Diss. ETH Nr. 23708 Spuren des Handwerks Der Einfluss handwerklicher Herstellung auf die Architektur Uli Matthias Herres DISS. ETH Nr. 23708 SPUREN DES HANDWERKS: DER EINFLUSS HANDWERKLICHER HERSTELLUNG AUF DIE ARCHITEKTUR Abhandlung zur Erlangung des Titels DOKTOR DER WISSENSCHAFTEN der ETH ZÜRICH (Dr. sc. ETH Zürich) vorgelegt von ULI MATTHIAS HERRES Dipl. Ing. TU Kaiserslautern geboren am 01.06.1979 von Wittlich, Deutschland angenommen auf Antrag von Prof. Annette Spiro, ETH Zürich (Referentin) Prof. Dieter Geissbühler, HSLU – T&A (Korreferent) Prof. Tina Unruh, HSLU – T&A (Korreferentin) 2016 Inhaltsverzeichnis Abstract6 I EINFÜHRUNG 1. Ziele9 2. Fragestellung10 3. Ausgangslage12 Bezugssystem12 Forschungsgegenstand 13 Wissenschaftliche Lücke15 Begriffe20 4. Methode – Eine Theorie des Bauens 25 Bauforschung und Spurensuche25 Thesen27 Analyse27 Auswahl der Fallbeispiele30 Synthese30 Die empirische Komponente31 5. David Pyes „ The Nature and Art of Workmanship“ 34 Freie und regulierte Umsetzung34 Diversität35 Arts and Crafts? Pyes Kritik an John Ruskin 35 6. Exkurs: Spezifika des Zimmererhandwerks 38 Abgrenzungen38 Werkzeuge38 Organisation44 Material46 2 II BAUHANDWERK 1. Drei Thesen zum handwerklichen Arbeitsschritt 51 These 1: Können und Wissen51 These 2: Menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material (Risiko) 58 These 3: Angemessenheit63 2. Thesen: Die Fertigungsweisen in der Architektur 72 Handwerkliches Bauen72 Qualifizierte manuelle Fertigung 74 Manuelle Fertigung75 Determinierte Fertigung75 Bricolage75 Exkurs: Meta-Handwerk76 Übersicht der Fertigungsweisen77 3. Thesen: Bauprozesse 78 Der handwerkliche Bauprozess78 Fragmentierter Prozess: Manufaktur und Industrie 79 III DIE FALLBEISPIELE 1. Indikatoren als Hinweise auf die Thesen am Gebäude 81 Inkrementelle und direkte Arbeitsweise 81 Indikator 1: Art des Vorkommens von Spuren82 Indikator 2: Spuren situativen Reagierens82 Indikator 3: Iterativer Prozess83 Analyse der Fallbeispiele83 2. Hochstudhaus in Birrwil: Analyse Der Empirisch entwickelt Typus: Das Hochstudhaus in Birrwil 85 90 Rahmenbedingungen Fertigungsweisen Prozess Ausdruck der Fertigung 3 3. Hotzenhaus: Analyse99 Nachhaltigkeit als Ziel: Das Hotzenhaus106 4. Totenstube: Analyse115 Das Dorf weiterbauen: Die Totenstube 119 5. Ferienheim Büttenhardt: Analyse129 Das konkrete Material: Ferienheim Büttenhardt 134 6. Neue Monte-Rosa-Hütte: Analyse143 Autark bauen: Neue Monte-Rosa-Hütte 148 7. Tamedia-Gebäude: Analyse 155 Holz stecken: Das Tamedia-Gebäude 159 IV SPUREN 1. Synthese: Handwerkliches Bauen 169 Können und Wissen im Handwerk169 Direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material 176 Angemessenheit178 2. Synthese: Handwerkliche Prozesse 183 Indikator 2: Spuren situativen Reagierens183 Indikator 3: Iterativer Prozess185 Relatives vs. Absolutes Masssystem187 Material-Effizienz 188 Effizienz im Prozess 190 Induktiver vs. Deduktiver Prozess192 Pragmatik193 Strategien: Prozessvorgabe mit Unschärfe193 3. Synthese: Eigenheiten handwerklicher Bauwerke 196 Physische Eigenschaften196 Konnotative Eigenschaften 204 Selbstverständlichkeit219 Symmetria220 4 V FAZIT 1. Handwerk in der Architektur 223 223 Definition Abstufungen223 Bedeutung224 2. Der handwerkliche Bauprozess 226 226 Definitionen Bedeutung handwerklicher Prozesse227 3. Handwerk und Bauwerk 229 Objektive Eigenschaften von Bauwerken229 Konnotationen232 4. Ausblick234 ANHANG 237 Daten der untersuchten Fallbeispiele238 Literatur240 Bildnachweis244 Dank245 5 Abstract Technical innovation seems to have a great impact on the way architecture is constructed. Alternatives to craftsmanship as a means of production of architecture have become common. This can affect the built environment as well. Precise knowledge of the crafted production of architecture can help to understand these current transformations. Thus, this study of the physical fabrication of architecture focuses on craftsmanship. It is a major challenge that no distinct definition of the notion of «Handwerk» applicable for the field of architecture exists. Moreover, the term is connected to different connotations, positive as well as negative. Although some important examinations of the topic could be integrated into this work, it was not possible to apply them to the field of architecture directly and without reservations. Based on the discussion of existing definitions, the study at hand proposes three theses do distinguish crafted construction (‹Handwerkliches Bauen›): Firstly it is based on a specific combination of explicit and implicit knowledge. Secondly it includes direct physical interaction of the executor with the material. Thirdly it is not valued by absolute criteria, but by the relative balance between effort and result, the ‹adequacy› (‹Angemessenheit›). Steps performed by crafted construction can be incorporated into the overall process in different ways. A description of the characteristics of crafted building processes makes it possible to include the collective nature of building. The fundamental difference between crafted and fragmented construction lies in the way knowledge and responsibility are distributed among the people involved in the process. Six exemplary buildings serve as the primary sources to verify the theses. The work focuses on the carpentry trade. Traces of production found on the buildings serve as indicators and allow conclusions about their fabrication. The analyses of the case study buildings form the core of the work. They make it possible to illustrate direct or indirect correlations between the physical production and distinct features of the built architecture. Crafted construction can induce certain technical properties of the construction itself. Moreover, specific formal characteristics can emerge from the building process, which itself can affect the perception of buildings. An expression of crafted construction can be used as an architectural tool. The peculiarities of crafted construction processes enable the use and re-use of concrete materials, the working with particular situations, and repairs. In an overall view, craftsmanship in architecture can help to provide solutions for up-to-date problems. 6 Zusammenfassung Neue technischen Lösungen scheinen das Bauen stark zu verändern: Das Handwerk als Fertigungsweise der Architektur hat heute allgemein verfügbare Alternativen bekommen, was sich potentiell auch in der gebauten Umwelt manifestiert. Die genaue Kenntnis handwerkliche Fertigung in der Architektur hilft dabei, diese potentiellen Veränderungen des Bauens zu verstehen. Die vorliegende Untersuchung der physischen Erstellung von Architektur nimmt diese Fertigungsweise in den Fokus. Eine grosse Herausforderung ist, dass keine für die Architektur gültige, eindeutige Definition von Handwerk besteht. Dazu ist der Begriff mit verschiedenen positiven wie negativen Konnotationen belegt. Obwohl auf wichtige, bestehende Betrachtungen des Handwerks zurückgegriffen werden konnte, sind diese nicht direkt auf die Architektur zu übertragen. Basierend auf einer Erörterung dieser Definitionen schlägt diese Arbeit drei Thesen zur Abgrenzung handwerklichen Bauens vor: Handwerk beruht erstens auf einer spezifischen Kombination aus explizitem und implizitem Wissen. Zweitens schliesst es die direkte Interaktion mit dem zu bearbeitenden Material durch die Ausführenden ein. Drittens wirken bei seiner Beurteilung nicht absolute Kriterien, sondern die Angemessenheit als das relative Abwägen von Aufwand und Ergebnis. Handwerkliche Arbeitsschritte können auf verschiedene Arten in Bauprozesse eingebunden werden. Eine Beschreibung der Besonderheiten des handwerklichen Bauprozesses erlaubt, den kollektiven Charakter des Bauens abzubilden. Der fundamentale Unterschied zwischen einem handwerklichen und einem fragmentierten Bauprozess liegt in der Art und Weise, wie Wissen und Verantwortung im Prozess verteilt sind. Als Primärquellen, an denen die Thesen geprüft werden, dienen beispielhafte Bauwerke. Die Arbeit fokussiert dabei auf dem Zimmererhandwerk. Die Spuren der Fertigung an den Bauwerken dienen als Indikatoren, die Rückschlüsse über den Bauprozess ermöglichen. Die Analyse der Bauten erlaubt es, direkte und potentielle Zusammenhänge zwischen der physischen Fertigung und der gebauten Architektur aufzuzeigen. Durch die handwerkliche Fertigung können bestimmte technische Eigenschaften der Konstruktion entstehen. Auch spezifische formale Eigenschaften von Gebäuden sind möglich, die wiederum Auswirkungen auf deren Wahrnehmung haben. Ein handwerklicher Ausdruck kann unter bestimmten Voraussetzungen als architektonisches Instrument genutzt werden. Die Besonderheiten handwerklicher Prozesse ermöglichen schliesslich das Arbeiten mit konkreten Situationen. Beispiele dafür sind das Reparieren und das Arbeiten mit wiederverwendeten Materialien. Im grösseren Zusammenhang betrachtet, kann Handwerk im Bauen zur Lösung aktueller Fragestellungen beitragen. 7 Schwelle seitlich des Tenntores, Hochstudhaus 8 I Einführung Die vorliegende Arbeit untersucht die Fertigung von Architektur und nimmt dabei das Handwerk in den Fokus. Bereits am Anfang der Auseinandersetzung stellte sich heraus, dass dies ein Problem einschliesst: Obwohl Handwerk eine wichtige Fertigungsweise der Architektur ist und lange Zeit die vorherrschende war, versteht doch jeder unter diesem Begriff etwas anderes. Handwerk kann in der Sozialgeschichte völlig anders definiert sein als in der Technikgeschichte, der Kunst- oder Designtheorie oder der Soziologie. Noch schwieriger scheint aber, dass der Begriff mit Konnotationen überlagert ist, die von Romantik, Rückwärtsgewandtheit, Atavismus und Luddismus bis hin zu Überhöhung, Heroisierung und Idealisierung reichen. Die Architektur als Disziplin bietet eine Lösung dafür, den Begriff mit der nötigen Objektivität zu behandeln: Das physische Bauwerk als die Primärquelle zu betrachten, um Schlüsse über Handwerk als seine Fertigungsweise ziehen zu können. Die Spuren der Fertigung sind dabei die Vehikel. Die Methoden der Bauforschung und der Analyse von Bauten wird ergänzt durch die Erörterung theoretischer Positionen, welche in den architektonischen Kontext eingeordnet werden. 1.Ziele Das erste Ziel ist eine Definition von Handwerk in der Architektur. Weiterhin sollen Aussagen darüber getroffen werden, wie diese Fertigungsweise das Bauwerk beeinflussen kann. Schliesslich soll Handwerk in der theoretischen Diskussion sichtbar gemacht werden. Obwohl Handwerk bis in unsere Zeit eine wichtige Komponente des Bauprozesses ist, findet es in der zeitgenössischen Architektur wenig Beachtung. Die vorliegende Arbeit soll handwerkliche Fertigung im grösseren Kontext anschauen und so Diskussionen über aktuelle Möglichkeiten des Bauens, die oft auf hochtechnischen Lösungen fokussieren, durch einen Perspektivwechsel ergänzen. 9 Im Zentrum steht dabei eine zeitgenössische Definition für die handwerkliche Herstellung von Architektur. Sie kann anhand der Analyse gebauter Fallbeispiele überprüft werden. Auf dieser Grundlage sind Aussagen möglich, wie eine solche Fertigungsweise das Bauen beeinflussen und ‹Spuren hinterlassen› kann. Diese Erkenntnisse können dabei helfen, die Auswirkungen technischer Entwicklungen auf die gebaute Umwelt besser einzuschätzen. Ich glaube nicht, dass – im Sinne von Plinius` Ausdruck des ‹artifex nisi›1 – nur ein Künstler den Künstler oder ein Handwerker den Handwerker beurteilen kann. Doch zur richtigen Einordnung einer Fertigungsweise wie des Handwerks ist ein gewisses Mass an Kenntnis nötig. Eine Motivation für diese Betrachtung ist es daher, dem Bereich der handwerklichen Fertigung in den gegenwärtigen Diskussionen mehr Gewicht zu verleihen. Die Perspektive auf die Entwicklung der Architektur kann so über rein technische Entwicklungen hinaus geöffnet werden. Die Untersuchung des Handwerks bedeutet dabei auch den Versuch einer Versprachlichung von nicht vollständig zu versprachlichenden Phänomenen. Hannah Arendt schrieb in «Vita Activa»: «Sofern wir im Plural existieren, und das heisst, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.»2 Wenn diese Arbeit einen Teil der Phänomene des Handwerks einem weiteren Kreis innerhalb der zeitgenössischen Architektur erschliessen und damit eine konstruktive Diskussion unterstützen kann, wäre das ein grosser Erfolg. 2.Fragestellung Die Arbeit betrachtet die Spuren der Herstellung von Gebäuden. Dabei steht der Zusammenhang zwischen Fertigung und Bauwerk im Mittelpunkt. Spuren sind physische Anzeichen für einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang.3 Alle Merkmale eines Bauwerks, aus denen ein Betrachter Rückschlüsse auf die Herstellung ziehen kann, sind Spuren der Herstellung. Sie sind also nicht auf reine Werkzeugspuren beschränkt und können auch strukturelle Merkmale auf Gebäudemassstab einschliessen. Um bei der Betrachtung 1 Plinius, G. (o. J.). Epistulae 01, 10. «Ut enim de pictore, scalptore, fictore nisi artifex iudicare, ita nisi sapiens non potest perspicere sapientem». «Denn wie über einen Maler, einen Gemmenschneider, einen Bildhauer nur ein Künstler urteilen kann, so kann auch nur ein Weiser einem Weisen ganz gerecht werden». 2 Arendt 1960, S.12 3 Duden: «Spuren: [...] von einer äusseren Einwirkung zeugende (sichtbare) Veränderung an etwas, Anzeichen für einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang, Zustand». 10 des Handwerks klar das Objekt der Herstellung, das Bauwerk, anstatt die Herstellenden als Subjekt fokussieren zu können, soll die gebaute Architektur als Primärquelle dienen. Im Verlauf dieser Betrachtung untersuche ich die Spuren des Bauprozesses an bestehenden Gebäuden. Der Fokus liegt auf dem Zimmererhandwerk. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Definition von Bauhandwerk ermöglichen die Spuren Rückschlüsse über die Besonderheiten der Fertigung. Wo liegen handwerkliche Arbeitsschritte vor? Wie lässt sich handwerkliche Fertigung von anderen Herstellungsweisen unterscheiden? Gibt es so etwas wie einen ‹handwerklichen Bauprozess›? Durch den Fokus auf die Spuren kann auch die Rolle der Fertigung für das physische Bauwerk selbst hinterfragt werden: Welche potentielle Rolle spielt diese für die gebaute Architektur? Wie sehen die Spuren handwerklicher Fertigung am Gebäude aus? Welche Eigenschaften der Architektur entstehen auf diese Weise? Es würde dabei zu kurz greifen, die Auswirkungen der Fertigung auf physische Merkmale, wie sie durch Werkzeuge und Techniken entstehen, zu reduzieren. Bleiben letztlich am Bauwerk sogar nicht-physische Spuren, also solche, die auf dem Wissen der Betrachter um die Art der Herstellung beruhen? Dies kann ermittelt werden, wenn Eigenschaften am Bauwerk gesucht werden, welche eine Identifikation des Betrachters mit dem Bauwerk erst möglich machen. Diese Profile in Stuck sind zugleich direkte Spuren eines Fertigungsprozesses und eines Werkzeuges. 11 3.Ausgangslage Bezugssystem Diese Arbeit bewegt sich in einem architektonischen Kontext. Sie ist insofern geisteswissenschaftlich, als es um eine Theoriebildung des physischen Erstellens von Architektur geht. Die Begriffe ‹Entwurf›, ‹Ausführung›, ‹Bauwerk› und ‹Konstruktion› werden eingeführt. Die Untersuchung der Fertigung ist ein Mittel, das Gebäude als dessen Werk selbst besser zu verstehen. Es geht nicht um eine soziologische Sichtweise, die Handwerker und die Begleitumstände ihres Schaffens in den Mittelpunkt stellt. Die Ausführenden können nur insofern berücksichtigt werden, als dass ihre persönlichen Eigenschaften Teil der handwerklichen Fertigung sind und folglich auch eine Auswirkung auf das Gebäude haben können. Ebenso wenig ist dies eine historische Arbeit. Eine Periodisierung wird nicht angestrebt. Diese könnte auch eine Wertung einschliessen, indem zwischen ‹fortschrittlichen› oder ‹obsoleten› Arbeitsweisen unterschieden wird oder Fertigungsweisen unausgesprochen als Schritte in einer Entwicklung betrachtet werden.4 Eine solche Sichtweise würde in dieser Betrachtung den objektiven Blick auf die Fertigungsweisen von Anfang an erschweren. Ergänzend zu Periodisierungen soll hier das Augenmerk auf kontinuierliche Phänomene gerichtet werden. Dementsprechend möchte ich auch nicht von vorneherein davon ausgehen, dass es eine Epoche des Handwerks gab oder gibt. Technische Entwicklungen werden keineswegs negiert: vielmehr sollen die untersuchten Bauwerke selbst Auskunft geben, wo handwerkliche Fertigung bei ihrer Erstellung zum Einsatz kam. Der Bau des Hochstudhauses in Birrwil aus dem späten 17. Jahrhundert als des ältesten der untersuchten Fallbeispiele wird ebenso betrachtet wie der des 2013 fertiggestellten TamediaGebäudes in Zürich. Das Ziel ist, die Gemeinsamkeiten bestimmter Vorgehensweisen benennen zu können, ohne die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu verleugnen. Durch die Untersuchung nicht-zeitgenössischer Beispiele ist eine Überschneidung der Methoden mit solchen der Geschichtswissenschaft oder der Bauforschung nicht zu vermeiden. Jedoch ist die Fragestellung und die hypothetische Ausgangslage eine andere. Einige wichtige Begriffe sollen an dieser Stelle kurz eingeführt werden. Der ‹architektonische Entwurf› ist die Vorgabe, wie ein Gebäude beschaffen sein soll. Er gibt ein Ziel vor, dem sich in der Ausführungsphase angenähert wird. Auch der Grad dieser 4 12 Dies ist beispielsweise der Fall in der Periodisierung von Dolezalek & Ropohl 1967, S. 636 – 640. Annäherung kann im Entwurf vorweggenommen werden. Er ist damit eine Abstraktion in Bezug auf das zu fertigende Gebäude. Der architektonische Entwurf muss nicht zwangsläufig von Architekten als Personen stammen. Er kann auch durch eine implizite Übereinkunft vorliegen. Die ‹Ausführung› bezeichnet die physische Erstellung des Bauwerks vor Ort als die Umsetzung des Entwurfes. Das Produkt der Ausführung schliesslich ist das ‹Bauwerk›.5 ‹Werk› ist das Gegenstück zur ‹Hand› in ‹Handwerk›. Es fällt auf, dass die Bedeutung des Wortes eine gewisse Schnittmenge zwischen dem Werk als aktiver Tätigkeit und als Produkt dieser Tätigkeit einschliesst.6 Die etymologische Verwandtschaft mit ‹wirken› ist offensichtlich.7 Die ‹Konstruktion› beschreibt das Gefüge der Bauteile im fertigen Bauwerk. Konstruieren ist das Ausarbeiten des architektonischen Entwurfes bis zur tatsächlichen Baubarkeit. Forschungsgegenstand Untersucht werden die Spuren der Fertigung an Gebäuden mit hölzerner Konstruktion. Der Fokus liegt auf dem Zimmererhandwerk im kulturellen Kontext der Schweiz. Der Begriff der ‹Fertigungsweise› wird eingeführt. Das Zimmererhandwerk eignet sich für eine solche Betrachtung sehr gut, da es einerseits ein sehr traditionsverbundenes Handwerk, andererseits sehr stark von aktuellen technischen Entwicklungen betroffen ist. Schliesslich ist das Zimmern in einem umfassenden Sinn mit der Konstruktion von Bauten befasst. Die untersuchten Gebäude sind innerhalb der letzten dreihundert Jahre im kulturellen Kontext der Schweiz entstanden und mit dem Material Holz konstruiert worden. Dazu gehören das Hochstudhaus in Birrwil, ein 1692 erbautes Bauernhaus im Kanton Aargau, und das Hotzenhaus, ein in den 1980er Jahren mit dem expliziten Einsatz handwerklicher Fertigung erstelltes Schwarzwaldhaus nahe der Grenze zur Schweiz. Das Ferienheim Büttenhard im Kanton Schaffhausen und die Totenstube in Vrin in Graubünden wurden vor Kurzem erstellt und referenzieren handwerklich-traditionelle Konstruktionen. Beim Tamedia-Gebäude in Zürich und der neuen Monte-Rosa-Hütte schliesslich kamen in grossem Masse digitale Fertigungstechniken zum Einsatz. Alle diese Bauten wurden von Zimmerleuten erstellt. 5 Binding 1993, S. 101: «Die Baustelle selbst wird [im Mittelalter, UH] grundsätzlich ‹opus› oder ‹werk›, auch ‹structura› genannt». 6 Brockhaus: «3) [...] Im Urheberrecht eine persönliche, geistige Schöpfung der Literatur, Wissenschaft oder Kunst». 7 vgl. Kluge, Seebold 2011: «Werk. Sn std (8. Jhd.), mhd. werc(h), ahd. wer(a)h, werc, as. werk. Aus g. *werka-n ‹Werk, Arbeit› ... «; «wirken: ig *werg/wrg...die Bedeutung ist in den frühen germanischen Sprachen allgemein ‹machen, herstellen› oder auch: ‹wirklich›: zu ‹wirken› mit der Bedeutung ‹im wirken›, durch handeln geschehend». 13 Bewusst wird von ‹Fertigungsweisen›8 gesprochen. Die relative Offenheit des Begriffes lässt auch Raum für Faktoren wie die Verteilung der Verantwortung im Prozess oder das Wissen der Beteiligten, die in der Definition erörtert werden. Der Begriff der Technik ist hingegen nicht eindeutig und soll in diesem Kontext vermieden werden.9 Aus verschiedenen Gründen eignet sich das Zimmererhandwerk sehr gut für eine Betrachtung der Herstellung von Architektur. Einerseits bestehen dort starke Traditionen und Konventionen. Noch 1984 schreiben Gerald Blomeyer und Barbara Tietze: «Bei den Zimmerleuten haben auch die alten handwerklichen Traditionen sowohl in der Ausbildungsorganisation als auch im handwerklichen Können am deutlichsten den durch die Industrialisierung des Baugeschehens verursachten Kahlschlag [dieser Traditionen, Anm. UH] überlebt.»10 Durch die Einführung computergesteuerter Fräsmaschinen hat sich das Zimmern seitdem jedoch stark verändert.11 Die bis dahin bei der Ausführung geometrisch ermittelten wahren Längen und Winkel beim Anreissen12 werden nun direkt vom Computer berechnet, und der Abbund13 ist zu einem grossen Teil an die Maschine delegiert. Schliesslich ist das Zimmern ein Handwerk, das sich in einem umfassenden Sinn mit der Konstruktion von Bauten befasst. Es betrifft das ganze Haus in seiner Integrität.14 Die Herkunft des Wortes Architekt vom griechischen ‹architéktōn›, dem «obersten Zimmermann»,15 steht dafür genauso wie die Tatsache, dass ein Zimmerermeister durchaus die Rolle einnehmen konnte, die heute dem Architekten zukommt. Beim untersuchten Hochstudhaus in Birrwil gibt es Hinweise 8 Duden: «Weise: Art, Form, wie etwas verläuft, geschieht, getan wird (häufig in intensivierender Verbindung mit ‹Art›)». 9 Die schwierige Fassbarkeit des Technikbegriffes beschreibt Schindler 2009, S. 18 f. 10 Blomeyer, Tietze 1984, S. 66. 11 Schindler 2009, S. 9 f.: «In der heutigen ‹Informationsgesellschaft› kann der Holzbau wegen der hervorragenden computergestützten Infrastruktur mit durchgängigen digitalen Produktionsketten in den Schreinereien und Zimmereien als informationstechnisch am weitesten entwickelte Bauweise auf dem Markt betrachtet werden.» 12 Gerner 1984, S. 14: «anreissen, anzeichnen von Abschnitten, Verbindungen, Auskerbungen usw. auf Werkstücken; geschah früher im Holzbau auf dem Reissboden oder der Zulage». 13 Mönck 1981: «Abbinden ist das maßgerechte Anreißen, Bearbeiten, Zusammenpassen und Kennzeichnen von Schnitt- und Rundholz für Tragwerke, Bauteile und Einbauteile.» 14 vgl. dazu auch Blomeyer, Tietze 1984, S. 65: «Als selbstbewusste und treibende Kraft in solchen Auseinandersetzungen über Selbstverständnis, kulturelle Werte und das Verhältnis des Handwerkers zur Planung des Architekten spielt seit jeher das Zimmermannshandwerk eine herausragende Rolle. Der Zimmermann versteht den Architektenplan für ein Gebälk auch als Annäherung an eine Gestalt. Entsprechend empfindet er seinen Beitrag zum Hausbau mehr und weit selbstverständlicher, als das bei anderen Gewerken der Fall sein mag, als ebenso handwerkliche wie konzeptionell-gestalterische Leistung.» 15 Kluge, Seebold 2011: «Architekt Sm. ‹Baumeister› std (16. Jh.). Entlehnt aus l. architectus, dieses aus gr. architéktōn, einer Zusammensetzung aus gr. archi- ‹Erz-› und gr. téktōn ‹Baumeister, Zimmermann›, also eigentlich ‹Oberbaumeister›.» 14 darauf. Ein praktischer Grund für die Auswahl des Zimmererhandwerks ist, dass beim Zimmern die Konstruktion offen und ablesbar ist und zudem ein wichtiges Gestaltungselement des Gebäudes bilden kann. Auf Gebäude, bei denen auch die Spuren der Herstellung erkennbar sind, beschränkt sich auch die Betrachtung der Arbeit. Ein weiterer nicht unwichtiger Faktor ist, dass sich meine eigene handwerkliche Erfahrung auf das Material Holz konzentriert. Wissenschaftliche Lücke Der Blick der Forschung und die Reflexion von Fertigung in der Architektur richten sich heute oftmals auf die Auswirkungen und Möglichkeiten neuer technischer Entwicklungen. Nach der Industrialisierung Handwerk wird oft als Gegenpol zu technischer Entwicklung betrachtet. Diese Sichtweise wird allerdings auch in Frage gestellt. Das Handwerk bildet seit dem 19. Jahrhundert einen vermeintlichen Gegenpol, an dem der technische Fortschritt gemessen wird. Der amerikanische Kunsthistoriker Glenn Adamson beschreibt diese scheinbare Dualität des Handwerks als Gegenstück zu einer Erzählung der Moderne und spricht sogar von der Erfindung des heutigen Handwerksbegriffes als eines notwendigen Gegenstückes zu den mit Fortschritt konnotierten Veränderungen der industriellen Revolution.16 ‹Craft›17 steht für ihn nicht ausserhalb der Moderne, sondern ist ein Teil davon. In einem Vortrag über die Rezeption des Handwerksbegriffes zeigte der Technikhistoriker Reinhold Reith18 anhand einiger Beispiele gängige negative Verknüpfungen mit mittelalterlichem Handwerk auf und belegte, dass diese bis heute nachwirken. Im Anschluss wies er beispielhaft nach, dass ein einflussreicher und oft zitierter Beleg für die genannte Fortschrittsfeindlichkeit mittelalterlicher Handwerker auf einem Missverständnis beruht und nicht haltbar ist.19 Mit ‹Verfallstopos› und ‹Nahrungsprinzip› benennt er zwei verbreitete, mit Handwerk verknüpfte 16 Adamson 2013. 17 Der Begriff ‹craft› muss mit einiger Vorsicht benutzt werden, da er nicht deckungsgleich mit dem deutschen ‹Handwerk› ist. Er geht eher in die Richtung dessen, was im Deutschen als ‹angewandte Kunst› oder sogar ‹Kunsthandwerk› bezeichnet wird. Dennoch sind die Aussagen Adamsons in diesem Fall auf das Handwerk als Gegenstück zu industrialisierter Produktion übertragbar. 18 Reith 2014, S. 9: «Da ist in Überblickswerken der Geschichtswissenschaft von der Endogamie der Meisterfamilien, von kastenförmigen Abschließungstendenzen, von sozialer Versteinerung und Widerstand gegen arbeitssparende Technik die Rede.» 19 ebd. S. 10. Reith bezieht sich auf ein angebliches Zitat aus einer Verordnung der Zünfte der Stadt Thorn von 1523, welche das «›Erdenken und Gebrauchen› neuer Werkzeuge und Fertigungsmethoden verboten» habe. Dieses Zitat sei über einen langen Zeitraum immer wieder als Beleg für Technikfeindlichkeit gebraucht worden. Tatsächlich stamme es nach Reith aus der «Reformatio» König Sigismunds und hat mit den Zünften nichts zu tun. 15 Stereotype. Nach dem im 19. Jahrhundert entstandenen ‹Verfallstopos› ging das Handwerk nach einer Blüte im späten Mittelalter in einen andauernden Niedergang über. ‹Nahrungsprinzip› beschreibt Theorien, wonach ein Gewinnstreben im Handwerk über ‹standesgemässe Bedürfnisse› hinaus nicht existierte. Auch für Reith ist der Kontext dieser Erzählungen, dass das Handwerk als «Negativfolie» für technische Entwicklung diene. Dieses Paradigma der Dualität wird auch an anderer Stelle hinterfragt. In technikhistorischen Betrachtungen wird sporadisch darauf hingewiesen, dass der Gegensatz zwischen Handwerk und Mechanisierung in der industriellen Revolution weniger eindeutig war als oft beschreiben. Raphael Samuel20 betont beispielsweise, dass in Grossbritannien ein grosser Teil des Wachstums zur Zeit der industriellen Revolution auf Produktivitätssteigerungen handwerklicher Arbeitsformen zurückzuführen ist. Der Technikhistoriker Akos Paulinyi relativiert die These, dass die nur langsame Verbreitung des effizienzsteigernden Schnellschützen in der Weberei auf Innovationsfeindlichkeit der Weber zurückzuführen ist und führt sie auch auf technische Mängel der neuen Maschinen zurück.21 Fraglos ist, dass sich die Bewertung von handwerklichen Objekten verändert hat, seit diese Art der Fertigung nicht mehr selbstverständlich ist und alternative Fertigungsweisen allgemein verfügbar wurden. Die Reflexion des Handwerks als Fertigungsweise kann erst mit dem Entstehen des Gegenpols beginnen. Zwei Kulturen?22 Die empirische und die geistige Welt bilden zwei verschiedene Kulturen mit jeweils eigenen Sprachen. Handwerk arbeitet innerhalb eines eigenen Bezugssystems mit eigenen Gesetzmässigkeiten. Diese Arbeit stellt auch eine Übersetzung zwischen beiden Kulturen dar. Der amerikanische Architekt und Kunsttheoretiker John Fitchen vertrat in seiner Untersuchung historischer Bautechniken die These, dass durch die Geschichte hindurch eine ‹intelligentsia› das gesprochene und geschriebene Wort dominiert habe, und dabei alles ignorierte, was sie nicht verstand – auch das Handwerk.23 Ohne diese These zu bewerten, ist sie doch ein Beleg für 20 Samuel 1998. 21 Paulinyi 1998. 22 vgl. Snow 1959. Der britische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow stellte unter diesem Titel 1959 eine These auf, nach der die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche Kultur sich so stark auseinanderentwickelt haben, dass eine Verständigung nicht mehr möglich sei. Auf die Architektur bezogen möchte ich diese pessimistische Sicht nicht teilen, jedoch besteht sicher Übersetzungsbedarf. 23 Fitchen 1986, S. 15: «The intelligentsia – the philosophers and priests, along with the politicians, administrators, and men of affairs – have invariably dominated all media of the spoken and written word. What they did not understand they either ignored or belittled.» 16 gewisse Übersetzungsschwierigkeiten zwischen einer empirischen und einer geistigen Sphäre in der Architektur. Auch wenn man Sinn und Berechtigung dieser Dualität an sich in Frage stellen könnte, scheint es tatsächlich zwei Kulturen zu geben, von denen jede eine eigene Sprache spricht. Adamson schrieb in einer Analyse von ‹craft› über das Können (‹skill›) als etwas, worüber nur Ungelernte sprechen, während es für routinierte Personen selbstverständlich ist.24 Diese Beobachtung bestätigte sich während der Interviews mit Zimmerleuten im Zuge der Analysen. Auf die Nachfrage nach der Schwierigkeit bestimmter Arbeiten entgegneten sie anfangs meistens, diese seien nicht besonders kompliziert. Im Verlauf der Gespräche ergab sich dann, dass die vermeintliche Einfachheit der Arbeiten relativ ist: Die Zimmerer hatten die Erfahrung so weit verinnerlicht, dass sie die Schwierigkeiten nicht mehr als solche wahrnahmen. Die empirischen Komponenten des Handwerks sind schwierig oder überhaupt nicht formulierbar. Die Gefahr besteht, dass ein aussenstehender Beobachter diese Faktoren übersieht oder falsch einschätzt. Während Handwerker nicht über die empirischen Komponenten ihrer Tätigkeit sprechen, weil diese für sie selbstverständlich sind, können Aussenstehende nicht darüber sprechen, weil sie nicht wissen, dass sie existieren. Zur handwerklichen Fertigung gehört eine spezifische Kombination aus empirischer Erfahrung und geistiger Reflexion, welche kaum voneinander zu trennen sind. Um diese erkennen zu können, muss die Betrachtung sowohl die empirischen wie die geistigen Elemente berücksichtigen. Theorie und Praxis sind relative Begriffe. Aus Sicht der Architekturtheorie kann die Arbeit der entwerfenden Architekten Praxis genannt werden. Aus deren Sicht ist Praxis die Arbeit derjenigen, welche die Konstruktionspläne zeichnen. Für die Untersuchung der Herstellung von Architektur möchte ich mich der prägnanten Definition des römischen Architekten und Theoretikers Vitruv anschliessen. In seinem Werk «Zehn Bücher über Architektur» unterscheidet er ‹fabrica› (Hand-Werk) von ‹ratiocinatio (geistiger Arbeit)‹,25 die zusammen die Grundlage des Wissens von Architekten bilden. Während ‹fabrica› die praktische, durch Wiederholung gelernte und bewusst ausgeübte Tätigkeit an sich ist, beschreibt ‹ratiocinatio› deren Reflexion und jene der gefertigten Dinge. 24 Adamson 2007, S. 74: «Less obviously, it should be pointed out that craft skill never comes for free; it must be learned. Indeed, in a sense, skill is something that seems noteworthy only from the position of the unskilled. The skilled practitioner takes proficiency for granted.» 25 Vitruv, Fensterbusch, 1981, S. 23: «Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmässig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird. Ratiocinatio ist, was bei handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem Verhältnis ihnen handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung innewohnt.» 