinesische Bürger. Die
teten Phänomene Korruption und Machtmissbrauch vor allem auf
wenigen, die kamen, wurden prompt in Gewahrsam genommen,
lokaler Ebene. Sie sind ihrerseits Folgen der engen Verbindung
weil der mittlerweile massiv ausgebaute Überwachungs- und Rezwischen Staat und Wirtschaft sowie des Mangels an effektiven
pressionsapparat längst informiert war und bereit stand.
Kontrollmechanismen. Die Parteiführung hat dies wohl erkannt
Vor diesem Hintergrund mehren sich in der politik wissenschaftund bezeichnet ihre Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruplichen Chinaforschung die ernstzunehmenden Stimmen, welche
tion regelmäßig als »Kampf um Leben und Tod« für die KPCh.
die Möglichkeit einer erfolgreichen »autoritären Konsolidierung«
Dennoch führt sie diesen Kampf nur mit halber Kraft, denn sie
(Göbel 2011) in China in Betracht ziehen. Dies ist ein fundamentaverlässt sich nach wie vor auf die (aufgewerteten) »Disziplinkontler Perspektivwechsel verglichen mit der Vorstellung einer nur
rollkommissionen«. Das sind parteiinterne Untersuchungsgre»festgefahrenen Transition« zur Demokratie (Pei 2006) oder
mien mit weitreichenden Kompetenzen, die sie aber nur unter
selbst zu Nathans (2003) Idee eines erfolgreichen Widerstehens
Berücksichtigung politischer Präferenzen der Parteiführung eingegen beständigen Druck in diese Richtung. Denn eine solche
setzen. In der Regel gehen sie daher behutsam vor, da eine zu
Konsolidierung eines autoritären Systems – analog verstanden zu
hohe Zahl aufgedeckter Korruptionsfälle das Vertrauen der Beeiner Konsolidierung nach einem Systemwechsel zur Demokratie
völkerung in die Regierung erschüttern könnte. Zudem sind die
– würde prinzipiell bedeuten, dass der Fortbestand desselben
»Disziplinkontrollkommissionen« neben den für die Vergabe von
dauerhaft gesichert wäre statt ständigem Veränderungsdruck in
Kaderposten zuständigen Organisationsabteilungen der KPCh
Richtung auf politische Liberalisierung zu unterliegen. Etwas vordiejenigen Organe, bei denen sich Bestechung durch andere Pareilig vielleicht wird inzwischen sogar über ein »Modell China«
teikader am meisten lohnt. Ihre eigene Effektivität ist also durch
oder einen »Beijing Konsens« – als Gegensatz zum »Washington
Korruption bedroht. Eine externe Kontrolle durch Gerichte findet
Konsens« – diskutiert, von dem andere aufstrebende Nationen
nicht statt, da Parteimitglieder zunächst der parteiinternen Diszilernen könnten (kritisch hierzu Naughton 2010; Kennedy 2010).
plinkontrolle unterliegen. Ein System, das eigentlich strengere
Dennoch stellt sich zu Recht die Frage: Wie kann eine kommunisStandards für öffentliche Beschäftigte als für die Allgemeinbevöltische Partei im einundzwanzigsten Jahrhundert so erfolgreich
kerung garantieren sollte, erreicht so das genaue Gegenteil.
ihre Herrschaft festigen? Oder ist dieser Erfolg eine Schimäre?
Die Führungsrolle der KPCh über den gesamten Staatsapparat –
Übersieht die Analyse bis hierhin wichtige Problemfelder, gegeein Prinzip mit Verfassungsrang – wird heute ebenso wie vor
benenfalls sogar Anzeichen für eine Schwächung des Systems?
zwanzig Jahren durch leninistische Organisationsmechanismen
garantiert. Das Nomenklatura-System sichert der KPCh die Kontrolle über die Besetzung aller wichtigen Ämter, Parteigruppen
und -zellen sind in allen öffentlichen Einrichtungen zu finden (zu-
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Abb. 3 Bo Xilai, ehemaliger Parteisekretär der Metropole Chongqing auf dem
Volkskongress im März 2012. Am 28.9.2012 wurde er aus der KPCh ausgeschlossen. Zuvor wurde seine Ehefrau wegen einer Beteiligung an der Ermordung eines
britischen Geschäftsmannes zum Tode verurteilt. Beobachter vermuten interne
Rivalitäten in der Machtelite der KPCh.
© picture alliance, 28.9.2012
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nehmend sogar in Privatunternehmen). Die Volksbefreiungsarmee (VBA) ist eine Parteiarmee, sie untersteht seit der kommunistischen Revolution der KPCh und nicht dem Staat. Disziplin
und Einhaltung der Parteilinie in der VBA werden unter anderem
durch Politkommissare genau überwacht. Der Generalsekretär
der KPCh, Hu Jintao, ist zugleich Staatspräsident (eine überwiegend repräsentative Funktion) und Vorsitzender der Zentralen
Militärkommission, also Oberbefehlshaber über die Streitkräfte.
In dieser Ämterhäufung kommt der Primat der KPCh über die anderen Säulen politischer Herrschaft in China zum Ausdruck.
Ein besonders interessantes Feld ist das Rechtssystem, das in den
vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Entwicklung genommen hat. Nach der Gesetzlosigkeit der Mao-Ära war der »Aufbau eines sozialistischen Rechtsstaates« (seit 1999 auch Verfassungsziel) eines der großen Projekte der Reformperiode. Die
Verrechtlichung hat enorme Fortschritte gemacht: Praktisch alle
Bereiche des Lebens sind inzwischen gesetzlich geregelt und viele
Normen mussten teils schon mehrfach novelliert werden, um mit
der rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik
mitzuhalten. Das Gesetzgebungsverfahren wird zwar weiterhin
von der KPCh kontrolliert, aber der Nationale Volkskongress
mauserte sich immer mehr zum Arbeitsparlament. Statt Gesetzesvorlagen nur durchzuwinken, ist es heute üblich, sie lange in
Ausschüssen zu debattieren und zu revidieren, bevor sie verabschiedet werden. Auch die Professionalität des Justizwesens, insbesondere der Gerichte und Rechtsanwälte, wurde durch höhere
Standards der juristischen Ausbildung signifikant erhöht. Und
dennoch ist die Volksrepublik von der Rechtsstaatlichkeit (»rule
of law«) trotz Gesetzesherrschaft (»rule by law«) noch weit entfernt. Die Nützlichkeit des Rechtswesens für die Stabilisierung
von Herrschaft und die größere Verlässlichkeit staatlichen sowie
wirtschaftlichen Handelns wird zwar anerkannt – aber nicht uneingeschränkt und nur bis zu einem gewissen Grade. Bestimmte
Bereiche wie die »Staatssicherheit« werden bewusst de-institutionalisiert belassen: Wer sich in Fragen engagiert, welche aus Sicht
der Behörden die »staatliche Sicherheit« oder das »sozialistische
System« gefährden, kann nicht mit einer Behandlung gemäß
rechtsstaatlichen Grundsätzen rechnen. Die Abgrenzung dieser
Bereiche ist absichtlich schwammig und kann sich jederzeit ändern (Stern/O’Brien 2012). Solche Vorwürfe, das System zu untergraben, treffen nicht nur »echte« Dissidenten, sondern teilweise
auch Aktivisten für Arbeiterrechte, Umweltschutz oder ähnliches.
Die so entstehende Unsicherheit schreckt die meisten Chinesen
davon ab, in Grauzonen aktiv zu werden. Aktivistische Rechtsanwälte beispielsweise unterliegen der ständigen Gefahr, ihre Zulassung zu verlieren, also die Basis ihres wirtschaftlichen Daseins
entzogen zu bekommen. Dass auf der lokalen Ebene Sicherheitsbehörden teilweise mit kriminellen Banden und Schlägern kooperieren, um sich widersetzende Bürger einzuschüchtern, muss als
Degeneration des Systems verstanden werden. So etwas kommt
nicht selten bei Bauprojekten vor, an denen Entwicklungsfirmen
und Lokalregierungen gut verdienen, für die aber Bürger ihre
Häuser oder Bauern ihr Land räumen müssen. Vordergründig
geht es hier um finanzielle Profite. Aber solch ein Verhalten hat
seine Ursache in der sehr wohl intendierten Vormachtstellung der
KPCh, die eben auch im Rechtssystem verankert ist. Die lokalen
Parteisekretäre führen den Vorsitz der Parteikommission für Politik und Recht, sodass ihnen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte direkt unterstehen. Dieser Primat der Parteiherrschaft ist
eine harte Schranke, an der bislang jede evolutionäre Entwicklung in Richtung Rechtsstaatlichkeit scheitert. Sie kann erst aus
dem Weg geräumt werden, wenn entweder die Parteielite dem
zustimmt oder sie auseinanderbricht. Beides ist indes auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.
Spekulationen um einen Riss innerhalb der Herrschaftselite fanden zuletzt reichlich Nahrung in den Geschehnissen rund um den
im März 2012 abgesetzten Parteisekretär der Metropole
Chongqing, Bo Xilai. In der Tat ist die Absetzung dieses im Machtapparat gut vernetzten Politbüromitglieds ein herausragender
Fall eliteninterner Auseinandersetzung. Die Anschuldigungen gegen Bos Frau ließen Beobachtern den Atem stocken: Sie soll Ende
2011 einen britischen Geschäftsmann vergiftet haben und erhielt
im August dafür eine aufgeschobene Todesstrafe, die i. d. R. später in lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wird. Sieht man
hiervon ab, dann gewinnt der Fall seine politische Bedeutung vor
allem aus zwei Umständen: der für chinesische Verhältnisse offen
ausgetragenen Auseinandersetzung um den richtigen Kurs in der
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik einerseits und den anstehenden Führungswechsel in Partei und Staat andererseits.
Mit Bos Absetzung scheint die Diskussion um sein »Chongqing
Modell«, das die Schere zwischen Arm und Reich zu verringern
suchte, beendet zu sein (China Analysis 2012). Der ausgesprochen
wirtschaftsfreundliche Bo war im Übrigen weit weniger »links« als
viele im In- und Ausland dies glauben wollten. Sein neuer und provokanter Politikstil nahm Anleihen an der Symbolik der Kulturrevolution, nicht aber an deren Inhalten. Sein Anliegen, das Wohlfahrtsgefälle abzumildern, war auch keineswegs neu. Im
Gegenteil, die Führung unter Präsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao, die beide im März 2013 nach zehn Jahren
ihre Ämter niederlegen müssen, ist stark darum bemüht gewesen, eine Politik des sozialen Ausgleichs umzusetzen. Sie hob sich
damit deutlich von der Vorgängergeneration in der Führung um
Generalsekretär Jiang Zemin (1989–2002) ab, die vor allem am
Wirtschaftswachstum orientiert war.
Der zweite, machtpolitische Aspekt scheint daher bedeutender.
Hu und Wen ging es bei Bos Absetzung also eher um dessen offensive Kampagne für einen Sitz im allmächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros, das beim anstehenden 18. Nationalen Parteikongress im November 2012 neu zu besetzen ist. Dieses derzeit
neunköpfige Parteigremium wird geleitet durch den Generalsekretär (auch dieses Amt wird Hu Jintao auf dem Parteitag niederlegen). Es ist die oberste Schaltzentrale der Macht in China. Seine
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Mitglieder besetzen zugleich
die Spitzenpositionen des
Staates in Personalunion:
Staatspräsident, Ministerpräsident, Parlamentsvorsitzender etc. Sie alle übernehmen
im Rahmen einer internen
Aufgabenteilung Verantwortung für bestimmte breit definierte Politikfelder wie Außenbeziehungen, Wirtschaft,
Sicherheit und Recht, Propaganda und Ideologie, Parteiorganisation usw. Welche
Strömung innerhalb der Partei welche Positionen in diesem Gremium besetzen kann,
wird entscheidenden Einfluss
auf die Gestaltung der Politik
in den kommenden zehn Jahren besitzen. Scharen von
China-Beobachtern in Medien
und Wissenschaft sind im
Vorfeld des Parteitags damit
Abb. 4 Anlässlich des neunzigjährigen Jubiläums der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas wurden in Beijing
beschäftigt, Anzeichen dafür
Bilder der obersten KPCh-Führer ausgestellt (von links): Mao Zedong, Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao. Der
zu entdecken, welche Netz18. Nationale Parteikongress im November 2012 wird einen neuen KPCh-Generalsekretär benennen © picture alliance, 28.6.2011
werke sich in dem Gerangel
um Posten durchsetzen könpression einerseits und Durchdringung der Gesellschaft durch
nen. Allerdings bedingt die Hermetik des inneren Machtzirkels,
den Parteistaat andererseits entsprechen den ersten beiden Bedass sie letztlich nur indirekt abgeleitete Hypothesen aufstellen
griffen im chinesischen Fall. Daneben ist das chinesische Regime
können. Als sicher gilt zumindest, dass Xi Jinping, derzeit Vizeauch erfolgreich darin, die Bevölkerung zu beeinflussen, ihnen
Staatspräsident und Stellvertretender Vorsitzender der Zentralen
politische Deutungen nahe zu bringen, die das Handeln des ParMilitärkommission, Hu Jintaos Nachfolger wird. Ebenso ist abzuteistaates in ein positives Licht rücken. Damit formt es den öffentsehen, dass Vize-Premier Li Keqiang seinen jetzigen Vorgesetzten
lichen Diskurs und somit die Wahrnehmung der Gesellschaft zuWen Jiabao beerben soll. Alles Weitere ist bislang Spekulation, die
mindest partiell. Ein Beispiel bietet die aktuelle Parteilinie,
sich vor allem darum dreht, wer in den Ständigen Ausschuss des
welche die Errichtung einer »harmonischen Gesellschaft« zum
Politbüros aufsteigt und wie groß dieses Gremium sein wird. DaZiel erklärt. Mit ihren Anklängen an traditionelle, konfuzianische
von erhoffen sich Beobachter Aufschlüsse darauf, wer in weiteren
Konzeptionen findet sie durchaus positiven Widerhall in der Bezehn Jahren – also 2022! – Nachfolger von Xi und Li werden soll.
völkerung, auch wenn dies nicht die ausschließliche Reaktion ist.
Denn es gilt inzwischen als üblich, dass die jeweils nächste FühDass diese Beeinflussung heutzutage überhaupt noch gelingt –
rungsgeneration über einen längeren Zeitraum gleichsam angetrotz der unglaublichen Fortschritte in Informations- und Komlernt wird, sodass die Auswahl noch von den Vor-Vorgängern bemunikationstechnologien – muss aus Sicht der Regierung schon
stimmt wird: So wie Deng Xiaoping 1992 Hu Jintao als Jiang Zemins
als Erfolg gelten. Mit offiziell 540 Mio. Nutzern stellt die VolksreNachfolger bestimmte, soll Jiang seinerseits 2002 mit Xi Jinping
publik die größte Internetgemeinde der Welt. Besonders rasant
seine Präferenz durchgesetzt haben. Egal, ob Jiang dies 2012 noch
hat sich die Verwendung von Microblogs entwickelt: Allein der
einmal gelingt, oder ob Hu Jintao zum Zuge kommt: Diese Art von
beliebteste Dienst, Sina Weibo, registrierte im Mai 2012 320 Mio.
generationenübergreifender »Stabilität« und »Zukunftsfähigkeit«
Nutzerprofile. In einem System, das Geheimhaltung und »Lenist einem demokratischen System selbstverständlich wesenskung der öffentlichen Meinung« schätzt, stellt dies eine nicht zu
fremd.
unterschätzende Plattform für alternative Deutungen und die in
Echtzeit erfolgende Verbreitung auch unliebsamer Nachrichten
Politik und Gesellschaft
dar. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass wahrscheinlich die große Mehrzahl der chinesischen »Netizens« ihre InterneDer oben angelegte Fokus auf die Spitzenebene von Partei und
taktivitäten überhaupt nicht politisch versteht und andererseits
Staat bringt es mit sich, das politische System als zentralisierter
der Parteistaat keineswegs untätig geblieben ist. Nicht nur hat er
und uniformer darzustellen als es heutzutage tatsächlich ist. Um
ein ausgefeiltes Zensursystem aufgebaut, er ist auch aktiv engazu einer realistischen Einschätzung zu kommen, muss das Bild dagiert, die öffentliche Meinung durch Informationsbereitstellung
her komplettiert werden, indem die Beziehungen von Politik und
anzuleiten.
Gesellschaft genauer betrachtet werden. Während die obige DisHier zeigt sich sehr deutlich die diskursive Macht des KP-Regikussion zeigt, dass das KP-Regime eine Fülle an Machtressourcen
mes, das über Internet, Printmedien und das staatlich kontrolund große Repressionskapazität besitzt, werden diese in vollem
lierte Fernsehen – aber auch durch Veränderungen in der realen
Umfang nur in Krisensituationen mobilisiert und selbst dann gePolitik – auf gesellschaftliche Herausforderungen reagiert. Obzielt und begrenzt eingesetzt. Mit anderen Worten, die »harte«
wohl diese Reaktionen nicht immer geschickt oder erfolgreich
Macht des chinesischen Autoritarismus ist zwar ungebrochen,
sind, zeigt das System insgesamt doch das, was Lambach und Göaber dies ist nicht die Seite, von der die meisten Chinesen ihren
bel (2010: 87) als »autoritäre Responsivität« bezeichnen: »den WilParteistaat aus eigener Anschauung kennen. Göbel (2010) verlen und die Fähigkeit eines Regimes, auf Krisen bzw. gesellschaftliche dewendet zur Unterscheidung die Begriffe von Michael Mann und
mands [Forderungen] ohne den Einsatz von despotischer Macht zu
Steven Lukes und differenziert zwischen »despotischer Macht«,
reagieren.« Dabei spielt das Internet aufgrund seiner Geschwindig»infrastruktureller Macht« und »diskursiver Macht«. Offene Rekeit eine große Rolle. Es ist aber nicht der einzige Weg, auf dem
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die chinesische Bevölkerung neuen Einfluss
auf Politikgestaltung gewonnen hat. Eine
große und ständig wachsende Zahl an lokal
begrenzten Protesten und individuelle oder
von kleinen Gruppen getragene Petitionen
dienen dem Regime ebenso als Indikatoren
für Themen, um die es sich kümmern muss.
Obwohl gerade das Petitionswesen erschreckend niedrige Erfolgsaussichten für den einzelnen Beschwerdeführer mit sich bringt, erfüllt es aus systemischer Sicht durchaus seine
Funktionen als Blitzableiter und Frühwarnmechanismus. So hat die Offenheit des Regimes für Relevanzsetzungen durch die allgemeine Bevölkerung in den vergangenen
Jahren durchaus zugenommen, wobei sowohl
institutionalisierte Kanäle der Beteiligung
(Massenorganisationen und Verbände, welche der Parteistaat kontrolliert) als auch informelle Partizipationsformen wie Proteste
und Internetaktivismus zum Tragen kommen
(Wang 2008). Wie das Regime reagiert, ob es
Abb. 5 Liu Xiaobo, chinesischer Dissident, erhält 2010 den Nobelpreis
© Chappatte, 9.10.2010
effektive Maßnahmen ergreift, um einen
wahrgenommenen Missstand zu beseitigen,
oder sich mit weitgehend symbolischen Gesten behilft, ist damit
fokussiert und ihre Kritik richtet sich zumeist gegen lokale Amtsfreilich noch nicht gesagt. Wichtig ist aber vor allem, dass es die
träger. Die Zentralregierung genießt dagegen weiter hohes Anseöffentliche Meinung für sich einnehmen kann.
hen und Vertrauen in der Bevölkerung. Obwohl Veränderungen in
Dass dies durchaus gelingt, ist inzwischen durch die Umfrageforder Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, ist der Befund
schung eindrucksvoll belegt. Der Soziologe Martin Whyte (2010)
eindeutig: Nach heutigem Stand der Chinaforschung gibt es keine
beispielsweise spürte der Frage nach, wie in der Bevölkerung die
soziale Gruppe, welche als Trägerin einer Demokratisierung in
sich verschärfende Ungleichverteilung von Wohlstand wahrgeFrage kommt. Dies gilt explizit auch für die vielfach hiermit in Vernommen wird. Ausgehend von sehr niedrigen Werten zu Beginn
bindung gebrachte neue Mittelschicht (Wright 2010; Alpermann
der Wirtschaftsreformen in China übersteigt die Ungleichvertei2012).
lung von Einkommen inzwischen sogar das Ausmaß der sozialen
Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Dennoch zeigte Whytes
Zusammenfassung und Ausblick
Umfrage ein sehr hohes Maß an Zufriedenheit in der Gesamtbevölkerung. Noch erstaunlicher ist sein Befund, dass sich nicht
Ist das politische System Chinas also uneingeschränkt zukunftsetwa die Unterprivilegierten besonders negativ über wahrgefähig? Hier gilt es zu differenzieren. Fest steht, dass die Kommunommene soziale Ungerechtigkeiten äußern würden. Stattdesnistische Partei ihre Machtposition in den vergangenen Jahrzehnsen scheinen sie fest daran zu glauben, dass sie durch eigene
ten stetig gefestigt hat. Kapazitäten zur Repression (despotische
harte Arbeit durchaus in der Lage sein würden, am wachsenden
Macht) wurden, gerade in den letzten Jahren, ausgebaut. Ihre infallgemeinen Wohlstand teilzuhaben. Hieran zeigt sich, wie wirkrastrukturelle Macht erhöhte sich mittels Durchdringung von
mächtig der von der chinesischen Regierung verbreitete neolibeStaat und Gesellschaft und einer fortgesetzten Institutionalisierale Diskurs ist, der annähernde Chancengleichheit verspricht.
rung ihrer Herrschaft. Und ihre diskursive Macht nahm durch erIn ähnlicher Weise gelingt es dem Parteistaat bislang recht gut,
folgreiche Propaganda- und Überzeugungsarbeit ebenfalls zu.
offenen Forderungen nach politischen Reformen in Richtung DeDie Legitimation der KP-Herrschaft – vor zwanzig Jahren stark in
mokratie zuvorzukommen. Abgesehen von einer kleinen Zahl akFrage gestellt – ist heute breiter und besser aufgestellt. Sie beruht
tiver Demokratieverfechter, gegen die hart vorgegangen wird,
nicht nur einseitig auf gegebenenfalls umkehrbaren Wirtschaftsunterstützt eine große Mehrheit der Chinesen den Kurs der KPCh
erfolgen, sondern auch auf einem starken Nationalgefühl, dem
in dieser Hinsicht. Wie Shi und Lou (2010) zeigen, macht sich die
politischen Ansehensgewinn Chinas auf internationaler Bühne
Partei Konzepte wie Demokratie und Menschenrechte zu eigen
sowie ebenfalls auf ideologischen Anpassungsleistungen (Holbig/
und füllt sie mit ihren Inhalten. Auch wenn sich die chinesische
Gilley 2010). Keiner dieser Faktoren ist für sich genommen unumVersion einer »sozialistischen Demokratie« unter Führung der
stößlich oder unumkehrbar. Aber es ist auf absehbare Zeit hinaus
KPCh keinesfalls mit einem liberalen Verständnis deckt und die
unwahrscheinlich, dass die KPCh in allen diesen Feldern zugleich
Hierarchisierung von Menschenrechten – kollektive vor individuunter Druck gerät.
ellen, soziale vor politischen – westlichen Vorstellungen widerDarüber hinaus hält die Partei einen wichtigen Trumpf in der
spricht: Damit ist in China das diskursive Feld besetzt. Aus dieser
Hand: Sie hat es bislang ausgezeichnet verstanden, jegliche AlterPerspektive kann es nicht verwundern, dass eine Mehrheit der
native zu ihrer Herrschaft im Keim zunichte zu machen. Wer das
befragten Chinesen davon überzeugt ist, die Situation der bürMachtmonopol der KPCh herausfordert, oder auch nur den Angerlichen Freiheiten und politischen Rechte habe sich in den letzschein erweckt, bekommt die harte Seite ihrer Herrschaft zu spüten Jahrzehnten deutlich verbessert. Auch hier wirkt die diskurren. Ein systemischer Übergang ohne klare Alternative birgt aber
sive Macht des Parteiapparats, ein Anzeichen für die stattfindende
große Risiken in sich. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion
autoritäre Konsolidierung.
Anfang der Neunzigerjahre dienten Partei und Bevölkerung in
Unterstützt wird dies durch eine Vielzahl an kleineren Reformen,
China als Lehrstück. Statt wie der Westen hierin einen Übergang
die mehr Beteiligung versprechen, aber letztlich am unverrückbazur Demokratie zu sehen, betonten sie die erschreckenden wirtren Machtmonopol der Partei wenig verändern. Die unbestreitbar
schaftlichen Folgen und den anschließende Geltungsverlust
hohe und rasch steigende Zahl an sozialen Protesten, individuelRusslands in der internationalen Politik. Die Lehre, die sie daraus
len und kollektiven Petitionen etc. ändert ebenfalls nichts an diezogen, lautet, dass nur »gesellschaftliche Stabilität« Fortschritt
ser Einschätzung. Sie sind vereinzelt, auf konkrete lokale Anliegen
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bringen kann. Es steht zu vermuten,
dass die chinesischen Lehren aus den
Umbrüchen, welche der »arabische
Frühling« einleitete, ähnlich sein werden. Nicht die Befreiung von autoritärer Herrschaft wird im Vordergrund
stehen, sondern die hohen damit verbundenen Kosten, unter anderem an
Menschenleben. Die Angst vor Bürgerkrieg und Chaos ist in China historisch und kulturell tief verwurzelt –
und wird von der KPCh gezielt
wachgehalten, indem sie ständig an
die von Bürgerkrieg und japanischer
Invasion geprägten Jahrzehnte zwischen dem Ende des Kaiserreichs
1911/12 und der Gründung der Volksrepublik 1949 erinnert. Wenn selbst
in den erfolgreicheren Fällen der arabischen Transitionsländer freie Wahlen zu einem Erstarken extremistiAbb. 6 »Friedliche Koexistenz« (typisches China-Klischee)
© Klaus Stuttmann, 2011
scher Kräfte und verschärften
sozialen Konflikten führen, ist das
Gilley, Bruce (2003), The Limits of Authoritarian Resilience, Journal of DemoWasser auf die Mühlen dieser Propagandamaschine.
cracy, Vol. 14, No. 1 (January 2003), S. 18–26.
Wenn die Zukunft der KP-Herrschaft in China also nicht direkt bedroht erscheint, so muss doch abschließend betont werden, was
Göbel, Christian (2011), Authoritarian Consolidation, European Political Scidies alles nicht heißt. Erstens bedeutet es nicht, dass das System
ence (10), S. 176–190.
frei von Konflikten wäre. Im Gegenteil bestehen diese sowohl inHolbig, Heike/Gilley, Bruce (2010), Reclaiming Legitimacy in China, Politics
nerhalb der Herrschaftselite in Beijing als auch zwischen der Zenand Policy, Vol. 38, No. 3 (June), S. 395–422.
tralregierung und den lokalen staatlichen Akteuren, die sich einer
zentralen Kontrolle oft genug entziehen. Zweitens bedeutet es
Jowitt, Ken (1992), New World Disorder. The Leninist Extinction (Berkeley:
nicht, dass alle Bürger in China glücklich und zufrieden wären. Es
University of California Press).
gibt einen verbreiteten Zynismus und vereinzelten direkten WiLambach, Daniel/Göbel, Christian (2010), Die Responsivität autoritärer Rederstand gegen das Regime. Aber beides wird durch die oben gegime, in: Holger Albrecht, Rolf Frankenberger (Hrsg.), Autoritarismus Reloanannten Machtressourcen unter Kontrolle gehalten und ist somit
ded: Neuere Ansätze und Erkenntnisse der Autokratieforschung (Baden-Banicht systemgefährdend. Drittens ist damit schon gar nicht geden: Nomos), S. 79–91.
sagt, dass das chinesische System alternativen politischen Systemen überlegen oder ein Modell für andere Länder wäre. Es weist
Nathan, Andrew (2003), Authoritarian Resilience, Journal of Democracy, Vol.
eindeutige Dysfunktionalitäten und Pathologien auf, wie die Hin14, No. 1 (January 2003), S. 6–17.
weise auf die verbreiteten Phänomene Korruption und MachtNaughton, Barry (2010), China›s Distinctive System: Can it be a Model for
missbrauch belegen. Und um den Charakter eines Modells zu erOthers?, Journal of Contemporary China, Vol. 19, No. 65 (June), S. 437–460.
langen, müssten die chinesischen Erfahrungen übertragbar sein.
Da sie aber vor einem bestimmten historischen und kulturellen
Pei, Minxin (2006), China’s Trapped Transition: The Limits of Developmental
Hintergrund stattfanden, scheint dies kaum möglich. Allenfalls
Autocracy (Boston: Harvard University Press).
einzelne Herrschaftstechniken können von anderen autoritären
Scott Kennedy (2010), The Myth of the Beijing Consensus, Journal of ConSystemen kopiert werden, die versuchen, ihre Macht zu konsolitemporary China, Vol. 19, No. 65 (June), S. 461–477.
dieren. Ob sie dabei genauso erfolgreich sein werden wie die chinesische KP, hängt von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab.
Shambaugh, David (2008), China’s Communist Party. Atrophy and Adaptation (Washington: Woodrow Wilson Center Press).
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41
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Materialien
M 1 »Tod auf Bewährung für Gu
Kailai«
Tod sagen und Haft meinen: Das Giftmordverfahren gegen die chinesische Funktionärsgattin Gu Kailai endet
mit
»aufgeschobener
Todesstrafe«. Sie dürfte mit lebenslanger Haft davonkommen.
»Chinas Rechtssystem funktioniert
anders als das amerikanische: Wir
spielen nicht mit Worten«, schrieb
eine chinesische Wirtschaftsanwältin
1998 in ihrem Buch »Wie man in den
USA einen Prozess gewinnt«. Chinesische Verbrecher könnten sich nicht
mit juristischen Winkelzügen ihrer
gerechten Strafe entziehen. Wer in
China einen Mord begehe, werde
»verhaftet, verurteilt und exekuM 2 Gu Kailai, Ehefrau des damaligen Parteisekretärs von Chongqing, Bo Xilai, wurde wegen einer Beteiligung
tiert«.
an der Ermordung eines britischen Geschäftsmanns zum Tode verurteilt. Die Verurteilung löste eine interna14 Jahre später kann die Autorin von
tionale Debatte über das chinesische Rechtssystem sowie mögliche Kämpfe in Führungszirkeln der KPCh aus.
Glück sagen, dass sie mit ihrer Ein© picture alliance, 20.8.2012
schätzung weit daneben lag: Gu Kailai, Juristin, Unternehmerin und Gattin des in Ungnade gefallenen
Spitzenkaders Bo Xilai, erhielt am
ihren Mordplan eingeweiht hatte. Der Fall flog auf, als Wang sich
Montag eine »aufgeschobene Todesstrafe« für die Ermordung ihkurze Zeit später mit Bo überwarf und aus Angst vor dessen Rache
res britischen Geschäftspartners Neil Heywood, den sie im verin das US-Konsulat in Chengdu floh. Seine Aussagen gegenüber
gangenen November in einem Chongqinger Hotel wegen FinanzPekinger Ermittlern brachten Bo schließlich zu Fall. In Pekings postreitigkeiten vergiftet hatte. Die Vollstreckung des Urteils werde
litischen Kreisen gehen viele davon aus, dass Bos Sturz Teil eines
zunächst für zwei Jahre ausgesetzt, berichtete die offizielle Nachgrößeren Machtkampfes in der Partei ist. Über Details lässt sich
richtenagentur Xinhua. Allerdings ist es in China üblich, derartige
aber nur spekulieren. Wang soll (…) ebenfalls der Prozess geUrteile bei guter Führung in lebenslange Haft umzuwandeln. Gu
macht werden. Vier Chongqinger Polizeibeamte, die den Mord
und ihre Familie können also davon ausgehen, dass ihr die
gedeckt hatten, wurden zu Haftstrafen von fünf bis elf Jahren verHöchststrafe erspart bleibt.
urteilt.
Die Frau von Bo Xilai hat inzwischen das gegen sie verhängte ToDie britische Botschaft begrüßte das Urteil. Man habe stets die
desurteil auf Bewährung wegen Mordes akzeptiert. Die 53 Jahre
Aufklärung des Heywood-Falles verlangt, aber auch gefordert,
alte Anwältin Gu Kailai verzichtet auf einen Einspruch gegen das
dass internationale Menschenrechtsstandards eingehalten würUrteil und könnte damit im günstigsten Fall nach neun Jahren
den und die Todesstrafe nicht zur Anwendung komme, hieß es in
wieder freikommen.
einer Mitteilung. Chinesische Experten hatten mit einem aufgeDie 53-Jährige hatte die Tat in der eintägigen Gerichtsverhandschobenen Todesurteil gerechnet, schrieb der Pekinger Juraprolung am 9. August gestanden. Ihr Mitangeklagter Zhang Xiaojun,
fessor He Weifang in einem Internetbeitrag: »Das war keine Überein Hausangestellter der Familie, wurde wegen Beihilfe zu neun
raschung.« Interessant sei nun allerdings, wie die Partei mit Bo
Jahren Haft verurteilt. Er soll das zyanidhaltige Rattengift besorgt
verfahre, der seit Mitte März aus der Öffentlichkeit verschwunden
haben, das Gu Heywood einflößte, nachdem sie ihn gemeinsam
ist und zumindest mit einer Disziplinarstrafe rechnen muss.
mit Zhang betrunken gemacht hatte. Bei der Urteilsverkündung
Chinesische Regimekritiker gingen mit dem Urteil dagegen hart
waren internationale Medien, wie schon zuvor beim Prozess, ausins Gericht. Der Bürgerrechtsanwalt Liu Xiaoyan erinnerte in eigeschlossen.
nem Mikroblogeintrag daran, dass Gu in ihrem Buch einst selbst
Der Mord, der von den Behörden zunächst vertuscht worden war,
gefordert habe, dass Mörder hingerichtet werden müssten. »Aber
hat Pekings Politik und die chinesische Öffentlichkeit erschüttert,
sie kann weiter leben«, monierte Liu. Der Aktivist Ran Yunfei äuweil er zeigt, wie Parteikader und deren Familien ihre Macht missßerte den Verdacht, dass Gu in ein paar Jahren wieder freikombrauchen. Gus Mann Bo Xilai, einst Politbüromitglied und Parteimen könne: »Dann kann sie ihr Korruptionsgeld ausgeben.«
chef von Chongqing, galt bis zu seinem Sturz im März als sicherer
Abseits der politisch interessierten Kreise, die sich vor allem auf
Anwärter auf einen Spitzenposten in Chinas neuer Führungsausländischen Twitterforen austauschen, wird in der chinesischen
mannschaft, die beim Parteitag im Herbst gewählt werden soll.