17 Die hier untersuchten Phänomene wirken an der Schnittstelle zwischen Planung und Physis, wo der Entwurf zum Bauwerk wird. Diese Betrachtung ist insofern geisteswissenschaftlich, als es um eine Theoriebildung des physischen Erstellens von Architektur geht. Sie schliesst auch den Ansatz einer Übersetzung zwischen beiden Kulturen ein. Es kann dabei nicht das Ziel sein, Handwerk vollständig intellektuell zu erfassen, doch die empirische Komponente des Bauens muss so genau wie möglich beschrieben werden, ohne die Unzulänglichkeiten einer solchen Versprachlichung zu verleugnen. Relevanz Handwerk ist auch heute noch wichtiger Bestandteil des Bauens. Zudem erscheint es sinnvoll, gültige Paradigmen der Fertigung mit dem Blick aus einem anderen Bezugssystem zu hinterfragen. Durch Veränderungen der Fertigung von Architektur verändern sich auch die Herstellungsspuren und damit die gebaute Architektur. Diese Arbeit hilft, diese Entwicklungen einordnen zu können. Schliesslich bietet handwerkliche Fertigung Lösungsvorschläge für aktuelle Fragestellungen. Die Analysen der gebauten Fallbeispiele vom barocken Hochstudhaus in Birrwil bis zum neuen Tamedia-Hauptsitz zeigen, dass handwerkliche Fertigung in verschiedener Ausprägung bei der Errichtung aller untersuchten Gebäude eine Rolle spielte. Dass sie gerade bei zeitgenössischen und mit Innovation konnotierten Gebäuden kaum reflektiert wird, ist sicher auch auf das angesprochene Übersetzungsproblem zurückzuführen. Zudem kann es sinnvoll sein, die heutige Sicht auf das Bauen mit dem Blick aus einem anderen Bezugssystem zu hinterfragen. Paradigmen wie die Fixierung auf Effizienz und Geschwindigkeit im Bauprozess, die Konzentration von Verantwortung in der Planung oder das Organisieren von Bauprozessen in komplexen Systemen mit entsprechend komplexen Hilfsmitteln sind ebenfalls nur innerhalb bestimmter Gesetzmässigkeiten sinnvoll, welche ihrerseits kritisch angeschaut werden können. Die technische Entwicklung führt zu Veränderungen der Fertigungsprozesse mit entsprechenden Folgen für die Spuren und damit die gebaute Architektur. Für die Architektur als Disziplin ist es wichtig, die Gründe, Triebfedern und Mechanismen dieser Veränderungen zu verstehen. In diesem Sinne bildet die genaue Untersuchung des Handwerks im Bauen eine Grundlage, mit der Entwicklung aktiv umgehen zu können. Darüber hinaus ist auffällig, dass bei einem grossen Teil der Forschungen, die im Zusammenhang mit aktuellen globalen Herausforderungen wie der Energie- und der Ressourcenfrage stattfinden, der Fokus auf technischen oder hochtechnischen Lösungen liegt. Tatsächlich musste handwerkliche Fertigung bereits in historischer Zeit – aus der Not heraus – mit ähnlichen 18 Problemen umgehen, denen sich unsere Gesellschaft auf globaler Ebene heute gegenübersieht, seien es Ressourcenknappheit, Langlebigkeit oder der Umgang mit speziellen klimatischen Bedingungen. Ein genauer Blick auf diese Fertigungsweise kann dazu beitragen, Grundlagen für Lösungen zeitgenössischer Probleme zu schaffen. Schliesslich ist ein wichtiges Thema der Architektur die Art und Weise, wie Gebäude jenseits physischer Merkmale wahrgenommen werden. Die mit Gebäuden verknüpften Konnotationen können Entwurfsentscheidungen wie Materialwahl und Konstruktion beeinflussen. Diskussionen über Rekonstruktionen, Rustikalität oder Imitation sind Hinweise darauf, dass auf dieser Ebene momentan starke Veränderungen wirken, die wegen der Komplexität des Wahrnehmungsthemas kaum adressiert werden. Eine Betrachtung solcher Phänomene ist enorm schwierig, da sie neben der Architektur auch die Soziologie, die Wahrnehmungstheorie und die Psychologie berührt. Das kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Die Betrachtung der Herstellungsspuren kann allerdings Hinweise darauf geben, welche physischen Voraussetzungen als ‹Rezeptoren› oder Anknüpfungspunkte für diese Konnotationen wirken können. ‹Rustifizierung› des Erdgeschossses eines Bürohauses der 1960er Jahre in Engelberg OW 19 Begriffe ‹Handwerk› ist kein eindeutiger Begriff.26 Die Beschäftigung damit führt sehr schnell zu der Beobachtung, dass keine allgemein gültige Definition existiert und sogar widersprüchliche Deutungen parallel verwendet werden. Die Verwendung des Begriffes ist abhängig vom Fokus der jeweiligen Betrachter. Ihn völlig zu vermeiden hiesse aber, dem Problem aus dem Wege zu gehen. Schliesslich geht es genau darum: eine möglichst präzise Definition dessen, was Bauhandwerk sein kann. Bestehende Definitionen Definitionen des Handwerks existieren aus den Blickwinkeln verschiedener Disziplinen: ausgehend von den Produktionsbedingungen, von der Art des Prozesses oder von soziologischen Gesichtspunkten. Richard Sennett beschreibt eher eine Lebensweise, David Pye einen einzelnen Arbeitsschritt. Zunächst existiert eine rechtliche Definition: die (deutsche) Handwerksordnung listet eine Reihe von Berufen auf, welche als Handwerk betrachtet werden.27 Die Zugehörigkeit zu dieser Liste ist nicht über die Art und Weise der Tätigkeit geregelt, sondern stellt eine historisch gewachsene Zuordnung dar. Liegt der Fokus auf den Produktionsbedingungen, ist die Definition insbesondere für historische Untersuchungen der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte oder Kulturanthropologie brauchbar. Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache wird erwähnt, dass bereits im Mittelhochdeutschen der Begriff ‹hantwerc› nicht nur für ‹Handarbeit›, sondern auch für ‹Gewerbe› genutzt wurde.28 Eine grundlegende Unklarheit der Definition ergibt sich also daraus, dass einerseits eine bestimmte Tätigkeit, andererseits auch eine Gruppe von Gewerben, welche historisch durch diese Tätigkeit bestimmt wurden, mit ‹Handwerk› bezeichnet werden können. Eine Vermischung dieser beiden Bedeutungen in einer Definition kann innerhalb einer 26 Adamson 2007 betont ebenso dessen Unklarheit wie z. B. Haefeli et. al. 2011 oder Pye (1968). Peach (2012) spricht von «craftsmanship» als «the slipperiest of terms». 27 Zwahr 2006 (Brockhaus, 21. Auflage): «Handwerk : 1) nach der H.-Ordnung ein Gewerbe, das handwerksmässig betrieben wird und das im Verzeichnis der Gewerbe, die als H. betrieben werden können (Anlage A zur H.-Ordnung), aufgeführt ist. Die Abgrenzung zwischen Industrie und H. ist mitunter schwierig. Merkmale des H. im Vergleich zur Industrie: geringere Betriebsgrösse, geringerer Grad der Technisierung, persönl. Mitarbeit des Betriebsinhabers; geringere Arbeitsteilung, da die üblicherweise nach dem traditionellen Berufsweg (Auszubildender, Geselle, Meister) umfassend ausgebildeten Arbeitnehmer in der Lage sind, das gesamte Arbeitsprodukt in allen Phasen herzustellen; Einzelanfertigung aufgrund individueller Bestellung überwiegt (...), Fertigung mehr für den lokalen Bedarf (Kundennähe). – Nach Österr. Gewerberecht ist H. ein Gewerbe, bei dem es sich um Fertigkeiten handelt, die durch Erlernung und durch längere Tätigkeit im Gewerbe erworben werden. – In der Schweiz gibt es keine Legaldefinition des Handwerks.» 28 vgl. auch Kluge, Seebold 2011: «Handwerk: Sn std. (11.Jh.), mhd. hantwerc, ahd hantwerc. Zunächst ‹Handarbeit›. Schon mhd. für ‹Gewerbe›.» 20 bestimmten Betrachtungsweise sinnvoll sein. Haefeli et al.29 beispielsweise orientieren sich für ihre Definition an derjenigen des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Der Historiker Valentin Groebner beschreibt eine soziologische Einstufung von Handwerkern im späten Mittelalter: «›Hantwerker› ist im strikt patrizisch regierten Nürnberg, in dem alle Zünfte verboten sind und Gesellenassoziationen mit harten Strafen verfolgt werden, ein politischer Begriff, der die Nichtzugehörigkeit zu den regierenden stadtadeligen Geschlechtern markiert; mit der Art des Erwerbs hat er wenig zu tun.»30 Wenn in einer Definition auf die Besonderheiten des Fertigungsprozesses selbst eingegangen wird, bleibt sie oft sehr vage. Die Brockhaus-Enzyklopädie ergänzt die Auflistung in der Handwerksordnung durch die Beschreibung, dass das jeweilige Gewerbe ‹handwerksmässig betrieben wird›.31 Sie setzt also voraus, dass den handwerklichen Gewerben eine spezifische Vorgehensweise eigen ist, ohne diese genau zu beschreiben. Weiter im Text werden einige Merkmale genannt, die als Abgrenzung zur «Industrie»32 dienen sollen, wie «geringere Arbeitsteilung, da die (...)umfassend ausgebildeten Arbeitnehmer in der Lage sind, das gesamte Arbeitsprodukt in allen Phasen herzustellen».33 Hier scheint auch die Qualifikation der Ausführenden eine Rolle zu spielen. Auch die Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert betont die Bedeutung des Könnens.34 Die geringere Arbeitsteilung ist dort wiederum nicht relevant. Die sehr tief gehende Studie «The Craftsman» von Richard Sennett35 definiert Handwerk als eine mit einem innewohnenden Ethos ausgeführte, qualifizierte Tätigkeit. Er adressiert klar die Art und Weise des Tuns, welche für ihn zwar aus physischer Tätigkeit erwächst, diese jedoch transzendiert.36 Bei dieser soziologischen Betrachtung liegt der Fokus auf dem Subjekt, 29 Haefeli et. al. 2011. 30 Groebner 1993, S. 17. 31 Zwahr 2006 . 32 Bemerkenswert ist, dass hier nur von der ‹Industrie› abgegrenzt werden soll, obwohl auch eine Abgrenzung zur anderen Seite hin, z. B. zu unqualifizierter manueller Arbeit, notwendig wäre. Das Fehlen einer positiven Definition über eine Beschreibung der Eigenheiten handwerklichen Arbeitens zwingt zu einer Definition ex negativo anhand des Gegenstückes ‹Industrie› – ein problematischer Dualismus. 33 Zwahr 2006. 34 Didérot, d`Alembert 1765/2009 «Craft. This name is given to any profession that requires the use of the hands, and is limited to a certain number of mechanical operations to produce the same piece of work, made over and over again.. (...) Anyone who has taken the trouble to visit casually the workshops will see in all places utility allied with the greatest evidence of intelligence: antiquity made gods of those who invented the crafts (...)». 35 Sennett 2009. 36 Sennett 2009, S. 18: «Ausdrücke wie ‹handwerkliche Fertigkeiten› oder ‹handwerkliche Orientierung› lassen vielleicht an eine Lebensweise denken, die mit der Entstehung der Industriegesellschaft verschwunden ist. Doch das wäre falsch. Sie verweisen auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine 21 den Ausführenden, nicht auf dem Produkt der Arbeit. Der Bündner Architekt (und ausgebildete Handwerker) Gion A. Caminada teilt diese Definition: «Ein solches Handwerk bezeichnen wir als die geduldige und sorgfältige Art etwas Wertvolles zu machen – zwischen aktivem Tun und reflexiver Betrachtung»37. Auch der Handwerker, Holzbau-Unternehmer und Fachbuchautor Wolfram Graubner unterstützt eine ähnliche Ansicht und spricht von einer «handwerklichen Lebensweise»38. Diese Auffassungen haben gemeinsam, dass sie von einer übergeordneten moralischen Verantwortung des Handwerkers ausgehen. Zum Herstellen gehört das moralische Bewerten des Ziels und der Folgen des eigenen Tuns. So wertvoll Sennetts Definition ist, kann sie doch für diese Arbeit nicht vorbehaltlos übernommen werden. Ihre Offenheit bedeutet, dass eigentlich alle am Bau Beteiligten, von Architekten über die Ausführenden bis hin zur Bauherrschaft, je nach ihrer Einstellung zu den Dingen ‹handwerklich› tätig sein können. Zur Untersuchung des Bauprozesses braucht es also weitere Spezifizierungen. Der englische Kunsthandwerker und -theoretiker David Pye war als Architekt ausgebildet und reflektierte das Zusammenspiel von Entwurf (‹design›), Ausführung (‹workmanship›) und den gefertigten Gegenständen. Die Definition des Handwerks in seinem Buch «The Nature and Art of Workmanship»39 fokussiert klar auf die Tätigkeit an sich. Den für ihn mit Vorurteilen belasteten Begriff ‹craftsmanship› lehnte er kategorisch ab.40 Stattdessen führte er die riskante Fertigung («workmanship of risk»41) ein. Sie beschreibt eine Arbeitsweise, bei der während des Bearbeitungsprozesses jederzeit das Risiko besteht, das Produkt zu verderben. Die Kontrolle über dieses Risiko liegt allein bei Beurteilung, Können und Sorgfalt («judgement, dexterity and care»42) der Ausführenden. Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit, Ungeschick oder fehlende Fertigkeiten können jederzeit zum Scheitern führen. Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern. Selbst als Eltern oder Staatsbürger können wir uns verbessern, wenn wir diese Tätigkeiten mit handwerklichem Geschick ausüben.» 37 Caminada 2015. 38 Graubner 2014b. 39 Pye 1968, S. 20: «If I must ascribe a meaning to the word craftsmanship, I shall say as a first approximation that it means simply workmanship using any kind of technique or apparatus, un which the quality of the result is not predetermined, but depends on the judgement, dexterity and care which the maker exercises as he works. The essential idea is that the quality of the result is continually at risk during the process of making; and so I shall call this kind of workmanship ‹workmanship of risk›.» 40 Ebd. S. 20: «It is impossible to find a generally satisfactory definition for it [craftsmanship] in face of all the strange shibboleths and prejudices about it which are acrimoniously maintained. It is a word to start an argument with.» 41 ebd. S. 20. 42 ebd. S. 20. 22 Umgekehrt ist bei der determinierten Fertigung (‹workmanship of certainty›) die Verantwortung für das Gelingen des Fertigungsschrittes den Ausführenden abgenommen. Hier ist deren Können und Sorgfalt von der eigentlichen Fertigung entkoppelt, da das notwendige Wissen vor deren eigentlichem Beginn in Schablonen, Lehren, Maschinen oder Computerprogrammen gespeichert ist. Beurteilung, Können und Sorgfalt sind von der eigentlichen Fertigung entkoppelt. Wo Sennetts Definition zu weit gefasst ist, ist Pyes Begriff der riskanten Fertigung – so wertvoll er in seiner radikalen Stringenz auch ist – für die Architektur zu eng. Er beschreibt das Wesen eines handwerklichen Arbeitsschrittes. Im Kunsthandwerk, der vormodernen Kunst oder in manchen Handwerkszweigen wie dem Möbelschreinern ist es denkbar, dass alle Schritte zur Herstellung eines Werkes von einer Person ausgeführt wurden (wobei dies selbst hier nicht unvermeidlich ist, wie die grosse Zahl an Schülern und Gehilfen in den Werkstätten von Künstlern nahelegt) oder dass die Herstellung selbst nur aus einem Arbeitsschritt besteht. Der Bau von Häusern jedoch ist praktisch ausnahmslos eine kollektive Angelegenheit, die eine Vielzahl an Schritten verschiedener Anforderungen miteinander verknüpft. Die Definition im Kontext der Architektur muss diese Besonderheit berücksichtigen. Konnotationen Zur schwierigen Definitionslage kommt hinzu, dass bei der Verwendung des Begriffes ‹Handwerk› positive wie negative Konnotationen mitschwingen können. Die beschriebene Verknüpfung von Handwerk mit Fortschrittsfeindlichkeit und Rückständigkeit bildet nur eine Seite des konstruierten Dualismus aus Handwerk und Fortschritt ab. Es gibt auch die gegenteilige Erzählung: die romantische Überhöhung des Handwerks als Gegenstück zur industriellen Entwicklung. Diese im 19. Jahrhundert geprägte Sichtweise wirkt bis heute fort und erhält sogar in jüngster Zeit neues Interesse. Nähe zum Handwerk wird von Trends wie der ‹Maker›- oder der ‹Do-it-Yourself›-Bewegung gezielt gesucht. Die Kunsthistorikerin Gerda Breuer sprach in diesem Zusammenhang überspitzt von einer Suche nach «nicht entfremdeter Arbeit als Sehnsuchtsmodell im Neoliberalismus»43. ‹Machen› scheint heute positiv konnotiert; dabei ist die Mehrdeutigkeit des Wortes im Sinne von ‹ selbst herstellen›, aber auch „aktiv an der Gesellschaft teilhaben“44 nicht klar unterschieden. Problematisch ist diese Entwicklung, wenn Handwerk zur reinen Projektionsfläche wird, indem beispielsweise der wichtige Aspekt des Übens hinter einer schwer fassbaren ‹Kreativität› zurücktritt. Glen Adamson beschreibt die Romantisierung des Handwerks als Gegenpol zur eigenen, als 43 Breuer 2013. 44 Ebd. 23 entfremdet empfundenen Welt als «pastoral»45, in Anlehnung an die Romanform der ‹pastoral novel›. Über diese heisst es in der Encyclopaedia Britannica lapidar: «Fiction that presents rural life as an idyllic condition, with exquisitely clean shepherdesses and sheep immune to foot-rot, is of very ancient descent»46. Ebenfalls erwähnenswert ist das Instrumentalisieren von Produkten des Handwerks als Statussymbole. Der Soziologe Stefan Hradil spricht von einer «Rückkehr des Handwerks in veredelter Form»47. Statussymbole verfügen nach Hradil über ‹eingebaute Barrieren›, welche eine breite Verfügbarkeit des jeweiligen Objektes über eine exklusive Gruppe hinaus verhindern. Diese Barriere kann in einem hohen Anschaffungspreis liegen, aber auch in Kennerschaft (‹Connaisseur›). Erzählungen handwerklicher Herstellung werden daher besonders im Luxusbereich eingesetzt, um Produkte durch die Geschichte ihrer Herstellung mit positiver Bedeutung aufzuladen. In den Selbstpräsentationen von Luxusmarken wird oft Wert darauf gelegt, die handwerklichen Aspekte der Fertigung ihrer Produkte in den Vordergrund zu stellen.48 Diese kurze und nicht erschöpfende Aufzählung zeigt bereits, wie wichtig es ist, Handwerk möglichst objektiv zu fassen, und nicht als positive oder negative Projektionsfläche zu sehen. 45 Adamson 2007, S. 103 f.: «It is a feeling of having participated in something pure and fragile, which is distant from the ‹real world› but also yields a deeper understanding of that world – a bit of a perspective, perhaps. It is, in short, the pastoral feeling.» 46 Burgess 2014. Der entsprechende deutsche Begriff ist die ‹Hirtendichtung›. 47 Hradil 2012. 48 So ist z. B. unter www.rolex.com von ‹Uhrmacherkunst› und auf www.louisvuitton.com von ‹savoir faire› die Rede. Abgerufen am 04.04.2016. Während sichtbare Holzverbindungen im vormodernen Möbelbau an hochwertigen Stücken selten sind, werden sie heute gerade dort gern eingesetzt. 24 4. Methode – Eine Theorie des Bauens Aus der Beschreibung des Handwerks im Bauen resultiert eine Theorie der Fertigung von Architektur. Der Begriff der Theorie orientiert sich hier, wie oben beschrieben, an Vitruvs Auffassung der ‹ratiocinatio›. Als Induktion im Sinne eines Indizienprozesses, wird aus der Beobachtung des Machens die Theorie gebildet. Sie ist die Reflexion der Praxis. Die Grundlage der Definition handwerklicher Fertigung im Bauen ist eine Erörterung vorhandener Positionen, ihre eigentliche Überprüfung erfolgt aber am Bauwerk. Diese Theorie stellt nicht das Machen an sich in den Vordergrund, sondern seine Auswirkungen auf das gefertigte Werk – eine Theorie der Fertigung von Architektur. Die Spuren der Fertigung sind Indikatoren49 der Fertigungsweise, die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Bauprozess und Bauwerk ermöglichen. Bauforschung und Spurensuche Das Gebäude ist Träger der Fertigungsspuren und Primärquelle für die Untersuchung von Arbeitsschritt und Prozess sowie deren Auswirkungen. Die Methodik ist nahe an jener der Bauforschung. Der Versuch, historische Vorgänge und Vorgehensweisen beim Bauen nachzuvollziehen, stösst oft an Grenzen, da die schriftlichen und bildlichen Quellen hierzu sehr selten von den Handwerkern selbst stammen. Auf diese methodischen Probleme der historischen Erforschung des Handwerks wiesen beispielsweise Reith50 und Binfield51 hin. Tatsächlich existiert mit der Bauforschung eine spezifische Methode, um das Herstellen von Architektur zu untersuchen und gleichzeitig das gebaute Werk und seine physische 49 Duden: «Indikator: (Fachsprache) etwas (Umstand, Merkmal), was als (statistisch verwertbares) Anzeichen für eine bestimmte Entwicklung, einen eingetretenen Zustand o. Ä. dient». 50 Reith 1998, S. 12 f.: «Rudolf Kuchenbuch und Thomas Sokoll haben auf eine Reihe von methodischen Problemen und Gefahren aufmerksam gemacht, die sich bei einer Annäherung an die ‹Praxis der Arbeit› stellen. [...] Die Geschichte der Arbeit sei daher über weite Strecken nur als Geschichte der Einstellung der Oberschicht zur Arbeit rekonstruierbar, nicht aber als Geschichte der tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Die Wissens- und Ideengeschichte der Arbeit sei daher nicht wertlos, doch ‹man muss sich ihrer ideologischen Grenzen bewusst sein›. Damit sind bereits methodische Probleme bzw. Überlieferungsprobleme angesprochen: Das Überlieferte stamme durchweg von anderen als von denen, die arbeiteten.» 51 Binfield 2004, S. 5: „Many of these terms [campaign, movement, agitation, rebellion, UH] entail complications, if only because some of the historians using them attempt to represent a Luddite totality based to a significant extent on the secondhand information of spies, manufacturers, soldiers, constables, magistrates, and government officials. The problem of representation applies to many studies of working-class life generally.“ 25 Entstehung zu thematisieren. Das Bauwerk ist die Primärquelle der Untersuchung und Träger der Spuren, anhand derer versucht wird, den Herstellungsprozess nachzuvollziehen. Der Unterschied zur historischen Bauforschung liegt im leicht veränderten Fokus und damit den an die Quelle gestellten Fragen. Gesucht werden nicht Erkenntnisse über bestimmte Bauwerke als Grundlage für deren kunsthistorische Einordnung oder Bewertung, sondern eine Rekonstruktion der bei der Errichtung der Bauwerke ablaufenden Prozesse; also Erkenntnisse, wie und warum etwas gemacht wurde. Auch dies nicht aus historischen Gründen, sondern um dieses ‹Wie› und ‹Warum› mit dem physischen Bauwerk in Beziehung zu setzen. Dennoch gibt es starke Übereinstimmungen mit den Methoden der historischen Bauforschung, soweit sie Aussagen über die Prozesse erlauben. Das Wissen über Konstruktion ist ein wichtiger Bestandteil der historischen Bauforschung, da nur so sinnvoll Bauzustände und Abläufe rekonstruiert werden können. Historische Zusammenhänge sind für diese Arbeit insofern relevant, als sie einerseits helfen können, bestimmte Bauprozesse zu rekonstruieren, andererseits um zu verifizieren, ob die untersuchten Bauwerke tatsächlich durch einen zusammenhängenden Prozess entstanden sind. Die Gefügeforschung52 als Arbeitsweise der Hauskunde sucht genau wie die hauskundliche Inventarisation nach dem Verallgemeinerbaren beim Analysieren von baulichen Gefügen. Aus deren Abstraktion und Vergleich sollen Typologien gebildet werden, um historische Entwicklungen identifizieren zu können.53 Die Werkzeuge dieser Methode, vor allem die Analyse des Gefüges können für die Rekonstruktion der Bauprozesse ebenfalls wichtig sein. Auch die Bauforschung beruht auf einer Kombination verschiedener Techniken, die nur im Zusammenwirken verlässliche Ergebnisse liefern können. Dazu gehören die verformungsgerechte Bauaufnahme, die kunstgeschichtliche Analyse und Einordnung, die gefügekundliche Untersuchung sowie chemische und physikalische Untersuchungen. Schriftliche und bildliche 52 Vgl. Hähnel 1969, S. 52: «Die Untersuchung der Konstruktion, der Baustruktur, die analytische, von der individuellen Gestalt des einzelnen Bauern- oder Bürgerhauses ausgehende Arbeitsweise der Gefügeforschung gab der Hauskunde eine Methode in die Hand, die auch diesen Bereich des Bauwesens einer dem Vorgehen der kunsthistorischen Bauforschung vergleichbaren Behandlung erschloss.» 53 Letztendlich geht es Hähnel um einen Blick auf die Stadt oder Landschaft als Ganzes, nicht um den Massstab des einzelnen Hauses, der eher Mittel zum Zweck ist. Ebd. S. 56: «Ziel von Städte-Inventarisationen muss es sein, durch Aufnahme und Analyse des Gesamtbestandes an städtischen Wohnbauten der zu untersuchenden Zeiträume (...) einen Ausgangspunkt zu gewinnen für Querschnitte durch die bauliche Struktur zu erschliessbaren Zeitpunkten, also nicht allein die Zeitstellung von Einzelbauten zu ermitteln, sondern zu versuchen, von den so erschlossenen einzelnen Daten her das jeweilig zugehörige bauliche Gesamtbild der Stadt zu rekonstruieren.» Die Grenzen dieses Vorgehens nennt Hähnel selbst (S. 46 f.): «[...] so stellt sich die Frage, in wie vielen Fällen dann das, was wir als dörfliche, städtische oder landschaftliche Bautradition zu bezeichnen gewohnt sind, im Wesentlichen nur die Gewohnheit einzelner Zimmerleute ist.» 26 Quellen ergänzen die Analysen. Diese integrale Betrachtung des Bauwerks als Quelle ist die grösste Übereinstimmung mit dieser Arbeit. Thesen Auf der Grundlage bestehender Definitionen und Reflexionen wird zuerst eine Definition von Handwerk als Fertigungsweise vorgeschlagen, die auf die Besonderheiten der Fertigung von Architektur Rücksicht nimmt. Eine Beschreibung des einzelnen Arbeitsschrittes bildet den Ausgangspunkt. Die hierbei gültigen Kriterien erlauben es, handwerkliche Fertigung von anderen Fertigungsweisen zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage wird der handwerkliche Prozess abgegrenzt. Er verbindet die einzelnen Arbeitsschritte und macht es möglich, das kollektive Element des Bauens zu reflektieren. Sollen die untersuchten Bauten als eigentliche Quellen der Untersuchung dienen, so muss nach Indikatoren gesucht werden, die Rückschlüsse über die Fertigung erlauben. Die Spuren der Herstellung an sich sind neutral. Die Art und Weise ihres Vorkommens jedoch macht sie zu Indikatoren für bestimmte Fertigungsweisen. Analyse Auf der Grundlage der Analysen der Fallbeispiele können Aussagen über deren Fertigung getroffen werden. Der Ausdruck ist eine Eigenschaft der Gebäude, die gesondert untersucht wurde. Er ist subjektiv und gilt nur innerhalb eines bestimmten Kontextes. Zur Untersuchung der handwerklichen Fertigung wurden die ausgewählten Bauten genau betrachtet. Am Anfang steht eine kurze Beschreibung der physischen Form der Gebäude sowie ihrer Geschichte. Beschrieben werden weiterhin der Baukörper, die Konstruktion und das verwendete Material. Beim Hochstudhaus von Birrwil und dem Hotzenhaus wurden repräsentative Teile der Fassadenkonstruktionen verformungsgerecht aufgenommen.54 Für die Suche nach den Spuren der Herstellung ist eine Betrachtung von Oberflächen und Schmuckformen wichtig. Eine Analyse der Konstruktion und der Fügungen baut auf diesen Beschreibungen auf. 54 Genauigkeitsstufe IV nach Eckstein/Gromer 1986, im Massstab 1/20, vor Ort aufgenommene Zeichnung. Die anderen Bauten sind praktisch Neubauten, zum Teil mit homogenisierten Hölzern erbaut, und erfüllen die gültigen Toleranznormen. Auf ein verformungsgerechtes Aufmass zur Kontrolle der Fertigungstoleranzen wurde dort teilweise verzichtet. 27 Untersucht wird auch der Ausdruck der Gebäude. Nach Duden55 und Brockhaus56 beschreibt der Ausdruck eher Eigenschaften des Objektes (Kennzeichen, Äusserung innerer Momente, sinnlich wahrnehmbare Seite usw.), welche eine Wirkung beim Betrachter hervorrufen können. Heinrich Wölfflin stellte die Frage, ob der Ausdruck ans Subjekt, den Betrachter, oder das Objekt gebunden ist. Er fragt, wie es sein kann, «dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können? Ueber die Thatsache darf kein Zweifel sein.» Er definiert folgendermassen: «Wir bezeichnen die Wirkung, die wir empfangen, als Eindruck. Und diesen Eindruck fassen wir als Ausdruck des Objekts.»57 Bei Wölfflin meint diese Wirkung eine Stimmung, die beim Betrachter entsteht, indem er Analogien zwischen dem «architektonischen Organismus» und den eigenen «körperlichen Erfahrungen» zieht.58 Wölfflins physiologische Analogien umfassen nicht nur Sehgewohnheiten, sie schliessen auch allgemeiner die Beziehung zum Körper, zur Physis ein, und beziehen sich auf die eigenen impliziten Erfahrungen des Betrachters. Tragen und Lasten wird beispielsweise anders wahrgenommen, wenn man (durch Drahtseil, Stahlleichtbau, Hubschrauber) daran gewöhnt ist, dass Dinge ‹schweben›. Für diese Arbeit möchte ich den Ausdruck folgendermassen definieren: Der architektonische Ausdruck ist die Wirkung, die ein Gebäude auf den Betrachter ausübt. Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet demnach, dass für die Betrachtenden diese Art der Fertigung am Bauwerk ablesbar ist. Im Unterschied zu den Spuren der Herstellung ist der Ausdruck eines Gebäudes also nicht objektiv. Er hängt vom Vorwissen der Betrachtenden ab. Darüber hinaus kann in einem bestimmten kulturellen Kontext eine stillschweigende Übereinkunft darüber bestehen, wie ein handwerklicher Ausdruck aussehen kann. Er kann also im heutigen kulturellen und zeitlichen Kontext analysiert werden, so dass nachvollziehbare Aussagen möglich werden. Dabei ist der Unterschied zu beachten, ob der Ausdruck tatsächlich auf handwerklicher Fertigung beruht oder nicht. 55 Duden: «3. äusseres, sichtbares Zeichen in dem sich eine innere Beschaffenheit oder Struktur wiederspiegelt; Kennzeichen». 56 Brockhaus: «Ausdruck: (...) 4) Psychologie: körperl. oder gegenständl. Erscheinungen, die auf seelische Momente zurückführbar sind und deren Äusserung darstellen. (...) 5) Sprachwissenschaft: (...) 2) Im Unterschied zum Inhalt die sinnlich wahrnehmbare Seite (A. Seite, A. Ebene) des sprachl. Zeichens (die gehörten und gesprochenen Laute, ebenso die Schriftzeichen)». 57 Wölfflin 1886, S. 15. 58 Ebd., S. 12: «Wie die Charakteristik der Schwere unseren körperlichen Erfahrungen entnommen ist, ohne sie unmöglich wäre, so wird auch das, was der Schwere entgegenwirkt, nach menschlicher d. h. organischer Analogie aufgefasst. Und so behaupte ich, dass alle die Bestimmungen, die die formale Aesthetik über die schöne Form gibt, nichts anderes sind, als Bedingungen organischen Lebens. Formkraft ist also nicht nur als Gegensatz der Schwere, vertikalwirkende Kraft, sondern das was Leben schafft, eine vis plastica, um diesen in der Naturwissenschaft verpönten Ausdruck hier zu gebrauchen.» 28 Das Analyseraster wurde im Laufe der Arbeit stetig angepasst und verfeinert, so dass Beobachtungen an einem Fallbeispiel immer auch bei den anderen Beispielen überprüft werden konnten. Vor Ort angefertigte Zeichnungen stellen einen wichtigen Teil der Analyse dar. Im Gegensatz zu Fotografien sind sie bereits eine Abstraktion und Wertung der abgebildeten Komponenten und damit interpretatorisch. Der Fokus bei den Analysen der Fallbeispiele liegt auf der hölzernen Konstruktion, doch diese Eingrenzung ist nicht absolut. Soweit sich bei einem Gebäude während der Analyse herausstellte, dass andere Gewerke einen relevanten Anteil am Entstehen des Ausdruckes hatten, wurden diese in die Betrachtung einbezogen. Ausschlaggebend war die Bedeutung der jeweiligen Massnahme für das Bauwerk. Beim Hotzenhaus ist beispielsweise der Fussbodenbelag aus wiederverwendeten Dachziegeln wichtig für den Ausdruck, gleichzeitig unterstreicht er eine Herangehensweise, die auch den Holzbau dieses Gebäudes bestimmt; dagegen ist die Fertigung des Erdkellers unter dem Hochstudhaus von Birrwil für die Analyse des Hauses weniger relevant. Auf der Grundlage der Analysen konnten wie bei einer forensischen Untersuchung Schlüsse über den Fertigungsprozess selbst gezogen werden.59 Die Beobachtung der Bauten wurde durch Dokumentationen, Interviews mit Beteiligten und Fachliteratur ergänzt. Einzelne Beobachtungen mögen evident erscheinen, wichtig aber ist, sie im Kontext und im grösseren Zusammenhang zueinander zu betrachten. 59 In den Ingenieurwissenschaften existiert der Begriff des ‹Reverse Engineering›. Bei dieser Vorgehensweise wird die Entwicklung und Fertigung existierender Konstruktionen vom Ergebnis aus nachempfunden, um Verbesserungsmöglichkeiten oder Fehler zu finden. Vgl. Raja 2008. Befestigung der Beplankung des Tenntores am Hochstudhaus in Birrwil mit Holznägeln 29 Auswahl der Fallbeispiele Die Fallbeispiele sind unspezifisch, aber nicht willkürlich gewählt. Bei den untersuchten Fallbeispielen wird nicht das Spezifische, sondern das Allgemeine gesucht. Sie sind unspezifisch, aber nicht beliebig. Die Gründe für den Fokus auf dem Zimmererhandwerk wurden bereits erläutert. Die Analysen der Bauten sind beispielhafte Blicke auf das Zimmereigewerbe in der Schweiz in verschiedenen Ausprägungen der Mechanisierung. Jedes Fallbeispiel steht zudem für eine bestimmte Einordnung handwerklicher Arbeitsschritte in den Gesamtprozess des Bauens. Beim Bau des barocken Hochstudhauses kam handwerkliche Fertigung selbstverständlich zum Einsatz. Es stellt in unserem Kulturkreis ein Referenzobjekt für handwerkliches Bauen. Auch beim Hotzenhaus wurde bewusst handwerkliche Fertigung eingesetzt, jedoch war diese zur Erbauungszeit in den 1980er Jahren nicht mehr selbstverständlich. Die Totenstube und das Ferienheim Büttenhardt adaptierten handwerkliche Konstruktionstypologien. Die Konstruktionen der neuen Monte-Rosa-Hütte und des Tamedia-Gebäudes beruhen auf mechanisierten und computerunterstützten Techniken. Nur bei der Ersteren wurde eine atmosphärische und formale Nähe zum handwerklichen Ausdruck der alten Alphütten gesucht. Auch bei diesen Gebäuden war die Rolle handwerklicher Arbeitsschritte genau zu untersuchen. Die unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Fertigungsweise wurden an den einzelnen Fallbeispielen überprüft und schliesslich an den übrigen getestet. Die Arbeit betrachtet handwerkliche Fertigung aus Sicht der Architektur. Die Auswahl der Fallbeispiele fokussiert daher auf Gebäuden, bei denen die Konstruktion nicht nur pragmatisch als Tragstruktur der Bauten dient, sondern darüber hinaus in den jeweiligen Entwürfen thematisiert wurde. Die Konstruktion bestimmt den Ausdruck der Gebäude mit und ist ein architektonisches Gestaltungsmittel. Das bedeutet, dass bei den meisten Fallbeispielen auch an der Planung Personen mit einem hohen konstruktiven Wissen oder handwerklicher Erfahrung beteiligt waren. Die Beschränkung auf sechs Fallbeispiele ermöglichte eine grosse Tiefe der Bearbeitung. Die jeweiligen Bauprozesse konnten detailliert nachvollzogen werden und die Bauwerke selbst eingehend analysiert werden. Synthese In der Synthese wurde überprüft, ob die aufgestellte Definition des handwerklichen Bauens sich für die Fallbeispiele bestätigen lässt. Die drei Thesen, die zusammen die Definition bilden, wurden mit der Analyse der Fertigungsprozesse verglichen. Die an den Bauten gefundenen 30 Indikatoren geben Aufschluss über das Vorliegen bestimmter Fertigungsweisen. Weiterhin wurde unterschieden, in welcher Form handwerkliche Fertigung in die jeweiligen Prozesse eingebunden war. Hier lassen sich unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Fertigung unterscheiden. Sie betreffen einerseits die Einbeziehung der Fertigungsweisen in die Abläufe selbst, andererseits sollen sie bestimmte Eigenschaften der Bauwerke hervorbringen. Auf diese Weise lässt sich ein prototypischer handwerklicher Bauprozess beschreiben und von einem fragmentierten Prozess unterscheiden. Ebenso können Aussagen über die formalen und konstruktiven Möglichkeiten getroffen werden, die aus der Fertigungsweise für das Bauwerk entstehen. Schliesslich kann die Bedeutung der Fertigung für die potentielle subjektive Aneignung eines Bauwerks durch den Betrachter beschrieben werden. Die empirische Komponente Empirie ist in dieser Arbeit wichtig, um die richtigen Fragen zu stellen und den nicht vollständig rationalisierbaren Komponenten handwerklicher Fertigung auf die Spur zu kommen. Sie muss so weit es geht nachvollziehbar gemacht werden. Besonders die impliziten Komponenten des Wissens, die Fertigkeiten und Erfahrungen, sind per Definition nicht abstrakt darstellbar. Für eine fundierte Reflexion des Themas ist es daher hilfreich, die theoretische Betrachtung durch eine praktische Auseinandersetzung zu ergänzen. Ich habe in den letzten Jahren bei vielen Gelegenheiten handwerklich mit dem Material Holz gearbeitet. Es ist nicht möglich, das tatsächliche Erlernen eines Handwerks zu simulieren. Es ist aber wichtig, auch bei einer nicht-professionellen Herangehensweise das Handwerk ernst zu nehmen und keine geringeren Anforderungen an die eigene Arbeit zu stellen. Ich habe versucht, die Reflexion der eigenen Erfahrung soweit möglich in die Arbeit zu integrieren. Diese Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit sind teilweise nicht objektivierbar. Dennoch stellen sie eine wichtige Ergänzung zur theoretischen Beschäftigung mit Fertigungsweisen dar. Einerseits kann ein Wechsel der Perspektiven hilfreich sein, um die Bezugssysteme des eigenen Denkens zu erkennen und zu hinterfragen. Andererseits erleichtert die eigene Erfahrung, die Beweggründe für bestimmte Herangehensweisen nachzuvollziehen, wie ein einfaches Beispiel zeigt. In einer wissenschaftlichen Arbeit60 wurde vom Autor Unverständnis darüber geäussert, 60 Schindler 2009, S. 118: «Da die Leserichtung durch die veränderliche Lage der Bauteile nicht eindeutig war, wurde die Zahl 4 als IIII und die Zahl 9 als VIIII ausgeführt, um eine Verwechslung mit der Ziffer 6 (VI) bzw. 11 (XI) zu vermeiden.» Dazu in Fussnote 413: «Es ist anhand der angegebenen Literatur nicht ganz nachzuvollziehen, wie die ‹IV› mit der ‹VI› zu verwechseln ist, da die Leserichtung durch die Ausrichtung des V gegeben zu sein scheint.» 