Öffentlichkeit allerdings nur wenig über den Fall diskutiert. Die
Die Frage, inwieweit Bo in den Mord verwickelt ist, wurde in dem
staatlichen Medien sind angewiesen, sich bei ihrer BerichterstatVerfahren ausgeblendet, vermutlich aus Rücksicht auf das Image
tung eng an die Vorgaben der Propagandabehörden zu halten.
der Partei. Allerdings steht der 63-Jährige im Ruf, selbst ausgeDie Xinhua-Meldung zu Gus Verurteilung bestand aus gerade einsprochen skrupellos zu sein. Bei einer Kampagne gegen
mal drei Sätzen. Im chinesischen Internet wurden Suchen nach
Chongqings Triaden soll er etwa verlangt haben, in großem UmGus Namen blockiert.
fang Geständnisse durch Folter zu erlangen. Ermittlungen gegen
© Bernhard Bartsch: Tod auf Bewährung für Gu Kailai, Frankfurter Rundschau vom
seine Frau hatte er bis zuletzt mit aller Macht zu verhindern ver20.8.2012, www.fr-online.de/politik/frau-von-bo-xilai-tod-auf-bewaehrung--fuer-gusucht.
kailai,1472596,16922940.html
Gu hatte im Prozess ausgesagt, dass sie zumindest den engsten
Vertrauten ihres Mannes, Chongqings Polizeichef Wang Lijun, in
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M 3 Chinas Kommunistische
Partei: »Allgegenwärtig wie
Luft und Wind«
Die Kommunistische Partei hat China
auch im Jahr 2012 fest im Griff. Zwar
gibt es keinen Alleinherrscher, aber
wer wie Ex-Politbüromitglied Bo Xilai
in Ungnade fällt, muss mit harten
Strafen rechnen. Als die Kommunistische Partei Chinas ihren einstigen
Hoffnungsträger Bo Xilai vor wenigen
Tagen endgültig verstieß, wussten
ihre 80 Millionen Mitglieder lange vor
der Mehrheit der Bevölkerung Bescheid. Am Nachmittag des vergangenen Montag lief landesweit eine
Mobilisierung der Ortsverbände an.
Auch in den Betrieben und an den
Hochschulen trommelten die Parteisekretäre die Mitglieder zusammen.
Dann erhielten die Kader eine Vortrag über die offizielle Version des
Sturzes ihres Genossen und PolitbüM 4 Show in Shanghai zur Feier des neunzigsten Gründungstags der KPCh
© picture alliance, 1.7.2011
romitglieds Bo Xilai: Er habe sich
schlimmer Vergehen gegen die Parteidisziplin schuldig gemacht.
»Erst nachdem die Mitglieder fläDie innere Geschlossenheit ist der wahre Grund für ein Phänochendeckend informiert waren, durfte das Staatsfernsehen die
men, das westliche Regierungschefs an China oft mit Neid wahrNachricht bringen«, sagt der chinesische Medienexperte und
nehmen: Was einmal beschlossen ist, wird auch konsequent umBlogger Michael Anti. »Je näher man sich am Zentrum der Partei
gesetzt. Dabei hilft es, dass die Partei in alle Winkel des
befindet, desto korrekter sind die Informationen.« Klar ist: Die
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens hinKommunistische Partei hat China auch im Jahr 2012 fest im Griff.
einwirkt. »Sie ist wie die Luft und der Wind«, sagt ein Firmenchef
Sie ist der Hauptgrund dafür, dass der Westen die neue Wirtaus der chinesischen Provinz. »Man sieht sie nicht, aber sie ist
schaftsmacht mit einer Mischung aus Faszination und Furcht beüberall.«
trachtet. Faszination wegen des schnellen Aufstiegs von einem
Daran ändern auch Aufstände in der Provinz nichts. Im Gegenteil:
rückständigen Agrarland zu einer wirtschaftlichen Supermacht,
Die Unruhen in der Stadt Wukan vom vergangenen Dezember hat
den die Partei organisiert hat. Furcht, weil ihre unangefochtene
die Partei zu ihrem Vorteil umgemünzt und die volksnahe NeubeHerrschaft beweist, dass ökonomische Stärke nicht unbedingt
setzung der Schlüsselpositionen zu einer großen Schau gemacht:
Demokratie zur Voraussetzung hat.
»Seht her, wir in Peking sind auf der Seite des Volkes!« Die AllgeDas heutige China ist allerdings keine Ein-Mann-Diktatur. Es gibt
genwart der Partei führt laufend zu Interessenkonflikten, wie
keinen Machthaber, dessen Befehle alle im Land unwidersproauch der Fall Bo Xilai zeigt. Bo galt einst als der politische Aufsteichen befolgen müssen. Im Gegenteil: Die Partei tut sich mit ihren
ger schlechthin. Er war vor seinem Sturz der Generalsekretär in
Entscheidungen oft ebenso schwer wie repräsentative Demokrader 30-Millionen-Metropole Chongqing. Als Wirtschaftspolitiker
tien. »Es handelt sich um die größte regierende Partei der Welt«,
war er im Grunde enorm erfolgreich: Chongqing hat sich unter
sagt Zhang Zhiming, stellvertretender Leiter der Abteilung für
seiner Führung von einer schmutzigen Landstadt am Yangzi-Fluss
den Aufbau der Partei bei der Zentralen Parteischule in Peking.
in ein blühendes Zentrum von Industrie, Handel und Dienstleis»Grundlage ihrer Entscheidungsfähigkeit ist die Methode zur Motungen verwandelt. Ihre Skyline kann es mit Manhattan aufnehbilisierung aller Mitglieder.«
men.
Top-Ausbilder Zhang erläutert, wie die Partei vor wichtigen EntDoch wenn die Vorwürfe gegen Bo Xilai und seine Frau Gu Kailai
scheidungen in der Praxis zu einer einheitlichen Linie findet:
stimmen, dann ist er den typischen Versuchungen erlegen: KorGrundsatzentscheidungen fallen auf kleinen Parteitagen, die
ruption, Vetternwirtschaft und Geschäftemacherei. »Niemand
jährlich stattfinden, und einem großen Gesamtparteitag, der alle
kontrolliert die Partei, und der Gedanke, sie könne sich selbst
fünf Jahre einberufen wird. Im Vorfeld treffen sich von der Basis
kontrollieren, ist eine Illusion«, sagt ein Ökonom der renommierbis zur Spitze Diskussionsgruppen, die über kritische Fragen
ten Tsinghua-Universität. Denn die Partei beschickt einerseits die
sprechen. Die Verantwortlichen zeichnen dann für die jeweils höStaatsunternehmen mit Managern, andererseits stellt sie aber
here Ebene ein Meinungsbild aus den Gemeinden, Städten und
auch die Wirtschaftsaufsicht.
Provinzen.
In China sind sich alle einig, dass fast jeder Top-Kader in der ProGegen den Konsens der Parteitage kommt auch ein Machtwort
vinz etwas zu verbergen hat. Der Unterschied ist: Bei Verlierern
des Vorsitzenden nicht an. Umgekehrt fördert die langwierige
der Machtkämpfe wie Bo Xilai werden sie plötzlich zum GegenKonsensbildung das Gefühl der Legitimität. Auf Japanreise hatte
stand von Ermittlungen und zum Grund für eine Anklage.
Hu im Jahr 2008 auf die Frage eines Grundschülers nach dem
© Finn Mayer-Kuckuk: Allgegenwärtig wie Luft und Wind, Handelsblatt vom 16.4.2012,
Grund seines Aufstiegs gesagt: »Die Leute im ganzen Land wollen
www.handelsblatt.com/politik/international/chinas-kp-allgegenwaertig-wie-luft-undmich im Amt des Präsidenten haben.« Was aus westlicher Sicht
wind/v_detail_tab_print/6514426.html
eine erstaunliche Antwort ist, klingt aus chinesischer Sicht völlig
logisch: Die Partei repräsentiert die Massen und hat sich ihrerseits in einem langen Prozess für Hu als ihren Vorsitzenden entschieden.
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BJÖRN ALPERMANN
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M 5 Presseamt des Staatsrat der Volksrepublik China: »Aufbau der politischen Demokratie in China«
Demokratie, eine Errungenschaft der Entwicklung der politischen Zivilisation der
Menschheit, ist ein allgemeiner Anspruch aller Völker der Welt. Die Demokratie eines
Landes kann nicht durch äußere Kraft aufgezwungen werden, sondern muss von innen
selbst entstehen.
Um die Demokratie zu erlangen, führte das
chinesische Volk in der neueren Geschichte
unbeugsame Kämpfe und schwierige Erforschungen durch. Es gelang ihm aber erst unter der Führung der Kommunistischen Partei
Chinas (KPCh), das Recht als Herr des Staates
zu gewinnen. Diese demokratische Errungenschaft wird vom chinesischen Volk hochgehalten und resolut verteidigt.
Aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten
M 6 Die »Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes« dient der KPCh zur Legitimierung
gehen verschiedene Länder beim Erkämpfen
ihrer Führungsrolle im Staat.
© Stephen Shaver, picture alliance, 3.3.2010
und bei der Entwicklung der Demokratie unterschiedliche Wege. Die KPCh und das chinesische Volk führten entsprechend den Gegebenheiten Chinas eine neudemokratische Revolution durch
KPCh ist eine wesentliche Garantie für das chinesische Volk,
und setzten nach der Gründung der Volksrepublik von der Realials Herr des Staates zu fungieren.
tät im Anfangsstadium des Sozialismus ausgehend eine sozialisti– Die Demokratie Chinas ist eine Demokratie, in der die übersche Demokratie eigener Prägung um. Die Praxis der letzten Jahrwiegende Mehrheit des Volkes Herr des Staates ist. Dass das
zehnte hat bewiesen, dass das chinesische Volk auf diesem selbst
Volk als Herr des Staates fungiert, ist das Wesen der sozialistigewählten Weg zur Entwicklung der politischen Demokratie nicht
schen Demokratie Chinas. Die Wirtschaft im Gemeineigennur seinen Wunsch, Herr des Staates zu sein, erreicht hat, sontum ist die ökonomische Grundlage des sozialistischen Sysdern auch sein Ideal, China zu einem starken und modernen sozitems. Im Anfangsstadium des Sozialismus hält China am
alistischen Land aufzubauen, schrittweise verwirklichen wird.
grundlegenden Wirtschaftssystem, in dem das GemeineigenDie sozialistische Demokratie chinesischer Prägung wird stets
tum eine dominierende Position innehat und sich mehrere Eivervollständigt, verbessert und entwickelt. Seit der Einführung
gentumsformen gemeinsam entwickeln, und am Verteilungsder Reform- und Öffnungspolitik Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrsystem, in dem die Verteilung nach der Arbeitsleistung im
hunderts hat China parallel zur Vertiefung der Reform der WirtVordergrund steht und parallel dazu noch andere Verteilungsschaftsstruktur unentwegt die Reform der politischen Strukturen
formen bestehen, fest. Von der wirtschaftlichen Grundlage
vorangetrieben. Das demokratische System Chinas wird ständig
wird bestimmt, dass die Demokratie Chinas nicht vom Kapital
perfektioniert und die Formen der Demokratie bereichert, damit
manipuliert wird und keine Demokratie einer Minderheit, sondas Volk sein Recht als Herr des Staates voll zur Geltung bringen
dern der überwiegenden Mehrheit des Volkes ist. In China gekann. (…) Als Avantgarde der chinesischen Arbeiterklasse und zunießt jeder, dem die politischen Rechte nicht gesetzlich abergleich Avantgarde des chinesischen Volkes und der chinesischen
kannt wurden, demokratische Rechte.
Nation betrachtet die KPCh seit ihrer Gründung die Verwirkli– Die Demokratie ist in China durch die demokratische Diktatur
chung und Entwicklung der Volksdemokratie als ihre Mission. Sie
des Volkes gesichert. Die demokratische Diktatur des Volkes
führte das Volk in der Revolution mit dem Ziel, eine Demokratie
hat zwei Forderungen: Einerseits gilt es, die Demokratie inder Mehrheit statt eine der Minderheit zu gründen. Die KPCh vernerhalb des Volkes zur vollen Geltung zu bringen, die Menband die allgemein gültige Wahrheit des Marxismus schöpferisch
schenrechte zu respektieren und sicherzustellen sowie zu gemit der konkreten Realität der chinesischen Revolution und schuf
währleisten, dass die Staatsmacht in den Händen des Volkes
verschiedene demokratische Konzepte wie die »Demokratie der
ist und den Interessen des Volkes dient; andererseits muss
Arbeiter und Bauern«, die »Volksdemokratie« und die »Neue Deman Verbrechen, wie zum Beispiel Sabotage des sozialistimokratie«, wobei sie die marxistische Theorie der Demokratie
schen Systems, Gefährdung der staatlichen und der öffentliunablässig bereicherte und entwickelte. Darüber hinaus schuf die
chen Sicherheit, Verletzung von persönlichen und demokratiKPCh verschiedene praktische Organisationsformen wie Streikschen Rechten der Bürger sowie Veruntreuung, Bestechung
komitees der Arbeiter, Bauernverbände, Sowjets der Arbeiter,
und Amtsdelikte, nach dem Gesetz mit diktatorischen Mitteln
Bauern und Soldaten, Volksversammlungen und Konferenzen von
bestrafen, um die grundlegenden Interessen der überwiegenVolksvertretern aus verschiedenen Kreisen zur Verwirklichung
den Mehrheit des Volkes zu schützen.
der politischen Demokratie, die der Lage der chinesischen Nation
– Der demokratische Zentralismus bildet das grundlegende Orentsprachen und dem Volk garantierten, als Herr des Staates zu
ganisationsprinzip und die Handlungsweise der Demokratie
fungieren. (…)
in China. Der demokratische Zentralismus ist das grundle– Die Demokratie Chinas ist die Volksdemokratie unter der Fühgende Organisations- und Führungsprinzip der Staatsmacht
rung der KPCh. Ohne die KPCh gäbe es kein Neues China und
in China.
auch keine Volksdemokratie, das ist eine historisch bewiesene
© Presseamt des Staatsrat der Volksrepublik China (Hrsg.): Aufbau der politischen Demoobjektive Tatsache. Erst unter der Führung der KPCh hat das
kratie in China, 15.11.2005, http://german.china.org.cn/pressconference/2005–11/15/conchinesische Volk durch hartnäckige Kämpfe erreicht, Herr des
tent_8746083.htm
Staates zu werden. Unter der Führung der KPCh hat das chinesische Volk auch das demokratische politische System in
China etabliert, entwickelt und verbessert. Die Führung der
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M 7 Sebastian Heilmann: »Chancen einer
Demokratisierung Chinas«
Chinas politische Entwicklung wird aufgrund
der zunehmenden internationalen Bedeutung des Handels von prominenten Politikforschern als entscheidend für den endgültigen Siegeszug der Demokratie in der Welt
angesehen (Diamond 1999). Ist das westliche
Leitbild des demokratischen Verfassungsstaates aber überhaupt ein realistisches Zukunftsszenario für China?
Die politische Führung Chinas hat in den
Neunzigerjahren eine Reihe von Strukturreformen durchgesetzt, die theoretisch auch
Voraussetzungen für eine künftige demokratische Ordnung schaffen könnten. Die zivile
Kontrolle über die Armee und deren kommerzielle Unternehmungen wurde gestärkt.
Eine moderne, an internationalen Vorbildern
orientierte Wirtschaftsgesetzgebung wurde
M 10 Demonstranten setzten im Juni 1989 in der Nähe des Platzes des himmlischen Friedens (Tiananeingeleitet und eine Pluralisierung gesellmen-Platz) in Bejing, China, einen Panzer in Brand. Seit der Nacht vom 3. zum 4. Juni 1989 ließ
schaftlicher Lebensstile geduldet. In innerdie chinesische Führung die Proteste der Bevölkerung für mehr Demokratie und Freiheit auf dem
parteilichen Personalabstimmungen gibt es
Platz durch das Militär gewaltsam niederschlagen niederschlagen. Hierbei starben insgesamt bis
inzwischen eine begrenzte Kandidatenkonzu 3.000 Menschen.
© picture alliance
kurrenz.
Gesetzgebungsverfahren sind verbindlich
geregelt und die Volkskongresse in ihren
Kontrollfunktionen aufgewertet worden. Gegen Verwaltungsentals institutionelles Gegengewicht gegen die Macht politischer Akscheidungen gibt es eine zunehmende Zahl erfolgreicher gerichtteure fungieren können. Die demokratischen Direktwahlen der
licher Klagen, und in der Stadtbevölkerung zeigt sich insgesamt
Dorfvorsteher, die seit 1987 in Chinas Dörfern schrittweise eingeein gestärktes Bewusstsein der eigenen Rechte. Die ökonomische
führt wurden, haben bislang keine erkennbare Wirkung auf die
Entwicklung produziert also auch in China eine differenziertere
Regierungspraxis oberhalb der dörflichen Selbstverwaltungsund mit neuen Einflussmöglichkeiten ausgestattete Gesellschaft.
ebene ausgeübt. Was politisch-kulturelle Faktoren angeht, erManche Autoren kennzeichnen dies als begrenzten »autoritären
scheinen die Voraussetzungen für eine demokratische Ordnung
Pluralismus«, andere sehen hierin sogar Ansatzpunkte für eine
in China besonders ungünstig: Es fehlen wirkungsmächtige libe»schleichende Demokratisierung« (Pei 1997), die sich – nicht unral-konstitutionelle Traditionen, positive historische Erfahrungen
ähnlich dem Systemwandel in Taiwan – auf längere Sicht auch auf
im Umgang mit politischem Wettbewerb und friedlicher politidem chinesischen Festland durchsetzen werde.
scher Konfliktbeilegung sowie ein Minimalkonsens im Hinblick
Dieser optimistischen Perspektive lassen sich gewichtige Einauf Bürgerrechte und Grenzen staatlicher Macht.
wände entgegenhalten. Nach den Kriterien, die in der vergleiDer Beitrag der Medien und des Internet zur Entstehung einer
chenden Demokratieforschung als allgemeine Funktionsvorauspluralistischen Meinungsbildung und öffentlichen Kontrolle, die
setzungen für die Errichtung einer stabilen Demokratie erarbeitet
für eine demokratische Ordnung unverzichtbar sind, ist gegenwurden (Schmidt 2000), weist die VR China zwar einzelne günstige
wärtig skeptisch zu beurteilen. (…)
Vorbedingungen auf: weitgehende ethnische Homogenität (ethWer kann die Demokratisierung in China überhaupt voranbrinnische Minderheiten sind nur in der westlichen Peripherie kongen? Es lässt sich gegenwärtig nicht eine wichtige politische oder
zentriert), ein hohes Wirtschaftswachstum bei moderater Inflagesellschaftliche Gruppe in China entdecken, die demokratische
tion, bislang sehr positive Erfahrungen mit der Einbindung in die
Wert- und Ordnungsvorstellungen repräsentieren könnte und zuWeltmärkte und wachsende technologisch-kulturelle Verflechgleich über die Ressourcen verfügt, die demokratische Transfortungen mit demokratischen Gesellschaften. Darüber hinaus aber
mation Chinas zu beschleunigen. Die städtische Mittelschicht
zeigen sich viele markante Defizite. Das Pro-Kopf-BIP hat nur in
einschließlich der Privatunternehmerschaft ist zu eng mit staatlimanchen Küstenregionen ein Niveau erreicht (2.500 US $ und
chen Stellen und der Funktionärsschicht verbunden. Der Vorstoß
mehr), das nach historischer Erfahrung gewöhnlich eine günstige
zu einer Demokratisierung wird deshalb aus der FunktionärsGrundlage für fortschreitende gesellschaftliche Pluralisierung
schicht selbst kommen müssen. Hier aber gibt es bislang unüberund politische Liberalisierung bietet (so auch in Taiwan zu Beginn
windliche Widerstände gegen institutionelle Reformen, die zur
der Siebzigerjahre). Nur in diesen Regionen, die maximal 400 Mio.
politisch-ökonomischen Erneuerung unverzichtbar wären: ein
Chinesen umfassen, hat sich eine – allerdings sehr heterogene
umfassender Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, ein konseMittelschicht von bis zu 150 Mio. Menschen gebildet, die dank ihquenter Schutz privater Eigentums- und Vertragsrechte sowie die
res Einkommens-, Bildungs- und Informationsniveaus als traErrichtung unabhängiger politischer und justizieller Kontrollorgende Kraft einer Demokratisierung in Frage käme. Die wirtgane. Solche Reformen würden der Sonderstellung der Funktioschaftlich weniger entwickelten und zum Teil bitterarmen
närsschicht den Boden entziehen.
Inlandsregionen aber stellen mit rund 900 Mio. Menschen immer
Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass Teile der Nomenklatura
noch bei weitem die Mehrheit der Bevölkerung. Als sehr ungünsden Übergang zu einer formalen Demokratie befürworten könntig für eine Demokratisierung Chinas werden sich dauerhaft die
ten, um die Beschränkungen der kommunistischen Herrschaft
zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten im Land erabschütteln und ihr illegal erworbenes Vermögen endgültig legaweisen. Schwer wiegt auch, dass bürgerschaftliches Engagement
lisieren zu können.
in gesellschaftlichen Vereinigungen weiterhin unterdrückt und
© Sebastian Heilmann: Das politische System der Volksrepublik China. Wiesbaden VS-Verunterentwickelt ist und dass Rechts- und Justizsystem immer
lag für Sozialwissenschaften, 2/2004, S. 291–293, 294
noch weitgehend politischen Weisungen unterliegen und nicht
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VOLKSREPUBLIK CHINA
6. Die ökonomisch-ökologische
Zukunftsfähigkeit Chinas
DORIS FISCHER
W
er im Sommer 2012 im Umfeld von Nachrichten zur globalen Finanz- und europäischen Schuldenkrise über die
ökonomisch-ökologische Zukunftsfähigkeit Chinas nachdenkt, sieht sich gleich mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Was definiert eigentlich diese Art der Zukunftsfähigkeit? Geht es um die Frage, wie lange China weiter so
wachsen kann? Oder um die Frage, ob der Lebensstandard und
die Lebensweise in China in 5, 30 oder 50 Jahren dem Leben im
heutigen Europa gleichen wird? Oder geht es darum, ob ausländische Firmen auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch gutes Geld in China verdienen werden? Vielleicht
geht es auch darum, wann China so weit ist, dass wir versuchen, vom chinesischen Wirtschaftssystem zu lernen, so wie
die chinesische Regierung in der Vergangenheit versucht hat,
von den Erfahrungen der amerikanischen, europäischen und
japanischen Wirtschaftsentwicklung zu lernen? Und noch
weiter gedacht, ließe sich auch fragen, ob die ökonomischökologische Zukunftsfähigkeit Chinas in Konkurrenz zu oder
im Gleichklang mit der ökonomisch-ökologischen Zukunftsfähigkeit der Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer
gemeint ist. Letztere Frage stellt sich wohl insbesondere,
wenn auch der ökologische Aspekt der Zukunftsfähigkeit
ernsthaft ins Kalkül gezogen wird.
46
Ganz offensichtlich ist die Beurteilung der Zukunftsfähigkeit also
nicht ganz einfach. Dies zeigt sich auch daran, dass in den letzten
Jahrzehnten mit schöner Regelmäßigkeit Publikationen erscheinen, die China an einem Scheideweg wähnen, der das Land – je
nach politisch-wirtschaftlichen Weichenstellungen, in eine überaus glorreiche Zukunft oder in den sicheren Zusammenbruch führen wird. Weniger dramatische Optionen werden dabei gerne ausgeblendet. Neu ist, dass seit einiger Zeit auch chinesische
Ökonomen gerne davon sprechen, dass China vor wichtigen und
grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen stehe.
Abb. 2 »Entschuldigung! Könnten Sie mir vielleicht helfen, die Karre aus dem
Dreck zu ziehen?«
© Gerhard Mester, 2012
Dieser Beitrag zielt nicht darauf, die Frage der Zukunftsfähigkeit
mit einem »Ja« oder »Nein« zu beantworten. Er fasst zunächst die
wesentlichen Faktoren zusammen, die zum wirtschaftlichen Erfolg Chinas in den letzten Jahrzehnten beigetragen haben. Dieser
Erfolg ist unter anderem mit einem ökologischen Raubbau einhergegangen, sodass in der Tat die ökologische Zukunftsfähigkeit im Moment am stärksten gefährdet erscheint. Der ökologischen Zukunftsfähigkeit wendet sich der Artikel daher im zweiten
Teil zu. Im Anschluss daran wird die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit diskutiert, die gerade in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit bekommt. Der Artikel endet mit der Überlegung, dass
Zweifel an der ökonomisch-ökologischen Zukunftsfähigkeit Chinas eigentlich Zweifel an der Zukunftsfähigkeit unserer modernen industrialisierten und
globalisierten Lebensweise sind. Diese Zweifel auszuräumen, ist nicht allein Chinas Aufgabe, wird aber ohne China nicht möglich
sein.
Die Erfolge der Vergangenheit
Abb. 1 Realer Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in der VR China 1990–2010
© Zahlenbilder, Bergmoser + Höller Verlag
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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Chinas wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist in vielerlei Hinsicht
bemerkenswert: Als die chinesische Regierung die Politik der Reform und Öffnung initiierte, hatte sie keine Blaupause für die
»richtige« Wirtschafts- und Ordnungspolitik.
Sie machte vielmehr, einem Motto von Deng
Xiaoping folgend, das Experimentieren zum
Kern der Reformpolitik. Reformen wurden
lokal, in einzelnen Industrien oder auch nur
in einzelnen Unternehmen zugelassen und
ausgedehnt, sofern sie sich bewährten (Heilmann 2011). Regeln und Gesetze wurden
»vorläufig« erlassen, den Erfahrungen entsprechend überarbeitet und nur verstetigt,
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Chinas großer Reformer
Deng Xiaoping legte
den Grundstein für den
rasanten Aufstieg des
Landes. Er sorgte für
die Öffnung des chinesischen Marktes und
einen ersten großen
Investmentboom.
Auch nach dem Parteikongress 1992 gab es
wieder einen Investitionsschub – symbolisch
dafür gilt das Megaprojekt Drei-SchluchtenTalsperre, bis heute das
größte Wasserkraftwerk der Welt
Nachdem das amtierende Führungsduo Hu
Jintao und Wen Jiabao
2002 an die Macht kam,
regnete es wieder Renminbi für die Wirtschaft.
2008 waren es vor allem
die Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise,
die die nach dem Kongress für ein MegaInvestitionspaket sorgten. Das Geld floss in
Infrastrukturprojekte
wie neue Hochgeschwindigkeitszüge.
30
Renminbi-Regen
nach Parteitagen
25
Investitionen in
China, Veränderung
zum Vorjahr in %
20
15
1980
1990
sofern sie sich bewährten. Diese Art der Reformen, zumal sie
ohne einen Wechsel des politischen Systems durchgeführt wurden, widersprach in vieler Hinsicht den Vorstellungen internationaler Berater. Chinas Transformationsstrategie wurde als »experimentell und graduell«»bezeichnet und damit zum Gegenstück
der Reformen in anderen sozialistischen Ländern (Fischer 2010).
Diese krempelten, aufbauend auf radikalen politischen Umbrüchen, ihre Wirtschaftsordnungen weitaus umfassender und
schneller in Marktwirtschaften um.
Trotzdem konnte China große Erfolge erzielen. Die chinesische
Wirtschaft ist heute keine sozialistische Planwirtschaft mehr,
sondern eine eng in die Weltmärkte integrierte Volkswirtschaft.
Insbesondere seit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 sind die ausländischen Investitionen in China
rasch angestiegen, ebenso der Außenhandel und die Devisenreserven. Zugleich investieren chinesische Unternehmen seit dem
WTO-Beitritt immer mehr im Ausland; und gerade im Verlauf der
globalen Finanzkrise ist diese Investitionstätigkeit zunehmend in
den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit gerückt
(Brandstetter, Lardy (2006))
Die Attraktivität Chinas als Investitionsstandort speist sich aus
verschiedenen Faktoren. Zum einen galt und gilt China als wichtiger Absatzmarkt. Zum anderen lockten in der Vergangenheit
niedrige Lohnkosten, Steuern, niedrige Umwelt- und Sozialstandards sowie zahlreiche Sonderkonditionen, die ausländischen Investoren gerade durch lokale Regierungen eingeräumt wurden
(Huang 2011). Zusätzlich gelang es Unternehmen in China immer
besser, Skalenerträge und Prozessinnovationen in der Produktion
zu realisieren. So wurde viel Produktion nach China verlagert und
der Ruf geschaffen, dass das Land die »Fabrik der Welt« sei.
Die Investitionstätigkeit chinesischer Unternehmen im Ausland
ist eine logische Konsequenz des WTO-Beitritts: Dieser erleichterte chinesischen Unternehmen den Zugang zu ausländischen
Märkten. Die Investitionstätigkeit ist aber auch ein Ausdruck des
wachsenden Bedarfs der chinesischen Wirtschaft nach Rohstoffen. Über den Erwerb ausländischer Unternehmen versuchen chinesische Unternehmen zudem Technologien, Know-how und
Markenrechte zu erwerben (Clegg, Voss [2012]).
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XVII. Parteitag
2000
Abb. 3 »Neue Führung, neues Geld«, Investitionsbooms nach den Parteitagen der KPCh
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XVI. Parteitag
XV. Parteitag
0
XIV. Parteitag
5
XIII. Parteitag
XII. Parteitag
10
2010
© Zahlen nach Weltbank und FTD vom 1.10.2012, S. 14
Die wirtschaftlichen Erfolge Chinas sind nicht auf die Integration
in die Weltwirtschaft beschränkt. Der allgemeine Lebensstandard
ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Insbesondere
seit den 1990er-Jahren ist eine prosperierende urbane Mittelschicht herangewachsen. Die Urbanisierung ist sehr rasch vorangeschritten, der Immobiliensektor ist zu einer wichtigen Säule der
Wirtschaft geworden, die ihrerseits gestützt wird durch umfangreiche Infrastrukturprojekte. Der rasante Straßen- und auch UBahnbau, der Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur, aber
auch das Schienennetz für Hochgeschwindigkeitszüge und der
Bau von Dutzenden von Flughäfen haben die Metropolen und
Provinzhauptstädte zu modernen Verkehrszentren gemacht.
Viele chinesische Millionenstädte sind heute untereinander, aber
auch mit der Welt bestens vernetzt. Rein äußerlich haben diese
Städte nur noch wenig mit europäischen Metropolen gemein: Die
Frankfurter Skyline würde in diesen Städten nicht herausragen.
»Normale« deutsche Vorstädte verbreiten im Vergleich zu chinesischen geradezu Modelleisenbahn-Romantik.
47
Ökologische Zukunftsfähigkeit
Das Ausmaß und das Tempo der chinesischen Urbanisierung werfen allerdings zahlreiche Fragen nach der ökologischen Zukunftsfähigkeit auf:
– Chinesische Städte leiden unter erheblicher Luftverschmutzung. Die Stadtentwicklungspolitik hat dem Ausbau des Autoverkehrs Priorität eingeräumt. Der Verkehrskollaps ist in Städten wie Beijing in den Stoßzeiten ein alltägliches Erlebnis. Die
positive Wirkung auf die Luftqualität, die in den letzten Jahrzehnten mit der Verlagerung von Schwerindustriebetrieben
aus den Städten erzielt werden sollte, wird weitgehend durch
den Schadstoffanstieg in Folge des Verkehrsaufkommens
kompensiert (Ng et al. 2010). Wo wird diese Entwicklung hinführen, wenn doch heute die Autodichte pro Kopf in China
noch so deutlich unter der von Deutschland oder den USA
liegt?
– Obwohl China ein bevölkerungsdichtes Land und relativ arm
an Boden ist, konzentrieren sich Architektur und Wohnungs-
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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DORIS FISCHER
Abb. 4 Die Hafenstadt Shanghai zählt zu den größten Städten Chinas und gilt als wirtschaftliches Zentrum der Volksrepublik. Im Stadtzentrum leben mindestens neun Millionen Menschen, das gesamte Verwaltungsgebiet zählt mehr als 18 Millionen Einwohner. Der Smog ist eines der größten Probleme der Metropole.
© Jan Woitas, 2007, picture alliance
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Abb. 5 Vorstadt von Bejing
© Andrew McConell, 2012, picture alliance
Abb. 6 Frauen bei der Wäsche in der Provinz Fujian, Volksrepublik China
© Christophe Bluntzer, 2009, picture alliance
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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bau nicht auf die optimale Nutzung von
wenig Raum. Der Mangel an Landfläche
wird durch den Bau in die Höhe kompensiert. Die gigantischen Wohn-, Hotelund Bürotürme, die in den letzten zehn
bis fünfzehn Jahren hochgezogen wurden, werfen Fragen nach der Qualität der
Bausubstanz und der Energiebilanz dieser Gebäude auf. In welchem Zustand
werden diese Gebäude in 20 Jahren sein?
(Woetzel et al. 2009)
– Energieknappheit ist ein erhebliches Risiko für die zukünftige Entwicklung Chinas. Vor allem der Kraftstoffbedarf der
Fahrzeuge hat dazu geführt, dass Chinas
Ölimporte in den Jahren stark angestiegen sind. Energiesicherheit ist vor diesem
Hintergrund zu einem zentralen Motiv
chinesischer Wirtschafts- und Außenpolitik geworden (Leung 2011). Wie kann
China seine zukünftige Energieversorgung sichern, ohne internationale Konflikte heraufzubeschwören?
– China ist seit 2006 der größte Treibhausgasemittent der Welt. Dieser Tatbestand
mag in Anbetracht der Größe der Bevölkerung nicht verwundern. Besorgnis erregend ist aber der rasante Anstieg der
Emissionen pro Kopf. Lagen die CO2Emissionen pro Kopf noch im Jahr 1990
noch bei 2,2 Tonnen, sind sie bis 2011 auf
7,2 Tonnen angestiegen. Sie lagen damit
bereits auf dem Niveau von Europa, Tendenz steigend (Olivier 2012: 13). Es spricht
vieles dafür, dass der »carbon footprint«,
der in Beijing oder Shanghai lebenden
Chinesen nicht kleiner ist als der eines
normalen Bürgers in den Industrieländern. Was bedeutete es für den Klimawandel, wenn der Lebensstandard und
die Lebensweise dieser Metropolen sich
in ganz China verbreiten?
– Wassermangel ist inzwischen ein bedrohliches Problem in zahlreichen Regionen
Chinas. Der Wasserverbrauch pro Kopf
steigt durch den wachsenden industriellen und privaten Verbrauch. Der Grundwasserspiegel hat sich in vielen Regionen
schon deutlich gesenkt (Xie et al 2009).
Wie lässt sich diese Entwicklung aufhalten?