31 warum Zimmerleute bei den Abbundzeichen, welche die gefertigten Balken markieren, statt der römischen IV oft die IIII benutzten, da IV und VI nicht zu verwechseln seien. Aufgrund praktischer Erfahrung ist es jedoch nachzuvollziehen, dass gerade in der oft unübersichtlichen Situation während des Baus die Ähnlichkeit der Zahlen ein bewusstes Hinschauen erfordert, gerade wenn man aus unterschiedlichen Richtungen auf das bezeichnete Bauteil schaut. IIII und VI können dagegen sofort intuitiv richtig unterschieden werden. Diese Schreibweise dient also dem pragmatischen Ausschliessen einer möglichen Fehlerquelle. Die direkte, körperliche Erfahrung beeinflusst das Einschätzen von Situationen auf einer grundsätzlichen Ebene. Der Zimmerer und Bauingenieur Martin Antemann definierte Erfahrung als «Momente, die man kraft eigenen Erleidens verinnerlicht hat.“61 Mühe gehört für ihn dazu, eine Erfahrung wirklich zu verinnerlichen, so wie man durch das Anfassen einer heissen Herdplatte nachhaltig lernt, das in Zukunft zu lassen. Wer die Erfahrung gemacht hat, mit einem Beil einen Stamm zu einem Balken zu bearbeiten, weiss genau, wie viel Anstrengung und Energie in dieser Arbeit steckt. Das hat auch Auswirkungen auf die Einstellung zum Material und das Denken beim Lösen einer Bauaufgabe. Die eigene Erfahrung mit Handwerk erlaubt es, solche Denkweisen bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen zu können. Subjektive Erfahrung muss dabei immer klar von Fakten getrennt werden. 61 Antemann 2015. Diese Ansicht wird z. B. auch von den Zimmerern Wolfram Graubner und Yves Dusseiller geteilt. Rechte Seite: Diese beiden Möbel wurden vom Verfasser in Zusammenarbeit mit Oliver Zumbühl entworfen und ausgeführt. Das Projekt wurde von der Albert Koechlin Stiftung gefördert. 32 33 5. David Pyes «The Nature and Art of Workmanship» Eine wichtige Grundlage für diese Arbeit bildet David Pyes Buch «The Nature and Art of Workmanship». Dort führt er einige Konzepte und Begriffe ein, die für die Betrachtung des Handwerks allgemein sehr wichtig sind. Die Grenzen des Entwurfes «Now a design is in effect a statement of the ideal form of the thing to be made, to which the workman will approximate in a greater or less degree. In a designer›s drawing all joints fit perfectly!»62 David Pyes Konzepte handwerklicher Arbeit sind für die Betrachtung der Fertigungsspuren besonders wertvoll, da sie konsequent vom gefertigten Objekt ausgehen. Er zieht eine klare Linie zwischen dem Entwurf (‹design›) und seiner Ausführung (‹workmanship›): «Design is what, for practical purposes, can be conveyed in words and by drawing: workmanship is what, for practical purposes, can not.»63 Pye geht davon aus, dass der Entwurf nicht alle Faktoren bestimmen kann, welche über die Qualität des gefertigten Objektes entscheiden. Manches wird in der Fertigung erst entschieden und hängt von den Ausführenden ab. In dieser Phase existieren Einflüsse auf das Gebäude, die erst nach dem Entwurf wirksam werden, und die in der Abstraktion durch Modell, Plan oder Beschreibung nur indirekt abgebildet werden können. Hierzu gehören auch die Fertigungsspuren. Diese Auswirkungen der Fertigung auf die Architektur wirken in allen Massstäben: Sie betreffen teilweise winzige Nuancen, die in der Summe eine Wirkung auf die gebaute Architektur haben können, aber auch die Konzeption der gesamten Konstruktion. Freie und regulierte Umsetzung Neben der Unterscheidung zwischen riskanter und determinierter Fertigung unterscheidet er zwei weitere Arten der Fertigung, die freie und die regulierte Umsetzung einer Vorgabe oder eines Entwurfes (‹free workmanship› und ‹regulated workmanship›64 ). Letztere beschreibt 62 Pye (1968), S.31. 63 Pye (1968), S.17. 64 Pye 1968: «Let us say that, where the naked eye can detect no disparity between achievement and idea, the workmanhip is ‹regulated›. Where there are evident (and usually intentional) disparities, (...), where precise repetition is on the whole avoided, let us say the work is ‹free›» (S. 34). 34 die völlige Übereinstimmung des Endproduktes mit einem Entwurf, während die erstere Abweichungen von diesem Ideal zulässt. Das können merkbare Abweichungen von einer geraden Linie, unregelmässige Oberflächen oder auch Arbeitsspuren sein. Freie Umsetzung ist nicht gleichbedeutend mit handwerklicher Fertigung, doch liegt gerade hierbei die Verantwortung darüber, wie nahe die Ausführung genau dem Ideal des Entwurfes kommt, bei den Ausführenden. Diese Arbeit kann also durchaus auch eine hohe geistige Leistung bedeuten. Diversität Sein Begriff der Diversität (‹diversity›) beschreibt eine formale Eigenschaft eines Objektes, die durch die freie Umsetzung eines Entwurfes entstehen kann.65 Sie ist nahe an dem, was John Ruskin in «The Nature of Gothic» mit einer «unaufhörlichen Vielfalt»66 eines Gebäudes beschreibt: eine Vielzahl unterscheidbarer und unverwechselbarer visueller Details, welche die Oberfläche eines Gegenstandes überziehen. Sie bezeichnen bestimmte, unterscheidbare Inhalte als Ausschnitte aus der Gesamtheit eines grösseren Bildes. Arts and Crafts? Pyes Kritik an John Ruskins «The Nature of Gothic» Eine Abgrenzung zum Handwerksbild der Arts-and-Crafts-Bewegung ist notwendig für eine objektive Diskussion des Themas. Dies wird am Beispiel von John Ruskins Position in «The Stones of Venice» erläutert. Der britische Kunsttheoretiker John Ruskin lieferte mit dem Text «The Nature of Gothic» eine inhaltliche Grundlage der Arts-and-Crafts-Bewegung. In seiner Beschreibung erwächst die Vielfalt («variety»67) gotischer Gebäude – oder deren Diversität, um Pyes Ausdruck zu benutzen – direkt aus der Liebe zu Abwechslung und Variation («love of change»68) und der Individualität der Ausführenden. Das unterstellt, dass die Ausführenden genug Freiheiten im Prozess für die Umsetzung von entwerferischen Vorgaben haben: Für Ruskin entsteht die Qualität der gotischen Bauten direkt aus dem, was Pye als freie Umsetzung eines Entwurfes bezeichnet. Präzision als Kriterium guter Arbeit sieht Ruskin als inhuman an: «Men are not intended to work with the 65 Pye 1968, S. 35: «In free workmanship the flat surface is not quite flat but, when seen from close by, shows a faint pattern of tool marks: and the straight edge is not quite straight, but, seen close, shows slight divagations. The effect of such approximations is to contribute very much to the aesthetic quality in workmanship which I shall call diversity.» 66 Ruskin 2007, S. 172: «We have now to consider what reward we obtain for the performance of this duty, namely, the perpetual variety in every feature of the building.» Der Text ist ein Kapitel seines 1851 bis 1853 erschienenen Werks «The Stones of Venice». 67 Ebd. S. 172. 68 Ebd. S. 154. 35 accuracy of tools to be precise and perfect in all their actions. If you will have that precision out of them, and make their fingers measure degrees like cog-wheels, and their arms strike curves like compasses, you must unhumanize them.»69 Die Eigenschaften des Handwerkers und die Freude an der Arbeit sind es für ihn, welche direkt die entsprechenden Eigenschaften des Gebäudes erzeugen. Pye gesteht Ruskin wichtige Erkenntnisse in Bezug auf das Handwerk zu, stellt diesen aber eine massive Kritik entgegen.70 Sie beruht vor allem darauf, dass dieser mit dem Ablehnen von regulierter Umsetzung einen grossen Teil handwerklicher Arbeit abwertet, nämlich die mit handwerklichen Mitteln erfolgende, sehr regulierte Ausführung von Entwürfen. Dazu Ruskin: «Wherever the workman is utterly enslaved, the parts of the building must of course be absolutely like each other; for the perfection of his execution can only be reached by exercising him one thing, and giving him nothing else to do. The degree in which the workman is degraded may be thus known at a glance, by observing whether the several parts of the building are similar or not (...).»71 Pye argumentiert, dass gerade zur Zeit Ruskins die meisten sehr regulierten Arbeiten durch riskante Fertigung entstanden, was ein grosses handwerkliches Können erfordert. Diese Art der Arbeit ignoriere Ruskin: «What Ruskin was inveighing against was not hard labor, but patient work.»72 Die positive Wertung Ruskins für das freie Umsetzen eines Entwurfes offenbart nach Pye ein weiteres Missverständnis: Er wertet die Arbeit nach ihrem kreativen Moment. «He writes (...) as though workmanship were almost synonymous with ornament.»73 Dass Ruskin eine Arbeit nur dann als human anerkenne, wenn sie ein entwerferisches Element hat, entwerte die Motivation, die aus dem Beherrschen der Arbeit kommt, und damit die Ausführung selbst. Dies offenbart eine grundlegende Diskrepanz. Ruskin stuft die Arbeit nach dem Element der Kreativität ein und wertet dadurch diejenige Arbeit ab, die sich einem bestimmten Zweck unterwirft. Dazu passt, dass Ruskin nicht zwischen dem Bauhandwerker und dem Bildhauer trennt. Während er das kreative Moment der handwerklichen Arbeit glorifiziert, übersieht er eine Qualität der Arbeit, die für Pye zentral bei handwerklicher Fertigung ist, nämlich die Unterordnung des eigenen Ego unter die gestellte Aufgabe. Damit hat der britische 69 Ebd, S. 161. 70 Pye 1968, S. 126: «The intrinsic importance of these ideas is not diminished by the fact that so much rubbish has derived from illegitimate extensions of them.» 71 Ruskin 2007, S. 161. 72 Pye 1968, S.118. 73 Ebd. S. 118. 36 Kunsthistoriker eine Sichtweise auf Handwerk begründet, die bis heute nachwirkt. Pyes und Ruskins Auffassungen von Handwerk stehen sich diametral gegenüber. Der Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts beurteilt Handwerk nach der kreativen Originalität, die sie aufweist; eigentlich spricht er oft über Kunsthandwerk. Pye hingegen sieht das Ideal des Handwerks in einer Arbeit, die sich der gestellten Aufgabe unterordnet, ohne per se einen eigenen Ausdruck anzustreben, solange dies der Aufgabe widerspricht. Für Pye hat Handwerk eine dienende Funktion. Ruskins Thesen bilden die Grundlage für jene vermeintliche Dualität, die Handwerk als rückwärtsgewandte, letztlich irrelevante und auf formale Eigenschaften von Rustikalität und Unpräzision reduzierte Form der Fertigung der industriellen Moderne gegenüberstellt. Für John Ruskin wäre diese Arbeit, die sehr regulierte Umsetzung eines Entwurfes, wahrscheinlich das Werk eines versklavten Handwerkers. Detail eines barocken Schranks im Mainfränkischen Museum in Würzburg. 37 6. Exkurs: Spezifika des Zimmererhandwerks Die folgende kurze Einführung in die Besonderheiten des Zimmererhandwerks bildet die Grundlage für die weiteren Ausführungen. Abgrenzungen In der frühen Neuzeit ist die Nennung des Zimmererhandwerks als eigenständiger Beruf bereits selbstverständlich.74 Die Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert75 unterscheidet die Zimmerei (‹Charpente›) von der Arbeit des Bautischlers (‹Menuisier en Batiments›). Aus den dort beiliegenden Kupferstichen geht hervor, dass die Zimmerer mit der Konstruktion von Häusern, Dächern und Maschinen in Holz befasst sind, also konstruktive, statisch wirksame Bauteile bearbeiten, während die Bauschreiner Türen, Fenster, Täferungen und Einrichtungen bauen. Diese Unterteilung gilt im Grossen und Ganzen bis heute. Es kann festgehalten werden, dass die klassischen Arbeiten der Zimmerei die Konstruktion des Hauses umfassen. Die Arbeit ist geprägt durch den Umgang mit schweren Bauteilen und physischer Anstrengung. Werkzeuge Handwerkzeuge ohne Maschinenantrieb Das wichtigste persönliche Werkzeug ist bis heute der Latthammer (Zimmermannshammer) mit zwei ungleich langen Spitzen. Er dient nicht nur dem Einschlagen und Ziehen von Nägeln, sondern auch als Hebel und zum dosierten Bewegen schwerer Lasten. Die längere Spitze ins Holz geschlagen ergibt einen Handgriff und Hebel zum Versetzen schwerer Bauteile. Die Bedeutung der Axt für das vormoderne Zimmern ist kaum zu überschätzen. Sie wurde vom Fällen der Bäume über deren Bearbeitung zu Balken bis zur Herstellung von Verbindungen und zur Oberflächenbehandlung benutzt. Die Fällaxt, die der allgemein bekannten Form einer Axt entspricht, wurde zum Fällen der Bäume verwendet. Mit der Bundaxt, die eine schmale Schneide und oft einseitigen Anschliff hat, werden Kerben hergestellt und Stämme grob vierseitig 74 In einer Darstellung der Karfreitagsprozession in Trier aus dem Jahr 1778 ist ein Zimmermann durch einen Hammer und eine Stossaxt kenntlich gemacht, während ein Schreiner Gestellsäge und Hobel trägt. Die Stossaxt im Bild ähnelt sehr der ‹Besaiguë› genannten, in Frankreich bis heute üblichen Form, wie sie auch in Didérots Enzyklopädie gezeigt wird. Abbildung in Dühr 2015, S. 29. 75 38 Didérot, d`Alembert 2009. Die Tafeln 48 bis 51 zum Kapitel «Charpente» aus der Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert von 1765 zeigen Zimmererwerkzeuge, die sich bis heute im Prinzip kaum verändert haben. 39 besäumt, während das Breitbeil zur feineren Oberflächenbehandlung genutzt wird. Die Kreuzaxt mit zwei schmalen Klingen, von denen eine längs und eine quer zum Griff steht, dient dem Herstellen von Nuten und Zapfenlöchern. In jüngerer Zeit wird die Axt vor allem bei der Aufrichte als Hammer zum Eintreiben langer Sparrennägel und als Hebel gebraucht. Die Entwicklung leistungsfähiger Akkuschrauber hat sie weitgehend durch Holzschrauben ersetzt. Allenfalls kommt sie noch als Werkzeug zum An- und Einpassen an nicht sichtbaren Stellen zum Einsatz. Das Stemmzeug besteht aus den Stechbeiteln oder Stemmeisen, die von Hand oder mit dem Glätten einer Balkenfläche mit dem Breitbeil. Am Bock lehnt eine Bundaxt, mit dem vorher das Material ‹abgeschwartet›wird. Hammer getrieben sind. Im Unterschied zu einem Meissel sind diese nur einseitig gefast, die Rückseite (Spiegelseite) ist völlig plan und kann als Anschlag und Referenzfläche genutzt werden. Hiermit werden Zapfenlöcher oder Blattsassen gestemmt oder nachgearbeitet. Die Stossaxt ist, ungeachtet des Namens, eine 76 grössere Form des Stemmeisens, die jedoch nur von Hand getrieben wird und zum Glätten und Anpassen von Verbindungen dient. Eine weitere wichtige Gruppe von Werkzeugen bilden die Sägen. Je nach Zweck unterscheidet sich die Zahnung. Für Schnitte quer zur Faser (‹ablängen› und ‹absetzen›) arbeiten die Zähne eher schneidend, mit der Faser eher schabend beziehungsweise wie viele kleine, hintereinander angeordnete Hobeleisen. Die Gestellsäge oder Klobsäge mit Längsschnittzahnung dient dem Herstellen von Brettern aus Balken oder dem Herstellen von Kreuzrahmen (ViertelQuerschnitten) aus Rundhölzern. Sie wird von zwei Personen geführt, während das Werkstück auf dem Sägebock oder über der Sägegrube liegt.77 Heute ist dieser Schritt praktisch vollständig auf Sägewerke übertragen. Der Fuchsschwanz oder die Gestellsäge mit Querschnittzahnung werden vor allem zum Herstellen von Holzverbindungen eingesetzt. 76 ‹Blattsasse› bezeichnet die taschenförmige Ausnehmung in einem Balken, welche das Blatt eines rechtwinklig oder schräg hierzu angebrachten Konstruktionsholzes aufnimmt. Kopfbänder früher Fachwerkkonstruktionen sind oft auf diese Weise in Ständer und Rähme eingeblattet. 77 Diese Arbeitsschritte sind bereits teilweise im Mittelalter in Sägemühlen mechanisiert worden. Handgesägte Balken oder Bretter weisen unregelmässigere Spuren, manchmal mit sich veränderndem Winkel, auf, die Sägespuren der Sägemühlen sind homogener. 40 Im Vergleich zum Möbelschreinern ist der Hobel beim Zimmern nicht sehr bedeutsam, kommt jedoch auch hier zur Anwendung. Ein bestimmter, ‹Gesellenschinder› genannter Hobel78 wurde zum Glätten von Konstruktionshölzern mit besonders hohen Anforderungen an die Sichtflächen genutzt, vor allem aber bei Einbauteilen wie Toren. Nut- und Falzhobel brauchte es zum Herstellen von Nut und Kamm an Brettern. Profilhobel ermöglichen das Herstellen von Zierprofilen an besonderen Stellen, vor allem im Ausbau. Das Ziehmesser mit zwei Griffen an beiden Seiten der Klinge wird benötigt, um die Rinde am Baumstamm zu entfernen, damit der Schnurschlag zur Definition der fertigen Balkengeometrie angebracht werden kann. Auch das Herstellen von Fasen oder von Holznägeln aus gespaltenem Eichenholz ist damit möglich. Sehr wichtig ist das Reisszeug: Zimmererwinkel, Bleistifte, Lineale, Lote und Schlagschnur. Letztere wird entlang der anzureissenden Linie gespannt, senkrecht dazu weggezogen und zurückschnappen gelassen, was einen geraden Strich auch auf unebenem Grund hinterlässt.79 Früher in nassem Holzkohlestaub gewälzt, ist es heute ein kreidegefülltes Behältnis aus Duroplast. Das Richtscheit ist heute durch die Wasserwaage ersetzt. Bohrer, ursprünglich als Löffelbohrer mit von Hand zu drehendem, T-förmigem Griff, sind unersetzlich für die Herstellung der Löcher für die Holznägel, die im westlichen, traditionellen Holzbau als Lage- und Zugsicherung der meisten Verbindungen dienen. Sehr wichtig ist der Bohrer auch zur Effizienzsteigerung beim Stemmen von Zapfenlöchern. Hier werden mehrere Löcher nebeneinandergesetzt, so dass mit dem Stemmzeug nur noch die Wände der Zapfenlöcher geglättet werden müssen. Unerlässlich sind auch Hilfsmittel wie Böcke, auf denen das Holz zum Bearbeiten ruht und eiserne Bundhaken, mit denen es darauf befestigt wird. Seile, Flaschenzüge, Spanngurte, Hämmer und Hebel bzw. Kuhfüsse oder Nageleisen, sowie Schraubzwingen sind bis heute bei der Aufrichte unersetzlich. 78 Hobel mit grossem Hobelkasten und zwei Paaren seitlicher Griffe, der von zwei gegenüberstehenden Personen geführt wird. Die traditionelle Bezeichnung ist ‹Gesellenschinder› in Süddeutschland gemäss Gindhard 2014. Analog dazu wird ein solcher Hobel in der Encyclopédie von Didérot und d`Alembert als ‹Galère›, (übersetzt ‹Galeere›, aber auch ‹Plagerei, Schinderei›) bezeichnet. 79 Hierzu Ōdate 1998, S. 17: «The skill required for this task is enormous, not only in sawing but in snapping the line, because many thin lines must be snapped in the complicated surface of the log. Even a slight uncertainness of the line is not permitted in this work. In the seemingly simple act of snapping a line, great skill and training are hidden.» 41 Während in ländlichen Gebieten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ganze Häuser nur mit Handwerkzeugen gebaut wurden, ist heute die Herstellung von Holzverbindungen für den Neubau weitgehend auf stationäre digitale Abbundanlagen übertragen. Viele Handwerkzeuge sind jedoch auch im heutigen Zimmern noch mehr oder weniger in Gebrauch, vor allem für Anpassungen vor Ort. Ein wichtiges Feld sind Restaurierungen und Arbeiten im Bestand. Hier kommen sie noch oft zum Einsatz, namentlich beim Anpassen neuer Bauteile an den Bestand. In Fällen, in denen nicht seriell herstellbare Teile gebraucht werden, kann das Handwerkzeug eine flexible und effiziente Alternative sein. Elektrische Handmaschinen / Abbundmaschinen Diese handgeführten Maschinen ersetzen oft die entsprechenden Handwerkzeuge, beruhen aber auf ähnlichen Prinzipien. Am wichtigsten ist heute die Handkreissäge, mit der Verbindungen geschnitten und Abläng- oder Besäumschnitte hergestellt werden können. Die Bedeutung der Handkreissäge als Universalwerkzeug für zeitgenössische Zimmerer kann vielleicht mit jener der Axt in früheren Zeiten verglichen werden. Kettenstemmer fräsen Zapfenlöcher, Kervenfräsen können winkelförmige Ausnehmungen beispielsweise in Sparren in voreingestellten Winkeln fräsen. Hierzu und zum Ablängen werden oft mehrere Hölzer mit grossen Zwingen (‹Knechten›) hintereinander gespannt und in einem Arbeitsgang bearbeitet. Hand-Oberfräsen ersetzen die Kreuzaxt zum Herstellen von Nuten. Hobel sind oft deshalb unnötig, weil die Hölzer bereits im Werk vor Anlieferung maschinell gehobelt werden; entsprechend müssen diese Hölzer sehr sorgsam behandelt werden, wenn sie am Bau sichtbar bleiben sollen. Zum Nacharbeiten von Flächen oder zur flächigen Materialabnahme dienen Elektro-Handhobel mit drehender Messerwelle. Die Entwicklung leistungsfähiger Akkuschrauber und entsprechender Schrauben hatte in letzter Zeit einen grossen Einfluss auf Holzkonstruktionen. Besonders, da diese exakt berechenbar sind, werden sie vermehrt konstruktiv eingesetzt, was die Konstruktionsweise grundlegend beeinflussen kann. Nagel- oder Klammerpistolen und Magazinschrauber beschleunigen manche Arbeitsschritte, ohne deren technisches Prinzip zu verändern. Erwähnenswert ist, dass sie viel weniger Können verlangen als das Eintreiben von Nägeln mit dem Hammer. Stationärmaschinen Das Aufsägen von Stämmen in Längsrichtung wurde bereits früh in Sägemühlen mit Wasseroder Windantrieb verlagert, was eine gewisse Vorfertigung und Normierung nahelegt. Während vormoderne Zimmerer praktisch mit dem Inhalt einer Werkzeugkiste ein Haus bauen konnten, ist der Investitionsaufwand einer Zimmerei heute ungleich höher. Entsprechend verlagerte sich der Ablauf der Abbundarbeiten von der Baustelle oder (wechselnden) Richtplätzen in feste Abbundhallen mit entsprechender Infrastruktur. Die Umstellung auf stationäre Maschinen erfolgte schrittweise und nicht einheitlich. Grob kann man sagen, dass diese Entwicklung zu 42 Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte und ihren bisher letzten Schub mit der Digitalisierung erhielt. Maschinen in Zimmereien umfassen heute die klassischen Werkzeugmaschinen von Schreinereien wie Tisch- beziehungsweise Formatkreissägen, Dicken-, Abricht- oder Vierseithobelmaschinen sowie Fräsmaschinen. Die Abbundsäge erlaubt durch mehrere hintereinander angeordnete Sägeblätter das serielle Herstellen bestimmter Profilquerschnitte oder Zapfenverbindungen. Eine sehr einschneidende Veränderung im Zimmererhandwerk ist die Einführung CNCgesteuerter Abbundmaschinen, welche durch verschiedene wechselbare Werkzeuge wie Fräser und Sägeblätter per Computer definierte Geometrien an Konstruktionshölzern anbringen können und es so möglich machen, den kompletten Abbund zu automatisieren. Der hohe Investitionsaufwand bedingt, dass manchmal grössere Firmen den sogenannten Lohnabbund für kleinere Betriebe übernehmen. Eine der Abbundhallen der Holzbau AG in Mörel VS im Jahr 2016. 43 Organisation Branche Der Bau des Hochstudhauses in Birrwil erfolgte mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Truppe von Zimmerern, die von der Bauherrschaft und lokalen Hilfskräften unterstützt wurden. Die Arbeiten umfassten alles Notwendige vom Fällen der Bäume bis zur Fertigstellung. Im Bezug auf die Arbeitsorte war man flexibel. Da die schweren Stämme sicher nicht unnötig transportiert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Bäume im Wald entastet und direkt zur Baustelle transportiert wurden. Das Bearbeiten zu Balken und der Abbund erfolgten dort. Die zum Bau hölzerner Konstruktionen notwendigen Arbeitsschritte sind dagegen heute oft auf verschiedene spezialisierte Betriebe verteilt. In Sägewerken werden aus Stämmen Balken oder Konstruktionsholz mit normierten Dimensionen und nach Sortierklassen klassifiziert hergestellt. Sägereien werden auch mit Hobelwerken oder Einrichtungen zum Verleimen kombiniert, um Leimbinder als Lagerware oder als Sonderanfertigungen herstellen zu können. Die eigentliche Zimmererarbeit beginnt mit dem Abbund, der meist per CNC-Anlage erfolgt, praktisch immer aber in einer Abbundhalle. Sehr wichtig ist das Montageteam, das die gefertigte Konstruktion auf der Baustelle aufrichtet. Günstige Transportpreise bedeuten, dass das Holz zwischen diesen Stationen teilweise sehr weit transportiert wird.80 Transport und Vorfertigung Auch im vormodernen Zimmererhandwerk existierte Vorfertigung. Besonders in engen Städten wurden Konstruktionsteile wie Wände oder Binder auf einem Richtplatz liegend abgebunden und zusammengebaut. Danach wurden die Nagellöcher gebohrt, die Hölzer mit Abbundzeichen markiert und zum Transport wieder demontiert. Der grösste Unterschied heutiger Transportmöglichkeiten liegt in den grösseren möglichen Dimensionen der Bauteile sowie in der Tatsache, dass sie vor dem Transport nicht mehr komplett demontiert werden müssen. Früher lag die Obergrenze der Bauteilgrösse da, wo sie mit menschlicher Körperkraft noch sinnvoll und effizient zu handhaben waren. Heute ist der Strassentransport limitierender Faktor für die Dimensionen.81 Im vormodernen Zimmern mag es den Fall gegeben haben, dass ganze Wände oder Binder im Liegen zusammengebaut und dann mit Flaschenzügen in die Vertikale gezogen wurden. Zeitgenössische Darstellungen wie die Luzerner Bilderchronik von Diebold Schilling aus dem 80 Ein Zimmerer berichtete im Gespräch mit dem Verfasser, dass es heute in der Schweiz günstiger sein kann, importiertes Holz anstatt regionaler Stämme zu verarbeiten. 81 Hier wiederum ist das Strassennetz ausschlaggebend: Durchfahrtshöhen und Kurvenradien limitieren den wirtschaftlichen Transport. 44 frühen 16. Jahrhundert zeigen jedoch, wie Gebäude Balken für Balken aufgerichtet wurden. Der Einsatz von Kränen hat insofern die Möglichkeiten zur Vorfertigung stark erhöht und Elementfertigung erst ermöglicht. Montage / Aufrichte Die Aufrichte ist sehr wichtig, da sie die Konstruktion bereits stark mitbestimmen kann; im heutigen Zimmern kann man vom zentralen Thema sprechen. Sie beschreibt die Montage der fertigen Konstruktion am endgültigen Standort. Im klassischen Zimmern zeigt sich hier erstmals, ob der Abbund richtig war und alle Komponenten passen. Dieser besondere Charakter der Aufrichte zeigt sich darin, dass nach deren Erfolg bis heute das Richtfest gefeiert wird. Der Ablauf muss genau geplant sein, und die Bauteile müssen sehr genau zueinander ausgerichtet werden. Selbst bei sehr genau gefertigten Elementen gibt es in der Montage genug Spielraum, diese so ungenau zu versetzen, dass die Ungenauigkeiten im weiteren Bauablauf hoch problematisch werden können. Unpräzision bei den unteren Elementen kann sich im weiteren Montageverlauf kumulieren. Insofern ist die Montage eine anspruchsvolle Arbeit, die grosse Verantwortung erfordert. Während Knoten und Verbindungen oft Standardlösungen sind, ist die Montage bei jeder Baustelle anders.82 Bei der Montage offenbart sich – durch den Umgang mit den schweren Bauteilen, das Arbeiten in Höhen und eine gewisse Gefahr – auch die physische Prägung im Holzbau. 82 Für Zimmerer und Bauleiter Martin Antemann ist der am schwierigsten zu kontrollierende Bereich im Holzbau-Prozess nicht der Abbund im Werk, sondern die Montage auf der Baustelle. Daher muss diese als erste planerisch gelöst werden. 45 Kollektiv Zimmern ist eine kollektive Arbeit, die eine hierarchische Organisation erfordert. Das Arbeiten in Gruppen und das möglichst effiziente Zusammenspiel der Kräfte der einzelnen Personen beim Handhaben schwerer Lasten erfordert Koordination, genauso wie der Einsatz unterschiedlich qualifizierter Personen an der richtigen Stelle. Meistens ist die Verantwortung über die gesamte Baustelle bei einer Person gebündelt. Darüber hinaus ist diese Art der Arbeit nur möglich, wenn ein Konsens im Bezug auf die Art und Weise der Arbeit besteht und auch die Einzelnen Verantwortung übernehmen. Zuerst gilt das für die Sicherheit, da sorgloses Hantieren die anderen gefährden kann. Aber auch bei der Arbeit selbst gibt es Gelegenheiten, wo die Qualität des Schrittes kaum durch Kontrolle gewährleistet werden kann. Das richtige Verkleben einer Dampfbremse oder die Passung einer Holzverbindung muss vom Ausführenden selbst gewährleistet sein. Material Im historischen Zimmererhandwerk lag der Fokus auf einem sparsamen (nachhaltigen) Umgang mit dem Material Holz, was sich in der mehrfachen Verwendung von Bauholz niederschlug.83 Reith stellt sogar die Frage, ob Einsparung und Wiederverwendung von Rohstoffen im Handwerk höher gewichtet wurden als die Entwicklung des Arbeitsprozesses zur Einsparung von Arbeitskosten.84 Dabei ist nicht nur das Material selbst wertvoll, sondern auch die darin gespeicherte Arbeit; erspart doch die Wiederverwendung eines Balkens die sehr anstrengende Arbeit des Bebeilens, Aufsägens und Transportierens, vom Fällen des Baums ganz abgesehen. Es kann hier nicht geklärt werden, inwieweit dieser Umgang mit dem Material aus ökonomischen Gegebenheiten oder aus dem Handwerk selbst stammt und inwieweit dies kulturell verankert ist. Obwohl nicht entscheidend, zeigt dies die Möglichkeiten des Handwerks, mit dem vorhandenen und nicht homogenisierten Material zu arbeiten. Zudem verweist es auf die zentrale Rolle, die das Material im Handwerk spielt. Holz ist zunächst ein gerichteter Werkstoff. Nicht nur sind die Baumstämme linear, auch in der Struktur des Holzes macht sich diese Linearität durch die Faserrichtung bemerkbar. Holz hat 83Dazu Gerner 2003, S. 50: «Das Bauholz wurde uneingeschränkt so lange – also auch drei-, vieroder fünfmal – wieder verwendet, wie die Holzqualität es zuliess.» Dies muss bei der Altersbestimmung von Strukturen durch Dendrochronologie (die Altersbestimmung von verbautem Holz durch den Vergleich der Jahrringstruktur) immer darauf geachtet werden, da es sonst zu massiven Fehldeutungen kommen kann. 84 Reith 1998, S. 26: «Es wäre angesichts dieser Kostenstruktur natürlich eine interessante Frage, wieweit in der handwerklichen Produktion der Einsparung von Rohstoffen bzw. ihrer Wiederverwertung ein weit grösseres Gewicht zukam als einer Weiterentwicklung der Produktionstechnik des Gewerbes zur Reduktion der Arbeitskosten.» 46 verschiedene Eigenschaften, je nachdem, in welcher Richtung zu den Fasern die Last auftritt. Zwischen den Fasern lässt sich Holz spalten, was bei der Bearbeitung mit Handwerkzeugen oft genutzt wird. Eine wichtige Eigenschaft ist das Arbeiten des Holzes, das heisst, seine Volumenänderung mit Aufnahme oder Abgabe von Wasser aus der Umgebung.85 Diese Bewegungen sind innerhalb desselben Bauteils sehr inhomogen; in Faserrichtung findet mit insgesamt 0,1 bis 0,3 % die geringste Längenänderung statt, radial sind es ca. 5 % und tangential in Richtung der Jahrringe sogar 10 %.86 Dies führt beim Trocknen zwangsläufig zu Spannungen im Holz, welche sich durch Risse oder unerwartete Geometrieänderungen wie Biegen und Verdrehen mit grosser Kraft zeigen können. Dieser Faktor ist bestimmend für viele Konstruktionen. Spannungen, die durch das Einbauen von Hölzern mit nicht parallel verlaufender Faser entstehen, können durch konstruktive Massnahmen kompensiert werden. Dies sind z. B. Füllungen, die sich frei in Nuten liegend ausdehnen und zusammenziehen können, das Vorsehen von Toleranzräumen für Setzmasse oder auch flexible Konstruktionen wie Gratleisten, die das Bewegen der Hölzer relativ zueinander erlauben. Schliesslich kann durch Verleimen das Arbeiten des Holzes stark minimiert werden, wie es bei Leimholzbalken geschieht. Hierzu sind aber Arbeitsschritte vom Trocknen über das Hobeln und Leimen erforderlich. Das Material selbst ist inhomogen. Es besteht je nach Art ein grosser Härteunterschied zwischen Früh-und Spätholz (den hellen beziehungsweise dunkleren Bereichen der Jahrringe). Äste, Risse oder Fehler verändern die Eigenschaften innerhalb desselben Stammes. Splintholz87 unterscheidet sich je nach Holzart stark in den Eigenschaften und der Dauerhaftigkeit von Kernholz. Während diese Inhomogenität eher Auswirkungen auf die direkte Verarbeitung hat, ist die vielleicht entscheidendste Eigenschaft des Holzes als Konstruktionsmaterial – neben dem Arbeiten – seine Empfindlichkeit gegen Feuchte. Liegen entsprechende Bedingungen vor, grob gesagt eine bestimmte Temperatur und genug Wasser, dann sind die organischen Bestandteile des Holzes Nahrung für holzzerstörende Pilze und Insekten. Ist das Holz jedoch ausreichend vor 85 Diese Eigenschaft war bis zur Verbreitung homogenisierter Holzwerkstoffe bestimmend für Konstruktionen in Holz. Vgl. hierzu Büchner 2011, S. 4: «Auch altes, lange gelagertes Holz arbeitet noch. Daraus folgert, dass auf das ‹Arbeiten› grösstmöglicher Bedacht zu nehmen ist. Ohnedem wäre das Tischlergewerbe in vollem Umfange zu erlernen, nicht so schwer.» 86 Schwindmasse zwischen Fasersättigungsbereich (ca. 30 % Holzfeuchte) bis Darrtrocken (0 %). Angaben nach Nutsch 2007, S. 50. Die Schwindung vom lufttrockenen Holz zu seinem endgültigen Zustand im Bauwerk ist entsprechend geringer. Dennoch können auch kleinere Volumenänderungen in Holzbauteilen, bei denen die Faser nicht der Längsachse folgt, zu Verdrehen, Schüsseln oder Biegen führen und auch auf diese Weise eine Konstruktion schädigen. 87 Bei einigen Holzarten bilden die jeweils äusseren Jahrringe das Splintholz. Dieses kann sehr wenig dauerhaft und besonders anfällig für Insekten- und Fäulnisbefall sein. 47 Feuchte geschützt, können hölzerne Konstruktionen eine sehr lange Lebensdauer erreichen. Diese Eigenschaft des Holzes ist entscheidend für seine Verwendung am Bau und von der Planung des konstruktiven Holzschutzes bis zur Auswahl und Ausbildung von Verbindungen stets präsent. Aufgrund der erforderlichen Genauigkeit der Passungen in den Holzverbindungen verlangt das Material ein genaues Arbeiten. Die Masstoleranzen, das zulässige beziehungsweise für eine Konstruktion ertragbare Mass an geometrischer Unpräzision sind beim Holzbau niedriger als z. B. beim Mauern.88 Für die Bearbeitung selbst ist es wichtig, dass Holz nicht aufbauend bearbeitet wird, wie es beispielsweise beim Mauern geschieht, sondern subtraktiv. Wurde einmal Material abgenommen (z. B. abgesägt), ist dies nur schwer korrigierbar, was sich zwangsläufig auf die Konzentration und die Voraussicht auswirken muss. Schliesslich sind die Einzelbauteile relativ schwer. Der Umgang mit schweren Lasten hat Auswirkungen auf die Arbeitsweise, indem reine Kraftanwendung durch Massnahmen wie Hebel, Spannvorrichtungen oder dosierte Hammerschläge ergänzt wird. Nicht nur der Kraftaufwand an sich ist entscheidend, sondern wie dieser dosiert an der richtigen Stelle eingesetzt werden kann. Es erfordert eine gewisse Umsicht, Bauteile so wenig wie nötig und so sicher wie möglich bewegen zu können. Mit der umfassenden Verfügbarkeit von Plattenwerkstoffen wurde die wichtigste Eigenschaft nicht homogenisierten Holzes, das Arbeiten, ausgeschaltet. Durch Verleimen von Lamellen können Halbzeuge in gewünschten, auch grossen Dimensionen hergestellt werden, die darüber hinaus leichter in abstrakten Berechnungen fassbar sind. Diese Homogenisierung hat auch Folgen bezüglich des Energieverbrauchs und des Ausdrucks des Holzes, aber auch für die daraus entstehenden Bauwerke. Limitierender Faktor der Lebensdauer ist hier nicht unbedingt das Holz selbst, sondern kann auch die Leimfläche sein. 88 Duden: «Toleranz: (besonders Technik) zulässige Differenz zwischen der angestrebten Norm und den tatsächlichen Maßen, Größen, Mengen o. Ä». 48 Diese Konstruktionshölzer sind aus jeweils drei Lagen verleimt, da Lärche stärker als andere Nadelhölzer zum Verwerfen neigt. Sie sind maschinengehobelt und in einer Abbundanlage bearbeitet. Der handgehauene Balken zeigt die stark faserige, lineare Struktur, die das Arbeiten mit dem Holz bestimmt. Längs zur Faser wird anders gearbeitet als quer dazu. Beim Herstellen des Zapfens wird hier quer zur Faser mit dem Stechbeitel gestemmt. Längs kann das Holz auch gespalten werden. 49 Schwelle Ferienheim Büttenhardt 50 II Bauhandwerk 1. Drei Thesen zum handwerklichen Arbeitsschritt In diesem Kapitel werden drei Thesen vorgestellt, welche zusammen eine Definition handwerklicher Arbeitsschritte ergeben. Handwerk wird durch eine Kombination spezifischer Wissensarten bestimmt. Zudem interagieren die Ausführenden direkt mit dem Material und bestimmen das Kriterium der Angemessenheit. Obwohl diese Betrachtung des Handwerks von der gebauten Architektur ausgeht, ist es nötig, die Ausführenden in die Betrachtung einzubeziehen, soweit sie den Ablauf der Prozesse und deren Ergebnisse bestimmen. Die Definition muss diesem integralen Charakter handwerklicher Fertigung und der gegenseitigen Verknüpfung von Einflüssen gerecht werden. These 1: Können und Wissen Vitruv Vitruvs Beschreibung der ‹fabrica› steht im Zusammenhang mit der Beschreibung des Wissens, das Architekten für ihre Arbeit benötigen: «Dieses [Wissen] erwächst aus fabrica (Hand-Werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmässig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird.»89 89 Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 23: Fensterbusch merkt an, dass die Übersetzung der Definition von ‹fabrica› an dieser Stelle nicht ganz eindeutig ist, so dass er seine Version mit der Beschreibung der Entstehung des Berufsstandes der ‹fabri› im 2. Buch abglich. Auch dort sind ‹Übung›, ‹Geschicklichkeit›, und die ‹tägliche Betätigung› zentrale Punkte. 51 Diese Darstellung gibt Hinweise auf den Charakter des Wissens der ‹fabrica›. Die explizite Erwähnung der stetigen Wiederholung zielt auf das manuelle Können und die Erfahrungen ab, die durch Übung entwickelt werden.90 Diese physischen Fertigkeiten allein sind für Vitruv jedoch kein ausreichendes Kriterium für ‹fabrica›. Die Arbeit muss darüber hinaus ‹überlegt› (‹meditatio›) geschehen. Ausdrücklich werden nicht nur die Hände geübt, sondern auch der ‹Geist›. Diese Kombination aus Wissen und Können soll im Folgenden genauer betrachtet werden.91 Explizites Wissen Explizites Wissen ist formulierbar, kommunizierbar und abstrahierbar. Im Buch «The Concept of Mind» unterschied der Philosoph Gilbert Ryle92 zwei verschiedene Formen des Wissens. Mit ‹knowing that› bezeichnet er jene Wissensformen, welche aufgeschrieben oder verbal vermittelt werden können. Faktenwissen gehört zu diesem expliziten Wissen. Es ist kodifizierbar, kommunizierbar und kann abstrahiert werden. Im Handwerk gehört hierzu alles, was sich (theoretisch) in einem Fachbuch abbilden liesse. Dies gilt für das Materialwissen um die spezifischen Eigenschaften des Holzes. Es ist für dessen Einschätzung während der Bearbeitung relevant und dient der kraftsparenden Arbeit, zum Vermeiden von Fehlern wie Ausreissen oder Spalten oder um Schwächen im Material zu erkennen. Auch zum Abschätzen des Materialverhaltens am fertigen Bauwerk ist Materialwissen nötig. Ebenso wichtig ist das Wissen um die theoretische Wirkweise des Werkzeugs und seine Pflege. Konstruktionswissen schliesslich beinhaltet das Verstehen der Funktion von einzelnen Holzverbindungen sowie deren Zusammenwirken in einem grösseren, komplexen Konstruktionssystem.93 Konstruktionswissen ist also nicht unabhängig vom Materialwissen zu betrachten. 90 Das Können (‹skills›) wird z. B. als Bestandteil des Handwerks beschrieben bei Pye 1968, Adamson 2007, Sennett 2008, Haefeli et al. 2011. Auch für Karl Marx 1867/1983 ist die ‹Virtuosität der Hand› implizit Bestandteil des Handwerks, z. B. S. 312, S. 345. 91 ‹Wissen› ist nicht mit dem technischen Begriff der ‹Information› gleichzusetzen. Der Begriff der ‹Information› wurde, wie Schindler 2009 zeigt, von dem Mathematiker Norbert Wiener 1948 im Kontext der Kybernetik eingeführt und beschreibt den Inhalt einer Nachricht, die sich aus Zeichen zusammensetzt. ‹Information› könnte in diesem Zusammenhang z. B. die Geometrie eines zu fertigenden Bauteils sein. Sie ist abstrahierbar, z. B. in einem Code, und kann in einem Plan oder 3-D-Modell konkretisiert werden. Wissen ist hingegen teilweise nicht abstrahierbar, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 92 Ryle 2009. 93 Graubner 2014a bezeichnet die Holzverbindungen als die ‹DNA der Konstruktion›. 52 Implizites Wissen: das Können Das Können bildet einen wichtigen Teil des handwerklichen Wissens, das nicht kodifizierbar ist. Dieses ‹stille› Wissen wurde von Gilbert Ryle und Michael Polanyi (‹tacit knowledge›) beschrieben. Es wird durch die Wiederholung von Arbeitsschritten gelernt und ist mit Werkzeug und Material verknüpft. Intuition, das unbewusste Erkennen von Mustern, ist ein passiver Teil des impliziten Wissens. Das Gegenstück zum ‹knowing that› nennt Ryle ‹knowing how›. Er argumentiert, dass viele Aktivitäten, geistige wie physische, nicht Ergebnis intellektueller Vorgänge sind.94 Dieses Wissen kann nur durch wiederholtes Üben erworben und gefestigt werden und ist nicht verbal zu vermitteln. So kann die Tätigkeit des Radfahrens zwar beschrieben, jedoch nicht durch die Rezeption der Beschreibung alleine erlernt werden. Dieses Lernen ist personengebunden95 und kann nicht intellektuell nachempfunden werden. Das ‹stille› Wissen kann auch mit dem von dem Philosophen Michael Polanyi eingeführten Begriff der ‹tacit knowledge› beschrieben werden: «I shall reconsider human knowledge by starting from the fact that we can know more than we can tell.»96 Sowohl Ryle als auch Polanyi betrachten also die physischen Fertigkeiten als eine Wissensform im Sinne des Vermögens, etwas zu tun. Das Besondere des hier beschriebenen ‹stillen› Wissens ist, dass es nicht nur unausgesprochen vorausgesetzt wird, sondern überhaupt nicht kodifizierbar ist: Es entzieht sich der Versprachlichung und ist subjektiv. Die Weitergabe erfolgt durch Nachahmen, Hineinversetzen (‹indwelling›97) und schliesslich durch eigene Praxis. Verbale Erklärungen können den Lernprozess begleiten und ergänzen, nicht ersetzen.98 Hierzu Polanyi: «The performer co-ordinates his moves by dwelling in them as parts of his body, while the watcher tries to corellate these moves by seeking to dwell in them from outside. He dwells in these moves by interiorizing them. By such exploratory indwelling the pupil gets the feel of a master›s skill and may learn to rival him.»99 94 Ryle 2009, S. 15 f.: „Intelligent practice is not a step-child of theory. In the contrary theorising is one practice amongst others and is itself intelligently or stupidly conducted.» 95 In Japan können Personen zum ‹lebenden Nationalschatz› ningen kokuhō (offiziell ‹Jūyō mukei bunkazai hojisha›, ‹Träger des immateriellen Kulturerbes›), erklärt werden. Diese Praxis reflektiert die Tatsache, dass implizites Wissen an den Träger gebunden ist. 96 Polanyi 1966, S. 4 97 Ebd. S. 16 f. 98 Jan Kollwitz erklärt in einem Interview über seine traditionelle handwrkliche Ausbildung in Japans, dass dort konsequent auf Erklärungen und explizites Zeigen verzichtet werde. Die Lernenden sollen selbst herausfinden, wie und warum Abläufe in einer bestimmten Art und Weise geschehen. Peters 2010, S.60. 99 Polanyi 1966, S. 30. 53 Das implizite Wissen ist ein wichtiger und selbstverständlicher Teil des Handwerks.100 Man kann es auch als die ‹Fertigkeiten› oder das ‹Können› bezeichnen. 101 In der Beschreibung seiner traditionellen Ausbildung zum Bauschreiner macht der amerikanisch-japanische Künstler und Autor Toshio Odate die beschriebene Rolle der persönlichen Fertigkeiten deutlich.102 In einem langwierigen Prozess eignete er sich durch Nachahmung und stetige Wiederholung von Bewegungsabläufen die Fähigkeiten des Handwerks an. Gleichzeitig lernte er die Einstellung zum Werkzeug, zum Material und zur Arbeit nicht nur theoretisch, sondern bettete diese umfassend im Unterbewusstsein ein.103 Dabei ist die Arbeit nie wirklich repetitiv: Man bohrt nie zweimal denselben Balken, hobelt nie zweimal dasselbe Brett. Die minimalen Unterschiede und Eigenheiten des Materials, des Werkzeugs und der Situation zwingen dazu, die Bewegungen und das Vorgehen auch bei simplen Arbeitsschritten stets anzupassen, auch wenn dies nicht mehr bewusst geschieht. Handwerkliche Arbeitsschritte sind in diesem Sinne eher Graduierungen als Wiederholungen. Das jeweils notwendige Mass an implizitem Wissen ist von aussen ohne entsprechende Erfahrung kaum einzuschätzen.104 Auch Sennett betont den Wert der Wiederholung für den Lernprozess und spricht davon, «eine eingeschliffene Praxis [zu] üben, und von innen heraus [zu] verfeinern».105 Michael Polanyi betonte, dass zum Lernen des impliziten Wissens das unvoreingenommene Nachahmen wichtiger sei als das Verstehen, was ein Vertrauen des Lernenden in die Lehrenden voraussetzt: „In order to share this indwelling, the pupil must presume that a teaching which appears meaningless to start with has in fact a meaning which can be discovered by hitting the 100 Wie selbstverständlich ein gewisses Mass an Können im traditionellen Handwerk war, zeigt die Tatsache, dass in Zimmerer-Lehrbüchern aus dem 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tage beinahe nur explizites Wissen vermittelt wurde und wird, während das implizite Wissen vorausgesetzt wird; es wird z. B. sehr selten ein Bewegungsablauf oder das genaue Ausführen eines Arbeitsschrittes beschrieben. Schüblers Zimmererlehrbuch konzentriert sich auch auf geometrische (Abbund-) Probleme (Schübler 1998). In heutigen Do-it-Yourself-Büchern oder entsprechenden Blogs werden dagegen konkrete Anweisungen zum Gebrauch von Werkzeugen und Techniken gegeben, da deren Zielgruppe dieses Können nicht mehr automatisch gelernt hat. 101 Sabine Wilp 2014 spricht vom Handwerk als dem ‹Archiv des praktischen Wissens›. 102 Ōdate 1998. 103 Dieses Wissen ist nicht nur nicht formulierbar. Sein Aufbau geschieht so langsam, dass es selbst für diejenigen, die diese Fertigkeiten haben, manchmal kaum bewusst reflektiert, sondern für selbstverständlich gehalten wird. 104 Vgl. hierzu den Bericht eines ‹Selbsthilfeprojektes› der frühen 1980er Jahre. Hier werden zwei Initiatoren des Projektes zitiert, bei dem ungelernte Personen in Eigenleistung zusammen mit professionellen Handwerkern eine Hofanlage renovierten. Blomeyer, Tietze 1984, S. 68: «Ursprünglich haben wir so kalkuliert, dass wir für eine Gesellenstunde zwei Selbsthelferstunden als gleichwertig ansetzten. Das allerdings war ein verheerender Irrtum. Bei einem Vergleich der Arbeitsleistung einer Facharbeiterstunde und unserer Leistung bei qualifizierten Arbeiten, wo man Ahnung haben musste, war das Verhältnis häufig 1:10. Erst im Laufe der Zeit haben wir uns 1:2 angenähert.» 105 54 Sennett 2009, S. 56. same kind of indwelling as the teacher is practicing. Such an effort is based on accepting the teacher’s authority.“106 Als eine passive Komponente des impliziten Wissens könnte man die Intuition bezeichnen, das unbewusste Erkennen von Mustern.107 Durch den Abgleich mit vorher Erlebtem können sehr schnell und ohne Nachdenken Situationen eingeordnet oder Entscheidungen getroffen werden. Beim Bearbeiten von Holz beispielsweise wird nicht nur die Eignung eines Balkens für die jeweilige Aufgabe beurteilt, sondern auch das Material- und Werkzeugverhalten bei jedem Schlag mit der Axt und jedem Schnitt mit der Handkreissäge permanent neu überprüft und eingeschätzt. Das stetige Beurteilen bedeutet ein Denken in Referenzen und Vergleichen. Es ergänzt das analytische Denken in Argumentationsketten. Jede Situation wird permanent mit dem eigenen Erfahrungsschatz abgeglichen. Das Denken ist dabei nicht von den körperlichen Bewegungen zu trennen. Mit zunehmenden Fertigkeiten wächst auch die Fähigkeit, sich auf andere Werkzeuge, Materialien und Situationen einzustellen. Handwerkliches Wissen ist dynamisch und entwickelt sich stetig weiter. Zum impliziten Wissen gehört auch eine Entwicklung des Formempfindens, die nicht auf das Auge beschränkt ist, sondern auch die Koordination von Hand und Auge betrifft. Diese Urteilsfähigkeit erfasst all jene Formen, deren Entstehung in der Kontrolle der Ausführenden liegt.108 106 Polanyi 1966, S. 61. 107 Diese Definition folgt Wagner 2005. 108 Bootsbauer z. B. trainieren das Erkennen einer ‹strakenden›, d. h. gleichmässigen Kurve, wie der Bootsbauer Larry Pardey in seinem Lehrbuch beschreibt (Pardey 1999). Die Gleichmässigkeit der Kurve ist dabei ursprünglich nicht nur ein ästhetisches Kriterium. Jede Unregelmässigkeit in der Kurve erschwert das genaue Aneinanderpassen von Planken-Längskanten und bildet eine Punktlast in der fertigen Konstruktion: «Recognizing Kein Schlag ist wie der andere, stets wird minimal angepasst. 55 Explizites und implizites Wissen liegen im Handwerk in komplexen Verknüpfungen vor. Das kann an einem einfachen Beispiel wie dem Austausch eines tragenden Balkens in einem Dachstuhl erklärt werden: Grundlage für diese Tätigkeit ist explizites Wissen über die Funktionsweise des Dachstuhls. Es muss klar sein, wie der Balken belastet wird, wo genau Zug und Druck vorliegt. Das spätere Verhalten der verschieden trockenen Hölzer muss berücksichtigt werden, ausserdem muss die anzuwendende Reparaturverbindung bekannt sein. Das Verhalten des Dachstuhles während der Arbeit, das Herstellen von Provisorien (der Hängepfosten muss abgestützt werden, um während des Austauschs nicht zu sacken), der zeitliche Ablauf sowie allfällige Gefahren müssen berücksichtigt sein. Darüber hinaus kommt während des Prozesses durchgehend implizites Wissen zur Anwendung. Dies beginnt bei der Art und Weise der Behandlung des Holzes beim Herstellen der Verbindung und schliesst mit ein, wie der schwere Balken in der Enge des Daches bewegt oder gegen die Reibung mit Hilfe von Hebeln, Nageleisen und Hammer an seinen Platz gebracht wird. Schliesslich muss die Arbeit in den Kontext des Bauwerks als Gesamtheit eingeordnet werden. this fairness [of a line] is a developed skill. A boatbuilder who has a ‹good eye› always ends up with a more artistic, professional looking, easier-to-plank boat.» Keine Standardlösung: Der Austausch dieser Bundstrebe war vor allem deshalb schwierig, weil er nicht einfach in seine Lage gekippt werden konnte. Hier wirken implizites und explizites Wissen zusammen. 56 Abstufungen des handwerklichen Wissens Das handwerkliche Wissen kann in drei Stufen eingeteilt werden. Sie reflektieren die Einbettung des jeweiligen Arbeitsschrittes in den Gesamtprozess. Als Kriterium einer Einstufung des handwerklichen Wissens kann gelten, inwieweit ein Arbeitsschritt im Kontext des Gesamtprozesses gedacht werden kann. In der ersten Stufe wird Wissen und Können auf den jeweils vorliegenden Arbeitsschritt bezogen, beispielsweise eine bestimmte Holzverbindung herstellen zu können. Diese Stufe nehmen Lehrlinge ein. Sie lernen zuerst eine Anzahl solcher Schritte und wiederholen sie, wodurch Erfahrung im Umgang mit Material und Werkzeug aufgebaut wird. Die zweite Stufe bezieht das Wissen um die vorherigen und die folgenden Arbeitsschritte in die Arbeit ein. So kann effizienter, weil vorausdenkender gearbeitet werden. Da Anstrengung sehr direkt fühlbar ist, wird Erfahrung oft zum Einsparen von Kräften genutzt und in die Gewohnheiten eingebettet: Erfahrene Handwerker brauchen nur so viel Kraft wie nötig. In der dritten Stufe kann der einzelne Arbeitsschritt in den Zusammenhang des gesamten Bauwerks eingeordnet werden. Hier fliessen implizites und explizites Wissen in komplexen Verknüpfungen zusammen. Das Einschätzen, welcher Schritt der am besten geeignete ist und wie lange er braucht, die komplexe Logistik der Kombination von Schritten, die oft nur in bestimmten Reihenfolgen Sinn macht, und das Beurteilen ihrer Auswirkung auf spätere Bauphasen gehören hierzu. Wichtig ist auch das Choreografieren von Arbeiten, die gemeinschaftlich erfolgen, wie die Aufrichte grösserer Bauteile. Alle Massnahmen müssen im Massstab des gesamten Bauwerkes beurteilt werden können. Die Erfahrung mit verschiedenen Situationen erlaubt, durch Anpassen von Lösungen aus dem Fundus der Erfahrung auch auf völlig neue Situationen reagieren zu können. 57 These 2: Menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material (Risiko) ‹Risiko› statt ‹Handarbeit› Handarbeit ist kein klares Kriterium für handwerkliches Bauen. Geeigneter ist David Pyes Unterteilung in riskante und determinierte Fertigung. Vitruv erwähnt in seiner Beschreibung des Handwerks auch die direkte menschliche Interaktion mit dem Werkstoff: die «Formgebung (...) mit den Händen am Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht...»109 Das Lernen des impliziten Wissens geschieht ohne abstrahierende Zwischenschritte direkt über die Wechselwirkung des Bearbeitenden mit dem Material. Der Aufbau der Fertigkeiten ist die Reaktion auf deren Rückmeldungen. Soll die menschliche Interaktion mit dem Material ein Kriterium für handwerkliche Fertigung sein, so muss bei genauerem Hinsehen jedoch genauer bestimmt werden, wann eine solche Wechselwirkung tatsächlich stattfindet. Eine naheliegende Einschränkung wäre, sie einfach als ‹Arbeit mit den Händen am Material› zu definieren.110 David Pye hingegen lehnt ‹Handarbeit› als Unterscheidungsmerkmal für handwerkliche Arbeit ab, da dieses Kriterium zu massiven Abgrenzungsschwierigkeiten führt. «Is anything made by hand?“ fragt er rhetorisch und fügt hinzu, dass ausser Korbflechten und Bandkeramik eigentlich kein Handwerk ohne Werkzeuge auskommt.111 Er bemerkt auch, dass es für das gefertigte Objekt irrelevant ist, welche Energie das Werkzeug antreibt.112 Paulinyi kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass eine Trennung zwischen Hand- und Maschinenarbeit nicht über eine Beschreibung der Werkzeuge zu lösen ist.113 Sobald ein Werkzeug zwischen die Hand der Ausführenden und das Material ‹zwischengeschaltet› wird, genügt ‹Handarbeit› nicht mehr als unterscheidendes Kriterium. Pyes Unterscheidung zwischen riskanter und determinierter Fertigung erlaubt hingegen eine klare Definition menschlicher Interaktion. Die Kontrolle des Risikos durch die Ausführenden 109 Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 23. 110 Die Hand wird gern als Pars pro Toto für das implizite Wissen genutzt. Neben Vitruv vgl. z. B. Juhani Pallasmaas Buchtitel «The Thinking Hand», Pallasmaa 2009. 111 Pye 1968, S. 25: „Some things actually can be made without tools it is true, but the definition is going to be rather exclusive for it will take in baskets and coiled pottery, and that is about all.» 112 Pye 1968, S. 25 f.: «Now we are faced with having to agree that the distinction between handicraft and not-handicraft has nothing to do with the result of handicraft – the thing made: for no one can possibly tell by looking at something turned, whether it was made on a power-driven, foot-driven, boy- or donkey-driven lathe.» 113 Paulinyi 1990, S. 301: «Ausserdem kam ich zur Überzeugung, dass ein zentrales Problem, nämlich die klare Herausstellung der Trennungslinie zwischen Handarbeit und Maschinenarbeit über Definitionen des Handwerkzeuges und der Arbeits-(Werkzeug-)Maschine, wie es K. Marx, später F. Relaux und andere versucht haben, kaum zu lösen ist.» 58 Beim Bau dieser hölzernen Yacht wurde die mehrfach gekrümmte Form frei Hand mit einem Winkelschleifer ausgearbeitet. Es handelt sich klar um riskante Fertigung, ungeachtet der Energiezufuhr der Maschine: Das Risiko und seine Kontrolle liegen bei der ausführenden Person. bei der riskanten Fertigung erlaubt den Aufbau des impliziten Wissens. Bei dieser Eingrenzung ist die Art des Werkzeugs oder der Krafterzeugung nicht per se relevant, sie ist auch nicht auf ‹klassische› Handwerkzeuge beschränkt. Wird beispielsweise ein Winkelschleifer mit Schleifscheibe benutzt, um freihändig komplexe Kurven zu fräsen, so liegt riskante Fertigung vor, also auch direkte Interaktion mit dem Material.114 Bei der determinierten Fertigung hingegen ist ein Wissensaufbau des impliziten Wissens durch die direkten Rückmeldungen des Materials nicht möglich, da auch diese Rückmeldungen von der Person des Ausführenden entkoppelt sind. Hier liegt also keine menschliche Interaktion mit dem Material und Werkzeug vor, selbst wenn eine ausführende Person das Werkstück von Hand an der Schablone vorbeibewegt hat. Handwerkliche Fertigung schliesst die direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material ein. Sie liegt dann vor, wenn die Verantwortung über das Gelingen des Arbeitsschrittes beim Ausführenden liegt. Die Person, die eine Baustelle leitet, trägt nach aussen hin die Verantwortung über die Baustelle, organisiert und überwacht die Arbeiten und passt den jeweiligen Plan an die spezifischen Gegebenheiten an. In dieser Rolle kommen komplexe logistische und auch 114 Paulinyi zieht die Grenze zwischen ‹Hand-Werkzeug-Technik› und ‹Maschinen-Werkzeug-Technik› ebenfalls an dem Punkt, wo die «Relativbewegung zwischen Werkzeug und Werkstück (...) direkt vom Menschen bestimmt wird.» Paulinyi 1990, S. 306. Dies entspricht weitgehend Pyes Definition. Durch die Einführung des Begriffes des ‹Risikos› ist Pyes Beschreibung jedoch prägnanter und leichter fassbar. 59 betriebswirtschaftliche Anforderungen zum Wissen hinzu. Zimmern ist dabei immer eine konstruktiv-räumliche Aufgabe, welche über die Fertigung des einzelnen Bauteiles hinausgeht. Werkzeug Das Werkzeug ist das Medium für die Wechselbeziehung zwischen Ausführenden und Material. Das Können ist an die Werkzeuge gebunden. Bauhandwerk ohne Werkzeug115 ist nicht denkbar. Die Handsäge wie die elektrische Handkreissäge formen das Material, während sie umgekehrt Eigenschaften des Materials für die Bearbeitenden fühlbar machen. Die Fertigkeiten sind zuerst an das Werkzeug gebunden. Michael Polanyi beschreibt die Einbettung des Werkzeuges in das implizite Wissen als dessen «semantischen Aspekt»116. Am einfachen Beispiel eines Taststockes erklärt er die Wirkweise des Werkzeuges im impliziten Wissen: das Bewusstsein des Stockes in der Hand wird in einem Lernprozess umgewandelt in das Bewusstsein der Berührung des Stockes mit einem Objekt. Die Empfindung des Stockes bekommt insofern eine Bedeutung, als sie ein Gefühl des mit dem Stock berührten Gegenstandes einschliesst.117 Das Werkzeug wird in diesem Sinne zur Verlängerung des Körpers und zum Teil des impliziten Wissens, welches durch seinen Gebrauch aufgebaut wird. Dies geschieht durch die direkte Rückmeldung vom Material über das Werkzeug und damit auch die Hand als Medium.118 Alle Sinne sind in die Beurteilung eingebunden. Beim Sägen wird der Materialwiderstand gespürt, die Abweichung von der Schnittlinie gesehen, ein verbrannter Geruch deutet ebenso auf Schwierigkeiten beim Schnitt hin wie ein ungewohntes Geräusch der Säge. 115 Laut Duden: «Werkzeug: a. für bestimmte Zwecke geformter Gegenstand, mit dessen Hilfe etwas [handwerklich] bearbeitet oder hergestellt wird b. Gesamtheit von Werkzeugen, die für eine Arbeit gebraucht werden», hier ist also die zweite Bedeutung gemeint. 116 «semantic aspect of tacit knowing»: Paulinyi 1966, S. 13. 117 Ebd., S. 12 f.: «Anyone using a probe for the first time will feel its impact against his fingers and palm. But as we learn to use a probe, or to use a stick for feeling our way, our awareness of its impact on our hand is transformed into a sense of its point touching the objects which we are exploring. This is how an interpretative effort transposes meaningless feelings into meaningful ones (...). This is so also when we use a tool. We are attending to the meaning of its impact on our hands in terms of its effect on the things to which we are applying it.» 118 Es ist evident, dass die Hand eher in der Lage ist, Unregelmässigkeiten einer Oberfläche zu erfassen, als das Auge. Das wird besonders beim Glätten von Holzoberflächen durch Hobeln oder Schleifen deutlich. Wichtiger noch als der Blick längs der Oberfläche ist das Fühlen mit der Handfläche. 60 Jedes Handwerk hat seine spezifischen Werkzeuge119. Das Lernen durch Üben ist an das Werkzeug geknüpft, das die jeweiligen Abläufe stark mitbestimmt. Diese Rolle des Werkzeuges als Erweiterung der Hand macht deutlich, warum ein sehr persönliches Verhältnis dazu entstehen kann – erst das Werkzeug ermächtigt, etwas zu schaffen. Es ist naheliegend, dass es auch symbolhafte Bedeutung bekommen kann. Ein verbreitetes Berufszeichen der Zimmerer zeigt Axt, Breitbeil, Säge und Zirkel. Auch Handwerker ohne Sinn für solche Traditionen werden ihr Werkzeug in Ordnung und geschärft halten, um gute Ergebnisse und vor allem einen reibungslosen Arbeitsablauf zu ermöglichen.120 Die von Odate beschriebene mystische Aufladung des Werkzeuges im japanischen Handwerk kann jedoch nicht auf das europäische übertragen werden.121 Eine aktuelle Überhöhung des Werkzeuges ist eher ein Phänomen der ‹Wiederentdeckung› des Handwerks durch interessierte Laien. Wie sehr das Können an die Werkzeuge gebunden ist zeigt der Bericht eines Zimmerers, der in der experimentellen Archäologie tätig ist. Im französischen Guédelon wird gegenwärtig eine prototypische mittelalterliche Burg mit den rekonstruierten Mitteln der damaligen Zeit errichtet. Er berichtet, dass die dortigen Zimmerleute im Lauf der Zeit im Umgang mit der Axt eine Erfahrung gewinnen konnten, die heute nicht mehr die Regel ist. Waren diese Fertigkeiten einmal erreicht, begannen sie, auch Holzverbindungen mit der Axt zu bearbeiten, die sonst eher mit Stechbeiteln hergestellt wurden. Hier konnte also mit dem Anwachsen der Fertigkeiten eine riskantere, dafür effizientere Arbeitsweise gewählt werden.122 Je geringer die Bandbreite der verwendeten Werkzeuge ist, desto grösser kann die Übung mit dem einzelnen sein. Je grösser dieses Können wiederum ist, desto weniger bedarf es anderer Werkzeuge. Eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsweise würde auch einen Verlust des mit dem Werkzeug verbundenen impliziten Wissens bedeuten, was wiederum die Effizienz 119 Ōdate 1998, S. 11: «You may begin to see that the shokunin`s art is difficult, if not impossible, to separate from his work space, his tools and his equipment.» 120 vgl. dazu Blomeyer, Tietze 1984, S. 76 zu den Werkzeugen von wandernden Zimmerergesellen: «Als nicht realistisch erwiesen sich der totale Verzicht auf eigenes Werkzeug oder die Beschränkung auf die wenigen Werkzeuge, die man auf der Fusswanderung bequem mit sich tragen kann. Nicht alle Werkzeuge sind vor Ort beliebig ausleihbar. Zustand, Wartung und Handhabungseigenschaften entsprechen oft nicht den eigenen Ansprüchen des Handwerkers.» 121 Ōdate 1998, S. 179: «What the Westerner should understand about Japanese tools is that an appreciation of them involves much more than simple utility. I have already alluded to the fact that a plane blade is not necessarily of the highest quality just because it cuts well. For the shokunin, utility and appearance must be enhanced by a tools ‹presence›, that is, its refinement and dignity.» 122 Der Zimmermeister Thomas Gindhard berichtet vom Beispiel einer Renovation, wo das Herstellen von Kerven in Sparren mit der Axt «schneller ging, als die Kervenfräse aus dem Auto holen zu gehen», Gindhard 2014. 61 vermindert.123 Dies kann die «Beschränkung der Handwerkzeuge auf wenige Prinzipien»124 erklären. Die Werkzeuge sind also über die rein technischen Anforderungen hinaus mit dem jeweiligen Handwerk verknüpft. Material Das Material gibt der Hand Rückmeldungen, die Bearbeitung ist eine Wechselwirkung zwischen Hand und Holz. Neben der Hand und dem Werkzeug ist das Material die dritte Komponente beim Aufbau des impliziten Wissens. Ist die direkte Interaktion mit dem Material – nicht allgemein mit Holz, sondern mit dem konkret vorliegenden, individuellen Stück Holz mit seinen individuellen Besonderheiten – ein Bestandteil des Handwerks125, dann gehört hierzu die aus Erfahrung gewachsene Fähigkeit zum Einschätzen dieses Materials. Je nach Wachstum des Baumes, der Trocknung, Holzfehlern und Einschnitt können innerhalb einer einzigen Holzart grosse Unterschiede im Bezug auf die Festigkeit, die Witterungsresistenz und das Arbeiten auftreten. Heutige Festigkeitsnormen können auf diese Unterschiede durch formale Kriterien wie Sortierklassen Rücksicht nehmen. Die individuelle Beurteilung ermöglicht hingegen, konkrete Qualitäten des Materials wie eine besondere Wuchsrichtung für die Konstruktion zu nutzen. Auch manche Techniken wie das Spalten werden erst durch die direkte Beurteilung möglich.126 123 Gerner 2003: «Hauptziele der Zimmererarbeit war es, konstruktiv rationelle, sichere – heute würde man sagen, nachhaltige – Ergebnisse zu erzielen. Dazu gehörte schnelle Arbeit mit ‹groben› Werkzeugen wie Äxten, Beilen, Schrotsägen, weiter sägerauhe, gebeilte oder gedechselte Oberflächen und schliesslich Holzverbindungen, die sich mit den genannten Werkzeugen wiederum rationell herstellen liessen.» 