– Die Qualität des Trinkwassers und die Lebensmittelsicherheit sind durch die unsachgemäße Entsorgung von Industrieabfällen, verseuchte Böden und illegale
Zusatzstoffe gefährdet. Die Angst der
Bevölkerung vor vergifteten Lebensmitteln ist daher schon heute groß und zu
einem Politikum geworden. Lässt sich
dieser Raubbau rückgängig machen?
In der Annahme, dass eine andere Strategie
Chinas wirtschaftliche Entwicklung gefährden würde, folgte der wirtschaftliche Aufstieg der Vergangenheit dem Motto »erst
entwickeln, dann (ökologisch) aufräumen«.
Noch in den 1990er-Jahren gab es wenig Verständnis für Mahnungen nach mehr Umweltschutz. Inzwischen jedoch hat die Umweltpolitik an Gewicht gewonnen, da die genannten
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Umweltprobleme drohen, soziale und politische Unruhen hervorzurufen. Seit einigen
Jahren hat zumindest die chinesische Zentralregierung Umwelt- und Klimaschutz zu einem wichtigen Ziel der Wirtschaftspolitik erhoben: Die drohende Knappheit von Wasser,
Energie und anderen Rohstoffe erzwingen
Strategien für den nachhaltigeren Umgang
mit Ressourcen. Zudem ist die chinesische
Regierung inzwischen davon überzeugt, dass
umwelt- und klimarelevante »grüne« Technologien entscheidend für technologische und
wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in der
Zukunft sein werden (Hu, Guan 2009, Lin
2010). Zahlreiche politische Dokumente fordern heute stärkeren Umwelt- und Klimaschutz (z. B. Chinas »Weißbuch der Klimapolitik« oder der 12. Fünfjahresplan (2011–2015)).
Das Umdenken auf der politischen Ebene ist
allerdings noch keine Garantie für die ökologische Zukunftsfähigkeit Chinas: Die Kosten
des ökologischen Raubbaus der Vergangenheit sind bereits hoch. Expertenmeinungen
darüber, inwieweit »aufgeräumt« werden
kann, gehen auseinander. Ob Umweltschutz
Abb. 7 Bevölkerungsdichte in den Provinzen der Volksrepublik China
© Wikipedia, 2012
und effiziente Nutzung von Ressourcen in
absehbarer Zeit wirklich zum Kern chinesischer Politik auf allen Ebenen werden wird, muss sich noch erweinicht mehr als langfristige Wachstumsstrategie an. Der demograsen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Provinz- und Lokalphische Wandel, unter anderem eine Folge der chinesischen Einregierungen politische Vorgaben der Zentralregierung nur
Kind-Politik, verstärkt den Druck, andere Wachstumsquellen aufzögerlich umsetzen, sofern sie die Wirtschaftsentwicklung in der
zutun als die Zuführung von Arbeitskräften in den
jeweiligen Region gefährden könnten. Weite Teile der BevölkeProduktionsprozess.
rung außerhalb der Metropolen träumen zudem davon, den dort
Die chinesische Regierung hat hierauf schon vor längerer Zeit regelebten Lebensstandard zu erreichen. Es stellt sich also nicht nur
agiert, indem sie die Bedeutung von Innovation und Wissen für
die Frage, ob sich die Regierungen auf den verschiedenen Sysdie wirtschaftliche Entwicklung herausgestellt. Eine schnelle Vertemebenen bemühen, sondern auch, ob Mengeneffekte (sog. »relagerung auf wissens- und technologieintensivere Produktion
bound«, Jenkins et al 2011) nicht alle Bemühungen um eine nachund Innovation erweist sich aber durchaus als schwierig. Sie stellt,
haltigere Entwicklung übertreffen werden.
unter anderem, höhere Anforderungen an das (Aus-) Bildungssystem. Seit einigen Jahren wird daher der chinesische Hochschulsektor stark ausgebaut. Doch gerade in jüngerer Zeit verbreitet
Ökonomische Zukunftsfähigkeit
sich Frustration bezüglich dieser Entwicklung, da die Hochschulen zwar deutlich mehr Absolventen produzieren, diese aber nicht
Ganz offensichtlich stellen allein die genannten ökologischen Riunbedingt mit dem Wissen bzw. den Fähigkeiten in den Arbeitssiken die ökonomische Zukunftsfähigkeit Chinas – im Sinne eines
markt eintreten, welche die Unternehmen suchen (Naughton
»weiter so« in Frage. Zugleich steht die chinesische Wirtschafts2012). Ein gutes System der beruflichen bzw. berufsbegleitenden
politik vor der Herausforderung auch andere ökonomische ProbAusbildung hat sich dagegen bisher nicht etabliert, da der akadeleme zu meistern. Der ökonomische Erfolg Chinas ist gekennmischen Bildung in China gesellschaftlich eine viel größere Bezeichnet durch den doppelten Wandel der chinesischen Wirtschaft
deutung beigemessen wird als der beruflichen.
von einer weitgehend autarken Agrargesellschaft zu einer global
Ordnungspolitisch hat sich China in der Vergangenheit zwar von
integrierten Industriegesellschaft und von einer planwirtschaftlider Planwirtschaft verabschiedet und den Übergang zu einem kachen zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Beide Wandpitalistischen System geschafft. Die Regierung steuert das Wirtlungsprozesse sind nicht abgeschlossen und sind mit spezifischaftsgeschehen nicht mehr über bindende Wirtschaftspläne,
schen Problemen behaftet.
viele Staatsunternehmen wurden privatisiert. Der Arbeitsmarkt
Der Übergang zu einer Industriegesellschaft wurde in der Verganwurde liberalisiert und die Mehrheit der Preise wird heute über
genheit durch einen kontinuierlichen Zustrom von ländlichen Arden Markt bestimmt. Gleichwohl ist der Einfluss des Staates auf
beitskräften gestützt, die mit einem niedrigen Ausbildungsniveau
das Wirtschaftsgeschehen sowohl auf der Ebene der Zentralreund geringen Ansprüchen an Lohn- und Arbeitsbedingungen für
gierung als auch der Lokalregierungen nach wie vor groß. Zum
industrielle Produktionsprozesse in den industriellen Zentren zur
Teil ist er gerade in den letzten Jahren wieder gewachsen (Walter,
Verfügung standen. Der Zustrom billiger Arbeitskräfte erlaubte
Howie 2012). Staatsunternehmen bzw. Unternehmen, auf die der
die Spezialisierung von Regionen in Südchina und im YangtseStaat direkten Einfluss ausübt, dominieren die wichtigsten IndusDelta auf arbeitsintensive, exportorientierte Massenproduktion.
triesektoren. Über Industriepolitik versucht die Regierung den
Obwohl der Strom von billigen Arbeitskräften auch heute nicht
Wettbewerb in wichtigen Branchen staatlich zu lenken. Der staatversiegt ist, wächst er doch nicht mehr im gleichen Maße. Zum
lich dominierte Finanzsektor steht für die Finanzierung der Prieinen verringert ein größeres Wirtschaftswachstum in den westlivatwirtschaft kaum bereit und auch bei den Investitionen spielt
chen und zentralen Regionen Chinas den Anreiz für die dortige
der Staat eine große Rolle (Lin 2012: 258). Gegenwärtig, vor dem
Bevölkerung, in die Küstenregionen abzuwandern. Zugleich steiHintergrund des anstehenden Führungswechsels, wird diese
gen die Lohnanforderungen und Ansprüche der Wanderarbeiter.
starke Einmischung des Staates in das Wirtschaftsgeschehen hefEine Expansion der exportorientierten, billigen Massenproduktig diskutiert und zum Teil scharf kritisiert. Die staatliche Einmition bietet sich vor diesem Hintergrund für die Küstenregionen
schung und die Diskriminierung der Privatwirtschaft werden zu-
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Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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DORIS FISCHER
Abb. 8 Mall in der Xidan Beidajie, Lobby, in Beijing
© Christoph Mohr, 26.7.2012, picture alliance
50
globalen Finanzkrise eine erhebliche Gefahr für die chinesische
Wirtschaft. Im Jahr 2009 hat die chinesische Regierung der Krise
daher ein sehr großes Konjunkturprogramm entgegengestellt,
das einen Bau- und Investitionsschub ausgelöst hat. Die Investitionstätigkeit konnte die Auswirkungen der Einbrüche im Exportsektor auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung kompensieren,
sie hat aber auch die Einflussnahme der chinesischen Regierung
auf das Wirtschaftsgeschehen verstärkt. Von Anfang an wurde zudem befürchtet, dass das Konjunkturprogramm zu Inflation, zu
einer Spekulationsblase im Immobiliensektor und zu einem Anstieg der Kreditausfallrisiken im Bankensektor führen könnte.
Um diesen Risiken entgegenzuwirken, hat die chinesische Regierung in Anbetracht steigender Inflationsraten im Jahr 2011 die
Kreditvergabe gedrosselt, den Immobiliensektor stärker reguliert und die Investitionen damit zurückgefahren. Gegenwärtig,
vor dem Hintergrund der Eurokrise, eines erneuten Abschwächens der Weltkonjunktur und daher schwächelnder Exportmärkt
wird aber erneut über ein chinesisches Konjunkturprogramm diskutiert. Die Reaktionen der chinesischen Wirtschaftspolitik auf
die globale Finanzkrise unterstreichen damit das Dilemma des
bisherigen chinesischen Wachstumspfades, der durch exportorientierte Massenproduktion geprägt und von einer hohen Investitionsquote abhängig ist.
nehmend als Einfalltor für Korruption und den Schutz der
Ausblick
Interessen einer vergleichsweise kleinen Elite angesehen. Zugleich wird die Fähigkeit der Regierung, eine marktwirtschaftlich
Gegenwärtig steht die chinesische Regierung daher vor drei Herorientierte Ordnungspolitik zu gewährleisten, in Frage gestellt.
ausforderungen: Sie muss der langfristig wirkenden Klima- bzw.
Die Schwächen in der Ordnungspolitik, zum Beispiel hinsichtlich
Umweltkrise entgegentreten, einen ordnungspolitischen Wandel
des Schutzes von geistigem und Sach-Eigentum, behindern langeinleiten, aber zugleich eine kurzfristig drohende Konjunkturfristige, private Investitionen in Forschung, Entwicklung und Inkrise abwenden. Wenn sie die Rezepte, welche die chinesische
novationen und konterkarieren damit das Ziel, ein neues WachsRegierung in der Vergangenheit angewandt hat, erneut anwentumsmodell für China zu entwickeln, das auf Wissen und
det, um die kurzfristige Krise abzuwenden (Konjunktur- und InInnovation basiert.
vestitionsprogramme etc.), werden die ordnungs-, finanz- und
Vor dem Hintergrund dieser längerfristigen ökonomischen Herfiskalpolitischen Herausforderungen verstärkt. Der ordnungspoausforderungen gewinnt ein Aspekt der chinesischen Wirtlitische Wandel wiederum (Übergang zu einem funktionierenden
schaftsentwicklung der Vergangenheit besondere Bedeutung,
Rechtsstaat, Eindämmung des staatlichen Einflusses auf die
nämlich die großen Einkommensunterschiede zwischen den ReWirtschaft, aber auch Erneuerung des Bildungssystems etc.)
gionen, zwischen Stadt und Land und – vor allem – zwischen den
braucht entsprechende politische Entscheidungen und Zeit. Die
verschiedenen Bevölkerungsschichten, die ein Ergebnis der wirtAuseinandersetzungen im Vorfeld des 18. Parteitags der Kommuschaftlichen Entwicklung der letzten 30 Jahre sind. In der Vergannistischen Partei (November 2012) deuten darauf hin, dass in der
genheit wurden diese Unterschiede in der chinesischen Bevölkerung weitgehend akzeptiert, weil ein Konsens
dahingehend existierte, dass die Reformund Öffnungspolitik zwar nicht Reichtum für
alle, aber doch über die Zeit eine spürbare
Verbesserung für alle brachte. Dieser Konsens wird gefährdet, sobald der Eindruck
entsteht, dass die Vorteile in Form von höherem Einkommen und Lebensstandard vor
allem einer gesellschaftlichen Elite vorbehalten sind, während andere Bevölkerungsgruppen nicht mehr zu den Gewinnern gehören
und von Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, obwohl sie die Risiken des
Wachstums, seien es Umwelt-, Gesundheitsoder finanzielle Risiken, mittragen müssen.
Schon heute steht der gesellschaftliche Konsens in Frage, wie die wachsende Zahl von
lokalen Unruhen – ausgelöst durch Enteignungen, Umweltskandale etc. – in den letzten Jahren gezeigt hat. Eine Stagnation der
chinesischen Wirtschaft, zum Beispiel ausgelöst durch die globale Finanzkrise, könnte
sehr schnell dazu führen, dass der gesellschaftliche Konsens zerbricht – mit schwer
abschätzbaren Folgen für die wirtschaftliche
Entwicklung und die gesellschaftliche StabiAbb. 9 »Glauben Sie, dass es an der Spitze Korruption gibt?«
© Chappatte, 2012
lität. So gesehen bedeutete der Ausbruch der
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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politischen Führungsriege Chinas ge2009
nau dieses Dilemma zwischen kurz2005 29,0 Mrd. t
fristigem Gegensteuern gegen die
27,2
Energiebedingte Kohlendioxid-Emissionen weltweit
2000
Auswirkungen der globalen Krise und
1995 23,5
in Milliarden Tonnen
1990
eher langfristig orientierten Struk21,8
1985 21,0
1980
tur- und Ordnungsreformen disku18,6
1975
18,1
tiert und mit Machtfragen verknüpft
15,7
Pro Kopf
wird. Ob die neue politische Füh2009 in Mio. t
Die G8-Länder
in t
rungsriege die ordnungspolitischen
16,9
5 195
USA
Herausforderungen angehen kann
10,8
1 533
Russland
und wird, ist noch offen. In jedem Fall
8,6
1 093
Japan
besteht die Gefahr, dass im Bemühen
9,2
750
Deutschland
um ein Wiederankurbeln der Wirt15,4
521
Kanada
schaft und in den Auseinanderset466
7,5
Großbritannien
zungen um die ordnungspolitischen
389
6,5
Italien
Weichenstellungen die langfristigen
354
5,5
Frankreich
Ziele von Umwelt- und Klimaschutz
in Vergessenheit geraten.
Die wichtigsten Schwellenländer G5
Dies ist eine Gefahr, mit der China
6 832
5,1
China
nicht allein zu kämpfen hat. Bisher
1,4
Indien
1 586
hat die Weltgemeinschaft keine Ant3,7
Mexiko
400
wort darauf gefunden, wie eine Wirt7,5
369
Südafrika
schaft funktioniert, die nicht auf ste1,7
Brasilien
338
tiges Wachstum und wachsenden
4941 © Globus
Quelle: IEA
Ressourcenverbrauch angewiesen
ist. Die Hoffnung, Wachstum und
Abb. 10 »Die Klima-Uhr tickt«
© Globus-Grafik, picture alliance, dpa
Ressourcenverbrauch durch »grünes«
Wachstum zu entkoppeln, eint China
Hu Angang, Guan Qingyou (2009): Chinas Reaktion auf den globalen Klimamit vielen anderen Regierungen dieser Welt, wie die Rio +20 Konwandel (Zhongguo yingdui quanqiu qihou bianhua), Tsinghua Universitätsferenz im Juni dieses Jahres gezeigt hat (UNDESA 2012). Der Beverlag: Beijing.
weis, dass diese Entkoppelung global gelingen kann, steht noch
aus. Bisher spricht einiges dafür, dass der Wettbewerb um TechJenkins, Jesse et al. (2011): Energy emergence – Rebound and Backfire as
nologieführerschaft in grünen Sektoren weiterhin dem klassiemergent phenomena, Breakthrough Institute: Oakland. Siehe www.theschen Wachstumsparadigma folgt. Es ist so gesehen gut möglich,
breakthrough.org
dass das Bemühen der chinesischen Regierung, ein neues WachsLeung, Guy C. K. (2011): China’s energy security: Perception and stability, in:
tumsmodell für China zu finden, national zu einer Verbesserung
Energy Policy, Jg. 39,S. 1330–1337
der Umwelt- und Klimabilanz führen wird. Es steht aber zu befürchten, dass diese Verbesserung nur durch eine Verlagerung
Lin, Justin Yifu (2012): Demistifying the Chinese Economy, Cambridge Univon Produktionsprozessen in andere Entwicklungsländer erreicht
versity Press, Cambridge.
werden wird. Der erfolgreiche Übergang zu einem solchen neuen,
Lin Xi (2010): Lektüre für Beamte in Politik und Partei zu »Low Carbon Eco»saubereren« Wachstumsmodell für China würde insgesamt vor
nomy« und nachhaltiger Entwicklung (Ditan jingji yu kechixu fazhan –
allem zu steigendem Konsum und damit zu einem Anstieg des
Dangzheng ganbu duben), Renmin Verlag: Beijing
globalen Energie- und Ressourcenbedarf führen, aber keine Verbesserung der globalen Umwelt- und Klimaprobleme bedeuteNaughton, Barry (2012): Economic Uncertainty Fuels Political Misgivings,
ten.
China Leadership Monitor Nr. 38, Summer 2012.
Die Klima-Uhr tickt
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pe=400&nr=12&menu=45
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MATERIALIEN
M 1 Henrik Bork: »Wirtschaftsmacht
China. Werkbank der Welt«
Atemberaubendes Wirtschaftswachstum in
Peking, Katzenjammer in Washington – gewinnt der autoritäre Kapitalismus den Krieg
der Systeme? In Peking werden Dissidenten
verhaftet, aber moderne Hochhäuser wachsen so schnell aus dem Boden wie Bambus im
Frühlingsregen. In Moskau stehen kritische
Journalisten mit einem Bein im Grab, aber die
Petrodollars lassen die Skyline glitzern.
Gleichzeitig wird der Kapitalismus in den USA
und in Europa nicht nur von einer Finanz-,
sondern auch von einer Sinnkrise gebeutelt.
Ist es also an der Zeit, die Systemfrage zu
stellen? Ist die Kombination aus Demokratie
und Kapitalismus ein Auslaufmodell, während dem autokratischen Kapitalismus à la
M 2 Fabrik des taiwanesischen Computerzulieferers Foxconn in Huai›an, Provinz Jiangsu, Volksrepublik
China oder Russland die Zukunft gehört?
China. Foxconn beliefert u. a. die us-amerikanischen Computerhersteller Apple, HP, Dell. SchlagZumindest die Kommunisten in China, das
zeilen machte das Unternehmen durch Streiks wegen der Arbeitsbedingungen und eine auffällige
war nicht anders zu erwarten, beantworten
Häufung von Selbstmorden der Beschäftigten.
© Ji Hua, 26.9.2012, picture alliance
diese Frage derzeit aus vollem Herzen mit Ja.
»Die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems hat sich in der gegenwärtigen Weltfinanzkrise bewiesen«, schreibt die aktuelle Ausgabe der
gegenwärtige wirtschaftliche Erfolg in China oder Russland sei
Volkstribüne, Renmin Luntan, ein Ableger der parteieigenen
vor allem durch eine mächtige, ungehinderte Regierung ermögVolkszeitung. Der westliche Kapitalismus, laut Marx und Mao eine
licht, eine Art modernem »Leviathan« aus den kühnsten Träumen
zum Scheitern verurteilte Sackgasse, scheint endlich vor dem
eines Thomas Hobbes, ist ein ideologischer Kurzschluss. Eine
lange vorausgesagten Aus zu stehen.
nüchterne Analyse fördert vielmehr Ähnlichkeiten zwischen der
Doch nicht nur die übliche Propaganda, auch der Augenschein
japanischen und chinesischen Wachstumsphase zu Tage, die mit
scheint dem chinesischen Modell aus politischer Repression und
der fehlenden, unvollkommenen oder perfekten Legitimation der
staatlich gelenktem Turbokapitalismus derzeit zumindest wirtVolksvertreter nicht viel zu tun haben.
schaftlich recht zu geben – lässt man moralische Fragen ausIn beiden Fällen begann das Wachstum in völlig am Boden liegennahmsweise einmal außen vor. Man muss die glänzenden Augen
den Ländern. Im von zwei Atombomben und Flächenbombardieeuropäischer Politiker und der sie begleitenden Reporter geserungen ausradierten Japan und in der von Maos »Großem Sprung«
hen haben, wenn sie das erste Mal Peking oder Shanghai besumit 30 Millionen Hungertoten verwüsteten Volksrepublik. Und in
chen. Von »Dynamik«, von »komplettem Wahnsinn« ist da oft die
beiden Fällen erfolgte eine lange Phase hoher staatlicher InvestiRede, wenn die Buskolonnen mit den staunenden Gästen durch
tionen. In Japan etwa machten Bruttoanlageinvestitionen am Andie neuen Megastädte rollen. Und Architekten aus Deutschland,
fang der Siebzigerjahre, in den letzten Jahren des ganz großen
der Schweiz, aus Holland oder England berichten stolz, wie unbüBooms, jährlich 35 bis 37 Prozent aus. (…)
rokratisch schnell sie ihre CCTV-Hochhäuser, ihre Vogelnester,
Um beim Fall Chinas zu bleiben: Da es dank seiner Niedriglöhne in
Opernhäuser oder Flughäfen in China »hochziehen« konnten.
seiner gerade zurückliegenden Industrialisierungsphase zur
Ungetrübt von langwierigen Genehmigungsverfahren in demoWerkbank der Welt geworden ist, hat es wie kein anderes Land
kratischen Gesellschaften können in Ländern wie China und
der Erde von der Globalisierung profitiert. Stärker als andere LänRussland viele Prestigeobjekte mit atemberaubender Geschwinder hat es aber nun wegen seiner riesigen Bevölkerung, seiner
digkeit realisiert werden, natürlich zur Ehre ihrer Herrscher, aber
bereits zu großen Teilen vergifteten Flüsse, seiner verpesteten
durchaus auch im Interesse des Wachstums und des GemeinLuft und seiner knapper werdenden Ackerfläche unter der Reswohls. Der neue, von Sir Norman Foster entworfene Terminal drei
sourcenverknappung und dem Klimawandel zu leiden.
des Pekinger Flughafens, der größte der Welt, ist in nur vier Jahren
Die staunenden Politiker aus Europa auf Chinareise bereisen selaus dem Boden gestampft worden. So lange hatten in London
ten das arme Hinterland der chinesischen Megastädte, wo dieser
Heathrow zuvor allein die Konsultationen mit der Öffentlichkeit
ökologische Raubbau inzwischen nicht nur mit bloßem Auge
gedauert.
sichtbar ist, sondern auch jährlich viele gewalttätige Proteste
Auch nackte Zahlen und Statistiken scheinen sich zu einem einauslöst. Das Verhaften von Dissidenten, das Einschüchtern von
drucksvollen Plädoyer für Chinas »sozialistische Marktwirtschaft«
Journalisten und andere »Erfolgsrezepte« von Entwicklungsdiktaoder ähnlich dirigistische, mit starker Hand von einer Machtelite
turen, die vorübergehend und in unwesentlichem Ausmaß das
geführte Volkswirtschaften zu addieren.
Tempo der Industrialisierung gefördert haben mögen, könnten
Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings,
sich für den nun erforderlichen Umbau auf eine grüne, die nachalso nach 1978, ist Chinas Wirtschaftsleistung geradezu explohaltige Entwicklung sichernde Volkswirtschaft als wesentliche
diert, zuletzt seit 2003 mit jährlichen Wachstumsraten des BrutAltlasten herausstellen. Ob das autoritäre Kapitalismusmodell
toinlandsproduktes (BIP) von über zehn Prozent. Und selbst jetzt,
langfristig ohne Demokratisierung überlegen ist, muss sich erst
wo die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise auch in China
noch zeigen. Die Systemfrage ist noch lange nicht entschieden.
auf den Exportsektor durchschlägt, ist noch von Wachstumsraten
Henrik Bork: Werkbank der Welt, SZ, 3.12.2008, 12:19, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/
um acht Prozent die Rede, auch wenn das erst noch abgewartet
wirtschaftsmacht-china-werkbank-der-welt-1.365717
werden muss. Chinas wirtschaftliche Entwicklung der letzten
Jahrzehnte ist zweifellos ein großer Erfolg. (…) Die Folgerung, der
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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M 3 Stephan Roach: »Zehn
Gründe, warum China
anders ist«
Handelsriese China
Die China-Zweifler sind zurück. Aber im Reich der Mitte
vollzieht sich nach wie vor das
beeindruckendste Entwicklungswunder der modernen
Zeit. Und dies dürfte sich
fortsetzen. (…) Hier sind zehn
39
11
Gründe, warum wir den ZuGroßbritannien
stand der chinesischen Wirt68 74
schaft nicht auf Grundlage
50
6
von Erfahrungen anderer
Deutschland
Niederlande
Länder beurteilen können:
– Strategie: Seit 1953 hat
28 17
China seine langfristigen
31 14
Frankreich
Italien
Vorgaben anhand von
Fünfjahresplänen festgelegt, die Ziele und politische Maßnahmen klar
M 4 Handelsriese China
definieren. Der kürzlich
beschlossene
zwölfte
Fünfjahresplan könnte einen Übergang vom hochgradig erfolgreichen Produktionsmodell der letzten 30 Jahre hin zu einer blühenden Konsumwirtschaft einleiten und damit einen strategischen Wendepunkt
darstellen.
– Disziplin: Nach vielen Turbulenzen, insbesondere während
der Kulturrevolution der 70er-Jahre, steht für Chinas Führung
Stabilität an erster Stelle. Diese Disziplin half China während
der Krise 2008/09, schädliche Auswirkungen zu vermeiden.
Auch im Kampf gegen Inflation, Spekulationsblasen und sinkende Kreditqualität ist sie hilfreich.
– Durchsetzungskraft: Chinas Ausrichtung auf Stabilität besteht nicht aus leeren Worten. Die Reformen der letzten 30
Jahre haben die Wirtschaftskraft des Landes zum Leben erweckt. Unternehmen und Finanzmärkte wurden optimiert,
weitere Reformen sind unterwegs. Außerdem hat China aus
vergangenen Krisen gelernt und ist in der Lage, bei Bedarf seinen Kurs zu ändern.
– Rücklagen: China profitiert von einer inländischen Sparquote
von über 50 Prozent. Diese lieferte die Investitionsgrundlage
für die wirtschaftliche Entwicklung und vergrößerte die
Fremdwährungsreserven als Schutz vor externen Schocks.
China hat nun die Möglichkeit, etwas von diesem Überschuss
einzubehalten, um einen Übergang zu interner Nachfrage zu
fördern.
– Migration vom Land in die Städte: In den letzten 30 Jahren
stieg in der chinesischen Bevölkerung der Anteil der Stadtbewohner von 20 Prozent auf 46 Prozent. OECD-Schätzungen
zufolge könnten in den nächsten 20 Jahren weitere 316 Millionen Menschen vom Land in die Städte ziehen. Diese nie da gewesene Welle von Urbanisierung bietet eine solide Grundlage
für Investitionen in Infrastruktur und Wohnungsbau.
– Entwicklungspotenzial Konsum: Der private Konsum hat am
chinesischen BIP lediglich einen Anteil von 37 Prozent – der
geringste Wert aller großen Volkswirtschaften. Durch den
Schwerpunkt auf Schaffung von Arbeitsplätzen, Lohnerhöhungen und soziale Sicherung könnte der zwölfte Fünfjahresplan eine bedeutende Steigerung der Konsumentenkaufkraft
auslösen. Dies könnte den Anteil des Konsums in China bis
2015 um fünf Prozentpunkte erhöhen.
– Potenzial bei Dienstleistungen: Nur 43 Prozent des chinesischen BIPs werden durch Dienstleistungen erbracht – was
deutlich unter dem globalen Durchschnitt liegt. In den nächsten fünf Jahren könnte ihr Anteil stärker steigen als die geplanten vier Prozentpunkte. Dies ist ein arbeitsintensives, res-
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283
2010 exportierte China Waren im Wert von 1 578 Mrd. Dollar und importierte Waren für 1 395 Mrd. Dollar.
Die wichtigsten Handelspartner:
177
138
30 26
121
218
Russland
69
102
Südkorea
Japan
USA
116
12
Hongkong
41
21
Indien
30
Taiwan
20 33
Thailand
50
24
Malaysia
Import
61
32 25
Singapur
Export
38
24
Brasilien
in Milliarden
US-Dollar
27
Australien
Quelle: ETCN, Chinesische Zollbehörde © Globus
4044
© Globus-Grafik, dpa
sourceneffizientes und umweltfreundliches Wachstumsrezept
– genau das, was China für die nächste Phase seiner Entwicklung braucht.
– Ausländische Direktinvestitionen: China ist ein Magnet für
globale multinationale Konzerne. Durch deren Investitionen
erhält es Zugang zu modernen Technologien und Managementsystemen-Katalysatoren für wirtschaftliche Entwicklung. Chinas Neugewichtung hin zu höherer Konsumorientierung wird auch zu Änderungen bei den ausländischen
Investitionen führen – weg von der Produktion und hin zu
Dienstleistungen. Dies könnte das Wachstum weiter verstärken.
– Ausbildung: China hat enorme Bildungsanstrengungen unternommen. Die Alphabetisierungsrate Erwachsener liegt
heute bei fast 95 Prozent, und die Einschreibungsquote für
höhere Schulen stieg auf 80 Prozent. Auf chinesischen Universitäten machen heute jährlich über 1,5 Millionen Ingenieure
und Wissenschaftler einen Abschluss. Das Land ist auf dem
besten Weg hin zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft.
– Innovation: Im Jahr 2009 wurden in China etwa 280.000 inländische Patente angemeldet. Damit befindet sich das Land
hinter Japan und den USA weltweit an dritter Stelle. Gleichzeitig strebt China bis 2015 einen Anteil von Forschung und Entwicklung am BIP von 2,2 Prozent an – doppelt so viel wie 2002.
Dies entspricht dem neuen Schwerpunkt des zwölften Fünfjahresplans, der auf »aufstrebende strategische Industrien«
abzielt – durch Energieeinsparung und erneuerbare Energien,
Informations- und Biotechnologie, neuartige Materialien und
Autos mit alternativen Kraftstoffen. Diese Industriezweige haben momentan einen Anteil von drei Prozent am BIP. Bis 2020
sollen es 15 Prozent sein, was einen bedeutenden Aufstieg in
der Wertschöpfungskette darstellen würde.
Der Yale-Historiker Jonathan Spence warnt seit Langem davor,
dass der Westen China unter denselben Voraussetzungen beurteilt wie sich selbst. (…) Im Gegensatz zum Westen, wo von Strategie überhaupt keine Rede mehr sein kann, gestaltet China den
Übergang anhand eines Systems, um seine Nachhaltigkeitshindernisse zu lösen. Im Gegensatz zum Westen, der in einer dysfunktionalen politischen Patsche sitzt, verfügt China sowohl über
die Disziplin als auch über die Mittel, seine Strategie erfolgreich
durchzuführen. Dies ist nicht die Zeit dafür, gegen China zu wetten.
53
Stephan Roach (Yale-University, USA): Zehn Gründe, warum China anders, ist, FTD vom
1.7.2011, S. 24
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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54
Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Academic Committee am State Council’s Developmental
Research Center in Peking. Er ist berühmt dafür,
seine Meinung offen zu sagen und wird von chinesischen Medien tituliert als »der Ökonom mit der größten Gewissenhaftigkeit«. Wu sagte laut einem Bericht der China Business Time auf dem Internationalen
Finance Forum (IFF) 2012 am 17. September, dass er
während seiner kürzlichen Besuche in verschiedenen
Gegenden von China beobachtet habe, wie viele Lokalregierungen Angst davor hätten, ein schnelles
Wachstum zu erzeugen. Wu wies darauf hin, dass basierend auf noch unvollständigen Daten, Lokalregierungen in diesem Jahr Investitionsprojekte in Höhe
von mehr als 17 Billionen Yuan (2,05 Billionen Euro)
eingereicht haben. Die Finanzierung dieser Projekte
stellt jedoch ein großes Problem dar. Er gab einige
Beispiele für Anreizprogramme, die schief gelaufen
sind. Ein Beispiel ist das HochgeschwindigkeitsBahnsystem. Laut Wu ist der Bau einer Hochgeschwindigkeitsbahn in einem dicht besiedelten Gebiet eine lohnenswerte Sache, auch wenn das Projekt
M 5 »Was denn für Probleme mit unserem Geschäftsmodell?«
© Heiko Sakurai, 7.10.2010
Verluste macht. Aber Chinas HochgeschwindigkeitsBahnsystem ist ein landesweit ausgelegtes Projekt,
das staatlich finanziert wird. Das hat viele Probleme
M 6 Christian Geinitz: »China ist erst zu einem Fünftel eine
verursacht, einschließlich Verbindlichkeiten von zwei Billionen
Marktwirtschaft«
Yuan (241 Mrd. Euro). Ein weiteres Beispiel ist eine Provinz, die in
mehreren aufeinander folgenden Jahren ein Wachstum des BIP
Nach der Definition der Europäischen Union ist China noch weit
von 14–15 Prozent verkündete. In jedem Jahr stieg die Höhe der
davon entfernt, eine Marktwirtschaft zu sein. Das Land hat erst
Investitionen. Im letzten Jahr betrug die Investitionsrate 89 Proeines von fünf Kriterien erfüllt, die für die Erteilung des Marktzent des BIP. Die Investitionsrate für die erste Hälfte diesen Jahres
wirtschaftsstatus (MES) erforderlich sind. Das erfuhr diese
beträgt aber bereits 120 Prozent des lokalen BIPs. Wu sagte, dass
Zeitung aus der EU-Kommission in Brüssel. Damit bleibt es für
jeder mit dem geringsten Wissen über Wirtschaft oder Geschichte
europäische Unternehmen auf absehbare Zeit leichter, Antidumwissen sollte, dass diese Methode, Investitionen zu tätigen, nicht
pingverfahren gegen China anzustrengen als gegen Länder, denachhaltig ist. Er sagte auch, dass dies ernsthafte Konsequenzen
ren Märkte als offen und unverzerrt von staatlichen Einflüssen
haben und schwerwiegende Probleme verursachen wird.
gelten. Nach Informationen dieser Zeitung richtet sich mittlerHe Qinglian, eine bekannte Ökonomin, die in den Vereinigten
weile jede zweite Untersuchung der EU zu »Preisdumping« gegen
Staaten lebt, ist der gleichen Meinung. In einem Artikel vom verChina. (…) Erfüllt hat Peking bisher nur die Bedingung, dass die
gangenen August schrieb sie, dass das Anreizpaket von 2008 die
Privatisierungsverfahren nicht staatlich verzerrt sein dürfen. HinInflation in die Höhe trieb, die Schere zwischen Arm und Reich
gegen ist es den anderen vier Auflagen nicht nachgekommen. So
weiter auseinander getrieben hat, die Immobilienpreise in den
nimmt die Regierung nach Ansicht der EU weiterhin Einfluss auf
Himmel getrieben und die wirtschaftliche Struktur zerstört hat.