124 Schindler 2009, S. 97. Das wenig elaborierte Äussere älterer Handwerkzeuge im Vergleich zu heutigen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese sehr optimiert für den jeweiligen Zweck sind. Die im Traktat von André Roubo dargestellte Hobelbank z. B. besteht nur aus einer massiven Platte, sowie den darin eingezapften ebenfalls massiven Beinen, und hat kaum bewegliche Teile wie Zangen usw. Der amerikanische Journalist, Schreiner und Buchautor Christopher Schwarz, der auch Herausgeber einer Übersetzung von Roubos Werk ist, konnte durch Nachbau und Gebrauch dieser Hobelbank deren sehr breite und effiziente Verwendbarkeit darstellen. Vgl. Schwartz 2015. 125 126 Adamson (2007, S.1) spricht von ‹craft› als «specific processes carried out in specific materials». Gespaltenes Holz produziert keinen Verschnitt und ist durch die unverletzt, die ganze Länge hindurchgehenden Fasern sehr viel stärker als Gesägtes. Weiterhin nimmt es weniger Wasser auf, da dieses zuerst über die verletzten Zellwände der Fasern eindringen kann. Schindeln sind daher in der Regel gespalten. Spalten ist darüber hinaus sehr viel effektiver als das längsseitige Aufsägen von Hand. Dagegen ist der durch Spalten entstehende konische Querschnitt für die determinierte Fertigung kaum geeignet. 62 These 3: Angemessenheit Neben dem spezifischen, handwerklichen Wissen und der direkten menschlichen Interaktion gibt es eine dritte Komponente der Definition. Nicht Perfektion, sondern Angemessenheit ist das Kriterium, die Qualität handwerklicher Arbeit zu bewerten. Ethos Ein Ethos umfasst ungeschriebene Regeln des Handwerks. Bei dessen Entstehen sind pragmatische und kulturelle Aspekte nicht zu trennen. Das Ethos wird in der Lehrzeit weitergegeben und kann, wie die Erfahrung, verinnerlicht sein. Um das Risiko eines gescheiterten Arbeitsschrittes zu reduzieren, genügen die Fertigkeiten der Ausführenden nicht. Sie müssen nicht nur ‹können› und ‹wissen›, sondern auch ‹wollen›, also Sorgfalt (Pye: ‹care›) aufbringen. In diesem Falle wird also eine vorausschauende, prospektive Verantwortung für das Gelingen des Arbeitsschrittes übernommen. Die Ausführenden müssen motiviert sein, diese Verantwortung anzunehmen. Theoretisch wäre die notwendige Sorgfalt auch durch äusseren Druck zu erreichen, dies scheint jedoch bei näherem Hinsehen wenig realistisch. Im Kapitel «Geschwächte Motivation»127 erläutert Sennett am Beispiel der Bauwirtschaft der Sowjetunion, dass ein von aussen kommender moralischer Imperativ wenig erfolgversprechend ist. Bei den meisten Zimmererarbeiten folgen sehr viele Einzelschritte aufeinander. Jeder einzelne bietet die Möglichkeit von Nachlässigkeiten, deren Folgen oft nicht oder sehr spät sichtbar werden. Die Überwachung müsste praktisch eins zu eins geschehen128. Palla zitiert aus dem 1697 127 Sennett 2009, S. 43. 128 Bei waagerechten Ausfachungsbohlen, die mit Nut und Kamm verbunden sind, genügt es, die Bretter mit der Nut nach oben anstatt nach unten einzubauen, um die potentielle Lebensdauer der Konstruktion stark einzuschränken, da sich in den Nuten eindringendes Wasser sammeln und Fäulnis hervorrufen kann. An der fertigen Konstruktion würde man diesen Fehler nicht sehen. Ein aktuelles Beispiel ist das gewissenhafte Es ist praktisch unmöglich, das Gelingen der vielen einzelnen Schritte durch reine Kontrolle zu gewährleisten, wenn Können und Sorgfalt nicht vorliegen. 63 erschienenen Buch über den Schiffbau von Cornelis van Yk, der die Unumgänglichkeit von ‹Treue und Gewissenhaftigkeit› der Zimmerleute betont, da eine Überwachung aller Arbeitsschritte praktisch nicht möglich sei.129 Auch bei Vitruv ist die Rede von einem «Streben, das ihnen [den ‹fabri›] beigesellt war».130 Tatsächlich ist das innere Streben nach Qualität der Kern von Sennetts Definition des Handwerks: ein «dauerhaftes menschliches Grundbestreben (...) eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.»131 Der Architekt und Philosoph Martin Düchs beschreibt in seiner Untersuchung von «Ethik und Moral des Architekten» ein Ethos als die «Sitten, Normen und Gebräuche», die innerhalb einer bestimmten «gesellschaftlichen Gruppe» gelten.132 Diese unausgesprochen geltenden Normen sind also nicht willkürlich, aber wandelbar. Das Ethos bildet das Bezugssystem der handwerklichen Fertigung. Somit entspricht es einer Haltung, die sich (langsam) anpasst und im Detail unterschiedlich verstanden werden kann.133 Es ist zeit- und gesellschaftsgebunden und abhängig vom kulturellen Umfeld. In verschiedenen Kulturen kann es unterschiedliche Ausprägungen erhalten: Das Ethos des japanischen ‹shokunin› ist ein anderes als das des europäischen Zimmerers im 18. Jahrhundert, dieses wiederum anders als das seiner heutigen Kollegen. Während die genaue Ausprägung des Ethos – was genau als Regelkanon vorliegt – abhängig vom kulturellen Kontext und wandelbar über die Zeit ist, kann das Vorhandensein eines Ethos unabhängig vom Kulturkreis zur Beschreibung einer handwerklichen Fertigungsweise gehören. Das Streben nach einer hohen Qualität der Arbeit als Teil des handwerklichen Ethos kommt in vielen Definitionen des Handwerks vor. Bei Pye ist es vor allem im Begriff der Sorgfalt (‹care›) enthalten. Graubner bezeichnet Handwerk sogar als eine «Lebenseinstellung» mit dem Ankleben von Dichtungsfolien. Die Möglichkeiten, am Bau solche Fehler zu machen, sind sehr reichhaltig. 129 Das Buch «De Nederlandsche Scheepsbouwkonst» von Cornelis van Yk erschien 1697 in Amsterdam. Zitiert nach Palla 2014. 130 Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 83. 131 Sennett 2009, S. 19. 132 Düchs 2011, S. 41: «Unter ‹Moral› verstehe ich die Sitten, Normen und Gebräuche, die in einer Gesellschaft gelten, ohne dass sie explizit begründet wären. ‹Ethos› verstehe ich analog zum Begriff der Moral, allerdings bezieht sich die Geltung der Normen, Sitten und Gebräuche nur auf ein näher zu bestimmendes gesellschaftliches Subsystem bzw. eine gesellschaftliche Gruppe.» 133 Das schwierige Wort der ‹Handwerksehre› ist in diesem Zusammenhang zu sehen und meint nichts anderes als das Einhalten bestimmter (Verhaltens-) Normen, die innerhalb einer Gemeinschaft, hier den anderen Handwerkern, gelten. 64 Anspruch der «Verfeinerung des Charakters»134 des Handwerkers. Für ihn ist handwerkliches Arbeiten das Schaffen mit einem Ziel, welches der Erfüllung individueller Vorstellungen übergeordnet ist. Nach seiner Ansicht hat Handwerk eine dienende Funktion, die dem Bedürfnis nach «Selbstdarstellung des Individuums»135 widerspricht; es strebt also keine Originalität an. Diese Haltung beruht auf Traditionen, auf einem Lernen durch Imitieren und der Einordnung des Individuums in Hierarchien. Das handwerkliche Ethos entsteht jedoch aus verschiedenen Einflüssen und ist auch eng mit pragmatischen136 Gesichtspunkten verknüpft. Die abgelieferte Qualität bestimmt die Reputation des Handwerkers, von der das Einkommen abhängen kann. Eine schlechte Arbeit ist gerade im Zimmern oft sehr gut sichtbar. Die unmittelbare Konfrontation mit seinem Versagen formt Handwerker insofern, als dass die Selbstlüge nur schwierig möglich ist. Schlechte Arbeit kann das Vertrauen Fachfremder in die eigene Arbeit oder den Berufsstand schädigen. Das wiederum fördert eine gewisse soziale Kontrolle innerhalb des Berufes. Polanyi nannte eine solche Art der inneren Qualitätssicherung im Kontext der Wissenschaft ein «system of mutual control»137. Schlecht ausgeführte Arbeit bedeutet oft auch zusätzliche Kosten aus Garantiefällen. Schon immer bestand auch potentiell Gefahr für Leib und Leben. So liegt es nahe, dass unter bestimmten Umständen zumindest ein Interesse an Qualitätskontrolle vorhanden sein muss, selbst wenn man Sennetts These des ‹menschlichen Grundstrebens› nicht folgen möchte. Ein Ethos ist nicht von pragmatischen Gedanken zu trennen, andererseits kann man es auch nicht auf rein eigennützige Beweggründe reduzieren. Sehr wichtig ist auch die gesellschaftlich-soziale Anerkennung des Handwerkers. Ist sie verloren, kann auch das Ethos schwer aufrecht gehalten werden. Handwerkliche Prägung Wie in der Ausbildung das implizite Wissen durch ständige Wiederholung von Körperbewegungen aufgebaut wird, so gilt das auch für Gewohnheiten, für die Art und Weise wie etwas getan wird: Auch das Ethos kann verinnerlicht werden. Auf diese Weise werden auch Qualitätsstandards oder innere Haltungen durch Abschauen und Hineinversetzen übernommen, 134 Graubner 2014 b. 135Ebd. 136 Duden: «pragmatisch: auf die anstehende Sache und entsprechendes praktisches Handeln gerichtet; sachbezogen». Auch der Bauingenieur und Zimmerer Martin Antemann betont die pragmatische Denkweise im Handwerk. Antemann 2015. 137 Polanyi beschreibt die Selbstkontrolle der Wissenschaft so: „I would call this the principle of mutual control. It consists, in the present case, of the simple fact that scientists keep watch over each other. Each scientist is both subject to criticism by all others and encouraged by their appreciation of him.“ Polanyi 1966, S. 72 65 die Teil einer persönlichen Arbeitsweise werden können.138 Nach Graubner wird Ethos im Handwerk während der Lehre als ‹Haltung zu den Dingen› verinnerlicht. Die Ausbildung bedeutet also nicht nur ein Vermitteln von Wissen, sondern stellt auch eine Konditionierung im Bezug auf die Herangehensweise an die Arbeit dar. Neben dem in der Lehre übernommenen Ethos formt die physische Auseinandersetzung mit dem Material mit Anstrengungen, aber auch mit Herausforderungen eine handwerkliche Prägung, die wie das Wissen integral ist und geistige und physische Komponenten umfasst. Die Beschränkung der Ressourcen Das Ideal handwerklicher Arbeit ist nicht absolute Perfektion. Die Beschränkung der Ressourcen limitiert den absoluten Anspruch. Es wäre ein Missverständnis, im Zusammenhang mit dem Ethos das Streben nach absoluter Perfektion als einen Teil der Definition des Handwerks zu sehen. Das wird auch in Sennetts Beschreibung deutlich: wenn er von «Besessenheit» 139 spricht, so meint er das ausufernde Ausleben eines Qualitätsanspruches, der in keinem Verhältnis zur Aufgabe steht. Es ist auch möglich, die Arbeit zu gut zu machen. 140 Dies hat mit der Ökonomie141 der eingesetzten Ressourcen zu tun. Im Falle der handwerklichen Fertigung sind die Ressourcen einerseits die eingesetzte Arbeitszeit (als Lebenszeit und als bezahlte Arbeitszeit der Ausführenden), die Energie (auch im Sinne der einzusetzenden Kraft und Anstrengung) und das Material (welches einen eigenen Wert hat, vielleicht schwierig zu beschaffen ist, oder für dessen Bereitstellung bereits einiges an Arbeitszeit oder Energie aufgewendet werden musste).142 Der Einsatz dieser Ressourcen kann gegeneinander aufgewogen 138 vgl. hierzu ein Zitat, in dem die Zusammenarbeit zwischen Laien und Zimmerergesellen beschrieben wird, aus Blomeyer, Tietze 1984, S. 75: «Die Gesellen hatten anfangs ziemlich Schwierigkeiten mit uns. Wir aber auch mit ihnen. Ein Problem waren sicherlich die unterschiedlichen Fähigkeiten und die daraus wachsende ‹Hierarchie in der Arbeit›. Dann war es aber sicherlich auch die Arbeitsweise. Wir wollten etwas lernen, und die Gesellen wollten was fertighaben. Vereinfacht gesagt, es immer mit Anfängern und Dilettanten zu tun zu haben, war für sie, glaube ich, ganz schön schwierig.» 139 Sennett 2009, S. 19. 140 Der Bootsbauer Harry Brian beschreibt die Schwierigkeit, die es vielen Neueinsteigern in das Handwerk bereitet, zwischen innerem Qualitätsanspruch und ökonomischen Notwendigkeiten abzuwägen. Brian 2009. 141 Dies ist nicht monetär zu verstehen. Hier benutze ich den Begriff Ökonomie in seiner allgemeineren Bedeutung im Sinne von einem sparsamen Umgang mit etwas. Vgl. Duden: «Ökonomie: (...) 3. Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit; sparsames Umgehen mit etwas, rationelle Verwendung oder rationeller Einsatz von etwas.» 142 66 Die Ressourcen können bis zu einem gewissen Grade gegeneinander aufgewogen werden. Mit genug werden. Hierbei sorgt die Ökonomie für einen verhältnismässigen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel. Sie reicht jedoch über puren Pragmatismus hinaus. Toshio Odate beschreibt, dass Ethos und Selbstverständnis des japanischen Handwerkers ‹shokunin› nicht nur durch das Können, sondern immer durch die Kombination aus Können und Schnelligkeit bestimmt wird.143 Er erwähnt wiederholt, dass der sorgsame Umgang mit der eigenen Arbeitszeit und dem zur Verfügung stehenden Material auch aus einem übergeordneten, gesellschaftlichen Verantwortungsgefühl herrührt. Auch wenn die Ausprägung des japanischen Handwerksethos einen Extremfall darstellt, kann der sparsame Umgang mit Ressourcen im Handwerk nicht auf jeweils rein technische, gesellschaftliche oder ethische Gründe reduziert werden. Absicht Die Absicht eines Entwurfes bestimmt den Umgang mit beschränkten Ressourcen. Sie geht über reine Funktion hinaus. Handwerkliche Arbeit hat also keine absoluten, sondern relative Qualitätsstandards, die immer mit dem jeweiligen Ressourceneinsatz abzuwägen sind. Das anzustrebende Ergebnis wird durch die jeweilige Absicht des Bauwerks vorgegeben. Zeit kann fehlende Energie kompensiert werden, mit zusätzlicher Energie kann der Prozess beschleunigt werden. Die Pyramiden wurden mutmasslich mit Hilfe der kumulierten Arbeitszeit tausender Personen gebaut, welche heute durch die nicht-menschliche Energie von Maschinen kompensiert werden könnte. 143 Ōdate 1998, S. VIII: «(...) shokunin means not only having technical skill, but also implies an attitude and social consciousness. (...) The value of an object is dependent on a subtle combination of skill and speed. (...) In short, the pride of the shokunin is the simultaneous achievement of skill and speed. One without the other is not shokunin.» In diesem Falle war es im Sinne der Absicht, Fertigungsspuren zu verwischen: Beim Geländer an The Monument in London (Renovation Julian Harrap Architects) wurden durch handwerkliches Nacharbeiten die Schweissnähte beinahe vollkommen verborgen. 67 Etymologisch kommt das Wort vom ‹absehen› im Sinne von «zielen, eine Schusswaffe auf jemanden richten»144 – entsprechend schliesst die Absicht ein konkretes Ziel ein. Das ‹Gelingen› eines Bauwerks kann nur anhand einer klaren Zieldefinition gemessen werden. So umfasst es all das, was das Gebäude erfüllen soll und geht über die reine Funktion hinaus. Sie bildet die Grundlage eines architektonischen Konzeptes. Die Absicht muss dabei nicht explizit formuliert worden sein, ebenso kann sie durch Tradition oder Konventionen vorgegeben werden. Balance: Die Angemessenheit Angemessenheit beschreibt die Balance zwischen dem durch die Absicht definierten angestrebten Ergebnis einerseits und den eingesetzten Ressourcen andererseits. Sie ist letztlich der Grund für viele Spuren der Fertigung, die am Bauwerk bleiben. Die beschränkten Ressourcen müssen gegen die angemessene Qualität für die jeweilige Aufgabe aufgewogen werden, um zu einem Optimum, einer Balance zu gelangen. Die Angemessenheit der eingesetzten Mittel bestimmt als relatives Kriterium, ob diese Balance eingehalten wurde. Sie kommt Vitruvs Begriff des decorum sehr nahe, der ebenfalls die Wahl der angemessenen Mittel für einen bestimmten architektonischen Zweck beschreibt.145 Insofern ist er auch übertragbar auf die Art und Weise, wie das Gebäude ausgeführt wird. Ein immenser Aufwand zum Erreichen hoher geometrischer Präzision an einer Stelle, wo diese nicht für die Absicht des Objektes wichtig ist, wäre unangemessen.146 In einem Dachstuhl mit grossem Aufwand alle Bearbeitungsspuren zu entfernen und eine ebenso exakte Geometrie wie beispielsweise im Eingangsbereich zu erreichen, wäre unpassend. Pye bemerkt, dass eine vollkommene Übereinstimmung des ausgeführten Objektes mit einem abstrakten Entwurf nicht automatisch positiv zu werten ist, wenn diese Übereinstimmung 144 Kluge, Seebold 2011, S. 9: «Absicht: Sf std. (16.Jh., Form 17.Jh.). Für älteres Absehen, bei dem sich die Bedeutung ‹Bestreben, Augenmerk› aus konkretem ‹Ziel, Visier› entwickelte. Zu absehen ‹eine Schusswaffe auf jmd. richten› (daraus es auf jemanden oder etwas abgesehen haben). Das baugleiche absehen von etwas wohl unter dem Einfluss von lt. despicere ‹verachten, nicht beachten›». 145 Vitruv, Fensterbusch 1981, S. Buch 1 Kap. II. 5 – 8: «Decor wird durch Befolgung der Satzung, die die Griechen Thematismos nennen oder durch Befolgung von Gewohnheit oder durch Anpassung an die Natur erreicht; (...) Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen werden Tempel, die in korinthischem Stil errichtet sind, die passenden Eigenschaften zu haben scheinen, weil für diese Götter wegen ihres zarten Wesens Tempel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken (Voluten) geschmückt sind, die richtige Angemessenheit in erhöhtem Masse zum Ausdruck zu bringen scheinen. (...) Wenn nämlich das Innere geschmackvoll ausgeführt ist, die Zugänge aber niedrig und unansehnlich anzusehen sind, dann wird ihnen die Angemessenheit (decor) fehlen. (...) Ebenso wird decor von Natur her da sein, wenn für Schlafzimmer und Bücherzimmer vom Osten her Licht gewonnen wird (...).» Cicero hat in «de oratore» den Begriff des ‹decorum› für die je nach Anlass ‹angemessene› Form eines Vortrages verwendet. 146 Geometrische Unpräzision kann den Ausdruck eines Bauwerks (mit-) bestimmen oder gezielt zum Erreichen eines bestimmten Ausdrucks genutzt werden. Das japanische Wabi-Sabi, gewollte (und extrem kontrollierte) geometrische Unpräzision, teilweise in einem von Perfektion geprägten Umfeld, ist dabei ein Beispiel für einen sehr elaborierten Umgang mit diesem Phänomen. 68 Aufwand bedeutet, der durch den Zweck nicht gerechtfertigt ist. Auch Sennett betont: « the craftsman does things with minimal force»147. Das Ideal ist nicht ‹so gut es geht›, sondern ‹gut für den bestimmten Zweck›. Es ist Teil der Verantwortung der Ausführenden zu entscheiden, wie nahe sie der Zielvorgabe kommen müssen, und wann es ‹gut genug ist›. Sie sind die Sachwalter der Ressourcen gegenüber dem Auftraggeber und letztlich der Gesellschaft.148 Der Grund für geometrische Unpräzision im Handwerk ist entsprechend kein technischer, sondern ein ökonomischer. Hier wird die richtige Balance aus Aufwand und Wirkung gesucht. Die Ergebnisse handwerklicher Fertigung werden oft mit Arbeitsspuren oder geometrischen Ungenauigkeiten in Verbindung gebracht oder sogar mit diesen gleichgesetzt.149 Dass diese Unpräzision bei handwerklicher Fertigung nicht aus technischen Zwängen heraus auftritt, beweisen Beispiele aus dem barocken Holzbau – beispielsweise die Stiftsbibliothek in St. Gallen. Hier wurde ohne Maschineneinsatz eine Präzision erreicht, die sich mit jener mechanisierter Methoden vergleichen lässt. Je höher jedoch der Anspruch an die geometrische Präzision ist, desto grösser wird der Zeitaufwand. Angemessenheit kann auf eine sehr direkte Art Teil der handwerklichen Prägung sein: Wenn die physische Erfahrung der Mühe und des Aufwandes zum Herrichten des Materials so präsent ist, dass es als unangemessen empfunden wird, mit diesem Material nicht verantwortungsvoll umzugehen. Auch die Angemessenheit kann ins Ethos eingebettet sein, das ein Bezugssystem ausserhalb des Individuums darstellt. Gebaute Beispiele einer bestimmten Typologie erlauben beispielsweise, sich an den jeweils geltenden Standards zu orientieren. Gibt es in der Umgebung viele Referenzbeispiele, so ist es für Handwerker wie Auftraggeber leicht, die für die vorliegende Aufgabe ‹richtige› Balance aus Ressourcen – Kraft, Material, Zeit – und erreichtem Ergebnis zu bestimmen. Traditionen und Ethos können also kollektive Übereinkünfte liefern, was angemessen ist. Ryle argumentiert bei der Beschreibung des impliziten Wissens, dass auch das Beurteilen, was passend oder unangebracht ist, ins implizite Wissen eingeht.150 147 Sennett, Boesch 2012. 148 Odate S. 5: «The materials provided to us were often expensive – wood that had been drying for at least a generation, often special wood prized for its grain. (...) If we made mistakes, no matter how small, they were permanent reproaches to us, and they could never be truly forgiven or forgotten. Even if we apologized, it was not simply a matter of the customer shrugging off the error: the mistakes would remain, and nothing could be done about this. We carried the knowledge of our mistakes all the rest of our lives.» 149 Schindler 2009: «Die Oberflächen eines mit Hand-Werkzeug-Technik bearbeiteten Werkstücks können geometrisch nicht plan sein – einerseits wegen der Differenz zwischen dem Schnurschlag und der mit Hilfe des Augenmasses ausgeführten Werkzeugbewegung und andererseits durch die inhomogene Komposition des Holzwerkstücks.» 150 Ryle 2009, S. 19 f.: .»Intelligently reflecting how to act is, among other things, considering what is 69 Der Kaiserpfosten Das Beispiel eines in Eichenholz gezimmerten Dachstuhles veranschaulicht den handwerklichen Umgang mit der Angemessenheit. Der Dachstuhl eines barocken Bauernhauses besteht aus vier Bindern, welche alle ähnlich aufgebaut sind, mit einer wichtigen Ausnahme. Nur einer spannt über die ganze Breite des Hauses, während die anderen alle in der Länge durch Wände unterstützt werden. Nur bei dem freitragenden gibt es als Besonderheit einen zentralen Hängepfosten, der am First zwischen den beiden Bundstreben aufgehängt ist und bis zum unten liegenden Zerrbalken durchläuft. Da dieser fast neun Meter lange Balken nicht auf einer Wand aufliegt, ist der Hängepfosten notwendig, um dessen Durchhängen zu verhindern. Der Hängepfosten ist durch Fasen geschmückt, die mit konkaven, abgesetzten Enden versehen sind. Der Schmuck an sich ist nicht bemerkenswert, sondern die Tatsache, dass er überhaupt existiert. An keiner anderen Stelle des Daches kommen solche Fasen oder solcher Schmuck vor, eine Zweitverwendung des Pfostens ist ebenfalls ausgeschlossen. Zu genau sind die Fasen auf die Knotenpunkte abgestimmt. Eine repräsentative Funktion scheidet ebenfalls aus: Dieser Binder überspannt den Heuboden und ist am fertigen Haus praktisch nicht sichtbar. Die Erklärung liegt im Begriff des ‹Kaiserpfostens› (engl. ‹king post›). Diesem Bauteil, welches den gesamten Binder zusammenhält, wurde besondere Aufmerksamkeit der Ausführenden zuteil. Nur hier gibt es diesen Schmuck, an allen anderen Stellen des Dachstuhls wurde die Arbeit sehr effizient ausgeführt. Die Passungen der Holzverbindungen sind sehr genau, aber die Oberflächen weisen starke Beilspuren auf. Ist der Schmuck des Kaiserpfostens angemessen? Schliesslich wurde hier mehr Arbeitskraft als notwendig in das später praktisch unsichtbare Bauteil gesteckt. Gemessen am Aufwand der Bearbeitung des gesamten Dachstuhles ist die hier konzentrierte Mehrarbeit jedoch verschwindend gering. Hier wurde eine Tradition gewahrt, welche aus der Wertschätzung der eigenen Arbeit entstand und wichtig für die Motivation ist.151 Beim Abwägen zwischen den Ressourcen und der Absicht besteht immer ein Ermessensspielraum. Gemessen an der Absicht, ein haltbares, tragfähiges Dachtragwerk für ein Wohnhaus mit pertinent and disregarding what is inappropriate. Must we say that for the hero`s reflections how to act to be intelligent he must first reflect how best to reflect how to act? The endlessness of this implied regress shows that the application of the criterion of appropriateness does not entail the occurrence of a process of considering this criterion.» 151 W. Graubner zeigte bei einem Vortrag am 18.03.15 in Luzern ein Bild eines Kaiserpfostens im Dachstuhl einer Kirche, der, obwohl völlig versteckt, dennoch stark geschmückt (spiralig geschnitzt) war. 70 grossem Ökonomietrakt herzustellen, sind die Massnahmen absolut angemessen. Dasselbe gilt für die Beschränkung der Ressourcen: Das vorhandene Holz wurde möglichst vollständig und seinem Einsatzzweck entsprechend optimiert so eingebaut, dass eine Konstruktion mit langer Lebensdauer entstand. Ein Glätten der Hölzer wäre wiederum eine Verschwendung an Arbeitszeit und Kraft gewesen. Gerade in diesem von Pragmatismus geprägten Kontext bedeutet der eigentlich minimale, aber nicht notwendige Mehraufwand für das Herstellen der Zierfasen eine besondere Aufmerksamkeit, die der Arbeit bewusst gewidmet wird. Im Laufe der Zeit ist diese zu einem Teil der Tradition geworden. Der Kaiserpfosten ist die vertikale Säule in Bildmitte unten. Er ist am gesamten Dachstuhl das einzige Bauteil mit den beschriebenen Zierfasen, wie rechts zu sehen. 71 2. Thesen: die Fertigungsweisen in der Architektur Die in den vorigen Kapiteln erörterten Thesen – Können und Wissen, menschliche Interaktion mit dem Material und Angemessenheit – definieren eine handwerkliche Fertigungsweise. Sie kann je nach der Breite der Verantwortung differenziert werden. Verschiedene weitere Fertigungsweisen werden vorgestellt. Handwerkliches Bauen Von handwerklicher Fertigung kann gesprochen werden, wenn alle drei der als Thesen eingeführten Kriterien erfüllt sind: Erstens wird explizites und implizites Wissen kombiniert angewendet. Zweitens besteht eine direkte Interaktion zwischen den Ausführenden und dem Material über das Medium des Werkzeugs. Die Verantwortung für das Gelingen des Arbeitsschrittes liegt bei den Ausführenden. Drittens wird das Ergebnis des Arbeitsschrittes nicht an absoluten Standards gemessen, sondern hinsichtlich der Angemessenheit. Für diese Arbeit möchte ich für die handwerkliche Fertigung in der Architektur den Begriff handwerkliches Bauen benutzen. Die Faktoren, welche bei Pye die Kontrolle des Risikos ermöglichen, ‹judgement›, ‹dexterity› und ‹care›, sind in dieser Definition enthalten. Die Beurteilung und das Können (‹judgement› und ‹dexterity›) entsprechen der Kombination aus explizitem und implizitem Wissen, die Sorgfalt (‹care›) spiegelt sich in der Beurteilung der Angemessenheit. Das Übernehmen von Verantwortung ist Teil des Handwerks. Eine wichtige graduelle Unterscheidung, die in Pyes Konzept der riskanten Fertigung nicht enthalten ist, liegt aber in der Spanne der Verantwortung. Die Frage ist dabei: Was wird als das zu schaffende Werk152 angesehen? Es ist ein grosser Unterschied, ob Ausführende verantwortlich für das jeweilige Bauteil sind, an dem sie arbeiten, oder das gesamte Gebäude als das Werk ihrer Arbeit ansehen. Auf diese Weise lassen sich drei Abstufungen des handwerklichen Bauens unterscheiden. 152 Kluges Ethymologie setzt ‹Werk› in Verbindung mit «wirken: (...) Die Bedeutung ist in den frühen germanischen Sprachen allgemein ‹machen, herstellen›». Werk ist in diesem Sinne etwas Hervorgebrachtes, Hergestelltes. Kluge, Seebold 2011. 72 Fragmentiertes handwerkliches Bauen Beim fragmentierten handwerklichen Bauen ist die Verantwortung auf den vorliegenden Arbeitsschritt beschränkt: eine Arbeit kann nach Anweisung ausgeführt werden, ohne dass dieser Schritt in die Gesamtheit des Bauprozesses eingeordnet wird. Zwar gelten hier alle drei Kriterien handwerklicher Fertigung. Die Angemessenheit kann jedoch nicht an der Absicht des Gebäudes gemessen werden. Das Bezugssystem für die Verantwortung ist in diesem Falle nur der vorliegende Arbeitsschritt. Integrales handwerkliches Bauen Im Gegensatz dazu erstreckt sich beim integralen handwerklichen Bauen die prospektive Verantwortung über den Arbeitsschritt hinaus auf das gesamte Gebäude als Werk. Nur in diesem Falle kann sich die Angemessenheit auf die Absicht des Bauwerks beziehen. Voraussetzung ist ein synthetisches Verständnis des Prozesses seitens aller Beteiligten, und ein Verständnis der Konstruktion und der Absicht des Gebäudes auf Seiten der Ausführenden. Nur da, wo alle Beteiligten eine verlässliche Vorstellung des Ganzen haben, kann auch der Einzelne auf die bewusste Übernahme von Verantwortung durch den anderen bauen. 73 Exkurs: Handwerkliche Lebensweise Die Verantwortung kann sich über das Bauwerk hinaus auf ein übergeordnetes Bezugssystem erstrecken. Dies kann die Kultur, die Geschichte oder die Gesellschaft sein. Hier kann man von einer handwerklichen Lebensweise sprechen.153 Mit der Metapher der ‹Büchse der Pandora› beschreibt Richard Sennett ein Problem der Verantwortung. Wird eine Sache um ihrer selbst willen gut gemacht, dabei bleibt aber die Bewertung dieser Sache auf einer übergeordneten Ebene aus, so kann im grösseren Zusammenhang Schaden entstehen. Als Beispiel nennt er die Entwickler der Atombombe. Auch hier liegt das Problem im Massstab der Verantwortung: Gemessen am Projekt ‹Atombombe› ist eine erfolgreiche Weiterentwicklung positiv zu werten, gemessen an übergeordneten Massstäben ist diese Wertung potentiell eine andere. Sennett geht auf Hannah Arendts Beschreibung des Homo faber zurück.154 Wenn für diesen die Arbeit einen Wert an sich hat, spielt der Zweck dieser Arbeit keine Rolle. Eine handwerkliche Lebensweise im oben beschriebenen Sinne würde dagegen bedeuten, dass stets auch die Auswirkungen des eigenen Tuns soweit möglich bis in die letzte Konsequenz mitgedacht werden. Diese Lebensweise kann einen grossen Einfluss auf das jeweilig gültige Ethos haben. Da hier jedoch auf die Herstellung statt auf die Herstellenden fokussiert wird, soll im Rahmen dieser Arbeit nicht vertieft darauf eingegangen werden. Qualifizierte manuelle Fertigung Eine andere Fertigungsweise ist die qualifizierte manuelle Fertigung. Ein Beispiel hierfür ist das Zusammenstecken vorgefertigter Teile. Hier ist explizites und implizites Wissen notwendig, um die Bauteile ohne Schäden anordnen zu können. Das Hantieren bedeutet direkte menschliche Interaktion. Im Unterschied zur handwerklichen Fertigung liegt jedoch die Beurteilung der Angemessenheit des einzelnen Arbeitsschrittes nicht bei den Ausführenden. Das Ergebnis des Schrittes ist in einer Weise vorgegeben, so dass keine Beurteilung des Ausführenden mehr möglich ist. 153 Nach Wolfram Graubner schliesst Handwerk ein synthetisches Denken ein, welches eine Grundvoraussetzung für das Übernehmen von Verantwortung über den gesamten Bauprozess hinweg ist. Graubner, 2014 b. 154 Arendt, 1960, S. 100 f.: «Diese Handwerker, die Solon noch Söhne der Athene und des Hephaistos nennt, werden dann später zu (...) den Banausen; denn schon das griechische Wort hatte die Nebenbedeutung des Philiströsen und bezeichnet Leute, die nur an dem Handwerk interessiert waren und gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten. (...) Es wird sich später zeigen, dass abgesehen von der Verachtung der Arbeit die Griechen gute Gründe hatten, dem ‹Banausischen› der Handwerker bzw. der Mentalität von Homo Faber zu misstrauen.» 74 Es mag naheliegend erscheinen, dass dies für die Montage bzw. Aufrichte gezimmerter Konstruktionen zutrifft. Hier handelt es sich aber meistens um handwerkliche Fertigung. Auch bei sehr genauem Abbund lassen die Geometrien der Bauteile genug Spielraum für ungenaues Ausrichten. Die relative Lage der Komponenten zueinander muss sehr genau geprüft werden, da sich Ungenauigkeiten im späteren Prozess kumulieren und grosse Probleme hervorrufen können. Die Einschätzung der Angemessenheit der Arbeit ist also wichtiger Teil der Aufrichte. Manuelle Fertigung Liegt lediglich die individuelle Interaktion vor, während weder Können und Wissen noch eine Einschätzung der Angemessenheit für die Arbeit notwendig sind, so kann von manueller Fertigung gesprochen werden. Können und Verantwortung sind vom Ausführenden an andere Institutionen ausgelagert. Chaplins Fliessbandarbeiter in «Modern Times» ist das klassische Beispiel für diese Fertigungsweise. Determinierte Fertigung Bei der determinierten Fertigung im Sinne Pyes fehlt die direkte Interaktion mit dem Material: Das Ergebnis der Arbeit wird nicht während der Fertigung durch die Ausführenden bestimmt, sondern bereits vor deren eigentlichem Beginn festgelegt. Dabei ist es durchaus möglich, dass der Arbeit Können und Fertigkeiten zu Grunde liegen, und auch die Einschätzung der Angemessenheit kann notwendig sein. Der Kontakt und die direkten Rückmeldungen des zu bearbeitenden Materials spielen jedoch keine Rolle. Dies gilt für automatisierte und mechanisierte Arbeiten. Ein Beispiel ist auch die computergesteuerte CNC-Fräse, da hier keine direkte Wechselwirkung zwischen Bearbeitenden und Material stattfindet. Jede Rückmeldung des Materials zum Bearbeitenden geschieht nur mittelbar: Sie kann nur bewusst und intellektuell reflektiert werden, jedoch nicht zum Aufbau des impliziten Wissens beitragen. Bricolage Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss benutzte den Begriff des ‹Bricoleur›, des Bastlers, für jemanden, der mit gefundenem, eventuell ungeeignetem und nicht spezifischem Werkzeug arbeitet. Der Begriff dient ihm als Hilfsmittel, um eine Geisteshaltung anschaulich zu machen, das «mythische Denken»155. Bei Lévi-Strauss› Bricoleur fehlen die entsprechenden Mittel 155 Lévi-Strauss 2009, S. 29: «Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind. Die Eigenschaft des 75 zur Durchführung einer Arbeit, er hat aber dennoch das Bestreben, die Arbeit mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu Ende zu führen und gut zu machen. Gerade aus diesem Mangel kann Besonderheit entstehen. Dies ist übertragbar auf das Können, das auch ein Mittel zum Erreichen des Ziels ist und dessen Fehlen durch Improvisation, Zweckentfremdung und Ausprobieren kompensiert werden muss. Es geht also nicht um Pfuscharbeit. Die Ausführenden interagieren mit dem Material und beurteilen die Angemessenheit; es fehlt ihnen jedoch das spezifische implizite und explizite Wissen für die jeweilige Arbeit.156 Exkurs: Meta-Handwerk Sennetts Auffassung von Handwerk ist, wie bereits erwähnt, viel weiter gefasst als die hier vorgeschlagene Definition; für ihn kann auch die Arbeit von Architekten handwerklich sein. Es ist jedoch ein Unterschied, ob physisch mit dem Bauwerk interagiert wurde oder ob eine geistige Arbeit vorliegt, die nur mittelbaren Einfluss auf das Physische hat. Die Definition für diese Arbeit muss deutlich genug sein, eine Abgrenzung von Planung und Ausführung zu ermöglichen. Bei Architekten kann Können und Wissen vorliegen, auch Erfahrungswissen spielt eine grosse Rolle. Entscheidungen über die Angemessenheit der Ergebnisse können von ihnen getroffen werden. Im Verhältnis zu ihrer physischen Manifestation – dem Gebäude – spielt sich die Arbeit von Architekten jedoch auf einer Meta-Ebene ab, welche mit der Physis des Bauens nur mittelbar und indirekt durch die Phase der Ausführung, verbunden ist. Auch Entscheidungen der Angemessenheit resultieren nicht in einem physischen Ergebnis, sondern in einer mehr oder weniger abstrakten Anweisung zu dessen Fertigung. Diese Arbeitsweise kann im Bezug auf das Bauwerk mit Meta-Handwerk bezeichnet werden und spielt für die Betrachtung des Bauhandwerks keine Rolle. mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muss es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand. Es erscheint somit als eine Art intellektueller Bastelei, was die Beziehungen, die man zwischen mythischem Denken und Bastelei beobachten kann, verständlich macht.» 