Unternehmen, etwa durch Preiskontrollen oder die BenachteiliWenn das Regime wieder in den gleichen Maßnahmen die Zugung in Steuerfragen. Auch gebe es in der Praxis kein diskrimiflucht sucht, wird China in eine noch größere wirtschaftliche
nierungsfreies Gesellschaftsrecht, das die Anwendung interKrise stürzen. Obwohl viele anerkannte Ökonomen ähnliche Sornationaler Rechnungslegungsstandards oder den Anlegerschutz
gen geäußert haben, plant das chinesische Regime weiterhin die
gewährleiste. Es fehlten ein funktionierendes Insolvenzrecht und
Einführung weiterer Anreizprogramme. (…)
wirksame Verfahren zum Schutz geistigen Eigentums. Viertens
Hu Seimeng, ein freischaffender Journalist, behauptet, dass der
schließlich vermisst die EU in China einen »echten Finanzsektor,
Stern der KPCh am Untergehen sei und durch den Versuch, mit
der unabhängig vom Staat arbeitet«.
wirtschaftlichem Wachstum die Stabilität und die Legitimität der
Die Asiaten bestreiten die Vorwürfe. »China wird aus politischen
Regierung aufrechtzuerhalten, dem absoluten Ende entgegenund protektionistischen Gründen unfair behandelt«, sagt Zhang
geht. Das Ergebnis wird das Gegenteil von dem sein, was sie eiHanlin, Präsident des Instituts für WTO-Studien in Peking. »Die
gentlichen erreichen wollen, schrieb er auf seinem Blog.
WTO-Regeln sehen solche Kataloge gar nicht vor, die EU und
Gan Li, Dekan am Research Institute of Economics and ManageAmerika wollen sich damit Chinas Konkurrenz vom Leib halten.«
ment an der Southwestern University of Finance and Economics,
sagte New Tang Dynasty Television, dass eine groß angelegte
Christian Geinitz: China ist erst zu einem Fünftel eine Marktwirtschaft, in: FAZ net,
strukturelle Neuausrichtung vonnöten wäre, um die wirtschaftli22.7.2011, www.faz.net/-01z6sz
chen Probleme Chinas zu lösen.
»Die eine Trillion Yuan sollte in Renten, Krankenversicherung und
Arbeitslosenunterstützung investiert werden«, sagte Li und fügte
M 7 Gao Zitan: »Gelenkte Wirtschaft gelingt nicht. Chinahinzu: »Wenn die Regierung mehr in die grundlegenden BedürfÖkonomen halten wirtschaftliche Anreize nicht für
nisse des Volkes investieren würde, wäre die Gesellschaft stabil
nachhaltig«
und die Probleme würden verschwinden.«
Der chinesische Ökonom Wu Jinglian sagte auf einer internationalen Konferenz, dass die derzeit geplanten wirtschaftlichen Anreizprogramme des chinesischen Regimes nicht nachhaltig seien
und nach ihrer Einführung fatale Konsequenzen haben werden.
Wu Jinglian (82) ist ein angesehener Ökonom, wissenschaftlicher
Gao Zitan: Gelenkte Wirtschaft gelingt nicht. China-Ökonomen halten wirtschaftliche Anreize nicht für nachhaltig, Epochtimes, 19.9.2012, www.epochtimes.de/china-oekonomen-halten-wirtschaftliche-anreize-nicht-fuer-nachhaltig-986608.html
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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M 8 »Der Gini Koefizient« – soziale Unterschiede in den Staaten der Welt
M 9 Frank Siren: »Was China und die USA gemeinsam haben«
Die sozialen Spannungen wachsen dramatisch in China. Sie stehen im Mittelpunkt der Tagung des Volkskongresses. Dabei wird
eines übersehen: In den USA sind die Probleme inzwischen mindestens genauso groß.
Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich ist ein brisantes
Thema in China, besonders in diesen Tagen. Das verfügbare Nettoeinkommen ist in den Küstenstädten drei Mal so hoch, wie auf
dem Land tief im Westen. Und selbst innerhalb der modernen Megastädte wird der Unterschied zwischen Arm und Reich immer
größer. Auch wenn wieder nur wenige Demonstranten am vergangenen Sonntag dem Aufruf zu einer »Jasmine Revolution« folgten,
sondern vor allem ausländische Journalisten und die Polizei aufeinander prallten, die zahllosen kleinen Proteste gegen zu hohe
Wohnungspreise oder die steigende Inflation sind ein Spiegel der
wachsenden Ungleichheit bei hohem Wirtschaftswachstum.
Allerdings ist die Ungleichheit dann doch nicht so groß, wie sie
sich aus der Ferne anfühlt. Jedenfalls nicht größer als in den USA,
wo vergangenen Samstag bei Schneetreiben 70.000 Menschen in
Madisson, Wisconsin gegen soziale Ungerechtigkeit demonstrierten und dabei das State Capitol besetzten.
China und die USA liegen in der sozialen Ungleichheit inzwischen
gleich auf und zwar im unteren Mittelfeld der Weltrangliste umgeben von den Philippinen, Costa Rica oder Guinea-Bissau.
Grundlage dieser Rangliste ist der Gini-Index, benannt nach dem
italienischen Statistiker Carrado Gini. Der Index stellt die Ungleichverteilung in Gesellschaften dar und wird häufig zur Berechnung von Kreditrisiken benutzt. Für den CIA ist er die Basis
seiner Ländereinschätzungen. Deutschland liegt nach dem GiniIndex immerhin noch am unteren Ende der Top 20 Spitzengruppe
der sozial ausgeglichenen Länder. Zwischen 1980 und 2005 wuchs
die Ungleichheit in China mit rund zehn Prozent noch doppelt so
schnell wie in den USA. Seitdem gleicht sich die Geschwindigkeit
an, allerdings mit einem großen Unterschied: In China werden
viele Menschen schnell reich, während viele Arme langsamer vom
Aufstieg des Landes profitieren. In den USA dagegen versinken
ganze Landstriche in Armut. Selbst jeder zweite weiße Amerikaner glaubt inzwischen: »Die besten Zeiten sind vorbei.«
Dass der Gini Index weit weniger bekannt ist als die viel populäreren Werte des Pro-Kopf-Einkommens und des Bruttoinlandsproduktes, ist klar. Die westlichen Politiker bevorzugen natürlich die
Werte, die sie besser da stehen lassen, weil sie weniger Aufschluss
über die soziale Ungleichheit geben. Oder liegt es eher daran,
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Heft 64 · 2012
© CIA, World Factbook 2009, www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/,
dass bisher BIP und Pro-Kopf-Einkommen stärker mit sozialer Gerechtigkeit einhergingen? Dann wäre es nun Zeit, dem Gini-Index
einen größeren Stellenwert einzuräumen. Denn die statistischen
Erhebungen decken sich mit Eindrücken aus erster Hand. Nicht
nur in China, sondern auch in den USA.
Die Flutkatastrophe in New Orleans 2005 beispielsweise brachte
die Schicksale hinter den nackten Zahlen ans Licht. Und inzwischen ist nicht nur in Chicago oder in den einstigen Stahlmetropolen, wie in Youngstown, Ohio, die Armut sichtbar, wo ganz
Stadtviertel verfallen und im Stadtzentrum die leeren Geschäfte
mit Sperrholzplatten verrammelt sind. Auch in reichen Regionen
wie in Austin, Texas ist die Schere zwischen Arm und Reich offensichtlich. Die Innenstadt ist in Schuss, doch schon entlang des
Highway 35 in Richtung San Antonio wechseln sich Wohnwagenburgen um ein Lagerfeuer und verfallene Häuser ab. Richtung
Nordwesten hingegen am Lake Trevis liegen die 600-Quadratmeter-Villen mit parkähnlichen Gärten.
Sicher, auch der Gini hat Schwächen: Er misst zum Beispiel nicht
die Transparenz von sozialer Ungleichheit. In einem Land mit
Presse- und Demonstrationsfreiheit kann sich die Wut über soziale Ungleichheit viele Ausdrucksmöglichkeiten suchen. In China,
wo Dissidenten willkürlich weggesperrt werden, ist das nicht so.
Insofern kann sich die Wut leichter aufstauen und dann eruptiv
entladen. Aber der Index sagt anderseits auch nichts über die Gewaltbereitschaft in den jeweiligen Ländern, wenn Konflikte ausbrechen sollten. Während es in China kaum Pistolen und Gewehre
in Privatbesitz gibt, kursieren in den USA 250 Millionen Waffen –
besonders unter den sozial benachteiligten. Die Wahrscheinlichkeit ist also in den USA viel größer, dass die Reichen sich eines
Tages wie in Südafrika in Gettos verschanzen müssen. Und
schließlich misst der Gini-Index auch nicht die Zufriedenheit der
Menschen mit ihrem Land und ihrer Regierung. Und das ist wichtig: Denn Amerikaner und Chinesen blicken trotz gleichem GiniIndex unterschiedlich positiv in die Zukunft. 87 Prozent der Chinesen sind nach internationalen Erhebungen mit Entwicklung
ihres Landes zufrieden. In den USA sind es nicht einmal mehr 60
Prozent. Dennoch verdient der Gini eine wichtigere Rolle. Gerade
in diesen Zeiten der Umstürze. Denn der Index macht eines offensichtlich: Wir im Westen überschätzen das Risiko von sozialen Unruhen in China. Für die USA hingegen unterschätzen wir es.
55
Frank Siren: Was China und die USA gemeinsamen haben, Handelsblatt vom 4.3.2011
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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DORIS FISCHER
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M 10
Interview mit dem China-Experten Tom Doctoroff:
»Was Chinesen wirklich wollen
IP (internationale Politik): Nach 30 Jahren beispiellosen Booms
knirscht es im Gefüge des chinesischen Wirtschaftsmodells, viele sehen
das Land derzeit an einem Wendepunkt. Sie auch?
Tom Doctoroff: China hat sich ganz sicherlich mit der Frage zu
beschäftigen, wie es sich weiterentwickeln und sein Wachstum
aufrechterhalten kann. Aber von einem Wendepunkt zu sprechen,
halte ich nicht für angemessen. Das würde bedeuten, dass es einen Paradigmenwechsel geben muss, anstatt das jetzige Modell
effizienter zu gestalten. Chinas wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung ist der Erhalt des bestehenden Wachstumsmodells, zu dem mehrere Elemente gehören: eine strikt von
oben nach unten funktionierende Befehls- und Kontrollstruktur;
Urbanisierung und die Entwicklung ländlicher Regionen – eine
gewaltige Aufgabe, die im Ausland oft vergessen wird und im
Grunde einem erfolgreichen »großen Sprung nach vorn« gleicht;
Menschen mit Jobs niedriger Produktivität zu solchen mit höherer
zu verhelfen; Exportabhängigkeit, wobei die Binnennachfrage zulegen muss. Kurz: Ich denke nicht, dass ein radikaler Schwenk
bevorsteht weg von dem, was Chinas Wachstum in den vergangenen 30 Jahren angetrieben hat. Es wird darum gehen, die »Middle
Income Trap« zu vermeiden, das Steckenbleiben auf mittlerem
Niveau. Zugleich muss der Wohlstand, den die Mittelschicht
schon genießt, auch die Ärmeren in der Gesellschaft erreichen –
und dafür muss die Regierung sorgen. Damit dieser Wohlstandstransfer aber funktionieren kann, muss der Prozess der Urbanisierung weitergehen, und das bedeutet: Die Menschen, die in die
Städte abwandern, müssen sich darauf verlassen können, dass sie
einen fairen Verkaufspreis für ihr Land bekommen, und dafür
wäre eine Bodenreform notwendig. Und sie müssen sich in der
Stadt aufgehoben und sicher fühlen. Dafür wäre eine Reform des
hukou, der Einwohner- und Niederlassungsgesetze, notwendig,
die den Migranten anders als bislang vollen Zugang zu Sozialleistungen gewähren würde.
Um all das umsetzen zu können, muss eine breitere Mittelschicht
heranwachsen, der ein besseres Gesundheitssystem zur Verfügung steht und die einen größeren Schutz ihres Eigentums genießt. Das wird nicht gehen ohne größere politische Transparenz,
ohne Partei, die auf die Bedürfnisse der Bürger eingeht, und ohne
unabhängigere Institutionen, die wirtschaftliche und zu einem
gewissen Grad auch politische Interessen schützen können.
Wenn aber von Wendepunkt die Rede ist, dann geht es meist um
einen Wandel hin zu echten demokratischen Strukturen. Ich
glaube aber nicht, dass dies in China auf absehbare Zeit geschehen wird, jedenfalls nicht, wenn man Demokratie im westlichen
Sinn als repräsentative Demokratie definiert. Den Chinesen
schwebt eher ein System vor, in dem ihre Anliegen mehr Gehör
finden, das transparenter und effizienter ist. Sie haben an ihren
Regierungen schon immer technokratische Effizienz bewundert –
die sich eben noch stärker in den Gemeinde- oder Provinzverwaltungen durchsetzen muss. Es geht also um Straffung, nicht um
eine fundamentale Neuerfindung. (…)
IP: China hat sich zur Werkbank der Welt entwickelt. Kann China – ein
Land mit einer Kultur, in der Werte wie das Ehren der Eltern, der Familie
und des Kollektivs tief verankert sind und nicht in Frage gestellt werden
– im 21. Jahrhundert eine innovative Ökonomie hervorbringen?
Doctoroff: Ich denke, dass China die Wertschöpfungskette weiter hinaufklettern und aufgrund seiner grundlegenden Fähigkeiten in der Herstellung seinen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Schwellenländern behaupten wird. Deshalb finden immer
mehr chinesische Güter unter chinesischen Markennamen ihren
Weg in die Märkte der Schwellenländer. Sogar auf osteuropäischen Märkten wächst neuerdings die Nachfrage nach chinesischen Autos. China ist also sehr gut im Bereich »schrittweiser«
Innovation, die sich in einem unternehmerischen Umfeld und bei
steigenden Standards vollzieht, jedenfalls solange es ein Paradigma gibt, mit dem diese Standards vereinbar sind.
Ich denke außerdem, dass China im eigenen Land auch gut in Sachen »einfacher« Innovation sein kann, und damit meine ich, dass
es aus weniger Geld mehr Nutzen für mehr Menschen gewinnen
kann. Das weicht von der indischen Definition »einfacher« Innovation ab, weil sich diese dort oft mit großer Kreativität paart.
Aber allein Chinas Möglichkeiten, schiere Masse zu nutzen, um
die Kosten in der Wertschöpfungskette zu reduzieren, lassen einen doch immer wieder staunen. Also, ich glaube, dass China sowohl »schrittweise« als auch »einfache« Innovation beherrscht.
Was aber »bahnbrechende« Innovationen angeht: Davon habe ich
bislang noch kein Beispiel gesehen, selbst auf der untersten Stufe
nicht. Und »bahnbrechender« Innovation entspringen die starken
Marken und neue Produktkategorien. Dies, denke ich, steht im
direkten Zusammenhang nicht nur mit der Struktur der chinesischen Gesellschaft und ihrer Werte, sondern auch damit, wie Unternehmen und Betriebe diese Struktur und Kultur widerspiegeln.
Wenn Sie mit einem chinesischen Unternehmen zusammenarbeiten, merken Sie schnell, dass Innovation im »bahnbrechenden«
Sinne ein Ding der Unmöglichkeit ist: Absatz steht über dem Marketing, Hierarchien sind hermetisch abgeschlossen, der Wettbewerb verläuft stark horizontal und nicht vertikal, die Rechte von
Aktionären oder Anteilseignern sind nur schwach ausgeprägt und
die Unternehmensführungen haben keinerlei Anreize, für eine
langfristig positive Entwicklung des Aktienkurses zu sorgen.
Menschen, die anders sind, werden als Bedrohung wahrgenommen. Die in Amerika geborenen Chinesen (»American-Born Chinese« oder ABCs) und Auslandschinesen, die nach China gekommen sind, werden nicht wirklich in die chinesische Wirtschaft
integriert. Es gibt also viele strukturelle Faktoren, die wirkliche
Innovation verhindern. Und solange China keine große Krise erlebt – und das scheint mir für die nächsten Jahrzehnte kaum der
Fall zu sein –, werden wir nicht wissen, ob eine weltgewandtere
Generation, die abstrakt, konzeptionell und auch quer denken
kann, Veränderungen innerhalb der Unternehmen herbeiführen
wird.
IP: Können Sie sich das bei der so genannten »Post 90«-Generation vorstellen – Sprösslinge der Ein-Kind-Politik und oft, entschuldigen Sie die
Wortwahl, verwöhnte Balgen? Verhält sich diese Generation noch am
ehesten individualistisch oder vielleicht sogar ein wenig provokant? Oder
spürt sie ganz besonders eine Last, die Tradition weiterzutragen?
Doctoroff: Wohl eher letzteres. Dabei muss man beachten: Ego
ist nicht gleich Individualismus. Die Egos sind bei der neuen Generation der Einzelkinder und den »kleinen Kaisern« aus zwei
Gründen gigantisch: Den ersten haben Sie bereits genannt: Sie
tragen die Last aller Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft
auf ihren Schultern. Das ist eine Belastung, und es gibt viele neurotische Kinder, die nicht gut sozialisiert sind, was zum zweiten
Grund führt: Ihr Gefühl für die eigene Wichtigkeit ist überdimensioniert. Sie genossen die Vorteile eines guten, fordernden, aber
nicht überlasteten Bildungssystems, sie wurden von der Großfamilie verwöhnt – alles blieb in einem sehr traditionellen Rahmen.
Sie sind also sehr selbstgefällig, verharren aber in dieser Konvention. Ich sehe einfach nicht, wie sich ein stärkerer Individualismus
entfalten soll, und das bestätigt sich auch in meiner persönlichen
Beobachtung: Ich bin Chef einer Werbeagentur, die eigentlich die
Avantgarde kreativer, individueller Selbstentfaltung und -erkundung sein sollte. Aber in der Hierarchie meiner Firma kommen die
Leute nur genauso weit wie schon vor 15 Jahren – weil sie eben
nicht individualistisch genug sind, Konventionen oder Hierarchien, inklusive des Chefs, in Frage zu stellen
Interview mit Tom Doctoroff: Was Chinesen wirklich wollen, in: Internationale Politik,
Sept/Okt 2012, Auslaufmodell China, S. 24ff.
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M 11
Claudia Wanner, Christiane
Kühl, Ruth Fendt: »Wie der
Westen seine Vorurteile
gegen die neue Weltmacht
pflegt«
1. Einkäufer auf Eroberungstour
Die »gelbe Gefahr« wird seit Jahren
heraufbeschworen: Chinesen stehen
vor den Toren Europas, sie gieren danach, die wertvollsten Marken des
Kontinents zu schlucken und auszunehmen. Ganz unschuldig an dieser
Sicht ist die Volksrepublik nicht:
Schon im vorvergangenen Fünfjahresplan prägte die Regierung die Parole »zou chu qu« – »Schwärmt in die
Welt aus!« Die wirtschaftliche Bedeutung des Landes sollte sichtbar werden. Am offensichtlichsten ist Chinas
Expansionsdrang im Rohstoffsektor:
Mehr als 30 Mrd. Dollar haben Chinas
Firmen 2010 für internationale Bergbau- und Ölvorkommen gezahlt. (…)
Verwendung öffentlicher Mittel (Anteil am BIP in %)*
Bildung
Island
Japan
Dänemark
Großbritannien
USA
Frankreich
Großbritannien
Italien
Kanada
Kanada
Frankreich
Island
Schweiz
Schweiz
Norwegen
Österreich
Australien
Australien
Griechenland
Italien
Dänemark
Russland
China
Deutschland
Deutschland
Japan
Österreich
China
Russland
Griechenland
0
2
4
6
0
8 (%)
Gesundheitswesen
Island
Frankreich
USA
Österreich
Kanada
Großbritannien
Japan
Norwegen
Italien
Schweden
Australien
Deutschland
Russland
Griechenland
Schweiz
China
Umweltschutz
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
1,2 (%)
Sozialsystem
Dänemark
Frankreich
Deutschland
Österreich
Griechenland
Italien
Norwegen
Großbritannien
Schweiz
Japan
Kanada
Russland
Australien
Island
USA
China
2. Menschen, Menschen,
Menschen!
Bevorzugt werden Chinesen als Heerscharen abgebildet. 1,3 Milliarden
Einwohner sprechen dafür, dass Arbeitskraft im Überfluss verfügbar ist.
Lange traf das zu: Jedes Jahr strömten
Millionen Wanderarbeiter aus dem
armen Landesinneren in die Industrieregionen an der Küste. Doch seit
0
2
4
6
8 (%)
0
5
10
15
20 (%)
drei, vier Jahren klagen die Unternehmer im Perlflussdelta und rings um
M 12 Verwendung öffentlicher Mittel nach ihrem Anteil am BIP in Prozent
Schanghai, dass Arbeiter nur noch
© Zahlen: Weltbank sowie »China 2030«, vgl auch: Internationale Politik, Heft 5, 2012, S. 23
schwer zu finden sind. Die Entwicklung des Landesinneren schafft Jobs
für die einstigen Wanderarbeiter in
der Nähe ihrer Familien. Dazu kommt die Demografie: Wegen der
Das Land emittiert mehr Kohlendioxid als jedes andere. Doch es
Einkindpolitik altert China. Die Zahl der Grundschüler geht seit
stimmt nicht, dass China dies nicht kümmert: Die reichsten
1994 zurück, seit 2008 fällt die Anzahl der Teilnehmer an der AufStädte wie Peking oder Schanghai führten Abgasstandards für
nahmeprüfung für Hochschulen; auch die Zahl der jungen ArbeiAutos ein oder Rauchgasentschwefelungsanlagen für ihre Kraftter schrumpft. Bis 2050 dürfte das Durchschnittsalter von heute
werke. Seit Jahren gibt es Umweltgesetze und Standards, die nach
24 auf rund 45 Jahre steigen. Dass China kein umfassendes RenExpertenmeinung recht fortschrittlich sind – nur sind diese auf
tensystem kennt, verschärft das Problem zusätzlich.
lokaler Ebene kaum durchsetzbar. Zudem erschwert das rasante
Wachstum Verbesserungen in absoluten Zahlen: Der aktuelle
3. Diktatur im ganzen Land
Fünfjahresplan sieht hohe Investitionen im Umweltbereich und
Am Abend des 4. Juni strömen 150.000 Menschen in den Hongden massiven Ausbau erneuerbarer Energien vor – sowie mehr
konger Victoria-Park, Kerzen in den Händen, zum Gedenken an
Druck auf lokale Kader, die Umweltgesetze einzuhalten. (…)
die Opfer des Massakers auf dem Tiananmen-Platz 1989. Wie jedes Jahr erinnern sie auf chinesischem Boden an die Toten – unge8. Unkreative Streber
hindert von den Behörden. Denn Hongkong gehört zwar seit dem
Für Deutschland war es der zweite Pisa-Schock: Dass die netten
Ende der britischen Kolonialherrschaft 1997 wieder zur VolksreFinnen in den Schultests an uns vorbeiziehen, schien irgendwie
publik, wie auch die Sonderverwaltungszone Macau. Doch nach
noch akzeptabel. Aber Schüler aus Schanghai die Weltbesten? Die
dem Grundsatz »ein Land, zwei Systeme« gelten in diesen beiden
Deutschen versuchen, sich damit zu trösten, dass in chinesischen
Städten eigene Regeln: Hongkong gewährt Meinungs- und PresSchulen nun mal harter Drill herrscht (was stimmt), während hier
sefreiheit, hat ein zuverlässiges Rechtssystem, eine eigene Vergedichtet, gedacht und erfunden wird. Doch in China gibt es
fassung und Währung. Eine klassische Demokratie ist die Stadt
nicht nur eine Jugend, die – ganz bildungsbürgerlich – für Händel
trotzdem nicht: Der Regierungschef wird zwar gewählt, jedoch
und Haydn brennt: Das Land wird auch innovativer. 2011 könnte
von einer Hundertschaft von Peking handverlesener Wahlmänner.
China erstmals mehr Patente anmelden als Japan oder die USA.
Die Verfassung schreibt den Übergang zur direkten Wahl vor,
Zwar gelten viele davon noch als wirtschaftlich eher nutzlos, fast
doch noch wird um ein Datum gerungen. (…)
96 Prozent werden nur in China angemeldet (…)
6. Umweltsünder und Luftverpester
Es ist wahr: China ist dreckig. In vielen Flussbetten schwappt eine
dunkle Brühe, die Luft über den Metropolen ist zum Schneiden.
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Autorenteam: Willkommen großer Drache. Wie der Westen seine Vorurteile gegen die
neue Weltmacht pflegt, FTD vom S. 27.6.2011, S. 13
Die ökonomisch- ökolo gische Zukunf tsfähigkeit China s
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DIE EUROPÄISCHE UNION
7. EU-Mehrebenensystem im Stresstest:
Braucht die EU einen »Legitimitätspakt«?
MARTIN GROSSE HÜTTMANN
D
58
ie Europäische Union erlebt seit 2010 einen schleichenden Verfassungswandel, sie steht vor »einer Art Neugründung« (Möller 2012). Mache Beobachter, wie Heribert
Prantl von der »Süddeutschen Zeitung«, sprechen gar von
einer »Revolution«. Die Krise der Europäischen Währungsunion unterzieht die EU einem Stresstest, der die Schwächen
der Eurozone und des gesamten Institutionengefüges der EU
aufdeckt. Dieser von den internationalen Finanzmärkten und
europäischen Politikern angetriebene Reformprozess wäre in
normalen politischen Zeiten nicht mit solcher Zielstrebigkeit
angegangen worden. In immer kürzeren Abständen versuchen die europäischen Staats- und Regierungschefs seit dem
Mai 2010 auf »historischen« EU-Krisengipfeln den Euro bzw.
die Mitgliedstaaten der Euro-Zone, die vor dem Staatsbankrott stehen, durch milliardenschwere Hilfspakete und Garantien zu stabilisieren. Seit den Anfängen in den 1950er-Jahren
hat das Projekt der europäischen Integration immer wieder
schwere Krisen erlebt: Integration war und ist ein Stop-andgo-Prozess – bislang war jedoch keine Krise sowohl in ökonomischer wie auch in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht so ernst, dass ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone
und entsprechende Folgen für das gesamte Integrationsprojekt nicht auszuschließen waren. Will man die Zukunftsfähigkeit der EU beurteilen, muss man ihre Strukturen und ihren
Politikstil in den Blick nehmen; so zeigt sich, dass die Europäische Union Ähnlichkeiten mit ‚normalen’ politischen Systemen besitzt; der »Politik-Zyklus« als Modell hilft dabei, die
Ähnlichkeiten ebenso wie die Unterschiede anschaulich zu
machen. Am Beispiel der Europäischen Bürgerinitiative und
der europapolitischen Rolle des Bundesverfassungsgerichts
skizziere ich, wie es um die Demokratie in Europa bestellt ist
und zeige dann an einzelnen Reformvorschlägen auf, wie die
Legitimität der gesamten EU gestärkt werden könnte.
Die EU als »Mehrebenensystem« – politikwissenschaftliche Theorie und europäische Praxis
Die Europäische Union entzieht sich der Einordnung in gängige
rechts- und politikwissenschaftliche Kategorien: Sie ist kein
»Staat« in einem klassischen Sinne so wie Deutschland oder Polen
und sie ist auch keine internationale Organisation wie die Vereinten Nationen – sie hat jedoch von beidem etwas. Die EU erinnert
insofern an ein Vexierbild, das beim leichten Drehen jeweils unterschiedliche Bilder aufscheinen lässt. Manchmal sieht die Europäische Union tatsächlich aus wie ein Staat; sie besitzt mit der
Europäischen Kommission eine Art »Regierung«, also eine Exekutive; das Europäische Parlament bildet zusammen mit dem Ministerrat die Legislative, und mit dem Europäischen Gerichtshof, der
seinen Sitz in Luxemburg hat, besitzt die EU auch eine Judikative.
Die EU ist zudem mehr als eine internationale Organisation, denn
Organisationen wie die NATO sind in der Regel auf eine rein zwischenstaatliche (»intergouvernementale«) Zusammenarbeit gegründet. Mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof besitzt die EU jedoch Institutionen, die als
»supranationale«, also überstaatliche Organe neben und »über«
den Verfassungsorganen und Regierungsorganisationen der EUStaaten stehen. Die EU-Kommission steht im Mittelpunkt der sogenannten Gemeinschaftsmethode, die die EU zur supranationalen Organisation macht; die Gemeinschaftsmethode ist das
PolitikTerminierung
Problemdefinition
PolitikEvaluierung
Implementation
Politikformulierung
Abb. 1 Politikanalyse nach dem Politikzyklus © nach Blum/Schubert, 2009, S. 102
Gegenbild zur intergouvernementalen Methode und weist der
EU-Kommission als »Motor der Integration«, dem Ministerrat und
dem Europäischen Parlament die Gesetzgebungsfunktion zu und
dem Europäischen Gerichtshof die Überwachung. Der rechtliche
und politische Spielraum, den die Brüsseler Kommission laut EUVertrag genießt, ist Sinnbild für die »Supranationalität« der Gemeinschaft. Weil die Europäische Union weder als Staat noch als
Internationale Organisation im klassischen Sinne beschrieben
werden kann, hat sich in der Politikwissenschaft seit den 1990erJahren zunehmend der Begriff des »Mehrebenensystems« eingebürgert; Beate Kohler-Koch und Markus Jachtenfuchs gehörten
zu den ersten, die diesen Begriff in der EU-Forschung populär gemacht haben. In der englischsprachigen Literatur wird der Begriff
»multi-level governance« verwendet; er geht von ähnlichen Überlegungen aus (vgl. dazu Knodt/Große Hüttmann 2012). Das Konzept des »multi-level governance« bzw. »Mehrebenenregierens«
wurde von den Politologen Gary Marks und Liesbet Hooghe entwickelt. Einen Vorteil des Konzeptes sehen die Protagonisten darin, dass nicht die verfassungsrechtlichen Strukturen im Mittelpunkt stehen, also die Frage: Ist die EU ein Bundesstaat oder ein
Staatenbund?, sondern die Frage nach dem »Regieren« ins Zentrum gerückt wird. Jachtenfuchs und Kohler-Koch argumentieren,
dass in der EU wie in normalen politischen Systemen auch, tatsächlich »regiert« wird. Diese Perspektive und die Frage nach der
politischen Steuerung (engl., governance) setzt somit auf politische Prozesse und Entscheidungsmechanismen und die konkreten Ergebnisse (»Output«), also zum Beispiel EU-Richtlinien zur
Produktsicherheit von Kinderspielzeug und Toastern; im Mittelpunkt steht nicht die Frage der »Staatswerdung« der EU und die
Finalität des Integrationsprozesses (z. B.: »Vereinigten Staaten
von Europa«), sondern die Praxis des Regierens in der Europäischen Union.
Das »Hineinregieren« der EU macht nun auch vor der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten und dem Budgetrecht als dem »Königsrecht« der Parlamente nicht mehr Halt. Cerstin Gammelin,
die Brüssel-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, erklärt
das Zustandekommen dieser »revolutionären« Veränderungen in
EU - Mehrebenens ys tem im S tre s s te s t: Br au cht die EU einen »Legitimitätspak t«?
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AgendaSetting
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30.10.12 12:02
der EU so: »Nationaler Egoismus siegte noch stets über Gemeinschaftssinn. Verbindlich Reformen zu versprechen und dabei
womöglich Kompetenzen an die
Gemeinschaft abtreten zu müssen, war ein großes Tabu. Mittlerweile bringen die nationalen
Egos die Gemeinschaft in Gefahr« (SZ vom 4.10.2012, S. 4).
Erst die europäische Staatsschuldenkrise hat, so scheint
es, diese enge Verzahnung
und wechselseitige Abhängigkeit bewusst werden lassen. Die Krise setzt das politische System der EU und ihre
Mitgliedstaaten
einem
Stresstest aus.
Wie wird in der EU
regiert?
Drittländer, internationale Umwelt
europäische Öffentlichkeit
EU-Verbände etc.
EU-Bürgerinitiative
Europäische
Kommission
Forderungen
Europäischer
Rat
Verordnungen,
Richtlinien etc.
Rat der EU
Europäisches
Parlament
Europäischer
Gerichtshof
supranationale
Ebene
nationale
Ebene
Politisches System
Deutschlands
Politisches System
Italiens
Politisches System
…
In der Politikwissenschaft
subnationale
Länder
Regionen
…
bzw. in dem Teilgebiet der
Ebene
Politikfeldanalyse hat sich ein
Modell zur Beschreibung und
Analyse von politischen EntAbb. 2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem
© nach: Dadalos, www.dadalos-d.org/europa/grundkurs_2.htm
scheidungsprozessen etabliert – das Modell des »PolitikZyklus« oder »policy cycle«
politischen Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit auf ein
(vgl. zum Folgenden Blum/Schubert 2009: 101ff.). Dieses Konzept
konkretes »Problem« aufmerksam machen. Das ist in der Europädient als eine Art Faustregel (»Heuristik«), um komplexe und dyischen Union nicht anders: Auch hier werden immer wieder – häunamische politische Prozesse zu sezieren. Das Modell des Politikfig von der Europäischen Kommission, welche wiederum von
Zyklus teilt den – Monate oder gar Jahre dauernden – EntscheiLobby-Gruppen, »Think tanks« oder den Medien angetrieben –
dungsprozess in unterschiedliche Phasen auf; das Modell geht
konkrete Missstände als »Probleme« definiert. So wurde vor einivon einem idealtypischen Entscheidungsablauf aus und untergen Jahren von der EU-Kommission die »Fettleibigkeit« bei Kinscheidet folgende Phasen: 1.) Die Problemdefinition, 2.) das Agenda
dern als Problem beschrieben und entsprechende Maßnahmen
Setting, 3.) die Politikformulierung, 4.) die Implementierung, 5.) die Polivorgeschlagen. Eine davon war das Schulobstprogramm der EU,
tik-Evaluierung und schließlich 6.) die Politik-Terminierung.
das den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung von gesundem
Am Beginn eines politischen Entscheidungsprozesses steht in der
Essen vermitteln soll. Unmittelbar an die »Problemdefinition«
Regel die Beschreibung dessen, was überhaupt ein politisches,
schließt sich das Agenda Setting an, also der Moment, in dem ein
wirtschaftliches, gesellschaftliches »Problem« ist, welches dann
Thema auf die Tagesordnung der Politik gesetzt wird. Der Überim nächsten Schritt angegangen und gelöst werden soll – das war
gang vom Agenda Setting zur Phase der Politikformulierung ist
in der europäischen Staatsschuldenkrise nicht anders, als im Mai
wohl die größte Hürde: Es lässt sich immer wieder beobachten,
2010 die europäischen Staats- und Regierungschefs die ersten
dass über Jahre hinweg einzelne Politiker, Experten, Medien und
Maßnahmen zur »Rettung« Griechenlands beschlossen haben,
Öffentlichkeit über Probleme wie die hohe Staatsverschuldung
denen weitere Maßnahmen und eine harte, von der EU-«Troika«
diskutierten, ohne dass die verantwortlichen Politiker konkrete
bestimmte Austeritäts- und Sparpolitik mit tiefgreifenden EinGegenmaßnahmen unternehmen würden.
schnitten in den Sozialsystemen in Griechenland, Portugal und
Ist jedoch die Hürde genommen und erreicht ein Problem die
Spanien folgen sollten. Ein Problem wird also erst dann zu einem
Stufe der »Politikformulierung«, dann sind die Fachleute gefragt,
politisch relevanten Problem, wenn es dazu »gemacht« wird – von
weil es jetzt darum geht, die Problemdefinition und die sich in
den Medien, einzelnen Politikern oder durch konkrete Ereignisse
öffentlicher Debatte oder in Parlamentsausschüssen herausgewie die öffentliche Bekanntgabe der griechischen Regierung im
bildeten und von der Wissenschaft oder Interessenverbänden
Herbst 2009, dass das Land finanziell am Abgrund stehe. Im Zu(»Lobbyisten«) vorgeschlagenen Lösungen in einen Rechtstext zu
sammenhang mit der »Eurokrise« zeigte sich jedoch, dass die
übersetzen – also eine EU-Richtlinie, auf die sich das Europäische
»Problemdefinition« bis heute unterschiedlich ausfällt – wennParlament und der Ministerrat im Rahmen der formellen und
gleich in den vergangenen zwei Jahren eine Annäherung der Persinformellen Verfahren verständigen müssen. Die Europäische
pektiven zu beobachten war. Manche Beobachter und Politiker
Kommission ist in der Phase der Politikformulierung der entscheisehen in ihr vor allem eine Staatsschuldenkrise, die die Folge »undende Akteur, denn sie besitzt im Standard-Entscheidungsververantwortlicher Haushaltspolitik« in einzelnen Eurostaaten (z. B.
fahren der EU, dem »ordentlichen Gesetzgebungsverfahren«, laut
Griechenland) sei. Andere wie der US-amerikanische WirtEU-Vertrag als einziges Organ das sogenannte Initiativmonopol.
schaftsnobelpreisträger Paul Krugman sehen dagegen die UnterDies bedeutet, dass am Beginn des förmlichen Gesetzgebungskapitalisierung der Banken in Europa als das eigentliche Problem
verfahrens immer ein Vorschlag der Kommission steht. Dieses
an. Je nach dem wie die Diagnose ausfällt, wird die Therapie entPrivileg der Brüsseler Behörde verdeutlicht die starke Stellung der
sprechend eine andere sein. Nicht selten sind es unabhängige
Kommission als »Quasi-Regierung« der EU; dies ist in der parlaoder von politischer Seite in Auftrag gegebene Gutachten von Exmentarischen Praxis in Berlin nicht anders: Auch die im Deutperten, die – über Fachzeitschriften und Medien vermittelt – die
schen Bundestag verabschiedeten Gesetze entstammen in den
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Verordnung
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supranationale Ebene
Kommission
erlassen
Beratende u.
Verwaltungsausschüsse
3
1
Durchführungsbestimmungen
Kommission
Kontrolliert in
beiden Fällen
die Durchführung; ggf.
Anrufung des
EuGH
Das EU-Schulobstprogramm – ein Beispiel
für »Europäische
Mehrebenenpolitik«
Die europäischen Agrarminister beschlossen am 18. Dezember 2008 das Schulobstprogramm der EU. Die im
2
Amtsblatt der EU veröffentRegieRegionale
Nichtstaatliche
Parlamente
lichte entsprechende EG-Verrungen
Einheiten
Akteure
ordnung Nr. 13/2009 beschreibt Ziel und Zweck des
Programms so: »Es ist wünschenswert, den geringen ObstVertreten in; Stellungnahme
und Gemüseverzehr bei Kindern
Von nationalen Akteuren umzusetzen
in der Phase, in der ihre EssgeEinflussnahme
wohnheiten geprägt werden, anzugehen und den Obst- und GeAbb. 3 Implementation im EU-Mehrebenensystem
© nach: Dadalos, www.dadalos-d.org/europa/grundkurs_2.htm
müseanteil in der Ernährung der
Kinder nachhaltig zu erhöhen.«
Die Beteiligung der EU an
meisten Fällen ursprünglich aus der Feder bzw. kommen von den
diesem Programm – sie trägt in der Regel die Hälfte der Kosten –
Festplatten der mit der Materie vertrauten Beamten in den Minissoll, so die Verordnung weiter, an »junge Verbraucher« den »Geterien und werden dann von den Fraktionen der Regierungsparschmack an Obst und Gemüse« vermitteln und den »Verbrauch
teien förmlich eingebracht. Ein wichtiger Unterschied besteht jedieser Erzeugnisse« steigern. An dem Programm nahmen in
doch darin, dass einzelne Abgeordnete des Bundestages eigene
Deutschland sieben Länder teil; da im deutschen Föderalismus
Initiativen einbringen können, während dies den Abgeordneten
die Bildungspolitik zu den ureigenen Aufgaben der Länder geim Europäischen Parlament bislang nicht direkt möglich ist, sonhört, waren sie hier entsprechend gefordert. Baden-Württemberg
dern nur über den Umweg, dass sie die EU-Kommission um entbeteiligt sich an dem EU-Schulfruchtprogramm, ebenso Bayern,
sprechende Initiativen ersuchen. Dem exklusiven Initiativrecht
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsender EU-Kommission liegt die Überlegung der Gründerväter der
Anhalt und Thüringen. In Baden-Württemberg ergänzt das EUGemeinschaft zugrunde, mit der Kommission eine echte »supraProgramm die seit langem bestehende Ernährungsinitiative »Benationale« Behörde zu haben, die – im Idealfall und nach den
wusste Kinderernährung« (BeKi). Als ein Beispiel für Europäische
Buchstaben des EU-Vertrags – ihre Vorschläge gewissermaßen an
Mehrebenenpolitik kann dieses Programm deshalb dienen, weil
einem europäischen »Gemeinwohl« orientiert und nicht deuthier unterschiedliche politische Entscheidungsebenen (EU, Bund,
schen, französischen oder polnischen Interessen folgt.
Land und Kommunen) sowie unterschiedliche Institutionen und
Liegt ein Richtlinienentwurf vor, wird dieser zwischen Ministerrat
Akteure wie Schulen, Bildungseinrichtungen, Produzenten und
und Europäischem Parlament verhandelt. Solche Verhandlungen
Bauern und auch verschiedene Adressaten beteiligt sind, ehe tatkönnen manchmal Jahre dauern, ehe am Ende ein Kompromiss
sächlich Äpfel, Birnen oder andere Früchte in Schulen oder Kinsteht. In anderen Fällen kann es auch ganz schnell gehen. Dieser
dergärten an die Jugendlichen oder Kinder verteilt werden könProzess wird in der Regel von der Öffentlichkeit und den Medien
nen. Hier kooperieren – orientiert am gemeinsamen Ziel einer
kaum wahrgenommen – von spektakulären Ausnahmefällen ab»gesunden Ernährung« – ganz unterschiedliche Gruppen und Insgesehen, wie etwa der öffentlich breit diskutieren EU-Dienstleistitutionen. In Baden-Württemberg sind nach Informationen des
tungsrichtlinie oder auch der Abstimmung über das ACTA-AbkomRegierungspräsidiums Tübingen im Schuljahr 2011/12 bislang
men. In den allermeisten Fällen läuft die EU-Maschinerie
etwa 1.200 Bildungseinrichtungen, davon ca. 560 Schulen beteieinigermaßen geräuschlos und produziert Jahr für Jahr neue Geligt (Stand: September 2012).
setze, also »Richtlinien« und »Verordnungen« im EU-SprachgeEine weitere wichtige Etappe im Politik-Zyklus ist die »Evaluiebrauch, die dann europaweit gelten sollen. Die Tagesordnung des
rung«; hier geht es um die Frage, ob die vom Gesetzgeber bemonatlich tagenden Europäischen Parlaments und die Abstimschlossenen Maßnahmen, etwa das EU-Schulobstprogramm, tatmung über komplexe Gesetzestexte im Sekundentakt geben eisächlich zu konkreten und »messbaren« Veränderungen des
nen Eindruck von der Arbeitsweise der Europa-Abgeordneten.
Ernährungsverhaltens von Kindern und Jugendlichen geführt hat.
Ist eine EU-Richtlinie verabschiedet und im Amtsblatt der EuropäSolche Veränderungen sind häufig erst nach Jahren nachzuweiischen Union in allen 23 Amtssprachen veröffentlicht, ist der Polisen. Ist das Ergebnis der Evaluation, die in der Regel wieder von
tikzyklus noch nicht zu Ende. Denn jetzt setzt die Phase der Imder EU-Kommission in Zusammenarbeit mit nationalen Einrichplementierung, also die Umsetzung der EU-Vorhaben in ein
tungen, z. B. den Regierungspräsidien in den Ländern vorgenomnationales Gesetz, ein. Denn ein EU-Gesetz entfaltet erst dann
men werden, positiv, tritt die letzte Phase ein, die sogenannte
seine politische Steuerungsfunktion, wenn alle mitgliedstaatliPolitik-Terminierung, also die Beendigung des Programms. Nicht
chen Parlamente, also etwa der Bundestag in Berlin bzw. der
selten kommt es jedoch vor, dass politische Maßnahmen nur teilLandtag in Stuttgart, ein diesbezügliches Bundes- oder Landesweise, wenn überhaupt, die gewünschten Ergebnisse bringen,
gesetz verabschiedet haben. Diese »Amtshilfe«, die den nationasodass der Politik-Zyklus nach einer »Re-Evaluierung« von Neuem
len und Landesbehörden bei der Umsetzung von EU-Recht zubeginnt, weil das ursprüngliche Problem nicht oder nur teilweise
kommt, versinnbildlicht, weshalb die EU als »Mehrebenensystem«
beschrieben wird. Denn die EU selbst hat keinen eigenen Verwalnationale Ebene
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tungsunterbau, der die Umsetzung in allen 27 EU-Staaten sicherstellen könnte.
Implementation
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gelöst werden konnte oder aber weil das Problem heute in einem neuen Licht erscheint.
Prägend für die Politik in der Europäischen
Union ist neben dieser Form des »Mehrebenenregierens« und des damit einhergehenden »Politikstils« die Verschiedenheit der
Mitgliedstaaten, wenn man etwa die Größe,
die Wirtschaftskraft und die europapolitischen Ziele und Interessen miteinander vergleicht. Ein kleines Land wie Estland mit seinen 1,3 Mio. Einwohnern oder auch ein
Ministaat wie Luxemburg mit knapp 500.000
Einwohnern kann – rechtlich gesehen – genauso Entscheidungen in Brüssel blockieren
oder verzögern, wie dies einem der Großen,
also etwa Deutschland oder Frankreich mit
80 bzw. 60 Mio. Einwohnern, möglich ist.
Diese Form der politischen Gleichberechtigung war und ist das Erfolgsrezept der Europäischen Gemeinschaft. In der Brüsseler
Abb. 4 Der österreichische Bundeskanzler unterstützt die Europäische Bürgerinitiative von GLOBAL
Praxis versucht man soweit als möglich Blo2000 »Meine Stimme gegen Atomkraft«. Im Bild Bundeskanzler Werner Faymann (r.) mit GLOBAL
ckaden durch einzelne Staaten zu verhin2000-Geschäftsführer Klaus Kastenhofer (l.) im Bundeskanzleramt. © Andy Wenzel, BKA/HBP, flickr, 26.4.2012
dern; die europäischen Verhandlungsführer
loten deshalb lange im Vorfeld Kompromisslinien aus und bieten den Regierungen, die in dem einen Fall eine
gemeinsamen Bewältigung von Problemen, die einen Einzelstaat
Entscheidung blockieren, ein Tauschgeschäft oder einen »paüberfordern würden (z. B. Klimapolitik) werden kann. Es steht
ckage deal« an: Dieser Deal funktioniert nach dem Prinzip des
nun vermehrt die Frage auf der Agenda, wie die Europäische
»Do ut des« (lat., »ich gebe, damit du gibst«), indem über ganz unterUnion die »Bürgernähe« ihrer Politik verbessern und die (demoschiedliche Themen und Verhandlungsdossiers parallel abgekratische) Legitimation erhöhen könnte (vgl. Große Hüttmann
stimmt wird.
2013). Die effektive Problemlösung zielt ab – um eine von Fritz
Ein Instrument der Kompromissfindung ist das sogenannte
Scharpf (1999) gebrauchte Differenzierung zu verwenden – auf
»Beichtstuhlverfahren«. In diesem Verfahren werden die mitglieddie Output-Legitimation; nun geht es darum, die bislang schwach
staatlichen Regierungen einzeln von der EU-Ratspräsidentschaft
ausgeprägte Input-Legitimation durch die Mitwirkung und Kontbefragt, inwieweit sie einen Vorschlag gerade noch akzeptieren
rolle der nationalen Parlamente wie des Europäischen Parlaments
würden. Das Verfahren ist deshalb in der Regel erfolgreich, weil
im Sinne eines »Mehrebenenparlamentarismus« (Maurer 2002;
diese Gespräche vertraulich sind und die jeweilige Regierung ihre
Abels/Eppler 2011) zu stärken und Instrumente der unmittelbaren
»roten Linien« nur dem Ratspräsidenten »beichtet«, also welche
Beteiligung von Bürgern und Interessengruppen an EU-GesetzesKompromisse aus ihrer Sicht noch tragfähig sind – die Presse, die
vorhaben zu nutzen (z. B. Online-Konsultationen).
Öffentlichkeit und die Opposition im eigenen Land erfährt von
Der Vertrag von Lissabon hat hier eine Reihe von Neuerungen gediesen Gesprächen und »Geständnissen« im Beichtstuhl meist
bracht: Zum einen hat er mit dem sogenannten Frühwarnmechanichts. Solche Formen der Konsenssuche kommen bei besonders
nismus ein Instrument geschaffen, mit dem die Parlamente in den
wichtigen Entscheidungen zum Einsatz, etwa wenn im Kreis der
27 EU-Staaten die Kommission unmittelbar kontrollieren können,
europäischen Staats- und Regierungschefs darüber abgestimmt
indem sie zu Beginn des »Politik-Zyklus«, wenn Brüssel erste Entwird, ob ein neuer Staat (z. B. Türkei, Kroatien) in die EU aufgewürfe vorlegt, eine »Frühwarnung« aussprechen. Voraussatzung
nommen werden soll oder wenn eine Veränderung der EU-Verdafür ist, dass Parlamente aus verschiedenen EU-Staaten der Meiträge die entsprechende einstimmige Bestätigung erforderlich
nung sind, dass Vorschläge der Kommission das Subsidiaritätsmacht.
prinzip verletzen, also der Nachweis fehlt, dass die EU die ansteAnders sieht es jedoch bei ‚normalen’ Abstimmungen in Brüssel
henden Probleme tatsächlich besser lösen kann als die
aus, zum Beispiel im Ministerrat. Hier wird regelmäßig mit sogeMitgliedstaaten. In einem solchen Fall können Kommissionsinitinannter qualifizierter Mehrheit abgestimmt, es also gibt Gewinativen gestoppt werden (vgl. Große Hüttmann 2011; Kaczynski
ner und Verlierer am Ende. Auch große Staaten wie Deutschland,
2011).
Frankreich und Großbritannien müssen sich – wenn sie keine Koalition organisieren konnten – den Beschlüssen des Ministerrates
Neue Instrumente der Demokratisierung:
unterwerfen und im Einzelfall Maßnahmen und Entscheidungen
Die Europäische Bürgerinitiative
umsetzen, die sie im Vorfeld zu verhindern suchten. Der seit dem
Jahr 2011 diskutierte Vorschlag der EU-Kommissarin Reding, die
Ein neues Instrument, das den Bürgerinnen und Bürgern in der EU
Quote der weiblichen Aufsichtsratsmitglieder in Unternehmen
eine Handhabe gibt, um die Agenda der Kommission zu beeinauf 40 Prozent zu erhöhen, ist ein solcher Fall. Hier suchen einflussen, ist die Europäische Bürgerinitiative. Am 9. Mai 2012, dem
zelne Staaten unter Federführung der britischen Regierung VerEuropatag, wurde die erste Europäische Bürgerinitiative auf den
bündete im Kreis der 27 EU-Staaten, um eine entsprechende
Weg gebracht. Dieser Termin war bewusst gewählt worden von
Richtlinie zu verhindern, weil sie zum Teil solche Quoten bereits
den Initiatoren. Die Initiative trägt den programmatischen Titel
eingeführt haben oder angesichts der unterschiedlichen Aus»Fraternité 2020: Mobility. Progress. Europe« und wurde von Bürgangsbedingungen europaweit einheitliche Vorschriften grundgern aus sieben EU-Staaten angestoßen. Das Ziel dieser Initiative
sätzlich ablehnen (vgl. Financial Times vom 17.9.2012, S. 11).
ist die Förderung von Austauschprogrammen der Europäischen
Weil nun die Europäische Union immer stärker in die Alltagswelt
Union; dazu gehören etwa das Programm »Erasmus« oder der
der Bürgerinnen und Bürger hineinwirkt – man denke an das
»Europäische Freiwilligendienst«. Der Vizepräsident der EU-Kom»Glühbirnen-Verbot« der EU – hat sich seit den 1990er-Jahren die
mission, Maros Sefcovic, nannte die Initiative einen »wichtigen
europapolitische Reformdebatte verändert. Es geht nicht mehr
Schritt hin zu mehr Bürgerbeteiligung in Europa«. Ehe eine solche
primär um die Frage, wie die EU effizienter und effektiver bei der
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Initiative jedoch etwas bewirken kann, müssen eine Million Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten
der EU gesammelt werden; das sind bei aktuell 27 EU-Staaten also
sieben Länder. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) steht in einer Reihe von verschiedenen Anläufen, das sogenannte Demokratiedefizit der Europäischen Union abzubauen und die Europapolitik »bürgernah« zu gestalten (vgl. u. a. Abels/Eppler/Träsch 2010).
Schon in den 1970er-Jahren waren im »Tindemans-Bericht« verschiedene Vorschläge formuliert worden, wie ein »Europa der Bürger« aussehen könnte. Die Entstehungsgeschichte der EBI geht
zurück auf das Jahr 2000 und die auf dem EU-Gipfel in Nizza beschlossene »Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union«, die
die Stichworte für die Verfassungsdebatte lieferte (vgl. zum Folgenden Hrbek 2012). Ehe die erste EBI im Mai 2012 auf den Weg
gebracht werden konnte, vergingen also noch einige Jahre. Über
die konkrete Ausgestaltung wurde kontrovers diskutiert. Vor allem über die Frage, welche nationalen Quoren erreicht werden
müssen, ehe eine Initiative gestartet werden kann, wurde sehr
lange verhandelt. Erst im Februar 2011 gab es einen Beschluss und
eine Verordnung, die die Einzelheiten der EBI regelt, etwa die
Frage, wie viele Unterschriften pro Land gesammelt werden müssen. Es musste sichergestellt sein, dass auch kleine Staaten wie
Luxemburg oder Malta entsprechend berücksichtigt werden;
man verständigte sich schließlich auf eine Verteilung, die dem
»Prinzip der degressiven Proportionalität« folgt, das heißt, die
kleineren Staaten werden gegenüber den großen bevorteilt. Dieses Prinzip wird auch bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament angewandt. Für den Fall der Europäischen Bürgerinitiative
heißt dies, dass im bevölkerungsreichsten EU-Land Deutschland
mit seinen 81,8 Mio. Einwohnern mindestens 74.250 Unterschriften gesammelt werden müssen, wenn die Bundesrepublik eines
von sieben Initiativträgern ist; im kleinen Malta mit seinen
415.000 Einwohnern genügen 4.500 Bürgerinnen und Bürger, die
eine entsprechende Initiative unterstützen. Die konkrete Zahl an
Unterschriften, die pro beteiligtem Land gesammelt werden
müssen, ergibt sich aus der Zahl der Mandate eines EU-Staates im
Europaparlament (z. B. Deutschland: 99 und Malta: 6), welche mit
der Gesamtzahl der Abgeordneten im EP, das sind 750 ohne den
EP-Präsidenten, multipliziert wird (vgl. Europäische Kommission
2011: 21; Hrbek 2012: 41). Ehe Unterschriften gesammelt werden
können (online und auf Papier) muss ein sogenannter Bürgerausschuss gegründet werden, der die Federführung und Verantwortung für die Initiative übernimmt und als Ansprechpartner für die
EU-Kommission dient. Diesem Bürgerausschuss müssen mindestens sieben Bürgerinnen und Bürger, die die Staatsangehörigkeit
eines EU-Staates besitzen, angehören und zudem müssen sich
Bürger aus mindestens sieben EU-Staaten zusammentun.
Bislang liegen zehn Initiativen vor, die bei der EU-Kommission registriert worden sind (Stand: Ende August 2012). Über die Praxis
und Tauglichkeit dieses neuen Instruments lässt sich also zum
jetzigen Zeitpunkt wenig sagen. Die EU-Kommission ist jedoch
redlich bemüht, dieses Initiativrecht bekannt zu machen und hat
dafür eine informative Website (http://ec.europa.eu/citizens-initiative)
eingerichtet und einen ausführlichen Leitfaden vorgelegt, der alle
Fragen verständlich zu beantworten sucht (Europäische Kommission 2011). Dieses Instrument wird sicherlich nicht die Lösung des
europäischen »Demokratieproblems« bringen. Aber es ist ein Instrument des Agenda setting, mit dem die Bürgerinnen und Bürger
zum ersten Mal direkt die »Tagesordnung« der EU mitbestimmen
können. Ein anderer Effekt, der langfristig die Bürger zusammenbringen könnte, ist der Umstand, dass die Europäische Bürgerinitiative (EBI) einen »transnationalen Kommunikationsprozess«
(Hrbek 2012: 45) ermöglicht.
Wenn es um Fragen der deutschen und europäischen Demokratie
geht, dann spielt in Deutschland – im europäischen Vergleich ursprünglich eine Besonderheit, die nun aber Schule macht – das
Bundesverfassungsgericht eine wichtige Rolle. Im Zuge der EuroRettungspolitik musste sich das Karlsruher Gericht mehrfach mit
Klagen auseinandersetzen. Das Bundesverfassungsgericht wurde
somit zu einem inoffiziellen, aber mächtigen Mitspieler im EUMehrebenensystem.
Das Bundesverfassungsgericht und die
Demokratiefrage
Am 12.9.2012 entschied das Bundesverfassungsgericht erneut
über zentrale Beschlüsse der deutschen Europapolitik und den
Zusammenhang von supranationaler Integration und (nationaler)
Demokratie. Der konkrete Anlass bei diesem Urteil war der Europäische Fiskalpakt und der dauerhafte Euro-Rettungsschirm ESM
und die Klagen verschiedener Personen und Einrichtungen. Zu
den prominentesten Klägern gehörte – zum wiederholten Mal –
der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler. Der Verein
»Mehr Demokratie e. V.« hatte sogar 37.000 Unterstützer gesammelt, die sich der Klage des Vereins angeschlossen haben. Nach
Meinung der Kläger haben die jüngsten Euro-Rettungsinstrumente, der EU-Fiskalpakt und der dauerhafte Rettungsschirm
ESM, welche jeweils mit Dreiviertelmehrheit von Bundestag und
Bundesrat im Juni 2012 beschlossen worden sind, die Grenzen des
Grundgesetzes überschritten (vgl. Calliess 2012). Das MaastrichtUrteil von 1993 setzte bereits die Maßstäbe für die späteren Urteile des Bundesverfassungsgerichts; damals stand die Frage
nach der demokratischen Legitimation und die Frage, was nationale Souveränität und Staatlichkeit angesichts der weit fortgeschrittenen europäischen Integration noch bedeuten können, im
Mittelpunkt. Immer wenn die zuständigen deutschen Verfassungsorgane, also Bundesregierung sowie Bundestag und Bundesrat, Änderungen der bestehenden EU-Verträge beschlossen
haben, gibt dies Klägern die Gelegenheit, diese von anderen Verfassungsorganen mit großen Mehrheiten beschlossenen Integrationsschritte vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und den in der Verfassung mit der
sogenannten »Ewigkeitsgarantie« (Art. 79 III GG) verankerten
Prinzipien, etwa der Demokratie, überprüfen zu lassen. Das
Karlsruher Gericht hat sich bislang weit reichenden Integrationsschritten nicht entgegengestellt, aber es hat Vorbehalte formuliert, die von den Europapolitikern (in Deutschland und
europaweit) als politische Warnschüsse verstanden werden konnten. Alle bisher ergangenen Urteile lassen sich auf die Formel eines »Ja, aber …« bringen oder, wie Reinhard Müller in der F. A. Z.
vom 11.9.2012 geschrieben hat, so zusammenfassen: »Grundgesetz
und Verfassungsgericht sind europafreundlich – im Prinzip«. Die vom
Gericht in Karlsruhe jüngst gesteckten Grenzen in Bezug auf eine
Haftungsobergrenze von 190 Mrd. Euro, für die die Bundesrepublik Deutschland einstehen muss, waren schon im Lissabon-Urteil
von 2009 herausgearbeitet worden. In den Worten des F. A. Z.-Redakteurs lässt sich das damalige Karlsruher Urteil so zusammenfassen: »Die bisherige europäische Einigung auf der Grundlage von Verträgen zwischen souveränen Staaten darf (…) nicht so verwirklicht
werden, dass den Mitgliedstaaten der Spielraum für politische Gestaltung
genommen wird. Über Krieg und Frieden, über Strafrecht und Polizei, über
Einnahmen und Ausgaben, über Bildung, Medien und Religion muss im
Wesentlichen weiterhin in Deutschland entschieden werden.« Die in den
sechs Jahrzehnten erreichte Integration und Verflechtung zwischen den EU-Staaten und die damit einhergehende »Verschmelzung« von Handlungsinstrumenten und Ressourcen lässt jedoch
erahnen, dass die in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts
durchscheinenden traditionellen Konzepte von »Souveränität«
und nationalstaatlicher »Autonomie« in Zeiten von Globalisierung
und Europäisierung fragwürdig geworden sind (vgl. Beck/Grande
2004; vgl. allgemein dazu auch Nettesheim 2012).
Wenn ein Staat viele Aufgaben jedoch einerseits nicht (mehr) alleine bewältigen und die Europäische Union andererseits nur in
begrenztem Maße die verloren gegangene Steuerungsfähigkeit
auffangen kann, stellt sich die Europäische Legitimitätsfrage neu.
Auf dieses Dilemma und Problem hat der Politikwissenschaftler
Fritz W. Scharpf schon vor vielen Jahren hingewiesen (Scharpf
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1999). In der Politik- und Rechtswissenschaft
ist freilich umstritten, ob und inwiefern die
Mitgliedstaaten in der EU durch die Integration ihre Autonomie stärken konnten oder
diese verloren haben. Dies wird sich generell
auch nicht feststellen lassen – dies ist von
Staat zu Staat ganz unterschiedlich zu bewerten und hängt auch vom jeweiligen Politikfeld ab. In der Klimapolitik ist ein »autonomes« Handeln mehr oder weniger sinnlos,
weil auch ein großes Land wie Deutschland
das globale Klima nicht »retten« kann, sondern eine globale Antwort gefunden werden
muss. In der Sozial- und Bildungspolitik gibt
es – trotz aller »Europäisierung« – nach wie
vor national unterschiedliche Wege und historisch verwurzelte Systeme. Trotzdem spielt
die Frage, wann kann die EU ein Problem
»besser« lösen als die Einzelstaaten und die
Überlegungen, wie ein kollektives Vorgehen
legitimiert und begründet werden kann, eine
wichtige Rolle.
Abb. 5 »Aber bitte, wie oft müssen wir noch darauf hinweisen …«
Ein »Legitimitätspakt« für die EU?
Der ehemalige EU-Kommissar und jetzige Generaldirektor der
WTO, Pascal Lamy, schlägt für die Europäische Union einen »Legitimitätspakt« vor (Lamy 2012). Seiner Ansicht nach genügt es
nicht, nur einen Fiskalpakt für die EU zu verabschieden, um die
politischen Konstruktionsfehler der in Maastricht 1992 verabschiedeten Wirtschafts- und Währungsunion zu beheben. Er sieht
neben der Finanzkrise vor allem eine Legitimitätskrise der EU. Der
Begriff der Legitimität verweist auf die »Anerkennungswürdigkeit« (Habermas) einer politischen Ordnung; wird also Legitimität
einem Staat oder einem politischen System bzw. seinen Repräsentanten abgesprochen oder in Zweifel gezogen, gerät die Basis
der Politik ins Wanken. Pascal Lamy bietet in einem Beitrag in der
»International Herald Tribune« konkrete Vorschläge für einen
»Legitimitätspakt«: Seiner Meinung nach ist ein solcher Pakt eine
notwendige Bedingung für eine Politische Union; der Begriff
steht in der europapolitischen Debatte für eine umfassende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union. Ähnlich argumentieren z. B. auch die Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt mit ihrem
Manifest »Für Europa!«, das sie Ende September 2012 vorgelegt
haben. Sie begründen eine verstärkte Zusammenarbeit im EURahmen mit den schwindenden Steuerungskapazitäten der einzelnen Staaten: »Es ist ein unerträgliches Paradox, dass die politische
Entscheidungsfindung in dieser Welt noch immer auf nationalen Staaten
beruht, während weder der Weltmarkt noch die Finanzwelt Staatsgrenzen
respektieren.« Dieses Paradox lasse sich nur auflösen, wenn auch
die politische Entscheidungsfindung internationalisiert werde
(Cohn-Bendit/Verhofstadt 2012: 16).
Im Kern geht es in der aktuellen Reformdebatte also um eine
neue Form der Zuordnung von Kompetenzen im EU-Mehrebenensystem und – damit einhergehend – um ein neues, stärker demokratisch legitimiertes System der Gewaltenteilung bzw. Gewaltenverschränkung zwischen den unterschiedlichen Ebenen, die
wie bei einer russischen Puppe ineinander verschachtelt sind (EUEbene, Ebene der Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen).
Pascal Lamy nennt vier Pfeiler, auf denen eine Politische Union
stehen müsse: (1) die sogenannte Gemeinschaftsmethode; (2)
eine zentrale Rolle für die Europäische Kommission; (3) effektive,
aber begrenzte Kompetenzen auf EU-Ebene und (4) demokratische Legitimität.
In den Fällen, in denen sich nicht alle EU-Staaten auf entsprechende Reformen verständigen können, schlägt er das Instrument der »Verstärkten Zusammenarbeit« vor; diese Methode, die
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© Gerhard Mester, 2012
im EU-Vertrag bereits verankert ist, ermöglicht es den Staaten in
einer Art »Koalition der Willigen« voranzugehen und die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu vertiefen.
Ein Manko der bisherigen Krisenpolitik ist laut Lamy, dass sich
bislang keine gemeinsame »Sprache« oder »Erzählung« (Narrativ)
herausgeschält habe: »Europa also needs a new headline«,
schreibt er. Lamy fragt: Was sind die gemeinsamen Gewinne und
der Wert der europäischen Zusammenarbeit? Als Antwort verweist er auf folgende Punkte: »The preservation of peace; a model of
environmental protection; a broader economic market; a voice in world
affairs; a unique social welfare system: This is the European DNA, the
raison d’etre of the European common house« (Lamy 2012). Die im Juni
2014 stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament und
der Wahlkampf wären, so Lamy, der geeignete Ort und eine passende Gelegenheit, über diese Streitfragen in einer wirklich
grenzüberschreitenden Debatte zu diskutieren – und zwar mit
echten europäischen Spitzenkandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten, die nicht nur in einem Land, sondern in
möglichst allen EU-Staaten auftreten und für ihre Ideen werben
würden. Sollte ein solcher Schritt in Richtung einer Politischen
Union Wirklichkeit werden, könnte aus den Europawahlen – so
die Hoffnung der Vertreter solcher Vorschläge – tatsächlich eine
Abstimmung über die gemeinsame europäische Zukunft werden.
Dies könnte auch eine neue Form der europäischen Öffentlichkeit
schaffen, wie der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit meint:
»Wir müssen eine neue Art von Dialog zwischen den Politikern mit einer
Vision und den Bürgern schaffen, die darüber debattieren. Nur das erlaubt
uns, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Momentan scheint es
nur darum zu gehen, was Angela Merkel und François Hollande denken«
(Cohn-Bendit/Verhofstadt 2012: 139). Wenn die politischen Parteien im Europawahlkampf 2012 tatsächlich mit echten Spitzenkandidaten antreten, wird das an die Personen freilich ganz neue
Herausforderungen stellen – gesucht werden Stimmenfänger und
»polyglotte Super-Europäer«, so die F. A. Z. vom 17.9.2012, die sich
nicht nur in der Muttersprache, sondern in mehreren europäischen Sprachen an ein wirklich »europäisches« Wahlvolk richten
und für ihre Ideen zur Lösung der Staatsschuldenkrise werben
würden. Diese »Öffnung« und »Europäisierung« der nationalen
Öffentlichkeiten könnte den nationalen Zungenschlag und die
aufkeimenden Ressentiments in den Debatten in Deutschland,
Griechenland, Italien, Finnland, Österreich und anderswo entschärfen und manche nur im nationalen Diskurs plausiblen Vorschläge für Reformen des EU-Mehrebenensystems einem europaweiten Akzeptanztest aussetzen.
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EU - Mehrebenens ys tem im S tre s s te s t: Br au cht die EU einen »Legitimitätspak t«?
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MARTIN GROSSE HÜTTMANN
Literaturhinweise
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Struktur und Wandel von Vertragsänderungen in der Europäischen Union,
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MATERIALIEN
M 1 Reinhard Müller: »Europa – in guter Verfassung«
Folge der europäischen Entwicklung kann also durchaus eine
stärkere Zentralisierung, kann »mehr Europa« sein. Auch im deutschen Bundesstaat hat die Zentrale immer mehr Macht an sich
gezogen. Aber der Vergleich hinkt: Deutschland ist ein homogenes Land mit einer hohen, demokratisch begründeten Akzeptanz
für diese Harmonisierung. Daran fehlt es in der EU. Nun könnte
man sagen: Wir zentralisieren und sichern anschließend die Akzeptanz. Aber das wollen selbst integrationsfreundliche Staatsund Regierungschefs nicht. Die Bürger sollen entscheiden. (…)
Mögen auch europäische Wahlen und (Volks-)Abstimmungen
über Europa von nationalen Themen dominiert sein; mag es auch
eine europäische Öffentlichkeit nicht geben – es gibt ein weit verbreitetes Gefühl für Überregulierung, Anmaßung, mangelnde
Subsidiarität und Fremdherrschaft, auch wenn viele Bürger diese
Begriffe nicht gebrauchen. (…). Es ist ein Fortschritt, wenn sich
eine Gemeinschaft auf ihre Wurzeln besinnt, also auf den Bürgerwillen. Allerdings wäre es falsch, an die EU dieselben Anforderungen zu stellen wie an nationale Regierungen und Parlamente.