156 Der Bricoleur ist nicht mir dem Dilettanten gleichzusetzen. In der ursprünglichen Bedeutung ist dieser eine Person, die sich aus Liebhaberei mit einem Fach befasst, aber keine professionelle Ausbildung dazu hat. Der Begriff beinhaltet nach dieser Definition keine Wertung. Für die oben genannten Kriterien hat es keine Bedeutung, ob eine Person ein Handwerk professionell ausübt oder nicht. Ein Dilettant kann durchaus handwerklich tätig sein. 76 Übersicht der Fertigungsweisen •notwendig x nicht erforderlich en 09.03.16 Implizites und explizites Wissen der Ausführenden Menschliche Interaktion (Risiko) Angemessenheit von Ausführenden beurteilt • • x • • x x • • • x x x • • x x x • • • Handwerkliche Fertigung qualifizierte manuelle Fertigung manuelle Fertigung determinierte Fertigung determinierte Fertigung determinierte Fertigung Bricolage 77 3. Thesen: Bauprozesse Bauprozesse bestehen aus der kombinierten Leistung verschiedener Ausführender, die als Kollektiv ein Bauwerk erstellen. Wesentliche Charakteristika handwerklichen Bauens lassen sich erst am Prozess definieren. Der handwerkliche Bauprozess Integrale handwerkliche Fertigung ist die Voraussetzung für einen handwerklichen Bauprozess. Dieser bedeutet, dass Verantwortung geteilt werden muss. Der Bauprozess bezeichnet den zielgerichteten Verlauf der physischen Ausführung eines Planes bis zum fertigen Bauwerk. Integrales handwerkliches Bauen kann direkte Auswirkungen auf den Prozess haben. Wenn sich die Verantwortung der Ausführenden und die Bewertung der Angemessenheit auf das gesamte Bauwerk erstreckt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass ein Verteilen der Verantwortung im Prozess berücksichtigt sein kann. Im handwerklichen Prozess ist die Verantwortung für das Gelingen des gesamten Bau-Werks unter den Planenden und Ausführenden geteilt. Die Planenden geben einen Teil ihrer Verantwortung, wie die Lösung spezifischer Details oder Montagefragen, an die Herstellenden weiter. Vorgegeben ist, was entstehen soll; die Verantwortung darüber, wie es genau geschehen soll, bleibt bei den Ausführenden. Die mit der Ausführung einer Holzverbindung beschäftigten Handwerker müssen also in einem solchen Prozess nicht nur Schlitz und Zapfen passend herstellen, sondern auch beurteilen, ob und in welcher Form diese Art der Verbindung an diesem Ort überhaupt angemessen ist. Die Voraussetzung für einen handwerklichen Bauprozess ist daher das Überwiegen integraler handwerklicher Fertigung. Die geteilte Verantwortung kann soweit gehen, dass es auch Freiheiten in der endgültigen Umsetzung eines Planes geben kann – im Sinne der freien Umsetzung einer Vorgabe. Das setzt voraus, dass allen Beteiligten die Absicht des Entwurfes klar ist. Es bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass alle den kompletten Prozess vollständig durchschauen. Wie bereits beschrieben, gibt es abgestufte Kompetenzen und folglich abgestufte Verantwortung innerhalb der Bautruppe. Auf diese Weise kann das Bauen als kollektive Leistung aus verschiedenen Arbeitsschritten und Arbeitsgattungen reflektiert werden, die an der Herstellung eines Werkes beteiligt sind. 78 Fragmentierter Prozess: Manufaktur und Industrie Das Gegenstück zum handwerklichen ist ein fragmentierter Prozess. Dessen Prototyp ist die Manufaktur, die Weiterentwicklung die industrielle Fertigung. Dem handwerklichen Bauprozess lässt sich der fragmentierte Prozess entgegensetzen. Seine Besonderheit ist, dass die Verantwortung zentralisiert und von der Ausführung weg verlagert ist. Die Verantwortung liegt bei den Planenden. Die Ausführenden selbst übernehmen höchstens die Beurteilung der Einzelteile ohne einen Bezug zum Ganzen. Der Prototyp dieser Art des Prozesses ist die Manufaktur. Dort tätige Handwerker sind dafür verantwortlich, einzelne Bauteile nach genauer Vorgabe herzustellen, ohne dass sie das ganze Bauwerk oder dessen Absicht überhaupt interessieren müssen. Die Verantwortung für die sinnvolle Einordnung der jeweiligen Schritte in den Gesamtprozess ist von dem Ausführenden auf eine externe Instanz übertragen und zentralisiert. Die Manufaktur ermöglicht auch, das notwendige implizite und explizite Wissen der einzelnen Bearbeitenden auf einen oder wenige Arbeitsschritte zu beschränken. Durch die viel grössere Übung durch Repetition könne diese im jeweiligen Schritt sehr produktiv sein, was letztlich die Effizienz einer Manufaktur ausmacht. Da die Bearbeitenden allerdings in ein System verteilten Wissens und Verantwortung eingebunden sind, ist dieses System vergleichsweise unflexibel.157 Hier zeigt sich, dass auch in einem fragmentierten Prozess handwerkliche Arbeitsschritte möglich sind, wie es Marx für die Manufaktur beschrieb.158 Die meisten zeitgenössischen industriellen Produktionsweisen sind ebenfalls fragmentierte Prozesse, wobei hier handwerkliche Arbeitsschritte eher die Ausnahme bilden. In fragmentierte Prozesse können also verschiedene Fertigungsweisen integriert werden, auch wenn die determinierte Fertigung heute vorherrscht. Die möglichen Auswirkungen der verschiedenen Prozessarten auf das gefertigte Bauwerk sollen anhand der Untersuchung der Herstellungsspuren an den Fallbeispielen näher beleuchtet werden. 157 Ganz zu schweigen von der Qualität der zu verrichtenden, repetitiven Arbeit, was wiederum Folgen für die Produktivität haben kann. 158 Marx 1983, S. 274 f.: «Zusammengesetzt oder einfach, die Verrichtung [in der Manufaktur] bleibt handwerksmäßig und daher abhängig von Kraft, Geschick, Schnelle, Sicherheit des Einzelarbeiters in Handhabung seines Instruments. Das Handwerk bleibt die Basis.» 79 Eckvorstösse Totenstube 80 III Die Fallbeispiele 1. Indikatoren als Hinweise auf die Thesen am Gebäude In diesem Abschnitt sollen die Fallbeispiele vorgestellt und analysiert werden. Einleitend wird kurz auf die Indikatoren eingegangen sowie auf die Unterscheidung zwischen inkrementeller und direkter Arbeitsweise, die einen grossen Einfluss auf das Entstehen von Spuren hat. Inkrementelle und direkte Arbeitsweise Viele Arbeitsspuren gehen eher auf die Unterscheidung zwischen inkrementeller und direkter Arbeitsweise zurück als auf handwerkliche Fertigung. Viele traditionelle Techniken beim Zimmern lassen sich als inkrementelle Arbeitsweise beschreiben. Beispielsweise wird sich mit einer Axt der gewünschten Geometrie angenähert. Je näher der Bearbeitende der gewünschten Geometrie kommt, desto feiner werden die Abstufungen, was die Genauigkeit, aber auch die Bearbeitungszeit erhöht. Wird dieser Prozess unterbrochen, sobald ein für die gewünschte Intention angemessener Zustand erreicht ist, so bleiben die entsprechenden Spuren bestehen159 – der Grund für diese Spuren ist wiederum das Kriterium der Angemessenheit. Viele Bearbeitungsspuren an handwerklich gefertigten Objekten gehen auf diese inkrementelle Arbeitsweise zurück. Sie darf aber ebenso wenig wie die freie Umsetzung mit handwerklicher Fertigung gleichgesetzt werden. Auch beim CNC-Fräsen, einer determinierten Fertigungsweise, muss eine Balance aus Geschwindigkeit und Feinheit der Oberflächen gefunden werden. Materialabtrag geschieht mit gröberen Fräsköpfen und schnellerem Vorschub, das Schlichten der Oberfläche dann in immer feineren Abstufungen, bis beim Erreichen einer gewünschten 159 Pye 1968, (S. 34) spricht in diesem Zusammenhang von «gradualness»: «The shipwright with his adze does not finish off the surface by removing handfuls of wood each stroke but in short light strokes taking off the wood in thin shavings.» 81 Oberflächenbeschaffenheit der Prozess unterbrochen wird. Wie das Beil arbeitet sich der CNCFräser schrittweise an die gewollte Schnittfläche heran. Inkrementelle Arbeitsweise lässt also viele Bearbeitungsspuren entstehen, ist aber nicht an eine bestimmte Fertigungsweise gekoppelt. Dagegen schneidet eine Handkreissäge direkt an der Schnittlinie und hinterlässt so eine geometrisch definierbare Fläche, was ich die direkte Arbeitsweise nennen möchte. Dennoch liegt hier riskante und potentiell handwerkliche Fertigung vor, da der Schnitt an der Linie entlang von Können und Sorgfalt des Ausführenden bestimmt wird. Dieser Unterschied erklärt die geometrische Exaktheit der Bauteile bei manchen zeitgenössischen, handwerklich erstellten Bauwerken. Indikator 1: Art des Vorkommens von Spuren Es gibt keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Spuren und bestimmten Fertigungsweisen. Spuren des Fertigungsprozesses sind also nicht zwingend auf handwerkliche Fertigung zurückzuführen. Dennoch können sie als Indikatoren für diese Fertigungsweise gelten, indem ihre Ausprägung Hinweise auf die Fertigung erlaubt. Der Umkehrschluss ist aber nicht zulässig: die Abwesenheit des Indikators heisst nicht, dass es keine handwerkliche Fertigung gab. Beim ersten Indikator ist nicht das ‹Was›, sondern das ‹Wie› ausschlaggebend: Sind Spuren in angemessener Weise am Gebäude zu finden, ist das ein Hinweis auf handwerkliche Fertigung. Dieser Indikator erlaubt Rückschlüsse darüber, ob Können und Wissen beim Bau notwendig waren und ob direkt mit dem Material interagiert wurde. Am wichtigsten ist, dass die Einschätzung der Angemessenheit durch die Ausführenden hier ablesbar wird. Ob diese Spuren am fertigen Bauwerk sichtbar sind, ist eine Entscheidung in Bezug auf die Angemessenheit. Sind die vorliegenden Spuren nicht angemessen, liegt keine handwerkliche Fertigung vor. Indikator 2: Spuren situativen Reagierens Sind am Gebäude Merkmale zu finden, die auf das direkte Reagieren auf eine Situation zurückgehen, gibt das Hinweise auf direkte Interaktion mit dem Material. Die «Zusammenpassbau»160 genannte Methode der Fertigung ist ein Beispiel für situatives Reagieren. Der Begriff bedeutet, dass ein Werkstück als Schablone zum Anriss seines Gegenstückes benutzt wird. So können beispielsweise Holzverbindungen effizient gefertigt werden.161 160 161 Schindler S. 110, im Gegensatz zum «Austauschbau», S. 158. Dies ist beim Möbelbau denkbar; viele handwerklich gefertigte Schwalbenschwanzverbindungen sind beispielsweise so unregelmässig, dass sie nur auf diese Weise entstanden sein können. Beim Zimmern ist 82 Indikator 3: Iterativer Prozess Das situative Reagieren auf eine bestimmte Situation kann über einzelne Arbeitsschritte hinaus Einfluss auf den Prozess haben. Bildet jeweils ein Schritt den Ausgangspunkt für den nächsten, entwickelt sich ein iterativer Prozess, der am Bauwerk ablesbar bleiben kann. Dieser Indikator gibt Hinweise auf die Spanne der Verantwortung über den jeweiligen Arbeitsschritt hinaus, da jeder Schritt potentiell auch noch viel später im Prozess Auswirkungen haben kann und jede individuelle Entscheidung während der Ausführung in Bezug auf ihre Auswirkungen für das gesamte Bauwerk geprüft werden muss. Die Möglichkeit der freien Umsetzung einer Vorgabe muss von den Ausführenden selbst eingeordnet und beurteilt werden. Analyse der Fallbeispiele Im Folgenden werden die untersuchten Fallbeispiele vorgestellt und analysiert. Die Bauwerke werden in allen Massstäben betrachtet, indem jeweils der Baukörper, die Konstruktion und das Material beschrieben werden. Aus der Analyse des Bauwerks selbst können die Absicht des Gebäudes und die jeweils herrschenden Beschränkungen der Ressourcen als Rahmenbedingungen des Bauprozesses erschlossen werden. Der jeweilige Ausdruck wird aus heutiger Sicht dargestellt. Bei der Beschreibung der angewandten Fertigungsweisen und bei der Einschätzung des Umgangs mit der Angemessenheit können die Indikatoren helfen. Schliesslich werden die Bauprozesse in Bezug auf die Verteilung der Verantwortung eingeordnet. diese Möglichkeit jedoch nicht uneingeschränkt sinnvoll, da es in manchen Fällen viel zu aufwendig wäre, die schweren Balken zum Anzeichnen in exakt der richtigen Stellung übereinanderzulegen. Die Oberflächen der Balken zeigen Spuren der inkrementellen Bearbeitung mit dem Beil, die aus Gründen der Angemessenheit nicht weiter geglättet wurden. Die Unterschiede ergeben sich aus dem unterschiedlichen Können der Bearbeitenden. 83 84 2. Hochstudhaus in Birrwil: Analyse Geschichte Die Errichtung des Hochstudhauses, auf einer Hangkante in Birrwil über dem Hallwilersee gelegen, kann nach einer Inschrift auf das Jahr 1692 datiert werden. Spätere Veränderungen nahmen dem Gebäude etwas von seiner Homogenität, besonders der Ersatz von Teilen der Holzkonstruktion durch Mauern. Sie sind aber weitgehend klar von der ursprünglichen Konstruktion zu unterscheiden. Baukörper Ein massives Walmdach162 mit grossen Dachüberständen überdeckt den zweigeschossigen Baukörper. Er enthält den Wohnteil sowie den Tenn und die Stallungen. Im Wohnhaus bestehen Fluchten von Einzelräumen. Die Unterteilung in zwei Wohnungen liegt quer zur Firstlinie. Der Wirtschaftsteil ist nur im Erdgeschoss in zwei Stallabteile, Futtertenn und Tenne unterteilt, der gesamte Dachraum ist offen. Konstruktion Der Begriff ‹Hochstud› bezeichnet die drei massiven Säulen, welche, von der Gründung in einem Stück durchgehend, die Firstpfette tragen. Im unteren Teil dienen sie als Wandständer der Innenwände, oberhalb der Wände sind sie durch «Windstreben und Sperrrafen»163 in Längsund Querrichtung ausgesteift, welche auf die Bundbalken der Ständerkonstruktion seitlich aufgeblattet sind. Dach- und Hausgefüge sind somit nicht klar voneinander zu trennen.164 Die Wände sind Bohlenständerkonstruktionen, bei denen ein Gerüst aus waagerechten und senkrechten Hölzern die Lastabtragung übernimmt. Dazwischen bilden in Nuten liegend eingebaute Bohlen die eigentliche Gebäudehülle. Auch die Innenwände sind Teil des Wandgefüges und als Bundwände mit den Aussenwänden zusammengefügt. Das untenliegende Schwellengerüst aus Eichenholz legt den Grundriss fest. Darin sind die vertikalen Wandständer, die bis zur Traufe reichen, sowie die Hochstude eingezapft. Der Rähm als oberer Abschluss der Aussenwände ist zugleich Auflager für die Bundbalken165. Diese ragen weit über die 162 Hunziker 1992: »(...) für ehemalige Strohdachhäuser kennzeichnendes Vollwalmdach». 163 Ebd. 164 Hähnel 1969, S. 55: «Der frühe ‹Gerüstbau› kennt wohl eigene Wandgefüge (Lehmbau, Flechtwerk usf.), aber kein Dachgefüge als eigenständiges Gefügeteil – das First- oder Hochsäulengerüst des Hausgefüges trägt unmittelbar die Dachdecke. Diese Gefügeeinheit geht mit der Trennung der Gefügeglieder des Wand- und Dachbereiches verloren.» 165 Es handelt sich um eine Unterrähmkonstruktion, bei der sich der Rähm direkt unterhalb der Bundbalkenebene befindet. 85 Wände hinaus; die Rofen des Daches lagen ursprünglich nur hier und oben am First auf.166 Die lange Auskragung wird durch «barock profilierte Büge»167 wiederum auf die Wandständer der Aussenwand abgeleitet. Kopfbänder übernehmen die Aussteifung. Zwischen den Wandständern liegen Riegel in der Ebene der Decken sowie der Fenster-Sohlbänke. Es besteht eine klare Abstufung der Bauteile, die je nach Belastung umso massiver dimensioniert sind. Auch hinsichtlich der Langlebigkeit können die Bauteile hierarchisiert werden: An gefährdeten Punkten werden ‹Opfer›-Bauteile wie Bretter oder Schalungen eingesetzt, welche leicht zu ersetzen sind und ihrerseits die Primärstruktur schützen. Ein Extrembeispiel hierfür ist das ursprüngliche Strohdach, das regelmässig ausgetauscht werden musste. Darüber hinaus werden je nach ihrer Gefährdung resistentere, dafür wertvollere Materialien eingesetzt, wie beispielsweise bei den eichenen Schwellen. Alle Verbindungen der ursprünglichen Primärkonstruktion sind Holz in Holz ausgeführt. Zapfenverbindungen überwiegen, es kommen aber auch Blattverbindungen vor. Die Querschnitte der Bauteile werden durch die Holzverbindungen geschwächt. An die Hochstude treffen auf der Ebene der Traufe ein Bundbalken und ein in Firstrichtung liegender Balken kreuzweise aufeinander; an dieser Stelle ist der Querschnitt des Hochstudes etwa auf die Hälfte reduziert. Teilweise bilden die Knoten ‹Wasserfallen›; auftreffender Schlagregen könnte auf horizontalen Flächen in die Konstruktion eindringen, im Knoten nach unten laufen und, dort eingeschlossen, Fäulnis verursachen. Dies wird jedoch durch den sehr grossen Dachüberstand kompensiert. Material Das sehr dauerhafte, aber schwere Eichenholz, bei dem besonders gerade, längere Stücke schwer zu beschaffen sind, wurde nur für die stark der Bodenfeuchtigkeit ausgesetzten Schwellen eingesetzt. Es ist splintfrei eingebaut. Die gesamte übrige Konstruktion besteht aus dem regional vorherrschenden Nadelholz168, ebenso Fenster und Türen. Obwohl viele der Konstruktionshölzer mit Mark verarbeitet sind (die Kanthölzer beinhalten auch den Kern des Baumes), sind nur sehr vereinzelt Risse erkennbar. Die Kanten sind meistens fehlkantig und mit dem Faserverlauf gefast. Anscheinend wurde hier an manchen Stellen nicht nur die Holzart, sondern auch das individuelle 166 Heute existieren zusätzliche Mittelpfetten, welche mit Streben zu den Hochstuden hin abgestützt sind. Pfetten und Streben sind nicht russgeschwärzt, im Gegensatz zu allen aus der Erbauungszeit erhaltenen Hölzern des Dachraumes. Daher liegt es nahe, dass die Mittelpfetten erst mit dem Ersatz des Strohdaches durch das schwerere Ziegeldach eingebaut wurden, um Durchbiegungen durch die zusätzlichen Lasten zu verhindern. Auch die Anzahl der Rofen scheint zu diesem Zeitpunkt verdoppelt worden zu sein, da auch nur jede zweite geschwärzt ist. Zu dem Zeitpunkt wurde also spätestens die offene Rauchführung durch Kamine ersetzt. 167 168 Hunziker 1992, S. 3 Wahrscheinlich ist es Fichte, wie es an ähnlichen Bauten der Region nachgewiesen werden konnte. Gesprächsprotokoll Niederberger, C. (2015, Mai 6). Gespräch mit U. Herres, 06.05.2015. Möglich wäre auch Weisstanne. 86 Stück Holz nach der jeweiligen Funktion beziehungsweise dem Einsatzort ausgewählt. An den Enden der Schwellen am Scheunentor, wo auch die Bundwandschwelle und Torpfosten eingezapft sind, verlaufen die Fasern der Schwelle nicht linear; es könnte der Wurzelansatz sein, was einem Abscheren des Vorholzes vorbeugt. Oberflächen Die Erscheinung der Oberflächen wird vor allem durch die Alterung geprägt. Im grossen Massstab sind sie geometrisch plan und glatt, die Ungenauigkeiten durch Bearbeitungsspuren und Alterung sind, abgesehen von den unregelmässigen, dem Faserverlauf folgenden Fasen, nur im Nahbereich erkennbar. Schmuck Am Gebäude gibt es einige explizite Schmuckformen wie die geschnitzten Kopfbänder der Bundbalken oder die Kielbögen über Türstürzen. Zusätzlich jedoch gibt es an der Konstruktion etliche kleine, ornamental ausgebildete Details, welche ihren Ursprung meistens in einer funktionalen Form haben. Wenige Holzverbindungen wurden als Schmuckverbindungen ausgebildet. Dies sind nur die Schwalbenschwänze über dem südlichen Tenntor. Man kann hier von einer Absicht ausgehen, da die Wichtigkeit dieses Ortes durch die Inschrift belegt ist, und die Verbindung ebenso gut als Zapfenverbindung, wie sonst überall, oder rückseitig hätte angebracht werden können. Am Torblatt selbst sind noch Reste aufgemalter Zimmererwerkzeuge erkennbar. Über das gesamte Bauwerk verteilt gibt es an den Kanten von Konstruktionshölzern Fasen, die an den Enden halbrund abgesetzt sind. Stirnseiten von Brettern weisen eine Kette von halbrunden Schnitzereien («Öhrli» 169) auf. Der Schmuck ist in diesem Falle nicht von einer funktionalen Begründung zu trennen; sowohl Öhrli als auch Fasen verhindern das Ausreissen von Fasern an den fragilen Kanten; nur die Art und Weise der Ausführung ist schmückend.170 Die Verteilung dieser Zierdetails ist zu flächendeckend, um auf eine repräsentative Funktion reduziert werden zu können. Auf dem Abbundplatz hingegen ist die Sichtbarkeit der Details eine völlig andere. 169 Nach Einschätzung des Denkmalpflegers Claus Niederberger sind solcherart abgesetzte Fasen von der Gotik bis in den Spätbarock in der Region die Regel; die ‹Öhrli› sind in der Region zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert sehr verbreitet (Niederberger 2015). 170 Die halbrund konkav geschnitzten Formen sind natürliche Folge der Benutzung eines Ziehmessers. Längs der Holzfaser ist es sinnvoll, eine gerade Fase anzubringen. Beim Stirnholz sieht das anders aus: Würde man hier mit dem Ziehmesser entlangfahren, wäre die Gefahr gross, die letzten Fasern an der Brettkante abzubrechen. Daher sind die Öhrli hier auch vom Herstellungsvorgang her gedacht sinnvoll. 87 Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Tenntor mit Inschrift und Resten aufgemalter Zimmererwerkzeuge / Aufgedoppelte Brettertür / profilierter Bug unter Bundbalken / ‹Öhrli› / halbrund abgesetzte Fase. Unten: Verformungsgerechtes Aufmass des Bereiches um das Tenntor, Original M 1/20, hier ohne Massstab. 88 89 Der empirisch entwickelte Typus: Das Hochstudhaus in Birrwil Rahmenbedingungen Absicht Die Absicht des Hochstudhauses kann nur implizit erschlossen werden. Es ist klar in eine bestimmte Typologie einzuordnen, die in der Region verbreitet vorkommt.171 Man kann also folgern, dass bei der Konzeption des Hochstudhauses bei allen Beteiligten Einigkeit über die Gestalt, die Funktionsweise und die Konstruktion des Hauses bestand.172 Der Entwurf des Hauses lag in dem Fall nicht in Form einer Zeichnung vor, welche gleichzeitig die physische Manifestation eines Entwurfes und die Abstraktion eines physischen Bauwerks darstellt, sondern als durch Tradition vorgegebene Typologie.173 Als Absicht des Gebäudes kann die Errichtung eines nach den Regeln der Kunst erstellten Gebäudes innerhalb der Typologie impliziert werden. Beschränkung Für die Erbauungszeit des Hauses gibt es Hinweise auf eine Knappheit und einen Raubbau an Holz.174 Doch selbst wenn in der Umgebung genug Holz vorhanden war, bedeutete dessen Gewinnung eine enorm anstrengende, personalintensive und auch gefährliche Arbeit. Das gilt für das Fällen, das Aufarbeiten und den Transport der teilweise sehr langen Hölzer. Es kann hier 171 Hunziker 1992, , S. 4: «Herausragendes Einzelobjekt der intakten gassenähnlichen Strassenbebauung des 17./18. Jh. im Zopf». Die benachbarten Hochstudhäuser sind zum Teil erhalten. Brunner (1977) beschrieb den Typus des Hochstudhauses beispielhaft anhand des Chablihus in Gettnau, welches in der Konzeption dem Birrwiler Haus weitgehend entspricht. 172 In diesem speziellen Fall ist es möglich, dass Bauherr und verantwortlicher Zimmerer die selbe Person waren. Hinweis darauf könnten erhaltene Abbildungen von Zimmererwerkzeugen an prominenter Stelle geben. Diese wurden auf die Türblätter des südlichen Tenntores gemalt, direkt unterhalb der in den Sturzriegel eingeschnitzten Initialen und dem Erbauungsdatum. 173 Statt durch Entwurfsarbeit wurde diese empirisch im Laufe der Zeit entwickelt, geprüft und verbessert bzw. angepasst. Umgekehrt könnte man daraus die These ableiten, dass der architektonische Entwurfsprozess ein Kondensat ist, eine zeitlich stark gestraffte Imitation dieses Entwicklungsprozesses, bei der eine geistige Simulation empirischen Ausprobierens stattfindet. 174 Horat (Horat 2007) beschreibt dies z. B. für die Glashütten des Entlebuch des 18. Jahrhunderts, die wegen Abholzung immer wieder ihre Standorte wechselten. Es kann auf keinen Fall geschlossen werden, dass vormoderne Gesellschaften keinen Raubbau kannten, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt Belege, dass das Material an sich nicht als besonders zu schonende Ressource gesehen wurde. Andererseits war die Wiederverwendung von Bauholz eher die Regel als die Ausnahme, es wurden sogar ganze Häuser transloziert (Fahrnisbauten). Claus Niederberger teilt die Ansicht, dass das Material nicht (nur) wegen seines Wertes an sich, sondern auch und vor allem wegen der darin gespeicherten Arbeit wertvoll ist (Niederberger 2015). 90 nicht klar zwischen Material und eingesetzter Arbeitskraft und Energie getrennt werden. Nicht nur das Material an sich ist wertvoll, sondern die darin gespeicherte Arbeit. Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Die angewandten Techniken bedingen eine grosse Erfahrung mit den Hauptwerkzeugen Beil und Säge. Spuren dieser Werkzeuge finden sich praktisch flächendeckend. Das explizite Wissen umfasst vor allem Fragen des konstruktiven Holzschutzes, also der Langlebigkeit, sowie der Wirkweise der Fügungen und das vorausschauende Berücksichtigen der Holzbewegungen durch das Arbeiten. Der effiziente Materialeinsatz sowie die Einschätzung der notwendigen Dimensionen der jeweiligen Bauteile gehören zum expliziten, jedoch aus Erfahrung gewonnenen Wissen. Die Umsetzung des überlieferten Typus erfordert ein Verständnis seiner Wirkweise und ein Anpassen an gegebene, konkrete Situationen. Erst der tägliche Umgang mit der Axt als Hauptwerkzeug ermöglicht eine grosse Effektivität. Beim Hochstudhaus wurden Bauteile mit Zimmerertechniken hergestellt, die in anderem Kontext auch anders hätten entstehen können. Die Aussentüren beispielsweise sind als Brettertüren hergestellt, die von Gratleisten zusammengehalten werden. Aussen sind die Türen mit der Imitation eines Rahmens benagelt, es wird also eine andere Konstruktionsweise imitiert. Der Bauforscher Ernst Brunner zieht in seiner Beschreibung der Bauernhäuser des Kantons Luzern zwischen beiden Techniken eine Linie und grenzt die Brettertüren als «robuste Zimmermannsarbeit» von der «feineren, schreinermässigen ‹Arbeit auf Rahmen und Füllung›» ab, die Imitation des Rahmens auf der Brettertür nennt er «naiv-handwerkliche Vortäuschung».175 Einerseits wurde hier also ein Ausdruck gesucht, welcher nicht mit der eigentlichen Konstruktion der Tür übereinstimmt,176 vielleicht wurde mit der Imitation das Bild einer verfeinerten, urbaneren177 Bauweise gesucht. Andererseits ist die Brettertür aber auch dadurch erklärbar, dass man die Prägung der Zimmerer auf ihre Werkzeuge und Techniken hin berücksichtigt. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Die riskante Fertigung mit dem Beil und der Säge, die Herstellung der Verbindungen und auch die Aufrichte bedeutet menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material durch den ganzen 175 Brunner 1977, S. 136. 176 Bzw. sie sogar konterkariert, da der aufgenagelte Rahmen das Arbeiten des Holzes verhindert. 177 Zünfte, mit den ihnen eigenen strengen Trennungen zwischen den Gewerken wie Schreinern und Zimmerern, spielten auf dem Land keine grosse Rolle. Eine gute Einführung gibt z. B. Schulz 2010. 91 Prozess hindurch. Die verwendeten Werkzeuge bedingen alle eine riskante Fertigung, da sie fast durchweg auf Anschläge, Führungen und Ähnliches verzichten. Der Indikator des situativen Reagierens ist an vielen Stellen ablesbar. Das gilt für das Ausnutzen der Wurzelansätze an den Eichenschwellen, die Holzverbindungen und vor allem die Werkzeugspuren. 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Gemessen an der Absicht des Bauwerks sind die meisten erkennbaren Spuren angemessen. Die ablesbare, angewandte Fertigungsweise ist von einer Balance zwischen der Erfüllung der angestrebten Aufgabe einerseits und effizientem Ressourceneinsatz andererseits geprägt. Die Anstrengung der Arbeit mit der Axt führt dazu, dass diese im Sinne einer Balance aus Aufwand und Wirkung sehr dosiert eingesetzt wurde. Das bedeutete, dass je nach Lage eines Bauteils im Bauwerk ein unterschiedlicher Aufwand an (bearbeitetem) Material und Arbeit eingesetzt wurde. So ist der Rähm über dem südlichen Tenntor durch eine Blattverbindung gestossen. Da sie nur sehr eingeschränkt Momente übertragen kann, ist sie hier ohne eine Unterstützung nicht optimal angeordnet, sie ‹hängt in der Luft›. Ein Verschieben der Verbindung über einen Ständer würde jedoch wiederum Materialverlust in der Länge bedeuten. Das vorhandene Holz nicht abzulängen war offensichtlich wichtiger, als den Stoss perfekt auszuführen. Die Ausfachungen von Innenwänden wurden konisch besäumt, das heisst die Brettkanten sind nicht parallel zueinander, sondern parallel zur Baumkante geschnitten, was weniger Verschnitt bedeutet. Die meisten am Bauwerk zu findenden Arbeitsspuren sind in letzter Instanz Spuren von Entscheidungen der Ausführenden. Dabei ist es nicht relevant, ob diese aus bewusster Reflexion oder aus verinnerlichten Gewohnheiten bestehen. Das Kriterium der Angemessenheit entscheidet, ob einmal entstandene Spuren sichtbar bleiben oder nicht. Je nach Ort im Bauwerk verschiebt sich die Gewichtung zwischen Pragmatik und Anspruch leicht, indem sich auch je nach Ort die Anforderungen verschieben, wie zwischen repräsentativen und versteckten, oder zwischen stark oder schwach beanspruchten Stellen. Die genaue Ausführung der Arbeit einschliesslich der angemessenen Spuren war allen Beteiligten, Ausführenden wie Bestellenden durch das anschauliche Beispiel der bereits gebauten Exemplare der Typologie klar: Es wurde ausgeführt, ‹wie man es so macht›. Vorliegende Fertigungsweisen Durch alle Arbeitsschritte herrscht eine klar handwerkliche Fertigungsweise vor. 92 Menschliche Interaktion ('Risiko') Angemessenheit von Ausführenden beurteilt Arbeitsschritt Hochstudhaus in Materialaufbereitung Birrwil Abbund Aufrichte Ausbau 10.05.16 Können und Wissen der Ausführenden nötig Fertigungsweisen 1 • • • • 2 • • • • 3 • • • • Fertigungsweise Handwerk Handwerk Handwerk Handwerk Prozess178 Techniken und Werkzeuge/Freie und regulierte Umsetzung Die Axt als das vorherrschende Werkzeug bestimmte die Fertigung. Es wurde nur an den Stellen längs gesägt, an denen dünnere Querschnitte durch Halbieren oder Vierteln eines Stammes gewonnen wurden sowie bei Brettern und Bohlen; ansonsten sind die Hölzer mit der Axt geglättet. Das Fügen von Bauteilen mit unterschiedlichen Formen und Querschnitten erfordert ein Arbeiten mit Bezugsebenen. Brunner führte hierzu den Begriff der ‹Bundfluchten›179 ein: Jeder Balken 178 Für die Analyse dieses Gebäudes war es nötig, die Herstellungsprozesse zu erschliessen. Hierzu gehörte die verformungsgerechte Bauaufnahme eines repräsentativen Teils der Südfassade (Bereich um das Tenntor mit Inschrift, Datierung, Eingang), Genauigkeitsstufe IV nach Eckstein, Gromer 1986, im Masssab 1/20. Dieser Bereich kann aufgrund der einbindenden Struktur von Dach, Bundwänden und Schwellenkranz und der Lage innerhalb der erhaltenen Struktur, vor allem natürlich durch die Datierung am Sturzriegel des Tenntores als erbauungszeitlich angesehen werden. Dieser Einschätzung folgt auch das Kurzkataster der Denkmalpflege. Die Herstellungsprozesse sind teilweise anhand der Bearbeitungsspuren nachvollziehbar, darüber hinaus sind vormoderne Zimmerertechniken und -werkzeuge in zeitgenössischen Abbildungen und Beschreibungen gut dokumentiert. Darüber hinaus sind die Techniken überliefert und kommen in der Restauration oder bei Rekonstruktionen auch heute noch zur Anwendung. 