Transnationale Demokratie kann nicht nach denselben Regeln
funktionieren wie ein Schweizer Kanton. Es leidet entweder die
demokratische Legitimation oder die Funktionsfähigkeit. (…)
Brauchen wir (…) eine Politische Union? Im Grunde haben wir sie
längst, trotz großer Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.
Die Antworten auf die Finanzkrise haben gezeigt: Europa ist nicht
in schlechter Verfassung. Aber es kann sich nur organisch weiterentwickeln.
Reinhard Müller, Europa in guter Verfassung, in: FAZ. vom 5.10.2012, S. 1.
Habermas, Jürgen (2012): Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin.
Hrbek, Rudolf (2012): Die Europäische Bürgerinitiative: Möglichkeiten und
Grenzen eines neuen Elements im EU-Entscheidungssystems, in: integration, 35. Jg., Heft 1, S. 35–50.
Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (2003): Regieren und Institutionenbildung, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 2. Aufl., Opladen,
S. 11–46.
Kaczynski, Piotr Maciej (2011): Paper tigers or sleeping beauties? National
Parliaments in the post-Lisbon European Political System, CEPS Special Report, Februar 2011, Brüssel.
Knelangen, Wilhelm (2012): Die EU und der Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jg., H. 4, S. 32–40.
Knodt, Michèle/Große Hüttmann, Martin (2012): Der Multi-Level Governance-Ansatz, in: Hans-Jürgen Bieling und Marika Lerch (Hrsg.), Theorien
der europäischen Integration, 3. Aufl., Wiesbaden (im Erscheinen).
Lamy, Pascal (2012): Europe needs a legitimacy compact, in: International
Herald Tribune, 9.7.2012, S. 6.
Maurer, Andreas (2002): Parlamentarische Demokratie in der Europäischen
Union., Baden-Baden.
Möller, Almut (2012): Das Ende der Union, wie wir sie kennen … und der Anfang einer neuen: Die Debatte ist eröffnet, in: Internationale Politik, Ausgabe September/Oktober 2012, S. 52–57.
M 2 José Manuel Barroso: »Ich will keinen Superstaat
Europa«
FAS: Sie haben (…) eine Föderation von Nationalstaaten als Ziel einer
politischen Union gefordert. Was meinen Sie damit?
Barroso: Es gibt verschiedene Modelle für Föderationen, das
deutsche, das amerikanische, das schweizerische. Wir haben
heute schon föderale Elemente in der EU. Die Grundidee des Föderalismus ist demokratisch: gegen Zentralismus. Ich will keinen
Superstaat Europa.
FAS: Warum betonen Sie das Nationale?
Barroso: Es ist kein Vorschlag gegen unsere Staaten, gegen unsere Nationen. Föderation reimt sich auf Nation, in fast allen europäischen Sprachen ist das so. Wir dürfen die Nation nicht den
Nationalisten überlassen.
FAS: In einer Föderation werden die Nationalstaaten aber noch mehr
Souveränität abgeben müssen.
Barroso: Das Wort abgeben mag ich nicht. Abgeben heißt verlieren. Was ich meine, ist teilen. Wenn ich Ihnen eine Information
gebe, verliere ich sie nicht. Ich vervielfältige sie. Haben die EUStaaten Macht verloren? Nein, sie haben sie behalten, aber auf
einer anderen Ebene. Mehr geteilte Souveränität bedeutet mehr
Macht für alle.
José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission: Ich will keinen Superstaat
Europa, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 16.9.2012, S. 3
Nettesheim, Martin (2012): Bundesverfassungsgericht und Staatsschuldenkrise: Parlamentarisierung und Repolitisierung der »Eurorettung«, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2012, Baden-Baden, S. 259–279.
Scharpf, Fritz W.(1999): Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?,
Frankfurt/New York.
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M 3 Pascal Lamy: »Europe needs a
legitimacy compact«
Whenever I travel around the globe these
days I am asked how is it that Greece, a tiny
economy, can have such a huge impact on
Europe as a hole? It is the lack of public confidence in the European project itself that is
the problem. Citizens and markets have suddenly discovered that Europe can move backward, that integration can turn into disintegration and that the European edifice is not
as strong as we thought.
How did this happen? Economic and political
integration in Europe are built on a fine balance of three elements: discipline, solidarity
and legitimacy. Economic integration presupposes common disciplines to regulate
economic activity and create trust. But because it increases competitiveness, it also
requires solidarity. Discipline and solidarity
can only be held together in a legitimacy
M 5 »Das Gespenst des Nationalismus geht um in Europa …«
© Gerhard Mester, 2012
space; that is, if citizens share a feeling of belonging. Political integration is about defining effective common institutions capable of
und Regierungschefs führt. Ich halte es für vernünftig, darüber
creating this feeling.
nachzudenken. Der Präsident der Europäischen Kommission, der
In its 60 years of integration, accident or will have repeatedly
eine Art Regierungschef von Europa werden wird, sollte durch das
moved the European edifice out of balance, each time requiring a
Europäische Parlament gewählt werden. Dann wissen die Bürger
new equilibrium between these three elements. The euro crisis
auch, wohin ihre Stimme geht: Möchte ich einen linken Kommisshows that Europe’s institutions of political integration do not
sionspräsidenten, dann wähle ich eine linke Partei. Möchte ich
correspond to the economic integration that has been built. This
einen rechten, dann wähle ich eine rechte Partei. Aber ich weiß,
imbalance is not sustainable, and new forms of discipline, solidarwas mit meiner Stimme geschieht.
ity and legitimacy have to emerge.
The euro crisis is actually three crises: one economic, one instituInterview mit Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, mit der Zeitschrift
tional and one of legitimacy. The economic component is the
»Cicero«, Heft 6/2012, S. 69.
symptom – a dangerous combination of a lack of competitiveness, fiscal problems and shaky banks. The institutional component reflects the original sins in the design of the Monetary
M 6 Petra Bendel: »Die Krise der EU als politischer Dreisatz«
Union – Europe’s insufficient central powers in supervision, resolution and risk-sharing that subsequent constitutional reforms
Die aktuelle Krise der Europäischen Union ist nicht nur eine Krise
have failed to address. Lastly, the euro is also plagued by a legitider Wirtschaft und der Finanzen. Sie ist zu einer unerträglichen
macy crisis in which support for the common currency – and,
sozialen Krise ausgeartet, trifft sie doch mit ihrer brutalen Sparmore broadly, for the European project – is in decline.
politik jene Bürger, die für ihren Ausbruch wahrlich am wenigsten
Pascal Lamy: »Europe needs a legitimacy compact«, in: International Herald Tribune vom
können. Die Euro-Mitgliedstaaten kürzen ihre Apparate zusam9.7.2012, S. 6 (Lamy ist Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO; er war davor
men, entlassen Staatsdiener, streichen UnterstützungsleistunMitglied der EU-Kommission).
gen, erhöhen Steuern und kürzen Renten. Damit ist jene Funktion
in Frage gestellt, die für die meisten Europäer in dem Auftrag unserer Staaten besteht, eine einigermaßen gerechte EinkommensM 4 Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments:
verteilung, einen annähernd adäquaten Lebensstandard und
»Keine parlamentsfreien Zonen!«
staatsbürgerliche Teilhaberechte für möglichst große Teile der
Bevölkerung zu garantieren. (…). Nicht von ungefähr frustrieren
Cicero: Bei den großen Entscheidungen zur Eurorettung spielt das Euround beängstigen diese Einschränkungen wohlfahrtsstaatlicher
paparlament (…) bislang kaum eine Rolle. Sie wollen das ändern – aber
Funktionen große Teile der europäischen Bevölkerungen, besonwie?
ders die gut ausgebildeten, jungen Menschen. Sie lassen die euSchulz: Indem ich unablässig auf den schwer erträglichen Zuropäischen und nationalen Institutionen und deren politische
stand hinweisen werde, dass wir es in der Finanzkrise de facto mit
Entscheidungen ineffizient, vor allem aber weniger vertrauensparlamentsfreien Zonen zu tun haben; indem ich nicht aufhören
und glaubwürdig erscheinen. Die Währungsunion, womöglich
werde, für das Europaparlament das Königsrecht aller Parlaaber sogar die gesamte EU mit ihren Institutionen werde, so heißt
mente anzumahnen: die Mitsprache beim Haushalt.
es in Kommentaren, als »Chimäre«, ja, als »Betrug« wahrgenomCicero: 2014 wird ein neues Europaparlament gewählt. Wird die EU
men. (…) So geht mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise
dann endlich mehr Demokratie wagen, zum Beispiel mit einer Direktwahl
auch und gerade eine politische Krise einher.
des Kommissionspräsidenten?
Petra Bendel: Die Krise der EU als politischer Dreisatz, in: Euractiv.de vom 26.7.2012,
Schulz: Wir bräuchten für die nächsten Europawahlen mehr Klarwww.euractiv.de
heit und mehr Durchschaubarkeit. Es liegt ja ein Vorschlag auf
dem Tisch, die aktuelle Position von Herrn Van Rompuy und von
Herrn Barroso, also Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates zusammenzulegen. Das würde bedeuten, dass
der Präsident der Kommission auch den Vorsitz bei den Staats-
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M 7 EU-Kommissar Günther Oettinger
über seine Vision von Europa
ZEIT: (…) Wie stellen Sie sich die EU 2020 vor?
Oettinger: Der Kommission muss zu einer
echten Regierung weiter entwickelt werden,
das Europäische Parlament muss gestärkt
und der Europäische Rat eine vollwertige
Zweite Kammer werden. Für einige große
Fragen braucht die EU vollständige Kompetenzen. Das gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik und für die Infrastruktur. Die
Währungsunion muss durch eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ergänzt werden. Umgekehrt brauchen
wir eine Art Negativkatalog, in dem festgelegt wird, bei welchen Themen die EU die Mitgliedstaaten in Ruhe lässt. (…)
ZEIT: Viele Bürger empfinden die Politik, die in
Brüssel gemacht wird, als abgehoben. Verstehen
Sie die Vorbehalte gegen »die da in Brüssel«?
Oettinger: Ich glaube, das ist etwas ganz
Normales. Wenn Sie in Oberschwaben die
M 8 Quo vadis EU? Übergabe des Abschlussberichts der »EU-Reflexionsgruppe Horizont 2020–2030«
Menschen nach »denen da oben« fragen,
an Herman van Rompuy, Präsident des Europäischen Rats. Von links: OB von Stuttgart Dr. Wolfgang
dann ist für die Stuttgart oder Berlin genauso
Schuster, Herman van Rompuy, Felipe González Márquez (Vorsitzender der Reflexionsgruppe und eheweit weg wie Brüssel. (…)
maliger spanischer Ministerpräsident) sowie Rainer Münz, Bevölkerungswissenschaftler aus Wien.
ZEIT: Wissen die Bürger zu wenig über die EU?
Bericht: www.stuttgart.de/img/mdb/item/399160/55217.pdf
© Stadt Stuttgart, 2010
Oettinger: Die Krise hat viele Nachteile, aber
sie bringt einen Vorteil mit sich: Die Strukturen Europas werden bekannter. Das müssen
M 9 Albert Funk: »Europa ist schon längst ein Bundesstaat«
wir fortsetzen. Außerdem glaube ich, dass die deutsche Politik in
Brüssel mehr Präsenz zeigen müsste.
Was aber ist die Europäische Union? Ein Staatenbund? Ein StaaZEIT: An wen denken Sie?
tenverbund? Ein Bundesstaat? Einfach nur ein Bund? Oder etwas
Oettinger: Vor allem an die Regierungsmitglieder, wobei ich Anganz Eigenes, noch nie Dagewesenes, das man gar nicht auf den
gela Merkel und Wolfgang Schäuble ausdrücklich ausnehme. Ich
Begriff bringen kann? All das ist zu hören, die Meinungen gehen
würde mir wünschen, dass die deutschen Minister mehr Arbeitsauseinander. (…) Was also ist die Europäische Union? Am eintage in Brüssel verbringen würden. Auch die deutschen Zeitungen
fachsten ist es wohl, von der Wirklichkeit auszugehen. Und die ist
täten gut daran, ihre Berichterstattung aus Brüssel zu verstärken.
bundesstaatlich. Die Europäische Union funktioniert bundes(…)
staatlich, sie ist wie ein Bundesstaat eingerichtet. Die EuropäiZEIT: Als Ministerpräsident sind Sie gewählt worden, als EU-Kommissar
sche Union ist ein Bundesstaat. Wäre diese einfache Erkenntnis
wurden Sie ernannt. Fühlen Sie sich ausreichend demokratisch legitimiert?
verbreitet und akzeptiert, gäbe es weniger Unsicherheit. (…)
Oettinger: Ein Kommissar ist mit einem Bundesminister verDie EU habe kein Staatsvolk, heißt es. Wirklich? Einheitlich mag es
gleichbar. Bundesminister werden von der Bundeskanzlerin ausja nicht sein. Aber wer sitzt seit Beginn der Euro-Krise allabendgewählt sowie vorgeschlagen und dann vom Bundespräsidenten
lich vor den Fernsehern und schaut sich die Nachrichten an, um zu
ernannt. Trotzdem zweifelt niemand ihre demokratische Legitiwissen, was in Europa vor sich geht? Europäer, die mittlerweile
mität an. Als Kandidat für die EU-Kommission bin ich von einer
allesamt erkannt haben, dass in der EU auf zwei Ebenen entschieRegierung vorgeschlagen worden, die sich auf eine Mehrheit im
den wird – in Brüssel und daheim. Die jetzt erst recht begreifen,
Bundestag stützt. Dann bin ich drei Stunden lang vom zuständiwie weit die Integration schon gediehen ist, wie weit ihre Natiogen Fachausschuss des Europaparlaments gegrillt worden. Annen zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden sind, die ihre Inteschließend stimmt der Ausschuss ab. Eine solche Prozedur muss
ressenkämpfe politisch austrägt. (…)
kein deutscher Minister durchlaufen. Wenn die Ausschüsse entDrei Dinge braucht der Staat, und alle drei sind auf der EU-Ebene
schieden haben, geht die Liste der Kommissars-Kandidaten an
vorhanden: Legislative, Exekutive, Judikative. Es gibt die Kommisden Europäischen Rat und wird dort von den gewählten Staatssion, es gibt das Parlament, es gibt den Rat (der Legislativ- und
und Regierungschefs beschlossen. Schließlich stimmt das EuroExekutivfunktionen hat wie der frühere Bundesrat), es gibt den
paparlament noch einmal über die gesamte Kommission ab. Ich
Gerichtshof. Alle diese Institutionen bestimmen das Leben der
fühle mich zumindest genauso demokratisch legitimiert wie jeder
Europäer nachhaltig. Es geht dort um Wesentliches. Wie erklärt
Bundesminister.
man dann einer Schulklasse von Fünfzehnjährigen, dass die EUGünther H. Oettinger, Mitglied der EU-Kommission und ehemaliger Ministerpräsident des
Ebene nicht staatlich, dass die EU kein Bundesstaat sei? (…)
Landes Baden-Württemberg, im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 30.8.2012,
Der europäische Bundesstaat mag noch nicht gefestigt sein. Aber
S. 9.
es gibt ihn. Einen nachholenden Schöpfungsakt wird es daher
kaum geben. Ein evolutionären Verfassungsprozess, und in dem
befinden wir uns, hat keine entscheidenden Zeitpunkte (oder er
hat sie ständig). In beiden Fällen ist es müßig, nach Volksabstimmungsanlässen zu suchen. Es müsste schon ein »revolutionärer«
Moment sein. Aber wollen wir den?
Albert Funk, in: Der Tagesspiegel vom 15.7.2012, www.tagesspiegel.de/meinung/essayeuropa-ist-schon-laengst-ein-bundesstaat/6879848.html
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M 9 Christopher Ziedler: »So
demokratisch, wie man es
zulässt«
Entgegen anderslautender Gerüchte
ist die Europäische Union diesem
Kontinent nicht vor Jahrzehnten von
Außerirdischen übergestülpt worden, um ihn zu drangsalieren. Was in
Brüssel geschieht, beruht auf einem
Vertrag, den 27 Staaten miteinander
geschlossen haben. Diesen Staaten
und deren Bürgern obliegt es also,
das zu verändern, was ihnen an Europa nicht passt. Der Vertrag von Lissabon ist der vorerst letzte Versuch
gewesen, das europäische Demokratiedefizit abzubauen: Das Europaparlament wurde in deutlich mehr Politikbereichen zum gleichberechtigten
Mitentscheider; eine EU-Grundrechtecharta, auf die sich die Bürger
berufen können, wurde eingeführt,
und seither gibt es in Europa ein Element der direkten Demokratie – die
M 10 »… aber eine Bremse muss noch eingebaut werden!« (zum ESM [Europäischer Stabilitätsmechanismus]EU-Bürgerinitiative.
Urteil des BVerfG)
© Gerhard Mester, 2012
Die Geschwindigkeit, mit der die Europäische Union seit ihrer Gründung
demokratisiert worden ist, hat aber
nie mit dem Tempo schritthalten können, mit dem die Zahl der
che mehr geben. Letzte budgetäre Beschränkungen, denen das
gemeinschaftlich organisierten Politikbereiche zunahm. Das DeEuropaparlament unterliegt, müssten fallen. Auch das Initiativmokratiedefizit existiert weiter – auf höherem Niveau. Zu nennen
recht, von sich aus Gesetze auf den Weg zu bringen, dürfte einem
sind die weiter nicht vollständige Mitentscheidungskompetenz
Parlament in einem wirklich demokratischen Europa nicht mehr
des Straßburger Parlaments in außen- und sicherheitspolitischen
vorenthalten werden.
Fragen und beim Haushalt. Unter den beiden europäischen GeDas Monopol, das die Vertragsstaaten der EU-Kommission zugesetzgebern, die auf Vorschlag der EU-Kommission Verordnungen
dacht haben, hätte ausgedient. Aus der Brüsseler Behörde eine
und Richtlinien erlassen, gibt der Rat der 27 Regierungen weiter
als solche anerkannte Regierung Europas zu machen, wäre das
den Ton an – vor allem wenn es um das große Geld geht, wie etwa
zweite Großprojekt, wenn es an die Neufassung der EU-Verträge
beim Finanzrahmen für 2014 bis 2020.
geht. »Dafür sollte sie direkt gewählt werden«, hat BundesfinanzIn gewisser Weise ist dieses Defizit der europäischen Institutiominister Wolfgang Schäuble gerade dem »Spiegel« gesagt, »entnen logische Folge dessen, dass entscheidende Souveränitätsweder durch das Parlament oder durch die Direktwahl ihres Präsirechte wie die Budgethoheit eben noch nicht nach Brüssel gedenten. Ich bin für Letzteres.« Bisher ist der Kommissionspräsident
wandert sind. Könnte das Europaparlament frei darüber
abhängig von der Gunst der Staats- und Regierungschefs, die ihn
entscheiden, wie viel Geld für EU-Projekte zur Verfügung steht,
nominieren – das Parlament kann zu dem Vorschlag nur Ja oder
könnte der Deutsche Bundestag dies nicht mehr tun.
Nein sagen. Auch die Idee, den Ministerrat wie eine zweite ParlaDie Eurokrise hat das Problem dramatisch verschärft, weil oft nur
mentskammer aufzubauen, dient dem
noch die Regierungen agierten und sowohl Europaparlament wie
Ziel, die EU-Regierungen nicht länger über das Parlament zu stelnationale Parlamente de facto nichts zu sagen hatten.
len.
Das Europaparlament sitzt beim Rettungsschirm ESM oder dem
In Europas Gesetzgebungspraxis ist dies bisher auch im Rahmen
Fiskalpakt nur auf der Zuschauertribüne, weil hier nicht die EU
des sogenannten Komitologieverfahrens der Fall: Ausschüsse, in
agiert, sondern deren Mitglieder – ein feiner, aber wichtiger Undenen Beamte der EU-Kommission und aus den Mitgliedstaaten
terschied. Die nationalen Parlamente wiederum können in Brüssitzen, verabschieden gesetzesähnliche Standards – mit unzureisel getroffene Entscheidungen stets nur im Nachhinein legitimiechender Mitwirkung demokratisch gewählter Vertreter.
ren. Für die Regierungen, die in ihren Heimatstaaten als Exekutive,
Das institutionelle Demokratiedefizit zu beseitigen wird gerade
in Europa aber als Legislative auftreten, ist das praktisch. Beangesichts der großen Skepsis in vielen Mitgliedstaaten schwer
rühmt ist das Spiel über Bande: Bekommt etwa ein deutscher Migenug – Großbritannien und Tschechien etwa weisen jeden Genister im eigenen Kabinett ein Gesetzesvorhaben nicht durch,
danken an eine stärkere Integration weit von sich. Sollte dies denkann er die EU-Kommission ermuntern, tätig zu werden. Hinzu
noch gelingen, würde die EU möglicherweise zum Kern des Probkommt jahrelanges Desinteresse etwa der Bundestagsabgeordlems vordringen, dem strukturellen Demokratiedefizit:
neten daran, was die eigene Regierung in Brüssel so treibt. Erst
Demokratie verlangt nicht zwingend nach einem Nationalstaat,
die Eurokrise hat das geändert – aber nur in schlagzeilenträchtisehr wohl aber nach einer gemeinsamen Öffentlichkeit. Und die
gen Politikbereichen. Ein Karlsruher Verfassungsrichter nimmt
gibt es bisher nicht.
entsprechend das Wort »Dornröschenschlaf« in den Mund.
Christopher Ziedler: So demokratisch, wie man es zulässt. StZ vom 26.6.2012, S. 2
Es bleibt also viel zu tun, soll das Beziehungsgeflecht von EUStaaten und EU-Institutionen höchsten demokratischen Standards genügen. Das wird umso zwingender, wenn der nächste,
vielleicht entscheidende Integrationsschritt eingeleitet wird: die
Verlagerung der Budgethoheit auf die europäische Ebene. Dann
darf es an der Demokratie auf europäischer Ebene keine Abstri-
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DIE EUROPÄISCHE UNION
8. Die Zukunftsfähigkeit der EU: ökonomische und ökologische Herausforderungen
JÜRGEN KALB
D
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ie EU und speziell der Euroraum befinden sich derzeit in einer schweren
Staatsschulden-, einer fundamentalen
Banken- sowie zunehmend in einer makroökonomischen Krise (| Abb. 2 |), die sich
immer mehr zu einer politischen Legitimationskrise ausweitet. Verkürzt wird diese
Krise in den Medien häufig auch als »Eurokrise« wiedergegeben. Dabei geht es
längst um weit mehr als die Stabilität des
»Euro«, dessen Außenwert sich zum Dollar
keineswegs dramatisch verschlechtert hat.
Seit der Weltfinanzkrise der Jahre 2008/09.
und der sich daraus ergebenden Konjunkturprogramme in den EU-Mitgliedstaaten
machen sich europaweit Ängste breit.
Längst werden in den Öffentlichkeiten der
Mitgliedstaaten wieder Finalitätsdebatten
geführt. »Quo vadis, EU«, steht wieder auf
der Tagesordnung. Kaum ein Tag vergeht,
an dem nicht ein Europapolitiker oder ÖkoAbb. 1 »Notfälle zuerst!!«
© Gerhard Mester, 2012
nom drastische Veränderungen fordert.
Die Frage nach der Legitimation der derzeische Auseinandersetzung entwickelte, beförderte die Westintegtigen europäischen Vergemeinschaftung hat die öffentliche
raton wesentlich. Die Einbindung der Bundesrepublik DeutschDiskussion mit Wucht erreicht. Fordern die einen, speziell
land ins westliche Bündnissystem schritt nicht zuletzt dadurch
auch in Deutschland, bereits ein Ausschluss von Staatsschulschnell voran, wenn auch die Aufstellung gemeinsamer Truppen
denstaaten aus dem Euroraum oder gar eine Renationalisieunter Einschluss von Westdeutschland zunächst noch am Einrung der Währungen wie z. B. eine Rückkehr zur DM-Mark, so
spruch des französischen Senats scheiterte. Dies wurde schließfordern andere, den ganz anderen Weg einzuschlagen, nämlich auf militärischer Ebene mit der Aufnahme der Bundesrepublik
lich die Beschleunigung des bislang nur halbherzig gegangeDeutschland in die NATO 1955 korrigiert.
nen Weges zur politischen Union. Sie sehen in der Krise gar
Ökonomisch schritt die Westintegration ebenso rasch voran: Aus
die Chance, diese als »Reformbeschleuniger« (| M 2 |) zu nutzen. Dies alles spielt sich vor dem Hintergrund eines sich rader EGKS entstand auf westeuropäischer Seite am 25. März 1957
sant entwickelnden globalen Wettbewerbs um Märkte und
mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge zunächst die
Einflusssphären ab, der nicht zuletzt aufgrund der demogra»Europäische Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) sowie die »Eurafischen Entwicklung in Europa den »alten Kontinent« ins Hintom«. Das Ziel der EWG war es, insbesondere durch einen getertreffen bringen könnte. Wie zukunfts- und wettbewerbsfämeinsamen Agrarmarkt die Integration Westeuropas voranzuhig sind die EU sowie die im Lissaboner Vertrag kodifizierten
treiben.
»europäischen Werte«, z. B. ihr Bekenntnis zur Vielfalt der
Nachdem die Nachfolger des französischen Präsidenten Charles
Kulturen in einer offenen Gesellschaft? Wie überlebensfähig
de Gaulles ihren Widerstand gegen einen Beitritt Großbritanniist das europäische Demokratie- und Sozialstaatsmodell? Erens aufgegeben hatten, kam es ab 1973 zunächst zu einer Nord-,
weist sich das europäische Bekenntnis zur Nachhaltigkeit und
später dann zu zwei Süderweiterungen.
zum Klimaschutz womöglich nur als inhaltsleeres LippenbeNach dem Fall der Mauer wuchs die Zahl der Mitglieder der dann
kenntnis?
»EG« genannten Gemeinschaft Schritt für Schritt auf derzeit 27.
Die sogenannten Osterweiterungen seit 2004 sorgten zudem dafür, dass die nach langen Diskussionen geführten Debatten um
Die Entstehung der EU
eine mögliche Europäische Verfassung, die dann scheiterte, in
einen Grundlagen- oder Reformvertrag, den seit 2009 gültigen
Die EU entstand aus den leidvollen Erfahrungen des Zweiten
»Vertrag von Lissabon«, mündeten. Dieser ist ein völkerrechtliWeltkriegs. Bereits im Mai 1950, also knapp ein Jahr nach der
cher Vertrag zwischen den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen
Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, legte
Union, der den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag)
Frankreichs Außenminister Robert Schuman einen Plan für eine
sowie den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
engere Zusammenarbeit in Westeuropa vor. Und schon im April
(EG-Vertrag) reformierte. Ferner wird durch ihn der Euratom-Ver1951 wurde die sogenannte »Montanunion«, eigentlich die »Eurotrag abgeändert. Dieser bildet bis heute die rechtliche Grundlage
päische Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS), gegründet,
für die Ziele und Arbeitsweise der Europäischen Union. Er wurde
ein Vorläufer der EU: Mit ihr wurden die als kriegswichtig geltendurch die Parlamente von 26 Mitgliedstaaten ratifiziert. In der Reden Branchen Kohle und Stahl in West-Deutschland, Frankreich,
publik Irland geschah dies durch eine (zweite) Volksabstimmung,
Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden unter Aufsicht
nachdem die erste an der Mehrheit des irischen Volkes gescheieiner gemeinsamen Behörde gestellt. Die Entwicklung des Kalten
tert war. In Irland verlangt die Verfassung zur Ratifizierung zwinKrieges, der sich z. B. im Korea-Krieg 1950 in eine offene militärigend Referenden.
Die Zukunf tsfähigkeit der EU
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Der Binnenmarkt der
EU
Teufelskreis der Banken-, Staatsschulden- und makroökonomischen Krise1
Wirtschaftlicher Abschwung führt zu Kreditausfällen
Der in den 80 er-Jahren geschaffene »Europäische BinMakroBankennenmarkt« und der Wegfall
ökoWegbrechende Kreditvergabe an Unternehmen
krise
nomische
der Grenzkontrollen (»Schenvermindert Investitionen
Krise
gener Abkommen«) machten
schon seither ein immer enWegbrechende Steuereingeres Zusammenrücken der
nahmen und steigender
Bankenrettung durch den
Staaten möglich und nötig:
Transfer belasten die
Staat verschlechtert die
öffentlichen Haushalte
Grundlage dieses EuropäiFinanzsituation der öffentschen Binnenmarktes sind
lichen Haushalte
dabei die vier Grundfreiheiten:
Ausfall von Staatsanleihen
Unvermeidliche staatliche
Freier Warenverkehr: So sind
verschlechtert die BilanzKonsolidierung schwächt
Zölle ebenso wie mengenmäund Kapitalposition der
Binnennachfrage
ßige Einfuhrbeschränkungen
Banken
generell innerhalb der EU unStaatsschuldentersagt. Allerdings gibt es
krise
nach wie vor Ausnahmen: So
können Im- und Exporte immer noch aus Gründen der
1 Darstellung in Anlehnung an Shambaugh (2012).
öffentlichen Sicherheit oder
des Gesundheitsschutzes beAbb. 2 Teufelskreis der Banken-, Staatsschulden- und makroökonomischen Krise
© Sachverständigenrat, 2012, S. 5
schränkt werden. Unternehmen haben jedoch ein Niederlassungsrecht in allen EU-Staaten.
leben, beläuft sich ihr Anteil an den Ein- und Ausfuhren global auf
Freier Kapitalverkehr: Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen
rund 20 %. Damit ist die EU weltweit der führende Exporteur und
der EU dürfen unbeschränkt Kredite im europäischen Ausland
der zweitgrößte Importeur (Angaben EU-Kommission, 2012).
aufnehmen oder Geld in anderen EU-Ländern investieren. Dabei
Etwa zwei Drittel des gesamten Handels in der EU finden zwisind lediglich nationale Vorschriften etwa im Steuerrecht zu beschen den EU-Mitgliedstaaten statt. Und insbesondere Deutschrücksichtigen: d. h. Deutsche dürfen z. B. so viel Geld in Luxemland profitiert mit seinen Exportgütern von dieser Freihandelsburg anlegen wie sie wollen, müssen dabei aber die dort erzielten
zone. International sind die größten Handelspartner der EU die
Zinsen und Dividenden in der deutschen Steuererklärung angeVereinigten Staaten von Amerika, gefolgt von China.
ben.
Im Zuge der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 ist
Freier Personenverkehr: Arbeitskräfte der Mitgliedsländer haben in
die Zahl der Arbeitslosen stark gestiegen und liegt in der EU derder Europäischen Union ein weitgehendes Aufenthaltsrecht zur
zeit bei 7,5 %. Die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft
Berufsausübung sowie zur Stellensuche. Das Gleiche gilt für Stuund der Industrie ist dabei in den letzten Jahren enorm zurückgedierende und Personen im Ruhestand. Trotz seiner langen Gegangen, während im Dienstleistungssektor immer mehr Arbeitsschichte ist allerdings die Idee eines grenzenlosen Personenverplätze geschaffen wurden.
kehr bis heute umstritten. So wird nach wie vor kontrovers
Forschung und Entwicklung (FuE) sind deswegen derzeit auch der
diskutiert, ob z. B. die freie Zuwanderung aus den mittel- und
zentrale Ansatzpunkt der offiziellen EU-Strategie zur Wettbeosteuropäischen EU-Staaten negative Auswirkungen auf die Arwerbsförderung des EU-Raumes. Investitionen sollen deshalb, so
beitsmärkte und Sozialsysteme in Westeuropa haben könnte. Insdie Pläne der Strategie »Europa 2020« der EU-Kommission, kurzbesondere bei der Diskussion um eine mögliche Erweiterung der
und mittelfristig soweit aufgestockt werden, dass die EU im BeEU spielen solche Argumente stets eine zentrale Rolle.
reich der FuE-Ausgaben mit den USA, Japan und der VR China
Freier Dienstleistungsverkehr: Dienstleistungsunternehmen ist es in
gleichziehen könne.
der EU erlaubt, grenzüberschreitend tätig zu werden. EuropäiSeit Jahrzehnten sinkt in den reichen westlichen Nationen der Ansche Richtlinien sollen dabei die gegenseitige Anerkennung von
teil der Industrie an der Wertschöpfung. Und auch in den meisten
Berufsabschlüssen regeln. Eine im Jahr 2006 nach kontroversen
politischen Konzepten war von der modernen WissensgesellDiskussionen verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie sorgt alschaft die Rede (»Lissabon Strategie« aus dem Jahre 2000), basielerdings nach wie vor für Spannungen. Die Richtlinie verpflichtet
rend auf Dienstleistungen, ohne die schmutzige Industrie. Doch
einerseits zwar die Mitgliedstaaten mit bestimmten Übergangsaktuell entdeckt die EU-Kommission die Industrie wieder. EUfristen, ihre nationalen Dienstleistungsmärkte für ausländische
Kommissar Antonio Tajani legte gerade ein industriepolitisches
Anbieter zu öffnen. Andererseits wurden bisher häufig wichtige
Konzept vor, in dem es heißt, dass Europa sich für das 21. JahrhunBereiche von dieser Verpflichtung ausgenommen – etwa im Bedert reindustrialisieren müsse. Demnach sei nun wieder eine
reich der Gesundheits- und Verkehrsdienstleistungen sowie bei
starke industrielle Basis entscheidend für ein »wohlhabendes und
Zeitarbeitsagenturen.
wirtschaftlich erfolgreiches Europa«. Es müsse in Europa eine
Trotz allem zählt jedoch der europäische Binnenmarkt zur wohl
»dritte industrielle Revolution« geben. Konkret plant Tajani, dass
größten Attraktivität der EU. Nicht zuletzt aufgrund dieses Binbis 2020 der Anteil der Industrie an der europäischen Wirtschaftsnenmarktes drängen Kandidatenländer wie Kroatien, die Türkei,
leistung wieder auf 20 Prozent angehoben werden solle.
Island, Montenegro, Serbien, Bosnien, u. a. in die EU.
Trotz aller Fortschritte kann jedoch der Europäische Binnenmarkt
Mit seinen derzeit 27 Mitgliedstaaten ist die EU bereits heute eine
noch längst nicht mit dem Integrationsstand beispielsweise des
der größten Handelsmächte weltweit. Nach dem Beitritt der 12
US-Binnenmarktes verglichen werden. Schon die Unterschiede
neuen Mitgliedstaaten seit 2004 liegt das Bruttoinlandsprodukt
von Sprache und Kultur wirken als Barriere. Außerdem erweisen
(BIP) der EU, d. h. der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistunsich die unterschiedlichen Sozialsysteme immer wieder als Mobigen, sogar über demjenigen der USA. (BIP der EU, 2011: 12.268.387
litätshindernis für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, etwa
Millionen Euro). Obwohl in der EU nur 7 % der Weltbevölkerung
wenn Rentenansprüche an ein nationales System bei Wegzug in
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Heft 64 · 2012
69
Die Zukunf tsfähigkeit der EU
30.10.12 12:02
JÜRGEN KALB
70
nierter politischer, ökonomischer und rechtlicher (»Acquis-«)Kriterien.
Alle Beteiligten wussten dabei bereits vor der
2009
2010
2011
2012*
2013*
Einführung der gemeinsamen Währung dass
Belgien
–2,8
2,3
1,9
0,0
1,2
Bulgarien
–5,5
0,4
1,7
0,5
1,9
diese Gemeinschaftswährung mit Chancen
Dänemark
–5,8
1,3
1,0
1,1
1,4
und Risiken verbunden war. Einerseits beseiDeutschland
–5,1
3,7
3,0
0,7
1,7
tigte die Gemeinschaftswährung HinderEstland
–14,3
2,3
7,3
1,3
3,8
nisse durch verschiedene nationale WährunFinnland
–8,4
3,7
2,9
0,8
1,6
gen, die zuvor das staatenüberschreitende
Frankreich
–2,7
1,5
1,7
0,5
1,3
Wirtschaften im Binnenmarkt belastet hatGriechenland
–3,3
–3,5
–6,9
–4,7
0,0
ten. Mit dem Euro wurde in den 17 TeilnehGroßbritannien
–4,4
2,1
0,7
0,5
1,7
merländern beispielsweise Preistransparenz
Irland
–7,0
–0,4
0,7
0,5
1,9
gesichert. Wichtiger noch ist, dass im Handel
Italien
–5,5
1,8
0,4
–1,4
0,4
und im Tourismus zwischen diesen Ländern
Lettland
–17,7
–0,3
5,5
2,2
3,6
mit dem Euro nunmehr WechselkursLitauen
–14,8
1,4
5,9
2,4
3,5
unsicherheit, kostspielige KurssicherungsLuxemburg
–5,3
2,7
1,6
1,1
2,1
geschäfte und Devisenumtauschgebühren
Malta
–2,7
2,3
2,1
1,2
1,9
vermieden werden. Vor allem deutsche ExNiederlande
–3,5
2,3
3,1
0,8
1,7
porteure haben seit der Euro-Einführung von
Österreich
–3,8
2,3
3,1
0,8
1,7
stabilen Währungsrelationen profitiert.
Polen
1,6
3,9
4,3
2,7
2,6
Den Problemen, die mit einer gemeinsamen
Portugal
–2,9
1,4
–1,6
–3,3
0,3
Währung einhergehen können, sollte nach
Rumänien
–6,6
–1,6
2,5
1,4
2,9
dem Maastrichter Vertrag (1993) dadurch beSchweden
–5,0
6,1
3,9
0,3
2,1
gegnet werden, dass nur Länder Mitglieder
Slowakei
–4,9
4,2
3,3
1,8
2,9
der EWU (»Europäische Währungsunion«)
Slowenien
–8,0
1,4
–0,2
–1,4
–0,3
werden konnten, die bestimmte StabilitätsSpanien
–3,7
–0,1
0,7
–1,8
–0,3
kriterien erfüllten: So durfte die NeuverTschechien
–4,7
2,7
1,7
0,0
1,5
schuldung drei Prozent des nationalen BrutUngarn
–6,8
1,3
1,7
–0,3
1,0
Zypern
–1,9
1,1
0,5
–0,8
0,3
toinlandsprodukts nicht überschreiten.
Außerdem wurde 1996 der sogenannte »StaAbb. 3 Wirtschaftswachstum in den EU-Ländern, BIP in % im Vergleich zum Vorjahr
bilitäts- und Wachstumspakt« vereinbart, der
© Angaben: EU-Kommission 2012
nach einem EWU-Beitritt die Mitgliedstaaten
auf eine nachhaltige Haushaltspolitik und
einen anderen EU-Staat nur eingeschränkt oder mit großem büroeine weitere Beachtung der Drei-Prozent-Grenze für das öffentlikratischem Aufwand geltend gemacht werden können. Deshalb
che Haushaltsdefizit verpflichten sollte. Allerdings wurden die
verwundert es nicht, wenn die Zahl der Umzüge zwischen den
vorgesehenen finanziellen Sanktionen nie umgesetzt, sodass soBundesstaaten der USA auf dem dreifachen Niveau im Vergleich
gar Länder mit ungelösten Haushaltsproblemen wie z. B. Griezu der grenzüberschreitenden Mobilität in der EU liegt. Wie
chenland Mitglied der Währungsunion werden konnten und anschwierig auch der ökonomische Integrationsweg ist, zeigt, dass
dere spätestens nach dem Beitritt ihre Verschuldung sogar noch
die EU-Mitgliedstaaten nach wie vor nicht alle Binnenmarktstark ausgeweitet haben (| Abb. 4 |). Auch Deutschland verstieß
mehrmals gegen die Maastrichter Verschuldungskriterien. GeRichtlinien in nationales Recht integriert haben. Auch Deutschrechtfertigt wurde dies in diesem Fall mit den Kosten der deutland muss derzeit noch weit über 20 EU-Richtlinien in nationales
schen Vereinigung ab 1990. Kritiker sprechen hier vom »GeburtsRecht umsetzen.
fehler von Maastricht« (Sarazin, Sinn, u. a.).
Wirtschaftswachstum der EU-Länder (in % im Vergleich zum Vorjahr)
Stand: Mai 2012 *Schätzung
Die Wirtschafts- und Währungsunion der EU
Die europäische Schuldenkrise
1999 gelang mit der Euro-Einführung in zunächst 11 EU-Mitgliedstaaten ein weiterer Integrationsschritt hin zu einem einheitlichen Markt mithilfe einer gemeinsamen Währung. Bis heute ist
die Währungsunion auf 17 Mitgliedstaaten angewachsen. DieEuromitgliedstaaten haben ihre Autonomie in der Geldpolitik aufgegeben und die Verantwortung für dieses Politikfeld vollständig
an die Europäische Zentralbank (EZB) delegiert, die nun »unabhängig« über den Euro wacht. Aber natürlich sind die nationalen
Zentralbanken Mitglied in den Aufsichtsgremien der EZB.
Großbritannien hatte sich hier von Anfang an eine Sonderstellung
(»opt-out-Klausel«) erstritten. Eine Einführung des Euro im Vereinigten Königreich von Großbritannien scheint derzeit im Rahmen
eines realistischen Zeithorizonts auch nicht mehrheitsfähig. Weder im englischen Parlament noch in der Bevölkerung gibt es relevante Stimmen für einen Beitritt zum Euro. In der Konservativen
Partei artikulieren sich zunehmend sogar Stimmen, die eine
Volksabstimmung über den weiteren Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU herbeisehnen.
Dagegen haben sich die seit 2004 beigetretenen Staaten (»Osterweiterung«) zur mittel- bis langfristigen Übernahme des Euro
verpflichtet. Voraussetzung dafür ist allerdings die Erfüllung der
sogenannten »Kopenhagener Bedingungen« (1993), d. h. vordefi-
Die Zukunf tsfähigkeit der EU
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Auslöser der akuten Schuldenkrise war die schwere weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09. Diese Krise, die ihren Ausgang von den US-amerikanischen Immobilienmärkten sowie den internationalen Finanzspekulationen her nahm, hatte
nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman
Brothers im Oktober 2008 einschneidende Folgen für die Weltwirtschaft. Infolge dessen mussten auch die Staaten der Eurozone
erhebliche Anstrengungen unternehmen, um insbesondere ihre
Banken, die sich mit riskanten Finanzspekulationen Milliardenverluste zugezogen hatten, und die Konjunktur zu stützen. Die
damit verbundenen zusätzlichen Staatsschulden für Konjunkturprogramme und die wachsende Vorsicht der Investoren vor
Staatsanleihen bei den späteren Staatsschuldenstaaten führten
zu einer Neubewertung der Kreditwürdigkeit dieser staatlichen
Gläubiger. Insbesondere die sogenannten PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien) wurden von den
führenden Ratingagenturen aus den USA in ihrer Bonität abgewertet. Deren Wettbewerbsfähigkeit hatte allerdings bereits seit
Jahren gelitten, was Analysten dazu veranlasste, nicht in erster
Linie von einer Euro- oder Staatsschuldenkrise, sondern genauer
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von einer »Leistungsbilanzkrise der StaatsHaushaltsdefizite/-überschuss der EU-Länder (in % des BIP)
Maastricht-Grenzwert: –3,0
Stand: Mai 2012 *Schätzung
schuldenländer im Euroraum« (Sinn) zu sprechen.
2009
2010
2011
2012*
2013*
Der Aufstieg der VR China zur WirtschaftssuBelgien
–5,6
–3,8
–3,7
–3,0
–3,3
Bulgarien
–4,3
–3,1
–2,1
–1,9
–1,7
permacht hat nach einer IMF-Studie zudem
Dänemark
–2,7
–2,5
–1,8
–4,1
–2,0
die EU seit langem in zwei Teile gespalten.
Deutschland
–3,2
–4,3
–1,0
–0,9
–0,7
Uffe Mikkelsen und Esther Pérez Ruiz unterEstland
–2,0
0,2
1,0
–2,4
–1,3
suchten in dieser Studie, wie sich die rasant
Finnland
–2,5
–2,5
–0,5
–0,7
–0,4
wachsende Exportwirtschaft Chinas auf
Frankreich
–7,5
–7,1
–5,2
–4,5
–4,2
Europa ausgewirkt hatte. Vor allem die südliGriechenland
–15,6
–10,3
–9,1
–7,3
–8,4
chen Peripheriestaaten Griechenland, ItaGroßbritannien
–11,5
–10,2
–8,3
–6,7
–6,5
lien, Spanien und Portugal bauten bereits
Irland
–14,0
–31,2
–13,1
–8,3
–7,5
zwischen 1972 und 1996 eine immer einseitiItalien
–5,4
–4,6
–3,9
–2,0
–1,1
gere Wirtschaftsstruktur auf. Sie expandierLettland
–9,8
–8,2
–3,5
–2,1
–2,1
ten vor allem in den Bereichen TextilwirtLitauen
–9,4
–7,2
–5,5
–3,2
–3,0
schaft und Tourismus. In Deutschland
Luxemburg
–0,8
–0,9
–0,6
–1,8
–2,2
wuchsen dagegen hochtechnisierte Sektoren
Malta
–3,8
–3,7
–2,7
–2,6
–2,9
wie der Maschinenbau und die AutomobilNiederlande
–5,6
–5,1
–4,7
–4,4
–4,6
wirtschaft. Mit dem Start der Währungsunion
Österreich
–4,1
–4,5
–2,6
–3,0
–1,9
nahm diese Spezialisierung noch weiter zu.
Polen
–7,4
–7,8
–5,1
–3,0
–2,5
Der Aufstieg Chinas machte aus der starken
Portugal
–10,2
–9,8
–4,2
–4,7
–3,1
Spezialisierung der Euro-Staaten allerdings
Rumänien
–9,0
–6,8
–5,2
–2,8
–2,2
in kurzer Zeit ein handfestes Problem. Vor alSchweden
–0,7
0,3
0,3
–0,3
0,1
lem im Textilbereich drängten chinesische
Slowakei
–8,0
–7,7
–4,8
–4,7
–4,9
Firmen mit Kampfpreisen auf den Weltmarkt
Slowenien
–6,1
–6,0
–6,4
–4,3
–3,8
und nahmen europäischen Herstellern masSpanien
–11,2
–9,3
–8,5
–6,4
–6,3
siv Marktanteile ab.
Tschechien
–5,8
–4,8
–3,1
–2,9
–2,6
Gleichzeitig ließen sich im Euroraum staatliUngarn
–4,6
–4,2
–4,3
–2,5
–2,9
Zypern
–6,1
–5,3
–6,3
–3,4
–2,5
che und private Akteure (Banken) durch niedrige Zinsen dazu verleiten, übermäßig KreAbb. 4 Haushaltsdefizit /-überschuss der EU-Länder in % des BIP
© Angaben: EU-Kommission 2012
dite aufzunehmen. Dadurch wurde ein
kreditfinanzierter Wirtschaftsboom ausgeVergleich ungewöhnlich strengen Sparpolitik und vielfältigen
löst, der die Preise und Löhne in den späteren StaatsschuldenlänStrukturreformen bisher nicht gelungen, ihre Refinanzierungsdern viel rascher als z. B. in Deutschland ansteigen ließ, was die
kosten auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Wiederholte
Exporte weiter dämpfte und die Importe erhöhte. Deutschland
massive Demonstrationen und Proteste in Athen und Madrid wahatte sich dagegen nicht zuletzt durch die »Agenda 2010« und staren die unmittelbare Folge.
gnierende Löhne im internationalen Konkurrenzkampf weitere
Die ungünstige konjunkturelle Entwicklung der Problemländer
Vorteile verschafft.
verschärft außerdem die ohnehin labile Situation der Banken.
Und die wachsende Unsicherheit über die Zukunft der WährungsDie Euro-Rettungsschirme
union führt dazu, dass Anleger immer weniger bereit sind, Anleihen der Problemländer zu erwerben. Steigende Zinsen für StaatsDen drohenden Staatsbankrott in Griechenland sowie die Abweranleihen, aber auch die immer schlechtere wirtschaftliche Lage
tung der europäischen Staatsschuldenländer durch die drei
erschweren wiederum die ohnehin nicht einfachen Konsolidieführenden Ratingagenturen hatten nun die EU-Gremien und insrungsprozesse. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung
besondere die Staats- und Regierungschefs der führenden Mitspricht auch deshalb von einer verschärften Bankenkrise in Eugliedstaaten dazu veranlasst, eine Fülle von Gipfelkonferenzen
ropa.
zur Neujustierung der EU durchzuführen. Im Falle von GriechenAn den Finanzmärkten bestehen weiterhin erhebliche Zweifel, ob
land übernahm zudem eine sogenannte »Troika« aus IWF (Interalle öffentlichen Schuldner ihre Anleihen vollständig bedienen
nationaler Weltwährungsfonds), EZB und Europäischer Kommiskönnen. Die Unsicherheit über die Zahlungsfähigkeit der Staaten
sion die Oberaufsicht und legte fest, unter welchen restriktiven
untergräbt das Vertrauen in die Finanzinstitute, die in den ProbSparbedingungen weitere Kredite an Griechenland möglich
lemländern engagiert sind. Dies nährt die »systemische Vertrauseien.
enskrise« (Bofinger u. a.). Um diese zu beenden, bedarf es einer
Insbesondere auch die Bundesregierung scheint dabei davon ausglaubwürdigen Strategie, wie nicht nur die öffentlichen Schulden
zugehen, dass die Probleme im Wesentlichen durch mangelnde
in allen Mitgliedstaaten des Euro-Raums wieder auf ein Maß zuFiskaldisziplin auf der nationalen Ebene der Staatsschuldenländer
rückgeführt werden können, das von den Akteuren an den Finanzverursacht sind und dass die Lösung primär in einer konsequenmärkten als tragfähig erachtet wird, sondern gleichzeitig die
ten Sparpolitik dieser Länder zu suchen ist. Institutionell soll dieStrukturreformen unternommen werden, die zwingend nötig
ser Ansatz in erster Linie durch striktere Fiskalregeln (»Fiskalsind, um die makroökonomischen Divergenzen zwischen den Mitunion«) und ergänzend durch quantitativ begrenzte, mit
gliedstaaten zu reduzieren (»makroökonomische Krise«).
Konditionen versehene dauerhafte Rettungsschirme (»EMF – »Europäischer Stabilitätsmechanismus« in Höhe von derzeit über 700
Auf dem Weg zu einer politischen Union?
Mrd. Euro) abgesichert werden, die die betroffenen Länder
gleichzeitig zu einer scharfen »Austeritätspolitik« (Sparpolitik)
Die Europäische Union und speziell der Euro-Raum sehen sich
zwingen. Wenngleich sich kurzfristig wohl die Finanzmärkte etderzeit einer schweren Vertrauenskrise gegenüber, die der Politik
was beruhigt haben, hat diese Politik doch auch gleichzeitig die
keine einfachen Lösungen mehr ermöglicht. Im Kern verstärken
Wirtschaftskraft in den betroffenen Ländern weiter geschwächt
sich hohe öffentliche Schuldenstände und eine Erosion der Wettund die Arbeitslosigkeit, speziell die der Jugend, ansteigen lasbewerbsfähigkeit speziell in einigen Mitgliedstaaten wechselseisen. Es ist in den Problemländern trotz einer im internationalen
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tig. Diese Destabilisierung ist auch darauf
zurückzuführen, dass die bisherigen Krisenbewältigungsstrategien sich bei weitem
noch nicht auf einen gemeinsamen Weg zur
Vertiefung der Europäischen Institutionen einigen konnten. Hoffnungen konzentrieren
sich vage auf eine »politische Union«, auch
wenn deren Inhalt immer noch unscharf und
kontrovers ist. Gleichzeitig nehmen Stimmen
zu, die einen Schritt zurück zur nationalen
Souveränität befürworten. Insbesondere in
den prosperierenden Eurostaaten werden
Widerstände gegen eine mögliche »Transferunion« sichtbar.
Ohne die Bürgerinnen und Bürger und deren
Zustimmung, soweit herrscht theoretisch
Konsens, kann aber ein weiterer Integrationsschritt nicht vollzogen werden. Juristische Hürden, die etwa das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat, beziehen sich
zudem auf die Frage der Demokratisierung
und demokratischen Legitimation. Eine EuM 5 »Auf einem guten Weg …« …
© Gerhard Mester, 2012
ropäische Einigung »von oben«, ja eine ausgeblendete »Finalitätsdebatte« scheinen die
Bürgerinnen und Bürger nicht mehr akzepLiteraturhinweise
tieren zu wollen.
Deren Zustimmung hängt aber, zumindest außerhalb von
Beck, Ulrich (2012): Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im ZeiDeutschland, nicht in erster Linie nur von der Stabilität des Euro
chen der Krise. Suhrkamp. Frankfurt/M.
ab, sondern von Versprechungen einer gerechten und zukunftsfähigen Entwicklung in der Europäischen Union. Bei den derzeitiBofinger, Peter/Habermas, Jürgen/Nida-Rümelin, Julian: Einspruch gegen
gen Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit in einigen südlichen Mitdie Fassadendemokratie, FAZ vom 3.8.2012, www.faz.net/aktuell/
gliedstaaten kann es nicht verwundern, wenn manche bereits von
feuilleton/debatten/europas-zukunft/kurswechsel-fuer-europaeiner »lost generation« sprechen. Will die EU ihre Jugendlichen
einspruch-gegen-die-fassadendemokratie-11842820.html
noch erreichen, verfangen die Verweise auf die bisherigen Erfolge
BpB (Hrsg) (2012): Die Europäische Union. Informationen zur politischen Bilder Europäischen Einigung im Bereich der Friedenssicherung und
dung, Heft 279. Bonn. sowie ders. (2012): Europa am Scheideweg. Europa
Freiheitsgarantie auf Dauer nicht nachhaltig genug. Die demokontrovers. Bonn. Zum Download: www.bpb.de/shop/zeitschriften/
graphische Hypothek der Überalterung wird kurzfristig kaum zu
informationen-zur-politischen-bildung/126348/europaeische-union
lösen sein.
Der europäischen Bevölkerung müsste allerdings wieder glaubFischer, Joschka: Krise als Reformbeschleuniger, SZ vom 4.10.2012, www.
haft deutlich gemacht werden, dass ihr bzw. ihre europäischen
sueddeutsche.de/politik/neue-politik-in-der-eu-krise-als-reform
sozialstaatlichen Modelle, ihr Bekenntnis zu Bildung und Chanbeschleuniger-1.1486319
cen »für jeden« ebenso zu einer nachhaltigen Entwicklung beitraIMF (Hrsg.) (Uffe Mikkelsen and Esther Pérez Ruiz) (2012): The Trade Impact
gen müssen wie der schonende Umgang mit den nichtregenerierof China on EMU: Is It Even Across Members? www.imf.org/external/pubs/
baren natürlichen Ressourcen. Dann kann auch ihr Bekenntnis
ft/wp/2012/wp12221.pdf
zur Vielfalt der Kulturen zu einer Begegnung führen, die Innovation ermöglicht und freisetzt, die den »alten Kontinent« im interHabermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas. Suhrkamp. Frankfurt/M.
nationalen Wettbewerb erfolgreich teilhaben lässt.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen EntEine Souveränitätsübertragung auf europäische Institutionen
wicklung (2012): Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen
setzt jedoch deren weitere Demokratisierung voraus. Ein Europä(Sondergutachten). www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/
isches Parlament, das kein Gesetzesinitiativrecht besitzt, wird
dateiablage/download/publikationen/sg2012.pdf
dabei schwer möglich sein. Auf Dauer können Integrationsschritte sicher nicht nur auf EU-Gipfelkonferenzen durch die ReSarazin, Thilo: Geburtsfehler Maastricht, FAZ vom 17.7.2012, www.faz.net/
gierungschefs entschieden werden.
aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/zukunft-europasZur Zukunftsfähigkeit gehört aber auch eine Wirtschaftsordnung,
geburtsfehler-maastricht-11822292.html
die soziale Mobilitätsprozesse zulässt, soziale Härten abfedert
Wilhelm, Ulrich: Gebt Souveränität ab, FAZ vom 7.7.2012, www.faz.net/aktuund nachhaltig wirtschaftet. Der in Deutschland entstandene Beell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/ulrich-wilhelm-zur-zukunft-eugriff der »Sozialen Marktwirtschaft« war in der Europäischen
ropas-gebt-souveraenitaet-ab-11812592.html
Union anfänglich sehr umstritten. Mittlerweile hat jedoch der Begriff Eingang in die Verträge gefunden. Der Vertrag von Lissabon
Sinn, Hans-Werner (2012): Die Target-Falle. Hanser Verlag. München.
spricht hier von einer »in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft« (Artikel 3 [3]). Eine Souveränitätsübertragung auf Europäische Institutionen scheint dabei unvermeidlich,
schon um eine einheitliche Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen
und zudem ein stabiles Finanzsystem zu garantieren.
Zugleich bedarf es aber auch einer stärkeren Koordinierung der
Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitiken der Mitgliedländer mit dem Ziel, die strukturellen Ungleichgewichte jeder Art
in der Europäischen Union und im gemeinsamen Währungsraum
auszugleichen.
Die Zukunf tsfähigkeit der EU
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MATERIALIEN
M 1 Protestaufruf von 172 deutsche Wirtschaftsprofessoren, 5.7.2012
Liebe Mitbürger,
die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin auf dem Gipfeltreffen der EU-Länder
gezwungen sah, waren falsch. Wir, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder, sehen den Schritt in die
Bankenunion, die eine kollektive Haftung für
die Schulden der Banken des Eurosystems
bedeutet, mit großer Sorge. Die Bankschulden sind fast dreimal so groß wie die Staatsschulden und liegen in den fünf Krisenländern im Bereich von mehreren Billionen Euro.
Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für
die Absicherung dieser Schulden nicht in HafM 3 »Erste Erfolge des Stabilitätspakts … »
© Gerhard Mester, 2012
tung genommen werden, zumal riesige Verluste aus der Finanzierung der inflationären
Wirtschaftsblasen der südlichen Länder abbruch der Krise existierten, die meisten davon auf deutsches Besehbar sind. Banken müssen scheitern dürfen. Wenn die Schuldtreiben hin errichtet, sind mittlerweile durch den Krisendruck
ner nicht zurückzahlen können, gibt es nur eine Gruppe, die die
gebrochen, und zwar am Ende unter tätiger Mithilfe der deutLasten tragen sollte und auch kann: die Gläubiger selber, denn sie
schen Bundesregierung: das Bail-out-Verbot aus dem Europäisind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen und nur sie verschen Vertrag, demzufolge jedes Land seine eigenen Banken retfügen über das notwendige Vermögen.
ten muss; die Ablehnung einer Wirtschaftsregierung; das Verbot
Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und
der Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB)
den Missbrauch durch eine gemeinsame Bankenaufsicht verhinund das der gegenseitigen Schuldenhaftung – schließlich die Verdern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die
wandlung der EZB von einer Kopie der alten Bundesbank hin zu
Schuldnerländer über die strukturelle Mehrheit im Euroraum vereiner europäischen Federal Reserve Bank nach angelsächsischem
fügen. Wenn die soliden Länder der Vergemeinschaftung der HafVorbild. (…)
tung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmen, werden sie
Die Euro-Gruppe steht gegenwärtig an der Schwelle zu einer Banimmer wieder Pressionen ausgesetzt sein, die Haftungssummen
kenunion. Ihr wird die Fiskalunion folgen, und schon mit der Banzu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall
kenunion wird der Druck zu einer politischen Union immer größer
aufzuweichen. Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind vorwerden. Vertragsänderungen mit allen 27 (oder mit Kroatien 28)
programmiert. Weder der Euro noch der europäische Gedanke als
Staaten wird es nicht geben können, nicht nur wegen Großbritansolcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken
nien, sondern auch wegen der dann fälligen Referenden in zahlgerettet; geholfen wird statt dessen der Wall Street, der City of
reichen Mitgliedstaaten. Diese würden gewiss zur Abrechnung
London – auch einigen Investoren in Deutschland – und einer
mit der Krisenpolitik der nationalen Regierungen werden, und
Reihe maroder in- und ausländischer Banken, die nun weiter zu
dies wird keine Regierung wollen, solange sie noch bei Verstand
Lasten der Bürger anderer Länder, die mit all dem wenig zu tun
ist.
haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen.
Für längere Zeit wird es also nur mit der Hilfsbrücke zwischenDie Sozialisierung der Schulden löst nicht dauerhaft die aktuellen
staatlicher Verträge gehen – die Euro-Gruppe wird sich in RichProbleme; sie führt dazu, dass unter dem Deckmantel der Solidatung eines intergouvernementalen Föderalismus entwickeln. (…)
rität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und volkswirtDas Europäische Parlament wird das sich abzeichnende Vakuum
schaftlich zentrale Investitionsentscheidungen verzerrt werden.
nicht ausfüllen können, da ihm die Budgetsouveränität fehlt, die
Bitte tragen Sie diese Sorgen den Abgeordneten Ihres Wahlkreibei den nationalen Parlamenten liegt und dort auch für unabsehses vor; unsere Volksvertreter sollen wissen, welche Gefahren unbare Zeit bleiben wird. Auf diese nationalen Parlamente also
serer Wirtschaft drohen.
kommt es an. Sie bräuchten eine gemeinsame Plattform in der
Protestaufruf: »Der offene Brief der Ökonomen im Wortlaut, FAZ, 5.07.2012, www.faz.net/
Euro-Gruppe, eine Art »Euro-Kammer«, mittels derer sie die euro-gqe-7155o
päische Wirtschaftsregierung kontrollieren können.
Die Föderalisten im Europäischen Parlament und in Brüssel allgemein sollten sich dadurch nicht bedroht fühlen, sondern die einM 2 Joschka Fischer: »Krise als Reformbeschleuniger«
malige Chance nutzen. (…)
Wie gesagt: Diese Krise ist eine große Chance für Europa. Sie hat
Gemeinsame Wirtschaftsregierung, gegenseitige Schuldenhafdie Agenda der kommenden Monate und Jahre definiert – Bantung, Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Seit
kenunion, Fiskalunion, politische Union. Was fehlt, ist eine
dem Ausbruch der Krise hat sich die EU dramatisch verändert. Es
Wachstumsstrategie für die Krisenländer, aber auch diese rückt
geht nun, was sonst nie gegangen wäre – und das meiste wurden
umso näher, je größer die Unruhe im europäischen Süden wird.
gegen den Widerstand Deutschlands durchgesetzt. (…)
Die Europäer haben allen Grund optimistisch zu sein. Nicht trotz,
Die Krise ist immer auch Chance – Chance für Veränderungen, die
sondern wegen der Krise.
sonst kaum möglich sind. Der Zwang zur Überwindung der Krise
Joschka Fischer, Krise als Reformbeschleuniger, SZ vom 4.10.2012, www.sueddeutsche.de/
erfordert, Dinge zu tun, die vorher kaum denkbar, geschweige
politik/neue-politik-in-der-eu-krise-als-reformbeschleuniger-1.1486319
denn machbar gewesen wären. (…) All die Tabus, die seit dem Aus-
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Die Zukunf tsfähigkeit der EU
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JÜRGEN KALB
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M 4 Catherine Hoffmann: »Vier Szenarien zur
Zukunft Europas«
Zerbricht der Euro? Oder schaffen es die EU-Staaten,
sich zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik durchzuringen, die künftige Krisen abmildern kann? Vier
Szenarien hat der Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts entwickelt – von katastrophal
bis hoch optimistisch. Zusammenschluss zu den Vereinigten Staaten von Europa oder Zerfall – alles
scheint möglich zu sein. Hohe Schulden und die halbherzige Konstruktion der Währungsunion haben den
Euro in Gefahr gebracht. Statt die gewaltigen Unterschiede der Volkswirtschaften auszugleichen, hat
der Euro sie verschärft. Und nun? Vier Szenarien zur
Zukunft Europas.
1. Einfach weiter so
Angela Merkel lässt sich nicht erweichen: Die Bundeskanzlerin hält an ihrem Sparkurs für Europa fest,
M 5 »Hilfe! Der Rettungsschirm!«
© Burkhard Mohr, 2011
der im März beschlossene Fiskalpakt hat Bestand.
Unter dem Druck Deutschlands und der Finanzmärkte kehren die Euro-Staaten zurück zu einer Stabilitätsunion. Die Finanzminister in den angeschlagenen Staaten
ment: Sie können nicht wie die USA oder Großbritannien mit niedbekommen ihre Haushalte in den Griff, die Staatsschulden werrigen Zinsen und günstigen Wechselkursen ihre Wettbewerbsfäden abgebaut. Nach einigen Jahren halten die meisten Euro-Mithigkeit verbessern.
glieder die Maastricht-Kriterien wieder ein, die Defizite von
Da dies bitter nötig ist, bleibt ihnen zum Ausgleich der ökonomihöchstens drei Prozent der Wirtschaftsleistung und Schulden in
schen Unterschiede im Vergleich zu starken Ländern wie DeutschHöhe von maximal 60 Prozent zulassen. Und wer noch nicht so
land nur die Anpassung realwirtschaftlicher Größen. Also müssen
weit ist, der befindet sich doch auf gutem Weg. Die Anleger haben
Löhne, Preise und Beschäftigung von Griechenland bis Irland sinwieder Vertrauen. So beschreibt Thomas Straubhaar eines von
ken – eine Politik, die auf Widerstand stößt. Deshalb, so meinen
vier Szenarien in seiner Studie »Der Euro in der Krise«, die der Divor allem keynesianisch geprägte Ökonomen, ist ein Ausgleichsrektor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts für den Wirtmechanismus nötig: Euro-Bonds.
schaftsprüfer PWC erstellt hat.
Statt beschleunigter Reformen am Arbeitsmarkt und harscher
Doch der Marsch in eine stabile Welt ist hart. Die Krisenländer,
Einschnitte in die Staatsetats, die kurzfristig das Elend vergröallen voran Griechenland, Portugal, Spanien und Italien, müssen
ßern, soll die Last der Anpassung zeitlich gestreckt und über die
die von Europäischer Zentralbank (EZB) und Rettungsschirmen
Euro-Länder verteilt werden.
erkaufte Zeit nutzen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ihre ReEuro-Anleihen würden dabei helfen: Aufgrund der gemeinschaftgierungen müssen Ausgaben kürzen und Steuern erhöhen. An
lichen Haftung verschwinden die gewaltigen Zinsdifferenzen zwiEntlassungen im öffentlichen Dienst und Einschnitten ins soziale
schen den einzelnen Staaten. Alle können sich zum gleichen Zins
Netz führt da kein Weg vorbei.
finanzieren, und die meisten Länder wesentlich günstiger als
heute. Für Deutschland allerdings würde das Schuldenmachen
2. Gesundschrumpfen heißt das Rezept – und das in einer Zeit,
teurer. Das Problem dabei: Das Prinzip von Haftung und Risiko
da die Arbeitslosigkeit wächst und die Wirtschaft schwächelt. Zur
wird ausgehebelt, der Anreiz für solide Wirtschaftspolitik schwinLinderung der Schmerzen gibt es lediglich klar begrenzte Hilfen
det, wenn die Euro-Bonds nicht mit einer politischen Union einaus dem Rettungsfonds und ungenutztes EU-Fördergeld. Griehergehen, die Verschuldungsgrenzen markiert, überwacht und
chenland und Portugal müssen deshalb mit einer fortgesetzten
durchsetzt.
Rezession rechnen, Spanien und Italien wohl auch.
Lohn der Anstrengung: Der Euro-Raum bleibt erhalten. »Dass die
4. Weil die Folgen eines Staatsbankrotts einzelner Euro-Länder
Durchsetzung der Maastricht-Kriterien nicht unrealistisch ist, hat
für die Währungsunion dramatisch sind, plädieren viele Politiker
die Zeit vor Einführung der Währungsunion gezeigt«, sagt Straubfür eine Renaissance Europas, für den Ausbau des Euro-Bunds zu
haar. In den Jahren zwischen dem Abschluss des Maastricht-Vereiner politischen und fiskalischen Union. Nur so könne Europa
trags 1992 und der Einführung des Euro 1999 drückten etliche
verhindern, dass es in Zukunft an ökonomischem und politischem
Staaten ihre Schuldenquoten nach Kräften. Doch mit der Zeit
Gewicht auf internationaler Bühne verliert. Zwei Vorbilder malt
ging die Disziplin verloren. Hier hakt es immer noch, solange
HWWI-Ökonom Straubhaar für diesen Weg in die Zukunft auf: die
keine glaubwürdigen Sanktionsmechanismen für Schuldensünföderale Struktur der Bundesrepublik oder die Schweiz.
der etabliert sind. Zum Beispiel der Entzug von SouveränitätsDas deutsche Modell geht so: Die föderalen Einnahmen und Ausrechten.
gaben sind weitgehend durch Bundesgesetze geregelt, die Handlungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene entsprechend gerin3. Vor allem der italienische Ministerpräsident Mario Monti – aber
ger. Zum Ausgleich für den kleineren Spielraum steht der Bund für
auch der Präsident der EU-Kommission Manuel Barroso – sieht in
die Schulden der Länder ein, und die Länder garantieren für die
Euro-Anleihen einen Schlüssel zur Lösung. Gemeint sind ZinspaKommunen. Als Konsequenz unterscheiden sich die Zinsen der
piere, die gemeinsam von allen Euro-Staaten gegeben werden
einzelnen Bundesländer kaum voneinander.
und für die alle gemeinsam haften.