179 Brunner 1977, S. 120: «Der Zimmermann hat andere Richtordnungen als der Steinmetz. Dieser rechnet mit Achsen, der Zimmermann aber mit bündigen Fluchten. So benennen wir denn mit der Wortbildung Bundflucht eine handwerkliche Richtordnung, die unseres Wissens in der bisherigen Fachliteratur weder mit diesem Ausdruck bezeichnet noch in ihrem Zusammenhang zeichnerisch zur Darstellung gebracht wurde. (...) Diese Erscheinung ist nur an Gehäusen zu verfolgen, deren Gerüst aus Ständerwerk besteht und die aus einer Zeit stammen, da die Werkhölzer noch mit dem Breitbeil beschlagen wurden. Schwellen, Stützen, Träger, Streben und Büge hat man damals oft nur an zwei aneinanderstossenden Flächen rechtwinklig-vollkantig beschlagen, 93 besitzt mindestens eine geometrisch definierte, gerade und winklige Seite, die Bundseite, während die anderen Seiten zum Einsparen von Ressourcen (Zeit, Material, Energie) weniger reguliert bearbeitet sind. Diese Bundseite wird nach der Bundflucht hin ausgerichtet. So kann es sein, dass die Bundseite einer Wand eine Ebene bildet, während die abgewandte Seite unregelmässig ist. Die Bundseite weist auch die Abbundzeichen auf. Diese Bundflucht bildet die Bezugsebene, von der aus Masse genommen werden. Durch diese Technik ist eine grosse Effizienz möglich, da sich der Aufwand zum Herstellen absoluter Geometrien auf das Nötigste beschränkt. Umgang mit Toleranzen Es ist wahrscheinlich, dass der Abbund des Hauses mit fällfrischem Holz erfolgte; jedenfalls gilt dies für das Bebeilen der Rundhölzer. Grünes Holz ist ungleich einfacher mit der Axt zu bearbeiten; mit dem Trocknen nimmt die Zähigkeit der einzelnen Fasern bereits nach kurzer Zeit zu und macht das Herstellen einer so glatten Oberfläche unmöglich.180 Dem Umgang mit Toleranzen durch das Arbeiten des Holzes kommt also hier eine grosse Bedeutung zu. Zum einen geschieht dies durch die Verbindungen selbst. Bei Zapfenverbindungen zum Beispiel schwindet der Teil mit dem Zapfenloch – quer zur Faser – sehr viel mehr als der Zapfen. Also wird das Zapfenloch etwas tiefer ausgeführt als der Zapfen, damit die Verbindung durch das Eigengewicht geschlossen bleibt und der Zapfen keine Last trägt. Breite Zapfen bedeuten auch eine Einspannung der Hölzer, welche bis zu einem gewissen Grad gegen Verdrehen schützt.181 Die geometrische Genauigkeit der Konstruktion ist bemerkenswert. Selbst nach 300 Jahren ist der verformungsgerecht aufgemessene Teil der Südfassade konform mit der entsprechenden SIA-Empfehlung für Neubauten.182 Die Ausfachungen bestehen aus Bohlen, die frei in Nuten der wobei man an den gegenüberliegenden Seiten eine oft beträchtliche und oft auch krumm verlaufende Baumkante stehenliess.» 180 In einem Workshop mit einem Zimmerer und Restaurator wurden vier Fichtenstämme mit Bundaxt und Breitbeil bearbeitet. Drei Stämme waren frisch geschlagen, der vierte einige Wochen getrocknet. Anstatt mit der Axt saubere Späne wegschnitzen zu können, riss hier das Holz eher mit der Faser aus und war insgesamt viel elastischer. Auch das Schnittbild wird so viel ungleichmässiger, so dass auch an den Arbeitsspuren die Trockenheit potentiell erkennbar bleibt. 181 Dem sind Grenzen gesetzt. Gerade grosse Eichenholz-Querschnitte wie die Schwellen bringen beim Arbeiten enorme Kräfte auf; an der westlichen Schwelle der Südwand ist eine leichte Verdrehung trotz Zapfenverbindung erkennbar. 182 In SIA Empfehlung V414/10 § von1987 heisst es unter Punkt 4.2.3 «Montagebau in Holz»: «Für Bauteile aus sägefrischem Schnitt- oder Rundholz bestehen keine Toleranzbedingungen» (S. 42) und unter 4.3.3. «Der Umstand, dass Bauteile aus sägefrischem Holz auch in eingebautem Zustand grossen Formveränderungen unterliegen (Biegung, Drehung), lässt für solche Bauwerke bzw. Bauwerkteile keine Toleranzbedingungen zu» (S. 48). Dies träfe auf das untersuchte Bauwerk zu. Ein Abgleich des verformungsgerechten Aufmasses mit den zulässigen Abweichungen von Horizontale, Lot und Geradheit im Montagebau Holz nach der V414/10 ergab jedoch, dass sich der untersuchte Gebäudeteil weitgehend innerhalb dieser Toleranzen befindet. Tab. 320 «Horizont» maximale Abweichung von der Horizontalen bei einer Messlänge 4m – 10 m = 12 mm; Tab. 330 «Lot» max. Abweichung von der Senkrechten bei Messlänge 2m – 4m = 16 mm; Tab. 341 «Geradlinigkeit», max. 94 Primärkonstruktion liegen und so beim Arbeiten keine Zwängungen aufbauen; diese Bohlen sind trotz ihrer grossen Breite nicht gerissen. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Es gibt keine Hierarchie im Bezug darauf, wo am Gebäude Bearbeitungsspuren belassen wurden: Die Spuren treten auch an prominenten Stellen auf, wie die Sägespuren am Zierbogen des Haustürsturzes. Analog gibt es die genannten Zierformen auch an versteckten Stellen, im Dachraum oder im Tenn hinter dem Flügel des Tenntores. Die Oberflächen der Hölzer sind sorgfältig geglättet und die Verwitterung hat vor allem an den Aussenwandflächen wahrscheinlich viele Spuren zum Verschwinden gebracht. Dennoch sind Spuren der riskanten Fertigung praktisch flächendeckend vorhanden. Bei Ausschnitten von Konstruktionshölzern kommt es vor, dass über die Linie gesägt wurde. Sägemarken an Schnittflächen sowie Beilspuren bestehen unabhängig von der Lage des Bauteils im Gebäude. Da aufgrund anderer Merkmale durchaus auf eine Hierarchisierung der Bauteile nach Repräsentationsanspruch erschlossen werden kann, ist davon auszugehen, dass die Bearbeitungsspuren an der Konstruktion als selbstverständlich angesehen wurden. Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Die Auslegung der Konstruktion liefert Hinweise auf einen iterativen Prozess. Es gibt kein starres Raster. Die Achsabstände und die Dimensionen mancher Bauteile sind an die jeweiligen Anforderungen und die vorhandenen Materialien angepasst. Auch die Bearbeitung der Holzverbindungen legt einen iterativen Prozess nahe, da bei diesen teilweise Zusammenpassbau vorliegt. Die Fertigung des Hochstudhauses geschah in einem handwerklichen Prozess. An der Konstruktion ist ablesbar, dass an sehr vielen Stellen während der Ausführung Entscheidungen getroffen werden mussten. Dies gilt für die Hierarchisierung der Bauteile durch verschiedene Dimensionen, die freie oder regulierte Umsetzung, die Schmuckformen, aber auch für die Herstellung der einzelnen Verbindungen. Obwohl die meisten dieser Entscheidungen prinzipiell in der tradierten Typologie festgelegt sind, liegt die Verantwortung über die angemessene Ausführung bei den Bearbeitenden selbst. Eine durchgehende Überwachung durch einen Meister ist hierbei unrealistisch, dieser hätte seine Augen buchstäblich überall haben müssen. Abweichung bei Messlänge 2m – 4m = 12mm. 95 Ausdruck der Fertigung Die Einschätzung des Ausdruckes bei diesem Beispiel kann nur mit dem heutigen Blick erfolgen. Der Ausdruck eines Bauwerks wie des Hochstudhauses von Birrwil stellt die Referenzgrösse dessen dar, was heute als handwerklicher Ausdruck verstanden wird. Beschreibung Der Ausdruck der Fertigung ergibt ein Bild der Unschärfe, des Organischen und der Selbstverständlichkeit. Die Unschärfe entsteht im Kleinen aus den vielen Spuren freier Umsetzung. Dies sind zum Beispiel die unregelmässigen Fasen, gewisse Ungenauigkeiten bei der Herstellung der Knoten und Werkzeugspuren. Die Alterungsspuren wie Russ, Verwitterung und Abnutzung überdecken diese Bearbeitungsspuren jedoch oft und bestimmen den Ausdruck des Materials mit. Es gibt eine Vielzahl leichter Unregelmässigkeiten, eine hohe Dichte an visuellen Details und dadurch eine hohe Komplexität. Die Unschärfe ist über das gesamte Bauwerk konsistent. Sie wirkt organisch vom kleinen bis in den grossen Massstab, von den kleinen Unregelmässigkeiten der Oberflächen bis zu den nicht völlig regelmässigen Abständen der Hochstude: Alle einzelnen Elemente fügen sich ohne Brüche in das Haus als grösseres Ganzes ein. Die Selbstverständlichkeit erwächst aus der klar ablesbaren Regelhaftigkeit der Konstruktion. Ihre Struktur wirkt stark gliedernd. Es gibt keine klaren Gefügeeinheiten wie abgrenzbare, in sich abgezimmerte Wandscheiben. Die Konstruktion durchwebt das gesamte Gebäude. Die grosse Regelmässigkeit wird durch Abweichungen von der Gleichförmigkeit kontrastiert. Die meisten Konstruktionsteile sind sichtbar. Die Verbindungen wurden nicht versteckt. Die Kraftflüsse sind auch an den Knoten direkt ablesbar. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Der Ausdruck spiegelt aus heutiger Sicht die tatsächliche handwerkliche Fertigung wieder. Die Unschärfen entstammen direkt der freien Fertigung und der Einschätzung der Angemessenheit während des Bauprozesses. Die Selbstverständlichkeit resultiert daraus, dass die meisten Entscheidungen durch die Konstruktion bedingt sind und am Bauwerk nachvollziehbar bleiben. In diesem Falle ist die Übereinstimmung von Fertigung und Absicht evident, da in der Absicht – ein Haus innerhalb der Typologie zu bauen – die Beschreibung des Ausdrucks stillschweigend eingeschlossen ist. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Das ist durchweg der Fall. Eine einzige Ausnahme sind die erwähnten Aussentüren, bei denen offensichtlich die formale Nähe zu einer anderen, urbanen Formensprache gesucht wurde. Gerade 96 diese Imitation an einer einzigen, aber wichtigen Stelle zeigt den unverkrampften Umgang mit dem Ausdruck. Dieser war nicht gewollt, sondern ergab sich selbstverständlich aus der pragmatischen Anwendung der gängigen Vorgehensweisen. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Der Ausdruck entsteht durch das individuelle Abwägen der Angemessenheit in allen Schritten sowie durch eine Summe von vielen Einzelentscheidungen. Sie wurden zwar innerhalb eines Regelwerks der Konstruktion, der Techniken und der Typologie getroffen. Es blieben aber so viele Freiheiten, dass die Resultate der einzelnen Entscheidungen am Bauwerk ablesbar sind. Im Uhrzeigersinn: Die Dachkonstruktion mit den Hochstuden / Die Verschränkung der Bauteile geschieht auf allen Massstabsebenen / Eine ‹Wasserfalle› wie diese Nut kann nur im regengeschützten Bereich dauerhaft sein. Sie erlaubt das Arbeiten der breiten Füllungen / Der einbindende Sturzriegel der Tür zeigt das Tragen und Lasten klar auf. 97 98 3. Hotzenhaus: Analyse Geschichte Wolfram Graubner erstellte das Hotzenhaus183 mit Mitarbeitern in den Jahren 1982 bis 1985 weitgehend in Eigenleistung als Firmensitz und Werkstatt seiner Holzbaufirma. Der Architekt Hugo Kückelhaus war in die Planung involviert. Ursprünglich barg das massive Untergeschoss die Zimmerei, darüber lag das Planungsbüro mit Gemeinschafts- und teilweise Wohnräumen. Später wurde das Planungsbüro in die drei Dachgeschosse hinein erweitert und die Zimmerei durch mehrere Nebengebäude ergänzt. Später wurde das Anwesen an ein buddhistisches Studienzentrum verkauft, das es heute mit minimalen Veränderungen als Unterkunfts- und Begegnungsort nutzt. Baukörper Trotz offenkundiger Nähe zu traditionellen Bauernhausformen des südlichen Schwarzwaldes ist das Haus bei näherem Hinsehen doch eine sehr eigenständige Konzeption. Sie ist geprägt von Zimmerertechniken, wiederverwendeten Materialien und von experimentellen Ansätzen im Kontext des ökologischen Bauens. Die Grundrissgestaltung folgt keiner historischen Referenz. Sie ist durch zwei massive Innenmauern geprägt, zwischen denen eine freie Raumdisposition in Grundriss und Schnitt möglich war. An den Fassaden wechseln sich mineralische Abschnitte mit sichtbarem Holzfachwerk ab. Es gibt keine klare horizontale Trennung zwischen mineralischem Sockel und Holz-Aufbau. Auch Dachform und Kubatur erinnern stark an die lokal vorherrschende Bauernhaustypologie. Während in dieser jedoch Wirtschafts- und Wohnteil horizontal getrennt sind, ist die Trennung 183 Das Hotzenhaus beschreibt eigentlich eine bestimmte Bauernhaustypologie eines südschwarzwälder Eindachhofes. Hierzu Fasolin, Rauch 2010, S. 38: «Am untersuchten Gebäude ist exemplarisch die Entwicklung eines ursprünglich in Ständer-Bohlen-Bauweise errichteten Firstständerhauses mit strohgedecktem Rafendach hin zu einem mehrfach erweiterten, als Hotzenhaus bezeichneten und teilweise massiven Vielzweckgebäudes ablesbar. Dies könnte man vereinfacht als massive Ummantelung eines Holzhauses bezeichnen.» Die historische Hotzenhaustypologie hat also die Besonderheit, dass diese Häuser sich alle parallel im Lauf der Zeit analog zueinander veränderten, vom reinen Holzbau zu einer hybriden Holz-Stein-konstruktion. Auffallend ist die Ähnlichkeit der ursprünglichen hölzernen Konstruktion dieses ‹Firstständerhauses› mit der Typologie des Hochstudhauses, bis hin zum nachträglichen Ersatz hölzerner durch massive Bauteile. Hier zeigt sich, dass das Haus Graubner nur auf den ersten Blick der traditionellen Typologie entspricht. Im Gegensatz zu historischen Hotzenhäusern sind hier die massiven Wandteile von Anfang an wichtiger Teil der strukturellen und räumlichen Konzeption, die Firstständer gibt es dagegen nicht. 99 hier vertikal. Kern des Büroteils ab dem Erdgeschoss ist eine zweigeschossige Halle zwischen den beiden massiven Innenwänden. Konstruktion Abgesehen von den massiven Mauern besonders im Untergeschoss184, die sich teils bis ins Dach hinein fortsetzen, ist die Konstruktion des Hauses ein Fachwerk in Stockwerksbauweise185 mit einer Ausfachung aus liegenden Bohlen. Die Holzbalkendecken liegen auf den Wänden der darunterliegenden Stockwerke auf, die Balkenköpfe sind in den Fassaden sichtbar. Das Pfettendach mit stehendem Stuhl ist in drei Geschossen ausgebaut und benötigt daher eine vergleichsweise tragfähige Konstruktion. Die Sparren liegen unten auf Fusspfetten auf, welche wiederum auf Kraghölzern ausserhalb der Wandebene angeordnet sind. Die nächste Unterstützung ist ein Hochrähm186 in Wandebene, dann folgen zwei Mittelpfettenpaare und die Firstpfette. Die Pfetten liegen auf den Fachwerk-Giebelwänden auf, zwei weitere Binderebenen bilden die Fachwerk-Innenwände, die ihrerseits auf den massiven Innenmauern ruhen. Die Verknüpfung von Holz- und Steinbauweise zieht sich bis ins Detail, so bestehen die Tür- und Fensterstürze in den Mauern aus Eichenbalken. Die Fachwerkwände sind jeweils ein Stockwerk hoch und stehen auf den darunter liegenden Decken. Die Deckenbalken liegen ohne Aufkämmung auf den Schwellen auf und sind durch Dollen in der Lage gesichert. Im Gegensatz zum Geschossbau ist beim Stockwerksbau eher eine Trennung in einzelne Gefügeteile (Wandgefüge, Dachgefüge) möglich. Dies wird hier durch die erwähnte vertikale und horizontale Verknüpfung von massiven und hölzernen Wänden teils aufgehoben. Technische Vorteile der Verzahnung von Mauern und Holzwänden sind die Speichermasse der massiven Bauteile sowie die Aussteifung, welche die Mauern übernehmen. Die Fassaden im 184 Wandaufbau Mauerwerk von aussen nach innen: Kalkputz, Dämmziegel porosiert, Luftraum mit Blähtonschüttung 10 cm, Tragmauer Vollsteine, Innenputz mit Heizschlangen im Sockelbereich (Graubner 1984). 185 Wandaufbau Fachwerk (gem. Graubner 1984) von aussen nach innen: Bohlenausfachung 4,5 cm zwischen Wandständern aus Fichtenholz, Windpapier, Kork 3,5 cm, Kokosfaser-Dämmung 3,5 cm, Luftraum mit Heizschlangen, Innenschalung. 186 Binding 1990, S. 27: «Rähm, horizontales, auf Ständer oder Stuhlsäulen (Stuhlrähm, regional auch Pfette) aufgezapftes, längsverbindendes und die Wand oben abschliessendes Holz; Oberrähm-, Hochrähm- und Unterrähmkonstruktion sind Zimmerungsarten, bei denen sich das Rähm oberhalb, mit Abstand oberhalb bzw. unterhalb der Balkenlage befindet.» 100 Westen und Norden wurden als Witterungsschutz massiv ausgeführt.187 Jedoch scheinen auch entwerferische Gründe relevant gewesen zu sein, indem die Verknüpfung der Bauweisen eine bewusste Komposition darstellt. Graubner spricht von den Wänden als «mehrfach gestaffelte Schicht»188. Ihre Plastizität wird gezeigt oder durch Massnahmen wie die erkerartigen Fenster im Untergeschoss, die um Putzstärke zurückspringenden hölzernen Stürze oder die plastisch gestalteten Fachwerkwände erhöht. Die Verbindungen kommen weitgehend ohne metallische Verbindungsmittel aus.189 Sie werden eher versteckt als inszeniert: Es gibt wenige als Zierformen interpretierbare Holzverbindungen. Tatsächlich sind der durchgesteckte Zapfen an der Schwelle in der Südost-Ecke und einige Längs-Überblattungen und Stirnversätze190 die einzigen, deren Prinzip unmittelbar erkennbar ist.191 Da die Ausfachungen in Nuten der Wandständer frei beweglich sind, konnten ohne Rissgefahr sehr breite Bohlen verwendet werden. Material Es war eine Entwurfsentscheidung, mit relativ wenigen Materialien auszukommen.192 Die Konstruktionshölzer sind vollkantige, unverleimte und gehobelte Fichtenholzquerschnitte, je nach Stärke markfrei eingeschnitten oder als volles Profil. Sie sind minimal mit dem Handhobel gefast.193 Auch die Deckenbalken bestehen aus kerngetrenntem Fichtenholz mit hochkant stehenden Querschnitten, verlegt mit einem relativ grossen Achsmass von circa 110 Zentimetern. Es wurde wintergeschlagenes Holz verwendet, welches als resistenter gegen 187 Graubner 2015. 188 Graubner 1984, S. 30. 189 Lediglich die doppelt liegenden Eichenschwellen auf den Mauern des Untergeschosses sind durch Stabdübel verbunden und so gegen Verdrehen gesichert. Die Schwellen haben vor allem druckverteilende Funktion und sind gleichzeitig Fensterstürze. Weiterhin wurden im Obergeschoss Deckenbalken unter die Mittelpfetten gebolzt, um eine bestimmte Raumhöhe darüber zu gewährleisten. Die profilierten Bretter zwischen den Deckenbalkenköpfen sind mit verzinkten Nägeln schräg in diese genagelt. In seinem Buch «Holzverbindungen» (Graubner 1986) beschreibt Graubner technische Vorteile von metallfreien Verbindungen vor allem in Bezug auf Langlebigkeit und Brandschutz, aber auch Ökologie. Die pragmatische Verwendung schräg eingeschlagener Nägel zeigt, dass mit dem Thema der Holzverbindungen nicht dogmatisch umgegangen wurde. 190 Binding 1990, S. 39: «Versatzung, Verbindung zweier schiefwinklig zusammentreffender Hölzer in einer Ebene durch flaches Einschneiden der Hölzer.» 191 Der Gedanke liegt nahe, dass Wolfram Graubner hier durch die japanische Holzbautradition beeinflusst wurde, welche auch komplizierte Verbindungen oftmals so versteckt, dass deren Wirkweise von aussen nicht sichtbar ist. Graubners Buch «Holzverbindungen: Gegenüberstellungen japanischer und europäischer Lösungen» erschien 1986. 192 Graubner 1984, S. 35.: «Man kann schon sagen, dass wir im ganzen Haus mit wenigen Materialien ausgekommen sind.» 193 Graubner 2015. 101 Pilz- und Insektenbefall gilt als sommergeschlagenes.194 Für Bauteile, die mit Mauern in Berührung kommen, wurde das dauerhafte Eichenholz verwendet. Das sind die Schwellen der Fachwerkwände, Fenster- und Türstürze im Mauerwerk und die Fusspfetten195. Das Holz stammt von nicht imprägnierten Rohlingen für Eisenbahnschwellen. Die Konstruktionshölzer weisen grösstenteils schmale Trocknungs(längs)risse auf, während die Ausfachungen weitgehend rissfrei sind. Es gibt keine erkennbaren Verformungen wie Verdrehen oder Verkrümmen von eingebautem Holz. Graubners Mannschaft verwendete viele gefundene Materialien. Das Arvenholz für Türen und Täferungen wurde aus den mehrere hundert Jahre alten Balken eines Abrisshauses gesägt. Neben den mineralischen Fussbodenbelägen ist auch die Biberschwanz-Dacheindeckung alt. Auch ganze Bauteile wie Fenster und Innentüren wurden wiederverwendet. Beim gesamten Bau wurde kein Zement oder Beton genutzt. Auch die Fundamente sind mit Kalkmörtel gemauert. Der obere Abschluss der gemauerten Aussenwände unter den Eichenschwellen und die Kämpfer der Arkade im Untergeschoss bestehen aus zugeschnittenen Muschelkalk-Quadern.196 Oberflächen Die Holzoberflächen aussen sind roh belassen und rotbraun verwittert. Die Fenster sind mit Leinöl-Standöl behandelt. Die Mauern wurden von Hand und ohne Anschlagschienen verputzt, was eine minimal unebene Oberfläche ergibt.197 Im Eingangsbereich und in der Halle wurden als Bodenbelag wiederverwendete Biberschwanz-Dachziegel und Schieferplatten verlegt. In den Zimmern liegen geölte Fichte-Riemenböden, deren Fugen maximal etwa fünf Millimeter aufgetrocknet sind. Alle original verwendeten Materialien sind massiv. Lediglich in der 194 Graubner 1984, S. 28: «Holzschutz durch Holzwahl. Insekten interessieren sich für die Stärke im Holz, die bei im Sommer geschlagenem Holz auftritt. Das merkt man sofort, wenn man am Richtplatz arbeitet. Wenn man sommergeschlagenes Holz verwendet, wimmelt es von Wespen, wenn man wintergeschlagenes hat, gibt es keine.» Die Rolle der Fällzeit für die Haltbarkeit der Hölzer wird kontrovers diskutiert. 195 Das ist durch den Dachgeschossausbau nicht ohne Weiteres erkennbar, wird aber von Graubner erwähnt (Graubner 1984, S. 30). 196 Aus ökologischen Gründen vermied Graubner nicht nur den Einsatz von Zement, sondern auch von vorgefertigten Baustoffen wie Leimholz oder Plattenwerkstoffe. Als Grund gibt er die für deren Herstellung notwendige Energie an (Graubner 2014a). 197 Dies war explizite Anweisung an die Ausführenden. Grauber 2015: «Ausführung unter Anleitung des japanischen Putz-Meisters Akiro Kusumi. Der Putz wurde vor Ort angemischt mit Armierung aus Kälberhaar einer benachbarten Bürstenfabrik sowie örtlichem Sumpfkalk.» 102 ehemaligen Zimmerei wurde bei der jüngsten Umwidmung der Dielenboden durch ein flächiges Parkett mit einer Dehnfuge in Raummitte ersetzt.198 Insgesamt sind die Oberflächen im Detail relativ dreidimensional: Putz mit leichten Ungenauigkeiten, Schiefer- und Biberschwanz-Bodenbeläge, Holzriemenböden und Täferungen, Fachwerkoberflächen. Schmuck Die profilierten Sparren- oder Balkenköpfe traditioneller Hotzenhäuser fehlen hier. Lediglich zwei horizontale Linien der Fassade, die Deckbretter zwischen den aussen sichtbaren Deckenbalkenköpfen und die Brustriegel des Fachwerks sind profiliert.199 Dennoch existieren viele Details, bei denen die Grenze zwischen Funktion und Ornament verschwimmt. Beispiele sind eine oktogonale Holzplatte am Kreuzungspunkt der Türfriese200, die kleine konkave Holzscheibe am Kreuzungspunkt der Fenstersprossen201 oder die gedrechselten Staketen der hölzernen Brüstungen in der Halle. Die vertikalen Bretter der Balkonbrüstungen sind unterschiedlich breit und an den Seiten geschwungen gesägt. Die unterschiedliche Breite beruht auf einer effizienten Materialausnutzung der Bretter. Auch die Verlegung alter Biberschwanzziegel in Kalkmörtel als Bodenbelag in der Halle ergibt ein ornamentales Verlegemuster. Im Inneren sind einige Decken mit Malereien von Hugo Kückelhaus versehen.202 198 Grösse der einzelnen Elemente ca. 80 x 15 cm. 199 Graubner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Ornamentlosigkeit bewusst gebrochen wurde, um ein Abgleiten in «Prinzipienreiterei « zu vermeiden. Graubner 1986, S. 26. 200 Die Innentüren bestehen aus Rahmen und Füllung mit kreuzförmigem Fries, wodurch Füllungen aus nicht verleimten, breiten Brettern möglich wurden. Hier wurde wiederverwendetes Arvenholz aus einem Abbruch verwendet. 201 Die Fenster bestehen aus Lärche und sind als Verbundfenster ausgeführt. Die Innenfenster haben Sprossen, welche leicht profiliert und minimal zurückgesetzt sind. Am Kreuzungspunkt der Sprossen ist eine runde Scheibe mit konkaver Fläche eingebaut. Die Aussenscheiben sind ohne Sprossen. Alle Scheiben sind mit Kittfase abgedichtet. Die Fensterprofile sind auf Gehrung geschnitten, es gibt keine Konterprofile. Die Fenstersprossen sind eine Entwurfsentscheidung, keine technische Notwendigkeit (sonst wären auch die Aussenscheiben unterteilt). Graubner 2015: «Sie dienen einer differenzierten Schattenbildung und damit Lichtgestaltung». 202 Graubner 2015: «Farbanstriche innen als Mineralfarben mit z.T. in der Landschaft gesammelten Erdfarben. Deckenanstriche: Naturpigmente mit Zellulosekleister.» 103 Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Gebäudeecke mit sichtbaren Holzverbindungen / Die abgeschrägte Kante leitet Regenwasser von der Konstruktion weg / Stürze aus Eichenholz / Innentür aus wiederverwendetem Arvenholz mit oktogonaler Platte im Zentrum der Friese / Die profilierten Füllbretter zwischen den Deckenbalken sind genagelt / Die Fenster im Untergeschoss bilden räumliche Elemente. Unten: Verformungsgerechtes Aufmass der südöstlichen Gebäudeecke, Originalmassstab 1/20, hier ohne Massstab. 104 105 Nachhaltigkeit als Ziel: Das Hotzenhaus Rahmenbedingungen Absicht Die grundlegende Absicht des Gebäudes kann unter dem Stichwort ‹Nachhaltigkeit› zusammengefasst werden. Es wurde eine Alternative zum erbauungszeitlichen Konsens des Bauens angestrebt, indem es bewusst in eine handwerklich-konstruktive Tradition gestellt wurde. Es sollte ein ökologisches Bauwerk entstehen, das in Bezug auf den Ressourcenverbrauch (durch wiederverwendete oder handwerklich aufgewertete ‹gefundene› Baustoffe) und den Energieverbrauch (für die damalige Zeit fortschrittliche Dämmung, der ausdrückliche Verzicht auf homogenisierte Materialien), besonders aber durch Langlebigkeit nachhaltig ist. Hierzu gehörte auch das Einbetten des Gebäudes in den räumlichen und kulturellen Kontext.203 Handwerk ist dafür ein wichtiges Mittel, nicht aber das Ziel des Entwurfes. Die Langlebigkeit wird nicht nur durch den Gebrauch traditioneller, empirisch erprobter Techniken und Details zu erreichen versucht, sondern auch auf konzeptioneller Ebene. Indem Materialien verwendet wurden, die mit der Zeit eine Patina bilden, wurde das Altern 204 im Entwurf antizipiert. Dies gilt für die Oberflächen der Holzkonstruktion, die bronzenen Türbeschläge, die hölzernen und steinernen Bodenbeläge oder die Dachdeckung. Die gewollt unspezifischen Grundrisse sollten Nutzungsänderungen ohne tiefe Eingriffe in die Struktur erlauben.205 Begründet durch die angestrebte Langlebigkeit sollte der Ausdruck nicht explizit auf die Entstehungszeit hinweisen.206 Es wurde ein Ausdruck gesucht, der direkt aus der Fertigung entstand und auf diese Weise auch hier die Nähe zu vernakulären Bauformen suchte, ohne diese 203 Angestrebt wurde eine ‹Durchdringung› (Graubner) von Gross und Klein. Die Verknüpfung ist über den Massstab des Hauses hinausgedacht. Graubner führt wiederholt Geschichten als Herleitung bestimmter Formen an: Die Dachneigung entspricht dem am Ort höchsten Sonneneinfallswinkel (Graubner 1984, S. 27), die Treppenstaketen erinnern an ein von Kückelhaus bewohntes Haus, die Oktogone in den Türen sind inspiriert vom Grundriss einer Kirche. Das bedeutet ein bewusstes Herstellen von Verknüpfungen zwischen dem Entwurf des Hauses und übergeordneten Themen, bzw. ein bewusstes Aufladen des Hauses mit Bedeutung. Die Referenzen sollen das Haus bewusst in einen Kontext stellen (Graubner 2014a). 204 Im Sinne von ‹Merkmale des Alters zeigen›. 205 Graubner 1984, S. 31: Das Haus soll «(...) vielseitig nutzbar sein, ein Haus, das man in allen Richtungen benutzen kann. Das bedeutet, dass die Struktur des Hauses hinsichtlich der Räume möglichst wenig vorbestimmt sein darf.» 206 106 Graubner 2015: Das Bauwerk sollte «zeitlos» wirken. zu imitieren. Trotz dieser formalen Nähe zu historischen Referenzen sind die einzelnen Entscheidungen nicht in erster Linie formal begründet. Am Bauwerk ist an manchen Stellen ein pragmatisches Eingehen auf die individuellen Gegebenheiten feststellbar, um ein sonst vielleicht allzu starres Konzept gezielt zu brechen: Graubner ging es «nicht um Wirkungen als Solche, sondern um beiläufige Wirkungen.»207 Durch die Spuren und die Variationen in Grund- und Aufrissen wirkt das Haus ‹gewachsen›. Hierzu trägt auch die vertikale Verknüpfung der verschiedenen Bauweisen in den Fassaden bei, welche bei der historischen Hotzenhaus-Typologie erst durch Ergänzungen ursprünglich als reine Holzkonstruktionen erstellter Gebäude entstand. Beschränkung An mehreren Stellen erwähnt Graubner, dass bestimmte Entscheidungen – für wiederverwendete Materialien oder bestimmte Techniken – auch aus ökonomischen Gründen gefällt wurden.208 Die eigentliche, Entwurf und Ausführung bestimmende Beschränkung ist jedoch der bewusste Verzicht auf energieaufwendig hergestellte Materialien. Die Beschränkung ist hier also teilweise aktiv gesucht, um die Absicht des Hauses zu erreichen. Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Die meisten vorliegenden Arbeiten erforderten erfahrene und ausgebildete Handwerker. Es wurden Arbeiten ausgeführt, welche nicht nur nicht repetitiv sind, sondern eine Bewertung des Materials und in Fällen wie dem Fussbodenbelag eine schöpferische Leistung erfordern. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Die vorherrschende riskante Fertigung bedeutet direkte menschliche Interaktion in den meisten Bearbeitungsschritten, sicher aber bei Abbund, Aufrichte, Holzausbau und bei den genannten Beispielen der Ausbaugewerke. Der Handabbund bedeutet situatives Reagieren, welches hier jedoch nur sehr wenige Spuren an der Holzkonstruktion hinterliess. Diese Spuren sind subtiler, 207 Graubner 1984, S. 33. 208 Graubner 1985. Seine Aussage «Nichts ist gestalterisch gelöst, alles folgt aus der Konstruktion» (S.26) ist jedoch leicht irreführend. Die meisten Entwurfsentscheidungen können auf die Konstruktion oder eine andere Notwendigkeit zurückgeführt werden. Dennoch hätte es auch innerhalb dieser Gesetzmässigkeiten unendlich viele Möglichkeiten der Variation gegeben. Insofern verschmelzen hier gestalterische und konstruktive Entscheidungen: Es wurde innerhalb eines Systems entworfen, welches aber Freiheiten für einzelne Entscheidungen besonders für die Ausführenden bietet. Ein Kriterium für die gestalterischen Entscheidungen kann das Unterstreichen des gewünschten Ausdrucks sein. 107 aber über das Gebäude verteilt. Die im Putz ausgesparten hölzernen Stürze sind eine solche Spur, wie auch die ungleich breiten Brüstungsbretter der Balkone. 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Beim Hotzenhaus gibt es viel weniger direkte Fertigungsspuren als im Hochstudhaus in Birrwil, da hier viel mehr in direkter Arbeitsweise gearbeitet wurde. Die Aufbereitung der Hölzer, deren Spuren sich über das gesamte Bauwerk verteilen kann, wurde beim Hotzenhaus determiniert im Säge- und Hobelwerk bearbeitet. Die vorhandenen Spuren sind nicht aktiv herbeigeführt worden. Ihr Ursprung liegt in der Festlegung bestimmter hervorbringender Techniken. Die Spuren sind angemessen, weil sie innerhalb der gewählten Techniken keinen Mehraufwand bedeuteten und andererseits den beabsichtigten Ausdruck unterstützen. Imitationen von Spuren, um ein reines Bild handwerklicher Fertigung zu erreichen, mussten unbedingt vermieden werden. Bei den meisten Arbeitsschritten lag die Beurteilung der Angemessenheit der Ergebnisse direkt bei den jeweiligen Ausführenden. Durch die Strategie, Vorgehensweisen vorzugeben, wird dies noch verstärkt an Stellen, wo nicht nur die technische, sondern besonders die ästhetische Angemessenheit bei der Ausführung eingeschätzt werden muss. Vorliegende Fertigungsweisen Die Materialaufbereitung beruht zwar auch auf handwerklichem Wissen und der Einschätzung der Angemessenheit, der Prozess selbst ist aber mechanisiert. Wenigstens mit dem Beginn des Abbundes jedoch herrscht die handwerkliche Fertigungsweise vor. Im Ausbau führte die Verwendung vorhandener Materialien teils zu einer Art Bricolage, die sehr bewusst eingesetzt wurde. Das beste Beispiel für Arbeit mit eigentlich fremden Materialien Fertigungsweisen ist der Bodenbelag aus alten Dachziegeln. Dieser wurde genutzt, um den Ausdruck im Inneren 108 Angemessenheit von Ausführenden beurteilt Arbeitsschritt Materialaufbereitung Abbund Aufrichte Ausbau Ausbau Menschliche Interaktion ('Risiko') Hotzenhaus Können und Wissen der Ausführenden nötig auszubalancieren. 1 • • • • (•) 2 x • • • • 3 • • • • • Fertigungsweise determinierte Fertigung Handwerk Handwerk Handwerk Handwerk / 'Bricolage' 10.05.16 Prozess Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung Die hölzerne Primärstruktur wurde per Hand mit Elektrowerkzeugen abgebunden.209 Die wahren Längen, Winkel oder Schiftungen wurden von Hand auf dem Reissboden aufgerissen. Es gab keine digitale Berechnung des Abbundes. Die Bearbeitung der Hölzer für Primärstruktur und Ausbau ist weitgehend reguliert, es gibt also kaum Abweichungen von einer Idealform. Dies ist bedingt durch die angewandten Werkzeuge: Im Gegensatz zum Zimmern mit dem Beil als Hauptwerkzeug kommt die inkrementelle Fertigung nur vereinzelt vor. Die Handkreissäge arbeitet direkt an der angestrebten Schnittfläche, die dann viel eher eine geometrisch definierte Geometrie ergibt. Die freie Umsetzung kommt hier bemerkenswerterweise in erster Linie bei den mineralischen Gewerken vor, namentlich bei den Verputzarbeiten und den keramischen Bodenbelägen. Sie wurden teils bewusst durch ‹fachfremde› Ausführende bearbeitet, indem ein Maurer anstatt eines spezialisierten Fliesenlegers herangezogen wurde.210 Hier wurde gezielt freie Ausführung mit gewissen Toleranzen im Ergebnis gesucht, während technisch eine völlig regulierte Arbeitsweise möglich gewesen wäre. Umgang mit Toleranzen Die Primärstruktur ist weitgehend toleranzfrei gefertigt. Die Masshaltigkeit und die Genauigkeit sind sehr hoch. Wie bei historischen Fachwerkbauten ist die Konstruktion aber auf das Arbeiten des Holzes während der Lebensdauer ausgelegt. Diese Bewegungen des Holzes sind in den drei Dimensionen jeweils sehr unterschiedlich. Entsprechend muss darauf geachtet werden, dass nirgends Hölzer fest miteinander verbunden werden, deren Faserverlauf senkrecht zueinander verläuft211, da dies zu Spannungen führen würde. Hier wird mit Ausdehnungsräumen gearbeitet: 209 Beim Workshop am 20.03.15 in Luzern erklärte W. Graubner, dass für ihn bei der Definition von Handwerk nicht relevant ist, ob ein Werkzeug mit Muskelkraft oder elektrisch angetrieben wird, solange das Ergebnis von den Fertigkeiten des Bearbeitenden abhängt. Diese Auffassung entspricht Pyes Begriff der ‹workmanship of risk›. Pye 1968, S. 25: «The source of power is completely irrelevant to the risk. The power tool may need far more care, judgement and dexterity in its use than the hand-driven one.» 210 Graubner 1984 S. 33. 211 Bei vorneuzeitlichen Möbeln ist oft zu beobachten, dass diese Regel nicht eingehalten wurde. Hier wurden manchmal Hölzer mit längslaufender auf solche mit querlaufender Faser genagelt – die darüber hinaus sehr breit sind – ohne dass bis heute Schäden entstanden sind. Eine Erklärung hierfür könnte einerseits eine effektive, lange Lufttrocknung oder andere Vorbehandlungen wie Wässern sein, andererseits die geringen klimatischen Schwankungen in den damals teilweise ungeheizten Bauten. Mit der Ausdifferenzierung von Holzverbindungen und Techniken bis zum Barock scheint sich dies zu wandeln – es kann allerdings auch ein geändertes Bedürfnis nach dem Aufkommen effektiverer Heizsysteme (Öfen) sein. Diese Frage kann hier nicht abschliessend behandelt werden. 