Die Bundesregierung lehnt solche Euro-Bonds bislang vehement
Auf Euro-Ebene stehen dem aber 17 unterschiedliche Steuer- und
ab. Die ökonomische Überlegung, die hinter den GemeinschaftsSozialsysteme in den einzelnen Staaten entgegen, die zusammenanleihen steht, ist schlüssig: Die Mitgliedsstaaten der Währungsgeführt werden müssten, was nur schwer vorstellbar ist. Als
union haben keine Möglichkeit, eine autonome Geldpolitik zu
»kleine Lösung« kommt eine Fiskalunion in Frage, denn die bebetreiben. Den Krisenstaaten fehlt damit ein wichtiges Instrudeutet nicht notwendigerweise eine Harmonisierung von Steuer-
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gesetzen. »Föderale Staaten wie die USA oder die Schweiz machen
deutlich, dass eine Fiskalunion durchaus eine bundesstaatliche,
kantonale oder gar kommunale Steuerhoheit vertragen kann«,
sagt Straubhaar.
So sind die Schweizer Kantone in ihrer Finanzpolitik autonom,
haften also selbst für ihre Schulden; im Fall einer Pleite kann der
Bund Zwangsmaßnahmen im Kanton durchsetzen. Übertragen
auf die Währungsunion heißt das: Wird ein Euro-Staat zahlungsunfähig, wird ihm – als Preis für die Rettung – die Finanzautonomie entzogen. An die Stelle nationaler Steuerbehörden treten
Euro-Statthalter, die Steuern eintreiben und Sparbeschlüsse umsetzen.
Das Chaos bei der Regierungssuche in Griechenland zeigt: Allzu
harsche Sparpolitik gefährdet den Zusammenhalt in Europa.
Deutsche Politiker drohen bereits mit dem Ende der Solidarität,
sollte keine stabile Koalition gefunden werden, die sich an die Absprachen hält. Verweigert die Troika aus EU-Kommission, EZB und
Internationalem Währungsfonds die Auszahlung der nächsten
Milliardenhilfen, droht die Staatspleite.
Griechenland müsste die Drachme einführen, um weiter Renten,
Gehälter und Sozialleistungen zahlen und ein neues Bankensystem aufbauen zu können. Vorstellbar ist auch, dass Euro-Staaten
wie Griechenland unter dem innenpolitischen Druck aus der Währungsunion austreten wollen, um durch eine Abwertung ihrer
neuen, dann eigenen Währung wieder wettbewerbs- und handlungsfähig zu werden. Oder die Retter verlieren die Lust, den
schlingernden Euro-Mitglieder noch mehr Geld zu geben.
Ökonomen wie Hans-Werner Sinn sehen in einem freiwilligen
Austritt Griechenlands die ökonomisch beste Lösung für alle Beteiligten. Nur ist weder ein Austritt noch ein Ausschluss aus der
Währungsgemeinschaft vorgesehen. Die Folgen für die europäische Wirtschaft und auch für die Staaten wären erheblich.
Die staatlichen Kredite an Griechenland müssten sofort abgeschrieben werden, die Garantien würden fällig, auf die deutschen
und andere europäische Steuerzahler kämen hohe Belastungen
M 7 »Ich kann Sie nicht verstehen! Sie sind zu weit weg!«…«
© Kostas Koufogiorgos, 2012
zu. Auch die Banken müssten weitere Abschreibungen auf Staatsanleihen vornehmen. »Die Folge wird eine neue globale Finanzund Wirtschaftskrise sein«, glaubt Straubhaar. »Die indirekten
Kosten der staatlichen Insolvenz werden die direkten weit übersteigen.«
Und anders als 2008 nach dem Kollaps von Lehman Brothers haben die Staaten kaum noch Spielraum zum Gegensteuern. Eine
Kettenreaktion kann nicht ausgeschlossen werden, die auch andere Staaten mit sich reißt. Dann bricht der Euro auseinander.
Catherine Hoffmann: Vier Szenarien zur Zukunft Europas. Wie die Euro-Rettung ausgehen
kann. SZ vom 10.05.2012, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vier-szenarien-zur-zukunfteuropas-wie-die-euro-rettung-ausgehen-kann-1.1353389
M 8 Malte Buhse: »Der Fluch des China-Syndroms«
Jugendarbeitslosenquote in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union im August 2012 (saisonbereinigt)
Griechenland*
Spanien
Portugal
Irland
Italien
Slowakei
Bulgarien
Lettland*
Ungarn**
Zypern*
Polen
Schweden
Frankreich
Litauen
Rumänien*
Estland
Euro-Zone
EU
Großbritannien*
Slowenien
Tschechien
Luxemburg
Finnland
Belgien
Malta
Dänemark
Österreich
Niederlande
Deutschland
55,40 %
52,90 %
35,90 %
34,70 %
34,50 %
31,50 %
29,40 %
29,30 %
28,90 %
26,90 %
25,90 %
25,70 %
25,20 %
24,80 %
23 %
22,80 %
22,80 %
22,70 %
21 %
18,60 %
18,50 %
18,30 %
18,20 %
17,70 %
16,60 %
14,20 %
9,70 %
9,40 %
8,10 %
M 6 Jugendarbeitslosigkeit in den Mitgliedstaaten der EU
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© Eurostat, 2012
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Verfallende Fabriken, leerstehende Lagerhallen – im Norden Portugals ist das seit Jahren ein gewohntes Bild. Die Region, einst das
Zentrum der europäischen Textilindustrie, hat im vergangenen
Jahrzehnt einen beispiellosen Einbruch erlebt. 75.000 Menschen
verloren ihren Job, viele Unternehmen mussten aufgeben.
Schuld an dem Absturz war auch die neue Konkurrenz aus China,
mit deren Preisen die portugiesischen Firmen nicht mithalten
konnten, argumentieren die Ökonomen Uffe Mikkelsen (Dänische Nationalbank) und Esther Pérez Ruiz (IWF) in einer neuen
Studie. Portugal war demnach nicht das einzige Opfer: Der Aufstieg des Reichs der Mitte zur Wirtschaftssupermacht hat die EU
laut Studie in zwei Teile gespalten und war damit eine der Ursachen für die aktuelle Krise. (…)
Länder wie Portugal hatten sich vor allem durch geringe Produktionskosten einen Wettbewerbsvorteil erarbeitet. Da konnte
China dank niedriger Löhne problemlos mithalten: Trotz der
Zölle, die chinesische Firmen beim Export in die EU zahlen mussten, waren ihre T-Shirts billiger als die portugiesischen.
Die Flut von chinesischen Importen ließ die Textilwirtschaft in der
Euro-Zone abstürzen. Portugal verlor so über zwei Prozent seiner
Wirtschaftsleistung, errechnen die Forscher. Italien und Griechenland büßten rund 1,5 Prozent ein. Nicht nur bei den Arbeitskosten waren die Euro-Staaten unterlegen – auch gegen den
künstlich niedrig gehaltenen Kurs des Yuans waren sie machtlos.
Als Euro-Mitglieder hatten Portugal, Italien und Griechenland
keine Möglichkeit, ihre Währung abzuwerten und so wettbewebsfähiger zu werden. Daher habe der Aufstieg Chinas zu Arbeitslosigkeit, steigenden Handelsbilanzdefiziten und Strukturproblemen geführt, schreiben die Ökonomen.
Malte Buhse: »Der Fluch des China-Syndroms«, in: Handelsblatt vom 4.10.2012, S. 16
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M 9 Ulrich Schäfer: »Auf der Suche nach
Anschluss. Gerät Europa im globalen Wettlauf ins Hintertreffen?«
Ja, Europa steckt in einer Krise. Ja, es geht oft nur
schleppend voran im Kampf gegen diese Krise. Und,
ja, es wächst in Asien eine neue, mächtige Wirtschaftsnation heran, die das ausnutzen könnte. Aber
ist dies wirklich ein neues Phänomen? Haben wir eine
solche Phase, in der das große Projekt Europa, und
mit ihm die Wirtschaft des Kontinents, ins Stocken
gerät, nicht schon einmal erlebt? In den 1970er-Jahren machte sich in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine Krankheit breit, die der Kieler
Ökonom Herbert Giersch später »Eurosklerose«
taufte. Diese Krankheit brach 1973 aus, nach der Ölkrise, nach dem Zerfall des Währungssystems von
Bretton Woods, als sich die Staaten der EWG nicht
verständigen konnten, wie sie die lahmende Wirtschaft in Gang bringen können. Die Eurosklerose
M 10 »Globalic: Die neue globale Arbeitsteilung …«
© Gerhard Mester, 2012
dauerte bis Mitte der 1980er-Jahre.
In dieser Zeit ist im Fernen Osten mit Japan ein neuer,
mächtiger Wettbewerber erwachsen: eine Nation,
die die Welt erst mit ihren Waren flutete – und dann dazu anUSA und Europa werden auch 2025 die größten Märkte sein.«
setzte, die Immobilien und Unternehmen der Welt (zumindest in
Asien ist für ihn nur der dritte Pol, der hinzukommt – aber nicht
Teilen) mit ihren Deviseneinnahmen zu kaufen. Das Projekt Euder neue Mittelpunkt der Weltwirtschaft.
ropa: Es schien damals zu scheitern. Doch dann fanden die EuroMan mag Simon vorhalten, dass er die Rasanz des asiatischen
päer heraus aus der Malaise. Die gemeinsame Währung war dabei
Aufstiegs etwas unterschätzt. Und mag ihm auch vorhalten, dass
der entscheidende Hebel. Sie gab den Mitgliedstaaten wieder
in den Ländern der europäischen Peripherie der Mittelstand bei
Orientierung und Antrieb. Sie ließ zusammenwachsen, was ökoWeitem nicht so ausgeprägt ist wie in Deutschland und anderen
nomisch zum Teil nicht zusammenpasst, politisch aber zusamKernländern der EU. Dennoch: Europas ökonomische Stärke – gemengehört.
rade in einer Weltwirtschaft, die sich so rasant verändert – beruht
Der Euro brachte vielen Ländern der Währungsunion über Jahre
auf seinen gewachsenen Strukturen, auf Unternehmen, die es oft
hinweg mehr Wohlstand – und damit auch Deutschland als dem
seit vielen Generationen gibt und die vom europäischen Erfindergroßen Exporteur.
geist profitieren, von einer Tradition, die über Jahrhunderte hinDoch nun, fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der Eurosklerose,
weg durch Forscher wie Marie Curie, Robert Bosch, Louis Pasteur,
hört man wieder ganz ähnliche Schwanengesänge. Man hört jene,
Alfred Nobel oder Carl Friedrich Benz geprägt wurde.
die vor einem Zerfall der Währungsunion warnen.
Mögen die Amerikaner einen Mark Zuckerberg (Facebook) haben,
Auch die Untergangspropheten von heute zeigen nach Asien und
einen Sergey Brin (Google) oder einen Bill Gates (Microsoft) – die
glauben, der unaufhaltsame Aufstieg Chinas werde die Europäer
Europäer verfügen über eine breitere und vor allem gewachsenere
irgendwann an den Rand drängen. Sie rechnen vor, wen die ChiIndustrie. Unternehmen wie Siemens oder Alstom, Daimler oder
nesen alles schon überholt haben: beim Bruttoinlandsprodukt,
Renault, BASF oder GDZ Suez stehen dafür – und die Industrie ist
bei den Exporten, bei der Zahl der Ingenieure, Flughäfen, Autonach wie vor der produktive Kern der Wirtschaft. Während der
bahnen, Millionen-Metropolen.
New Economy in den späten 1990er-Jahren, aber auch noch daDoch sie unterschlagen dabei gern, dass China zwar seit Jahren
nach, bis zum Zusammenbruch der Wall-Street im Herbst 2008,
kraftvoll wächst, aber dass das Pro-Kopf-Einkommen und Progalten die USA als leuchtendes Vorbild. Sie profitierten aber vor
Kopf-Vermögen im Reich der Mitte immer noch weit entfernt ist
allem von einer überhitzten Finanzbranche.
von dem, was in Europa – und erst recht in Deutschland – üblich
Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung ist aber in den USA
ist. Die Europa-Skeptiker – die zugleich fast immer auch Asiennach wie vor geringer als im EU-Durchschnitt – und sehr viel niedEuphoriker sind – lassen auch außer Acht, dass Chinas Wachstum
riger als in Deutschland. Ohne seine Unternehmen aber, die sich
nicht ewig so weiter gehen kann. Was, wenn die Blase am chinesiin den letzten vier Jahren als sehr flexibel erwiesen haben, hätte
schen Immobilienmarkt platzt? Was, wenn immer mehr MenEuropa die Krise nicht überstanden. Die ganze Welt staunte über
schen aufbegehren, weil sie keinen Anteil am wachsenden Wohldas »German Wirtschaftswunder«, das nur ein Jahr nach dem
stand haben?
Crash von Lehman Brothers einsetzte – ein Wunder, bei dem die
Einer, der dieser China-Euphorie nicht so viel abgewinnen kann,
Regierenden mit einer klugen Konjunkturpolitik nachhalfen; ein
ist Hermann Simon, Buchautor und Unternehmensberater, der
Wunder, das aber ohne eine Wirtschaft, die ihre Hausaufgaben
Mitte der 1990er-Jahre den Begriff der »Hidden Champions« gegemacht hat, undenkbar gewesen wäre. (…)
prägt hat. Das sind jene Unternehmen, die in ihrer Branche den
Wenn Politik und Wirtschaft weiterhin streiten, statt gemeinsam
Weltmarkt beherrschen – und die in der breiten Öffentlichkeit
die Voraussetzungen für mehr Wachstum zu schaffen, für eine
kaum bekannt sind. Besonders viele Weltmarktführer gibt es in
prosperierende Industrie und einen kraftvollen Mittelstand,
Deutschland, sie sind der Kern des Mittelstands, jener Unternehkönnten die Europäer am Ende doch noch den Anschluss verliemen also, die die deutsche Wirtschaft so widerstands- und anpasren – und zwar im Wettstreit mit den asiatischen Wachstumslänsungsfähig machen. Dazu zählen Unternehmen wie der Laserspedern, in denen Politik und Wirtschaft traditionell sehr viel enger
zialist Trumpf, die Hochdruckreiniger-Firma Kärcher oder der
zusammenarbeiten als in Europa.
Betonpumpenspezialist Putzmeister, aber auch Omnicron, die
© Ulrich Schäfer: »Auf der Suche nach Anschluss. Gerät Europa im globalen Wettlauf ins
Raster-Tunnelmikroskope bauen, oder PWM, die elektronische
Hintertreffen?« – SZ vom 4.10.2012, S. 19
Anzeigen für Tankstellenliefern. 1.533 Hidden Champions hat Simon in der jüngsten Ausgabe seines Buchs in Deutschland ausfindig gemacht, weit mehr als in Asien, weshalb Simon glaubt: »Die
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M 11
Malte Buhse: »Die Krux mit
dem Emissionshandel«
Wenn doch nur alles so billig wäre,
wie ein bisschen Kohlendioxid (CO2)
in die Luft zu blasen. Knapp acht Euro
kostet momentan ein Zertifikat, das
den Ausstoß einer Tonne Kohlendioxid erlaubt. Für energiehungrige
Unternehmen paradiesische Zustände, für Umweltschützer ein klares Zeichen dafür, dass der Emissionshandel nicht funktioniert. Damit
der Preis endlich steigt, will EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard
jetzt das Angebot an Verschmutzungsrechten verknappen und die
nächste Auktionsrunde kurzerhand
abblasen.
Denn viele Unternehmen sind nach
Überzeugung von Umweltökonomen
mit CO2-Zertifikaten überversorgt,
besonders in Deutschland: Rund 80
Prozent der deutschen Firmen besitzen mehr Verschmutzungsrechte, als
M 10 »EU-Klimapolitik auf Kyoto-Kurs«
© Zahlenbilder, Bergmoser + Höller Verlag, 2011
sie benötigen, hat der Mannheimer
Umweltökonom Andreas Löschel
vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung vor kurzem berechres als eine Subvention an die Unternehmen, für die die EU keine Gegennet.
leistung erhält«, lautet daher das Fazit der Ökonomen.
Dieses Überangebot hat die EU über weite Strecken selbst zu verEine milliardenschwere Subvention, denn würde die EU einige der
antworten, zeigt eine neue Studie einer Forschergruppe um den
gemachten Geschenke wieder zurücknehmen, könnte sie mehr
deutschen Ökonomen Ralf Martin von der London School of EcoRechte verkaufen und damit viel Geld verdienen. Bis zu 36 Prozent
nomics. Demnach hat Brüssel in den vergangenen Jahren viel zu
mehr CO2-Zertifikate ließen sich so in den Auktionen versteigern,
haben die Forscher berechnet. Besonders in Deutschland könnte
großzügig großzügig Gratisverschmutzungsrechte verteilt und
die EU stärker zulangen, denn hier profitieren die Unternehmen
dabei vor allem deutsche Unternehmen reich beschenkt. Um die
laut der Studie am meisten vom derzeitigen ineffizienten System.
Industrie langsam an den Emissionshandel zu gewöhnen, gab es
Knapp die Hälfte der an deutsche Firmen verteilten Gratiszertifidie ersten Zertifikate für viele Firmen umsonst. Dabei orientierte
kate könne man gefahrlos wieder einsammeln und fortan kostensich die EU an zwei Kriterien: Zum einen versorgte sie Unternehpflichtig anbieten, so die Umweltökonomen.
men mit einem hohen CO2-Ausstoß wie zum Beispiel Aluminiumhütten und Stahlwerke mit kostenlosen Zertifikaten. Und zum
Dies würde selbst bei den aktuellen Niedrigpreisen mehrere Millianderen Firmen, die auf dem Weltmarkt im harten Wettbewerb
arden Euro einbringen. Geld, mit dem die Erforschung neuer
mit internationalen Konkurrenten stehen. So sollte verhindert
Energietechniken gefördert werden könnte, wie die Ökonomen
werden, dass Unternehmen nach der Einführung des Emissionsvorschlagen. Oder mit dem Regierungen Geringverdienern einen
handels nicht mehr wettbewerbsfähig sind und ihre Geschäfte in
Zuschuss zu steigenden Stromkosten zahlen könnten. Außerdem
Länder verlagern, die beim CO2-Ausstoß nicht so genau hinwürde so der Wirkungsmechanismus des Emissionshandels wieschauen.
der in Kraft gesetzt:
Die Abwanderungsgefahr von Unternehmen ist aber offenbar in
Wenn mehr Unternehmen Verschmutzungsrechte zukaufen müsder Realität bei weitem nicht so groß, wie die Konstrukteure des
sen, steigt der Preis. Die aktuellen acht Euro pro Tonne CO2 sind
zu wenig, um das Klima zu schützen. Erst wenn ein Zertifikat minEmissionshandels erwartet haben, stellen die LSE-Forscher fest.
destens 20 Euro kostet, rechnen sich Investitionen in saubere ProDie Ökonomen führten in über 700 Unternehmen aufwendige Induktionsanlagen, hat der ZEW-Forscher Andreas Löschel berechterviews und fragten Manager, wie sie reagieren würden, wenn
net. Am besten wäre es, wenn die EU immer von Fall zu Fall
ihre Firma für CO2-Zertifikate plötzlich Geld zahlen müsste. Nur
wenige drohten für diesen Fall mit dem Abbau von Arbeitsplätzen
entschiede, welchem Unternehmen sie kostenlose Rechte zuteilt
oder der Verlagerung von Produktionsanlagen ins Ausland.
und wer zahlen muss, so die Londoner Ökonomen.
Dass die Befragungsergebnisse so eindeutig sind, ist überraDafür müssten die Beamten allerdings für jede Firma eine indivischend. Denn die Manager hatten in den Interviews mit den Forduelle Abwanderungswahrscheinlichkeit berechnen. Ein sehr aufschern eigentlich einen Anreiz, schwarz zu malen und die Gefahr
wendiger Prozess, der nur schwer umsetzbar sei, wie die Forscher
einer Abwanderung zu übertreiben, um so gegen höhere CO2zugeben. Doch das System würde schon deutlich effizienter funkPreise zu argumentieren. Dass trotzdem nur wenige Unternehtionieren, wenn man nur die Ausnahmeregeln für Firmen mit eimen mit Arbeitsplatzabbau und Wegzug drohten, spricht nach
nem starken Auslandsgeschäft abschaffen.
Ansicht der Wissenschaftler dafür, dass die meisten Firmen den
Malte Buhse, Die Krux mit dem Emissionshandel, Handelsblatt vom 30.8.2012, S. 20
Kauf von Verschmutzungsrechten gut stemmen können. Das
gelte auch für Firmen, die im Wettbewerb mit Konkurrenten außerhalb der EU stehen und daher angeblich besonders schutzbedürftig sind – auch bei diesen Unternehmen konnten die Londoner Wissenschaftler kein messbar höheres Abwanderungsrisiko
feststellen. »Die meisten kostenlosen Emissionsrechte sind nichts ande-
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Die Zukunf tsfähigkeit der EU
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
»Europa in der Schule« – Perspektiven
eines modernen Europaunterrichts
Ko n g re ss i m St u t t g a r t e r R a t h a u s: 11.5. 2012
JÜRGEN KALB
Zielsetzung des Kongresses »Europa in der Schule«, der in Zusammenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport und der
Stadt Stuttgart sowie dem Europazentrum Baden Württemberg
am 11. Mai 2012 im Stuttgarter Rathaus durchgeführt wurde, war
eine Bestandsaufnahme und Aussprache über die bisherige Berücksichtigung der europäischen Integration in den Bildungsplänen sowie der Schulpraxis in Baden-Württemberg. Dabei wollte
der Kongress dazu beitragen, europäische Perspektiven und Themen stärker und nachhaltiger im Unterricht an baden-württembergischen Schulen zu implementieren.
Abb. 1 Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer bei ihrem Vortrag zum
Thema »Europa in der Schule«
© alle Fotos: Michael Lebisch, LpB
Im Frühjahr 2013 wird dazu ein weiterer Band in der »Didaktischen
Reihe« der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württenberg erscheinen. Er enthält Beiträge u. a. von Gabriele Warminski-Leitheußer, Dr. Wolfgang Schuster, Prof. Dr. Hans-Jürgen
Bieling (Universität Tübingen), Prof. Dr. Georg Weißeno (PH
Karlsruhe), Prof. Roland Wolf (Seminar Tübingen), Prof. Dr.
Schöne (PH Gmünd), OStD Bodo Philipsen (Sindelfingen), StD Dr.
Andreas Grießinger (RP Freiburg), StD.in Christel Schrieverhoff
(Seminar Recklinghausen), StD Hans Gaffal (RP Stuttgart), Prof.in
Judith Spaeth-Goes (Seminar Stuttgart), Dr. Annette Deschner
(PH Karlsruhe), StD Dr. Georg Weinmann (Wertheim), StD Jörg
Schirrmeister (Seminar Freiburg), StD Ulrich Plessner (Seminar
Freiburg), RA Holger-Michael Arndt (Civic-Institut Düsseldorf),
Harald Keuchel (Eurosoc, Konstanz), Florian Setzen (EZBW), Susanne Meir (LpB). Herausgegeben wird der Sammelband von
Siegfried Frech, Jürgen Kalb und Karl-Ulrich Templ (alle LpB).
Die Leitfragen des Kongresses waren:
Abb.2 Von rechts: Professor Dr. Hans-Jürgen Bieling, Universität Tübingen,
Siegfried Frech, LpB, Roland Wolf, Seminar Tübingen, Karl-Ulrich Templ, LpB, Professor Jan Bergmann, EZBW, Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster, Lothar
Frick, Direktor der LpB, Simone Bub-Kalb, Seminar Stuttgart, Jürgen Kalb, LpB.
Europapolitische Dimension
(1) Welche Bedeutung hat die europäische Einigung bereits erlangt: politisch, ökonomisch, kulturell?
(2) Wie lässt sich eine zu beobachtende Europaskepsis erklären?
Wie soll ihr begegnet werden?
(3) Quo vadis EU? Wie zukunftsfähig ist das europäische Einigungskonzept?
Schulbezogene Dimension
(1) Wird die gewachsene Bedeutung der Europäischen Integration genügend im gegenwärtigen Schulalltag gespiegelt?
(2) An welchen Stellschrauben müsste man drehen, um die Schulen und die Schülerinnen und Schüler zu einer verstärkten »Europakompetenz« zu führen.
Abb. 3 Rund 160 Zuhörer im Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses
» E u r o p a in d e r S c h u l e « – P e r s p e k t i v e n e ine s m o d e r ne n E u r o p a u n t e r r i c h t s
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Vorträge des Europakongresses:
– Lothar Frick, Direktor der LpB Baden-Württemberg: »Begrüßung«
– Dr. Wolfgang Schuster, Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart:
»Ergebnisse und Impulse der EU-Reflexionsgruppe«
– Gabriele Warminski-Leitheußer, Kultusministerin des Landes
Baden-Württemberg: »Europa in der Schule«
– Professor Dr. Hans-Jürgen Bieling, Professur für Politik und
Wirtschaft (Political Economy) und Wirtschaftsdidaktik, Universität
Tübingen: »Europäische Integration: Integrationsfortschritte,
Bedrohungen und Perspektiven«
Podiumsdiskussion: »Die Zukunft der EU und ihre Präsenz in
der Schule«
Abb. 4 Den wissenschaftlichen Vortrag zum Thema »Europäische Integration«
hielt Professor Dr. Hans-Jürgen Bieling, Universität Tübingen.
Moderation: Professor Dr. Jan Bergmann, Vorstandsvorsitzender des
Europa Zentrums Baden-Württemberg
Podiumsteilnehmer
(1) Heide Rühle, Grüne, MdEP
(2) Peter Hofelich, SPD, MdL, Vorsitzender des Europa-Ausschusses
des Landtags
(3) Michael Theurer, FDP, MdEP
(4) Petra Wagner, Oberstudiendirektorin, Schulleiterin des Wagenburg-Gymnasiums Stuttgart
(5) Roland Wolf, Professor, Seminar für Didaktik und Lehrerbildung
Tübingen, SWL Baden-Württemberg
(6) Jürgen Kalb, Studiendirektor, LpB, Chefredakteur »Deutschland &
Europa«
Einig waren sich alle Tagungsteilnehmer, dass die Stärkung der
»europäischen Dimension« Aufgabe des Schulunterrichts an allen
Schularten sei. Allerdings wurden für die Umsetzung unterschiedliche Schwerpunkte inhaltlicher und methodischer Art vorgeschlagen. Unverzichtbar scheint dabei insbesondere die Begegnung im Rahmen von Austauschprogrammen. Unterschiedliche
Projekte und Anbieter – vom Kultusministerium über das Europa
Zentrum Baden-Württemberg, das Projekt »Europa in der Schule«
und das Europe direct Büro Stuttgart – hatten dazu im Foyer und
im Sitzungssaal Informationsstände aufgebaut.
Abb. 5 Podiumsdiskussion unter Moderation von Prof. Dr. Jan Bergmann. Von
links: Heide Rühle, MdEP; Michael Theurer, MdEP; Peter Hofelich, MdL; OStD.in
Petra Wagner, Wagenburg-Gymnasium Stuttgart; Prof. Roland Wolf, Seminar
Tübingen; StD Jürgen Kalb, LpB.
Abb. 6 Ausgabe der Tagungsmappen: von links Direktor Alexander Kreher,
Stadt Stuttgart, Barbara Bollinger, Sylvia Rösch, Susanne Meir, alle LpB
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
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Abb. 1 Professor Dr. Dieter Fuchs,
Universität Stuttgart, Institut für
Sozialwissenschaften, Abteilung für
Politische Theorie und Empirische
Demokratieforschung
Abb. 2 Professorin Dr. Edeltraud
Roller, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Politikwissenschaft, Bereich »Vergleichende
Politikwissenschaft«
Abb. 3 Professor Dr. Björn Alpermann, Juniorprofessor für Contemporary Chinese Studies an der Universität Würzburg
Abb. 4 Professorin Dr. Doris
Fischer, Chair for Chinese and
Commerce an der Universität Würzburg
Abb. 5 Privatdozent Dr. Harald
Barrios, Politikwissenschaftliches
Institut der Universität Tübingen,
Eberhard-Ludwigs-Gymnasium
Stuttgart
Abb. 6 Studiendirektor Dr. Georg
Weinmann, Abteilungsleiter am
Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium
Wertheim, Mitglied im Beirat von
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Abb. 7 Akademischer Oberrat
Martin Große Hüttmann, Politikwissenschaftliches Institut, Universität Tübingen
Abb. 8 Studiendirektor Jürgen
Kalb, LpB, Elly-Heuss-KnappGymnasium Stuttgart – Bad Cannstatt, Fachberater am RPS
»Juniorteam Europa«
Das Juniorteam Europa ist ein seit über 10 Jahren existierendes
Netzwerk von europa-begeisterten jungen Menschen. Es wird von
der Außenstelle Heidelberg der Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Würtemberg, betreut und regelmäßig qualifiziert.
Das gemeinsame Ziel: die Vermittlung von Wissen und Begeisterung über Europa und die Europäische Union. Die Zielgruppe: Jugendliche im Alter von 14 bis 25 Jahren. Das Einsatzgebiet: überwiegend in Baden-Württemberg. 2007 haben wir das Juniorteam
Europa, Balkan ins Leben gerufen, das in mehreren Ländern Südosteuropas aktiv ist.
Das Juniorteam Europa beruht auf dem Ansatz der »peer group
education«. Zwischen Referenten und Seminar-Teilnehmern besteht in der Regel nur ein relativ geringer Altersunterschied. Der
Vorteil: Es entsteht schnell eine Nähe und Vertrautheit, die Lernbarrieren abbaut und den Zugang zu Europa erleichtert.
Gleichzeitig werden vorwiegend interaktive Lernmethoden (z. B.
Planspiele) verwendet, um Europa konkret erfahrbar zu machen.
Durch diese bei Schülern und Studenten meist willkommene Abwechslung zum regulären Unterricht wird das Lernen rund um die
Europäische Union »quasi nebenbei« vermittelt.
Das Juniorteam Europa übernimmt auf Anfrage von Trägern der
politischen Bildung die Vorbereitung und Durchführung von KurzWorkshops (zwei bis vier Stunden) sowie ein- und mehrtägigen
Veranstaltungen in der nationalen und internationalen Jugendbildung und -begegnung.
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Nächste Teamerschulung: 2.–3.Dezember 2012
In der Außenstelle Heidelberg der LpB werden Planspiele zu
verschiedenen Themen entwickelt und erprobt. Wir schulen
Teamerinnen und Teamer für den Einsatz von Planspielen im
schulischen und außerschulischen Bereich. Darüber hinaus
veranstaltet die Außenstelle Heidelberg Fachtagungen und
Lehrerfortbildungen zum Thema Planspiele.
Die nächste Teamerschulung findet in der Außenstelle Heidelberg von Samstag, 2. bis Sonntag, 3. Dezember 2012 statt. Neben dem Kennenlernen europapolitischer Methoden liegt der
Schwerpunkt der Fortbildung in der Einführung und Erprobung des Planspiels »An der schönen blauen Donau«, ein politisches Planspiel zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
im Donauraum. Das Planspiel simuliert die Donaustrategie
der EU und wurde erstmals am 4. November 2011 im Rathaus
Ulm und im Rahmen des Internationalen Donaufestes am
9. Juli 2012 im Neu-Ulmer Rathaus mit 50 Jugendlichen aus
dem Donauraum gespielt.
www.youtube.com/watch?v=VfDbU3HqZcU&feature=player_embedded
In Plan- und Rollenspielen werden Entscheidungssituationen simuliert, um den Teilnehmern einen Einblick in den Einfluss unterschiedlicher Interessenlagen und die Wirkung reglementierter
Abläufe kollektiver Entscheidungsfindung zu ermöglichen.
Nähere Informationen und Anmeldung über:
[email protected]
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Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
[email protected], www.lpb-bw.de
Direktor: Lothar Frick
Büro des Direktors:
Sabina Wilhelm
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ
Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Leiter: Werner Fichter
Felix Steinbrenner
-60
-62
-40
-63
-64
Abteilung Zentraler Service
Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht
-10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer
-12
Personal: N. N.
-13
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14
Klaudia Saupe
-49
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30
Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser*
-20
Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner*
-25
Robby Geyer
-26
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel
-29/-32
Jugend und Politik: Angelika Barth*
-22
Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel*
-35
Alexander Werwein-Bagemühl*
-36
Charlotte Becher*, Stefan Paller*
-34, -37
Abteilung Medien und Methoden
Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ
-40
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber
-42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb
-43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech
-44
Unterrichtsmedien: Michael Lebisch
-47
E-Learning: Susanne Meir
-46
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb
Tel.: 07125/152-136
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier
-49/-46
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Außenstelle Freiburg
Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner
Jennifer Lutz
-77
-33
Außenstelle Heidelberg
Plöck 22, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Leiter: Wolfgang Berger
Dr. Alexander Ruser
-14
-13
Außenstelle Tübingen
Die Außenstelle Tübingen wurde zum 1.5.2012 aufgelöst.
Projekt Extremismusprävention
Stuttgart: Stafflenbergstraße 38
Leiterin: Regina Bossert
Assistentin: Nadine Karim
-81
-82
* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-0, Fax -55
LpB-Shops/Publikationsausgaben
Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0
Montag bis Freitag
8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr
Abteilung Haus auf der Alb
Tagungszentrum Haus auf der Alb,
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Telefon 07125/152-0, Fax -100
www.hausaufderalb.de
Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik:
Dr. Markus Hug
Schule und Bildung/Integration und Migration:
Robert Feil
Internationale Politik und Friedenssicherung/
Integration und Migration: Wolfgang Hesse
Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel
Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann
Hausmanagement: Nina Deiß
Außenstellen
Regionale Arbeit
Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Veranstaltungen für den Schulbereich
Freiburg
-146
Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10
Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr
Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11
Dienstag, 9.00–15.00 Uhr
Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr
-139
Stuttgart
-140
-147
-121
-109
Stafflenbergstraße 38,
Telefon 0711/164099-66
Mittwoch 14.00–17.00 Uhr
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Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können
schriftlich bestellt werden bei:
Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 099-77
[email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shop
Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 1 kg bestellen, fallen für Sie keine
Versandkosten an. Für Sendungen über 1 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger
Produkte werden Versandkosten berechnet.
KOSTENPFLICHTIGE EINZELHEFTE UND ABONNEMENTS
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LpB, Redaktion »Deutschland & Europa«, [email protected],
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart.
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