109 Die Nut im Rahmen einer Tür, in der sich die Füllung frei bewegen kann, ist ebenso ein Beispiel dafür, wie die Nuten zur Aufnahme der Bohlenfüllungen. Da hier vorrangig getrocknetes Holz verwendet wurde, ist das Arbeiten des Holzes geringer als bei aus frischem Holz hergestellten Fachwerkkonstruktionen. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Es gibt insgesamt wenige direkte Spuren des Herstellungsprozesses. Die Konstruktionshölzer sind sehr masshaltig und haben ebene Oberflächen. Dafür aber gibt es Hinweise, dass durch bestimmte Entwurfsentscheidungen wie die Materialwahl und die Vorgabe von Techniken die Dichte an Spuren und darüber hinaus die Dichte an visuellen Details (wie Risse, Verwitterung, Alterung) an manchen Stellen erhöht werden sollte. Ein Beispiel ist die Entscheidung, die Putzoberfläche ohne Anschlagschienen auszuführen. Auch die Fasen der Konstruktionshölzer wurden mit dem Handhobel hergestellt. Hier werden geometrische Unschärfen bewusst herbeigeführt. Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Die Berührungspunkte zwischen Planung und Ausführung waren bei diesem Gebäude besonders zahlreich. Sowohl Kückelhaus als auch Graubner als Planer hatten handwerkliche Ausbildung und Erfahrung und waren selbst in die Ausführung involviert. Darüber hinaus wurde sehr nahe am physischen Bau beziehungsweise Material geplant, indem die Fassadenaufrisse direkt 1:1 auf dem Reissboden festgelegt oder das Verlegemuster der Platten während der Bearbeitung entworfen wurde. Die Zimmererarbeiten wurden von einer kleinen Kerntruppe aus Mitarbeitern der eigenen Zimmerei in enger Zusammenarbeit ausgeführt. Das gilt auch für eigentlich fachfremde Arbeiten wie die gemauerten Arkaden, die Schreinerarbeiten sowie das Wandheizsystem. Das Vorgehen war durch die Entscheidung, traditionelle und regionale Zimmerertechniken zu verwenden, weitgehend festgelegt. Die Verwendung von recyceltem Material bedeutet eine umso grössere Verantwortung bei den einzelnen Bearbeitenden: Jedes Stück Holz wie auch jeder alte Biberschwanzziegel, von den Fenstern ganz abgesehen, musste auf seine Verwendung hin geprüft, bewertet und gegebenenfalls angepasst oder repariert werden. Zum Erreichen bestimmter Ergebnisse wurden in der Konzeption Rahmenbedingungen für die Ausführung festgelegt. Innerhalb dieses Rahmens bestanden dann Freiheiten wie die Anfangspunkte der Bodenbelagsmuster oder das Konstruktionsprinzip der Fachwerkwände, welche Entscheidungen während der Ausführung begünstigte oder sogar erforderte. Dieses Vorgehen ist bis zu einem gewissen Grad ergebnisoffen. Das Ergebnis eines Arbeitsschrittes 110 ist nur mittelbar beschreibbar und nicht genau determiniert. Dadurch wurden entsprechende Unschärfen in der endgültigen Geometrie der Bauteile nicht nur in Kauf genommen, sondern gezielt gesucht. Beim Bodenbelag der Halle ging das noch einen Schritt weiter, indem den Ausführenden mit dem endgültigen Muster auch eine entwerfende Aufgabe überlassen wurde. Dieses prozessbasierte, iterative Vorgehen ist bei vielen Arbeitsschritten im Bauwerk anzutreffen. Das Verteilen der Verantwortung auf die an der Ausführung Beteiligten und damit die integrale handwerkliche Fertigung, ist hier immanenter Bestandteil des Entwurfskonzeptes. Das hat weitreichende Konsequenzen auf den Prozess und den Ausdruck des Bauwerks. Dass die Ergebnisse auf diese Weise nicht vollständig im Entwurf vorweggenommen werden können erfordert ein entsprechendes Konzept, welches geometrische Unschärfen nicht nur verträgt, sondern ausnutzt. Es handelte sich klar um einen handwerklichen Prozess. Ausdruck der Fertigung Die Fertigung wird an vielen Stellen des Bauwerks gezeigt. Sie wird jedoch nicht inszeniert; vielmehr ist für viele ihrer Spuren ein Wissen des Betrachters notwendig, um sie im Detail lesen zu können. Beschreibung Die Fertigung zeigt sich am Gebäude als ein Ausdruck der Selbstverständlichkeit, der Organik und des Handwerklichen. Die Kraftabtragung ist jederzeit selbstverständlich nachvollziehbar. Der Ausdruck der Konstruktion liegt zwischen einer strengen Regelmässigkeit und erkennbaren Freiheiten davon. Einerseits ist das Konstruktionsprinzip des Fachwerks sehr streng, die Hierarchie der Bauteile ist klar, ihre Sichtbarkeit gliedert die Fassaden sehr stark. Andererseits sind an der Konstruktion viele Unregelmässigkeiten erkennbar. Die Abstände der Wandständer der Schaufassade zum Beispiel sind unregelmässig, die Lage der Fenster ist nicht symmetrisch. Die Konstruktionslogik bildet einen Bezugsrahmen, innerhalb dessen beim Entwurf offensichtliche Freiheiten genommen wurden. Der Baukörper wird durch den Kontrast zwischen der kompakten Gesamtform und der Kleinteiligkeit und Inhomogenität von Konstruktion und Oberflächen geprägt. Dies sowie die verschiedenen Materialien, die Öffnungsgrössen, die Dreidimensionalität der Fassaden vom Balkon bis zu den vorstehenden Konstruktionshölzern verleihen dem Bauwerk eine grosse Komplexität. 111 Das Gebäude hat eine Dichte an visuellen Details – man könnte auch von einer Körnung sprechen – die weitgehend kongruent über die Massstäbe ist. Diese reichen von Materialtexturen wie Holzmaserungen über die aus der Anordnung von Materialien gebildeten Muster oder bewusst platzierte Konstruktionsdetails bis hin zur Kombination verschiedener Bauweisen im Grossen. Bei praktisch allen originalen Materialien ist deren Massivität Teil des Ausdrucks und zeigt sich auch an den Oberflächen durch Fugen oder Risse. Die individuellen Bauteile wie Füllungsbretter, Bodendielen und Balken sind klar als einzelne Komponenten zu unterscheiden.212 Durch die Regeln der Konstruktion ordnen sie sich organisch in das Gesamtbild des Hauses ein. Im Gegensatz zum Hochstudhaus gibt es hier viel weniger geometrische Unschärfen, da es auch viel weniger freie Umsetzung gab. Stattdessen zeigt sich die handwerkliche Denkweise an vielen sorgfältig ausgeführten Details. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Die Absicht war, ein nachhaltiges, langlebiges Haus zu bauen, das entsprechend einen zeitlosen Ausdruck haben sollte. Der handwerkliche Ausdruck bedeutet, dass das Haus nicht auf den ersten Blick auf seine tatsächliche Erbauungszeit zu verorten ist. Dadurch wird die gesuchte Zeitlosigkeit unterstützt. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Beim Hotzenhaus ist die Übereinstimmung von Fertigung und Ausdruck zentral und wird konsequent verfolgt. Eine nonchalante Ausnahme wie bei den Brettertüren im Hochstudhaus kommt hier nicht vor: Alles ist so entstanden, wie es gezeigt wird. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Im Unterschied zum Hochstudhaus ist der Ausdruck hier nicht selbstverständlich entstanden, sondern reflektiert herbeigeführt worden. Er wurde im Entwurf gesteuert und beruht auf einer Summe von Massnahmen wie bewusst eingesetzten handwerklichen Details, freier Fertigung an bestimmten Stellen und den geometrischen Unregelmässigkeiten der Konstruktion. 212 Im Kontrast zu dem später ergänzten Parkettboden in der Zimmerei zeigt sich der additive Ausdruck sehr gut. Der neue Boden wirkt extrem flächig und abstrakt, da die einzelnen Lamellen ohne Fugen verschliffen und im Gesamten mit einer sehr glatten Beschichtung versiegelt wurden. 112 Im Uhrzeigersinn: Das nachträglich eingebaute, homogene Parkett im Untergeschoss / Die zentrale Halle / Das Verlegemuster der Fussböden in der Halle aus wiederverwendeten Dachziegeln. 113 114 4. Totenstube: Analyse Geschichte Der Architekt Gion A. Caminada entwarf in enger Abstimmung mit der Bevölkerung von Vrin den Neubau eines Hauses, der das traditionelle Ritual der Aufbahrung der Verstorbenen ermöglichte. Baukörper Die Totenstube ist mit ihrer kompakten Form in den steilen Hang eingebaut, welcher den Friedhof im Ortskern von Vrin talseitig umgibt. Die mineralischen Stütz- und Sockelwände aus Sichtbeton führen die vorhandenen Hangstützmauern aus Bruchstein weiter. Die Eingänge im unteren Geschoss liegen in einer hofartigen Nische. Die spezielle Form des Blockbaus betont die Gebäudeecken: Die Aussenwände bestehen aus doppelten Strickwänden, zwischen denen die Dämmung angebracht ist. In den Gebäudeecken ragt aussen nicht nur der Vorstoss einer Wandschale heraus, sondern die gesamte doppelte Strickwand – und hieraus ihrerseits wieder die Vorstösse der einzelnen Schalen. 213 Im unteren Geschoss, das von der Gasse aus betreten werden kann, liegt der Aufbahrungsraum. Oben liegt ein Raum für die soziale Komponente des Abschiedsrituals. Hier ist ein Eingang vom Friedhof aus, während der Weg des Verstorbenen vom Untergeschoss durch die Gassen des Dorfes zu Kirche und Friedhof führt – in Anlehnung an die früher übliche Prozession vom Wohnhaus zur Kirche. Die Geschosse sind durch einen grosszügigen Treppenraum verbunden. Die Beziehung der drei Haupträume zueinander – der Aufbahrungsraum unten, der Treppenraum mit Eingangsräumen auf zwei Geschossen und der Gemeinschaftsraum beziehungsweise die Stube im Obergeschoss – wird durch die Abstufung der Bedeutung dieser Räume im Kontext des Aufbahrungsrituals bestimmt. 213 Hierzu Martin Tschanz in Cabalzar et. al. 2003, S. 31: «Überhaupt ist die Plastizität des Baus ausserordentlich. Die für den Strickbau charakteristische Eckausbildung mit ihren Vorstössen, die an sich schon ein kräftiges Element ist, wird hier gleichsam verdoppelt und übersteigert. (...) Die traditionelle Symmetrie der Ecke ist aufgebrochen, doch die damit eingeführte Richtung wird durch die windmühlenflügelartige Anordnung in eine Kreisbewegung geführt. Somit wird am Ende keine Ausrichtung, sondern der Baukörper als solcher betont. Dieser Eindruck wird durch das in sich ruhende, gewalmte Dach unterstützt.» 115 Konstruktion Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Beispielen hat die Totenstube kein stabförmiges Tragwerk. Die Konstruktionslogik des Strickbaus beruht auf den Stapeln liegender Hölzer, die an den Gebäudeecken durch Holzverbindungen in der Lage gesichert werden. Alle Wandstösse sind so Teil der Konstruktion. Die Wände sind von Anfang an festgelegt und nie als einfache Scheiben, sondern nur in winkliger Kombination stabil. Die Setzmasse, die vertikale Volumenabnahme der Wände mit dem Austrocknen der Hölzer, werden zum bestimmenden Konstruktionsfaktor für die Öffnungen. Die doppelten Aussenwände sind im Prinzip aufs schmalste zusammengedrängte, mit Dämmung gefüllte Strickbauten. Die Innenwand im Obergeschoss ist eine Bohlenständerwand als Verlängerung der Vorstösse eines Fensters und eines gegenüberliegenden Wandversprunges. Die Wand steht auf der Decke über dem Untergeschoss, welche wiederum von einem doppelt liegenden massiven Überzug im Dachraum abgehängt ist. Auf den Aussenwänden über dem Obergeschoss liegt eine Balkendecke, welche über die Wände hinausragt und so den gesimsartigen Dachüberstand bildet. An ihren Stirnseiten sind Bohlen befestigt, welche die Rinne verdecken; sie wirken von aussen wie ein Attikagesims. Die Decke zwischen den beiden Geschossen besteht aus den gleichen, direkt aneinander verlegten Balken wie die Wände. Die Bauweise bedeutet eine starke Verknüpfung innerhalb der Konstruktion und dadurch starke Zwänge. Bauteile konnten nicht unabhängig voneinander gedacht werden. In den Ecken sind die einzelnen Balken nicht wie im klassischen Strickbau durch Blattverbindungen gefügt, vielmehr stösst immer ein Balken mit einem Schwalbenschwanz in den anderen. Dieser ragt jeweils über die Ecke hinaus. Diese Vorstösse sind notwendig, um für die Schwalbenschwanzverbindung eine genügende Vorholzlänge bereitzustellen.214 Material Die Konstruktion besteht aus Vriner Fichtenholz, welches von der Sägerei als sägerohe Kanthölzer geliefert und in der Zimmerei gehobelt und gefräst wurde. Es hatte beim Abbund nach einer Lufttrocknung von zwei Jahren noch eine Feuchte um 18 Prozent, weshalb Maschinentrocknung nicht unbedingt notwendig war. Nur der jeweils unterste Balken der Wände, der direkt auf dem Sockel aufliegt und damit Spritzwasser und aufsteigender Feuchte eher ausgesetzt ist als die höher liegenden, besteht aus dem resistenteren Lärchenholz.215 214 Beim traditionellen Blockbau mit Verkämmungen gibt es zwei Vorstösse, beim Strickbau mit Verzinkung hingegen keinen. 215 116 Bei Bauten aus Lärche wurden auch verleimte Hölzer benutzt. Da Lärchenholz stärker arbeitet als Die Sichtbeton-Sockelwände sind wegen der innen bis zur Bodenplatte reichenden inneren Schalen der Strickwände nur von aussen sichtbar. Sie sind eher grob geschalt und nachbearbeitet.216 Im Aufbahrungsraum liegt ein Hirnholzparkett aus Eiche. Die Türdrücker, Fenstergriffe und die Garderobe sind aus Eisen geschmiedet, welches schwärzlich angelassen wurde. Die Dachdeckung erfolgte mit Steinplatten aus Glimmerschiefer wie die benachbarte Kirche und einige weitere Bauten im Dorf. Oberflächen Die Konstruktionshölzer im Strickbau werden normalerweise nicht nach dem Einbau geputzt.217 Se behalten die gehobelte Oberfläche, die vor dem Abbund zugleich mit dem Fräsen von Nut und Kamm entsteht. Aussen sind die Holzwände der Totenstube mit weisser Kaseinfarbe lasiert. Der Grund hierfür ist die gesuchte formale Annäherung an die weisse Kirche.218 Die Holzoberflächen innen sind mit Handschleifmaschinen geschliffen und mit Schellack behandelt. Dieser Lack feuert die Holzmaserung an und gibt einen starken, fast speckigen Glanz, den man sonst nur von (antiken) Möbeln kennt. Im Möbelbau gilt Schellack als sehr hochwertig, seine Anwendung ist sehr aufwendig. In Verbindung mit den massiven Hölzern ist jedoch eine ‹perfekte›, genau determinierte Oberfläche nicht zu erreichen. Schmuck Es gibt keine expliziten Ornamente am Gebäude. Bei den vertikalen Lisenen neben den Fenstern wurden durch die Zwänge der Konstruktion entstehende Eigenheiten ornamental eingesetzt. Sie entstehen aus der nötigen Vorholzlänge der Schwalbenschwanzverbindungen. Durch ein zusätzliches kleines Vordach über den Fenstern bilden sie einen L-förmigen Rahmen und unterstützen die Räumlichkeit der Fensternische. Die Fenster selbst sind bewusst dreidimensional und mit ins Räumliche greifenden Elementen konzipiert. Fichte, werden hier oft die Stämme im Kern getrennt und dann kernaussen wieder verleimt. 216 Die Oberfläche sieht aus wie mit einem feinen Stockhammer bearbeitet; Abstandhalter der Bewehrungseisen sind an manchen Orten sichtbar. 217 Unter ‹Putzen› versteht man die Oberflächenbehandlung von Holzoberflächen vor dem Anbringen von Farben oder Beschichtungen. Vgl. Gerner 1984: «putzen: 1. allg. alle Sauberarbeiten, Grate entfernen usw.» 218 Diese Diskrepanz zwischen tatsächlicher Materialisierung und Erscheinung betont den ambivalenten Charakter des Baus; zwischen weltlich und geistlich, zwischen Alltag und Ausnahmesituation, zwischen pragmatisch und existenziell. 117 Im Uhrzeigersinn: Treppenraum / Die eigentliche Stube im Obergeschoss / Die Totenstube vom Friedhof aus gesehen / Wo Hölzer mit senkrecht zueinander verlaufender Faser zusammentreffen, müssen Ausdehnungsräume vorgesehen werden. 118 Das Dorf weiterbauen: die Totenstube Rahmenbedingungen Absicht Der Entwurf der Totenstube basiert auf dem Wunsch, nicht nur einen Aufbahrungsraum, sondern einen neuen Ort für das traditionelle Ritual der Aufbahrung zu schaffen. Das bedeutet das Überführen von Traditionen in die Zukunft, jedoch keinen Selbstzweck. Sie sind für Caminada Teil des Dorfes als einer Gemeinschaft. Ihr Weiterführen gehört zum Bestreben, den Ort, das Dorf zu stärken. Der Anspruch des ‹Weiterbauens› beschränkt sich nicht auf das Ortsbild, sondern umfasst auch soziale Funktionen des Ortes. Die genannte Absicht bedeutet für den Ausdruck, dass es möglich sein muss, diesen im Dorf zu verorten. Entwurfsentscheidungen wurden im Detail aus dem physischen Kontext hergeleitet, um Bezüge zur direkten Umgebung herzustellen. Die Strickbau-Konstruktion ist dabei die wichtigste Referenz, gleichzeitig bietet sie auch ein starkes Regelwerk, um Entwurfsentscheidungen zu begründen. Die Verwendung regionaler Materialien und deren Veredelung durch lokales Handwerk entstammt ebenso aus dieser Absicht. Zum Stärken des Ortes gehört auch die regionale Wertschöpfung. Bewusst wurde ein handwerklicher Ausdruck gesucht. Dies ist bei der Dachdeckung der Fall, bei den handgeschmiedeten Beschlägen und natürlich bei der Strickbaukonstruktion. Schliesslich ist auch das Erzeugen von Konnotationen gewünscht. Die Schellack-Lackierung innen ist eine Spur menschlicher Arbeit, die an sich nicht notwendig gewesen wäre. In diese Oberfläche wurde also mehr Zeit und Sorgfalt investiert als nötig, was ihr bewusst eine besondere Bedeutung verleiht. Der Entwurf instrumentalisiert die Fertigung zum Generieren von Bedeutung. Wichtig ist, dass eine ‹entfremdete› Sichtweise auf das Dorf und die Bergwelt unbedingt vermieden werden sollte, vielmehr wurde eine Selbstverständlichkeit der Entwurfsentscheidungen angestrebt. Für die Langlebigkeit aller angewandten Techniken und Materialien sind die umliegenden Bauten Referenz. Sie wird praktisch nur durch konstruktiven Holzschutz gewährleistet. Beschränkung Auch bei der Totenstube gibt es eine Beschränkung, die nicht von aussen, sondern aus dem 119 Entwurfskonzept kommt. Der Entwurf beschränkt die Mittel auf die regionalen und durch örtliche Referenzen legitimierten Materialien und nähert sich damit einer Vorgehensweise an, die auch für traditionelle Typologien bestimmend ist. Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Zimmerer Claudio Alig bezeichnet den Abbund eines Strickbaus als ‹kompliziert›. Neben der konkreten Herstellung der Verbindungen gibt es auch bei der Anordnung und Auswahl der Hölzer Entscheidungsfreiraum für die Ausführenden. Das Schwierige am Strickbau ist das vorausschauende Umgehen mit dem Setzmass der Hölzer. Um die Holzbewegungen zu antizipieren, ist praktische Erfahrung notwendig. Aber auch die Montage braucht Erfahrung.219 Hier gibt es zwar scheinbar kaum Entscheidungsfreiraum, da die Geometrie der Hölzer deren Lage festlegt. Tatsächlich aber gibt es durchaus die Möglichkeit, Balken beim Einbau zu verkanten oder in leicht versetzter Lage einzubauen; nach dem Einbau ist der Balken kaum mehr lösbar, da es sehr wenig Spiel in den Verbindungen gibt. Die Dübellöcher sind darüber hinaus leicht versetzt gebohrt, so dass die Dübel die Balken in den Stoss hineinpressen, was ein nachträgliches Korrigieren weiter erschwert. Beim Einbau muss das Verhalten des Balkens vorhergesehen werden, wozu es direkter physischer Erfahrung bedarf. Regelmässig muss die Lage der Hölzer kontrolliert werden. Beim Aufrichten braucht es teils schwere Werkzeuge wie Spanngurte, Hebel und schwere Schonhammer, die aber sehr dosiert eingesetzt werden müssen. Das Aufrichten eines Stricks kann laut Claudio Alig nicht von unausgebildeten Leuten durchgeführt werden. Beim Strickbau ist das Können und Wissen auf der dritten Stufe – also das Überblicken nicht nur des vorliegenden Arbeitsschrittes, sondern auch dessen Einbetten in den Gesamtkontext des Bauprozesses – entscheidend, da die Konsequenzen vieler Massnahmen erst nach der Aufrichte und mit dem Setzen des Holzes, im Extremfall erst nach Jahren, dann aber sehr eindrücklich zu Tage treten. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Trotz des hohen Anteils an regulierter Umsetzung kommt im Prozess immer wieder riskante Fertigung vor. Dies gilt vom Handabbund über die Aufrichte, die Herstellung der Einbauten, die Oberflächenbehandlung, die Herstellung der Beschläge bis hin zur Dachdeckung. Diese menschliche Interaktion ist für die meisten erkennbaren Bearbeitungsspuren verantwortlich. 219 Claudio Alig (Alig 2015) spricht von ‹Gefühl›. Nach seiner Einschätzung können zwei ausgebildete Zimmerer und zwei ‹nicht ungeschickte› Handlanger ein Bauwerk wie die Totenstube aufrichten. 120 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Manche Spuren sind Hinweise darauf, dass die Bearbeitenden die Angemessenheit der Ergebnisse selbst beurteilten. Bei jedem Flickzapfen wurde das passende Holzstück hinsichtlich Farbe, Art und Breite der Maserung ausgewählt, beim Einbau wurde auf eine übereinstimmende Faserrichtung geachtet. All dies bedeutet keinen grossen zeitlichen Mehraufwand, setzt aber die Beurteilung der Ergebnisse und ein Bewusstsein für die jeweilige Wirkung voraus. Vorliegende Fertigungsweisen In allen Schritten der Fertigung nach der Materialaufbereitung liegen handwerkliche Arbeitsschritte vor. Besonders der Dachstuhl war ein sehr komplexer Handabbund, da die beiden Firstpfetten nicht rechtwinklig aufeinandertreffen und nicht waagerecht liegen. Alle Konstruktionshölzer kamen zur Aufrichte einzeln nummeriert zur Baustelle. Einen Sonderfall stellt die Oberflächenbehandlung im Inneren dar. Nicht nur ist das Schleifen der Strickwände unüblich. Schellack wird in der Regel zum Herstellen von makellosen, hochglänzenden Möbeloberflächen verwendet, was eine entsprechend penible Vorbereitung des Untergrundes bedeutet. Hier wurde grob geschliffen und auch grob aufgebracht. Man kann davon ausgehen, dass nicht Unkenntnis der Grund hierfür war: Der Architekt ist selbst ausgebildeter Schreiner, seine Sensibilität für die Wirkung von Oberflächen ist an anderer Stelle im Haus und an anderen Projekten offenkundig. Hier wurde also bewusst ein Material (Schellack) entgegen den Regeln der Kunst und in einem ungewohnten Kontext verwendet, um einen bestimmten Ausdruck zu erreichen. Man kann hier von einer angemessenen Bearbeitung der Oberflächen Angemessenheit von Ausführenden beurteilt Arbeitsschritt Materialaufbereitung Abbund Aufrichte Ausbau Menschliche Interaktion ('Risiko') Totenstube Können und Wissen der Ausführenden nötig sprechen. Eine besondere Behandlung des Bauwerks im Inneren ist durch die Absicht legitimiert; 10.05.16 Fertigungsweisen eine Behandlung des Innenraums in Möbelqualität wäre hingegen zu viel gewesen. 1 • • • • 2 x • • • 3 • • • • Fertigungsweise determinierte Fertigung determinierte Fertigung / Handwerk Handwerk / qualifizierte Fertigung Handwerk 121 Prozess Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung Auf dem Gemeindegebiet gefällte Fichten wurden in der Zimmerei mit einer Vierseithobelmaschine gehobelt. Auch Nut und Kamm wurden hier angebracht. Diese Arbeitsschritte sind regulierte Umsetzung. Der Abbund fand in der Zimmereihalle als Handabbund mit Elektro-Handmaschinen statt. Die Abbundpläne – konkrete Pläne der einzelnen Bauteile – wurden in der Zimmerei angefertigt.220 Auch hier handelt es sich weitgehend um regulierte Umsetzung, da die Holzverbindungen mit grosser Passgenauigkeit angefertigt sind. Auch die Aufrichte ist reguliert, da minimale Abweichungen beim Zusammensetzen der Balken zu klaffenden Fugen führen. Die Geometrie des Hauses und die konstruktiven Details konnten genau determiniert werden. Die Bearbeitung der einzelnen Hölzer, die Oberflächenbehandlung, viele minimale Details (das illustrative Beispiel sind die besagten Flickzapfen) sind in ihrer genauen Erscheinung nicht vorher bestimmbar, so dass deren genaue Ausführung bei den Ausführenden lag. Aber auch hier kann von determinierter Fertigung gesprochen werden. Die Dachdeckung ist hingegen eine extreme Form der freien Fertigung; ihre Geometrie ist bis in einen bestimmten Massstab planbar, die tatsächliche Form hingegen wegen der enorm heterogenen Steinplatten nicht. Umgang mit Toleranzen Der Umgang mit Setzmassen ist ein wichtiger Planungsfaktor beim Strickbau. Die Bewegungen des Holzes sind quer zur Faser am grössten. Da sich diese Bewegungen beim Strickbau über die ganze Wand hinweg addieren, sind die Setzungen extrem.221 An Stellen, wo Längs- auf Querholz trifft oder wo starre Bauteile wie Fenster eingebaut sind, müssen entsprechende Toleranzräume vorgesehen werden. Das genaue Setzmass ist nicht auf den Millimeter genau vorauszusehen. So weisen die Wandständer minimale Fugen auf. Das Holz muss sich in der ganzen Konstruktion gleichmässig setzen können, damit keine Zwängungen entstehen. Dass die Sockelwände aus Beton abgetreppt sind und die Strickwände 220 Heute werden hierzu meist in spezialisierten Holzbau-CAD-Programmen dreidimensionale Modelle konstruiert, die für jeden Balken automatisch einen eigenen Abbundplan auswerfen können; so auch bei der Zimmerei Alig. Dies wurde bei der Totenstube jedoch noch nicht angewandt. 221 Vgl. Büchner 2011, S. 4: «Nach der Länge in der Faserrichtung ist das Schwinden sehr gering, aber quer zur Faser ist es bedeutend und ungleichmässig. Auch altes, lange gelagertes Holz arbeitet noch. Daraus folgert, dass auf das ‹Arbeiten› grösstmöglicher Bedacht zu nehmen ist. Ohnedem wäre das Tischlergewerbe in vollem Umfange zu erlernen, nicht so schwer.» 122 nicht auf einer Höhe gründen, ist also konstruktiv sehr problematisch. Aus diesem Grunde wurden die inneren Schalen der doppelten Aussenwände alle bis auf das Niveau des Untergeschossbodens geführt. Die äusseren Schalen sind an diese angehängt; sie ruhen also nur optisch auf den abgetreppten Sockeln. So konnte beim Bau zwischen äusserer Wandschale und Sockel ein Spalt gelassen werden, welcher ein nachträgliches Setzen des Holzes erlaubte. Auf Fotografien aus der Zeit kurz nach dem Bau sind diese Setzungsfugen zwischen den Strickwänden und einer auf dem Betonsockel liegenden Schwelle noch zu sehen. Heute sind sie geschlossen. Dieses Detail ist kaum sichtbar. Wäre es nicht beachtet worden, hätte es im Bereich der Stufen enorme Setzungsspannungen und sehr wahrscheinlich Schäden gegeben. Hier war besondere Sorgfalt der Detaillierung und ein grosses Verständnis der Bewegungen des Holzes nötig, um eben keine Spuren zu hinterlassen. Diese Komplexität liegt hier vor allem in der Vorbereitung, im Voraussehen von Problemen. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Es gibt wenige Spuren des Herstellungsprozesses am Gebäude. Die Montage hat keine Spuren im weichen Nadelholz hinterlassen, was ein Zeichen für die notwendige besondere Sorgfalt ist. Obwohl vereinzelte Spuren durchaus erkennbar sind, bestimmen sie den Ausdruck nicht mit. Im Entwurf wurden jedoch einige Techniken festgelegt, die bewusst Spuren hinterlassen, wie die Oberflächenbehandlung222, die handgeschmiedeten Türgriffe und die Dacheindeckung. Die Oberflächenbehandlung ist verantwortlich für im Nahbereich sichtbare Spuren im Innenraum. Sie wurde vom Architekten persönlich mit Handschleifmaschinen und Schellack hergestellt. An einzelnen Stellen gibt es konstruktive Details, an denen Spuren der Herstellung blieben; hier sind Bleistiftanrisse, Werkzeugspuren und teilweise kleine Ungenauigkeiten zu finden. Die Auffassung des Architekten Gion Caminada ist 223, dass je nach Konzept Spuren oder geometrische Unschärfen eine Bereicherung für ein Haus sein können, anstatt als Fehler zu wirken. Die Spuren wurden also als Faktor der Konzeptionierung einbezogen und antizipiert, somit zumindest geduldet. Der Entwurf nutzt die Eigenschaften des Materials Holz, um Diversität im Nahbereich herbeizuführen. Die Spuren sind ein weiterer Schritt hierzu. 222 Die Spuren der Oberflächenbehandlung hätten bei grösserem Zeit- und Arbeitsaufwand (Hochschleifen mit niedrigerer Körnung) stark minimiert werden können. 223 Caminada sagt hierzu, ein «starkes Haus», das beispielsweise auf einer durch die Konstruktion vorgegebenen starken Gesetzmässigkeit beruht, vertrage auch Unperfektion an Geometrie oder Oberfläche, ohne dass der Ausdruck als fehlerhaft wahrgenommen werde (Caminada 2015a). 123 Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Die Verantwortung für das Gelingen des Bauwerks war zwischen Planenden und Ausführenden verteilt. Die Ausführungsplanung beruhte stark auf handwerklicher Erfahrung. Die Verantwortung für das Ergebnis eines Arbeitsschrittes erstreckte sich auch über die jeweils nachfolgenden Schritte. Dies gilt für die Auswahl und Aufbereitung des Holzes, den Abund, die Aufrichte, die Oberflächenbehandlung sowie den Ausbau. An vielen Stellen liegt also eine integrale handwerkliche Fertigung vor. Der Bau der Totenstube war ein handwerklicher Prozess. Obwohl die Totenstube ein zeitgenössisches Gebäude ist, beruht ihre Konstruktion auf den überlieferten Typologien des Strickbaus. Viele Entscheidungen im Detail können während der Ausführung mit dieser kollektiven Erfahrung referenziert werden, anstatt mit einem genauen Plan. Dazu kommen interne Konventionen eines Betriebes, die noch viel mit traditionellen Qualitätsansprüchen zu tun haben. Ausdruck der Fertigung Beschreibung Bei der Totenstube manifestiert sich die Fertigung in einem organischen und selbstverständlichen Ausdruck. Hinzu kommt geometrische Präzision. Der Ausdruck der Fertigung verortet das Bauwerk im Dorf. Obwohl die Strickhölzer nicht gefast sind, sind sie doch durch die leicht klaffenden Fugen und durch die Rissbildung klar als einzelne Komponenten erkennbar. Die Wände wirken nicht wie homogene Flächen. Ihre erkennbare Addition aus Einzelteilen lässt das Zusammensetzen des Stricks im Ausdruck fassbar werden. Die Verstrickung der Wände in den Ecken und den Fenstern verleihen der Struktur Plastizität. Innen wurde diese konstruktive Notwendigkeit genutzt, um die entstehenden Ecken, Vorstösse oder sogar Hohlräume zur Gliederung oder für Einbaumöbel zu nutzen. Gerade die starken Zwänge des Strickbaus tragen zum organischen Ausdruck bei und verbinden die ablesbaren, einzelnen Komponenten zu einem Ganzen. Die Verschränkung aller Teile ineinander ist sehr direkt erfahrbar, bis hin zu den Treppenstufen oder der Brüstung an deren oberen Ende. Die Regeln der Konstruktion bestimmen die Selbstverständlichkeit des Ausdrucks. Ihre Wirkweise ist überall klar nachvollziehbar. Bestimmend hierfür ist das Ruhende der liegenden Hölzer. Nirgends werden sichtbar Momente oder Biegespannungen vom Holz aufgenommen; alles liegt. Die Massivität der Holzwand ist lesbar, ohne an jene einer Mauer heranzureichen. Die 124 Ausgestaltung der Ecken und der Fensternischen zeigen die tatsächliche Schwere der Wände nach Aussen. Die Stärke der Strickhölzer liegt klar über der einer reinen Verbretterung; dies ist optisch durch Risse, Fugen und sichtbare Stirnholzflächen, aber auch akustisch wahrnehmbar. Die Fertigungsweise mit zeitgenössischen Werkzeugen und in meist regulierter Umsetzung bedeutet eine starke geometrische Präzision, die durch das Material gemildert wird. Die Struktur des Holzes – Maserung, Rissbild, Fugen, ergänzt durch die Bearbeitungsspuren und die Oberflächenbehandlung – ist zwar in der Art immer gleich, in der einzelnen Ausformung jedoch stets individuell und kontrastiert so die starke Regelmässigkeit der Hölzer und der Details. Risse, Faserstruktur und besonders die Fugen geben dem Holz eine hohe Plastizität, die aussen durch Verwitterung und den leicht körnigen Anstrich noch erhöht ist. Diese nimmt im Nahbereich zu; Betrachtende sind ‹nahe am Gebäude›. Dennoch sind die Fertigungsspuren für den Ausdruck weniger wichtig als die Referenz auf die Konstruktion und die sorgfältige Ausführung. Formate und Anordnung der Fenster rücken das Haus in die formale Nähe der Wohnhäuser des Dorfes, die weisse Farbe betont jedoch die Zugehörigkeit zur benachbarten weissen Kirche. Dies und die Schellack-Lackierung erzeugen eine Andeutung von sakraler Erhabenheit. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Obwohl das Bauwerk klar in der heutigen Zeit verortet werden kann, vor allem durch die Präzision der Bearbeitung und die relative ‹Spurlosigkeit› der Fertigung, ist es durch die Konstruktionstypologie des Strickbaus, das Material und Entwurfsentscheidungen wie Kubatur und Fenstermasse im Dorf verankert. Handwerk wird hier benutzt, um Material zu veredeln und das Dorf weiterzubauen. Es ist mit einer grossen Selbstverständlichkeit eingesetzt. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Das ist meist der Fall. Eine Ausnahme bildet die erwähnte Massnahme, wie im Bereich der abgestuften Hangstützmauern aus Beton mit den Setzmassen umgegangen wurde. Der äussere Strick liegt nicht wirklich; tatsächlich hing diese Wand, bevor sie sich mit der Setzung langsam auf die Mauern senkte. Der vor allem durch die Strickbaukonstruktion erzeugte handwerkliche Ausdruck beruht auf tatsächlicher handwerklicher Fertigung und wird durch kleine Hinweise in Form von minimalen Spuren unterstützt. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Er beruht auf der Grundentscheidung, die traditionelle Strickbau-Typologie mit zeitgenössischen Mitteln handwerklich zu adaptieren. Innerhalb deren Regeln entsteht der handwerkliche Ausdruck. Durch kleine Details wie die handgeschmiedeten Türdrücker oder den Schellack wurde er sorgfältig austariert. 125 Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Die Totenstube fügt sich zwischen weltlicher und sakraler Zone in das Dorf ein / Handgeschmiedete Garderobe / Spuren des Handabbundes / Die Totenstube vom Friedhof aus gesehen / Fenster als räumliches Element / Bearbeitungsspuren der Oberflächen im Nahbereich. Unten: Holzstruktur, Farbe, Verwitterung und Konstruktion bedeuten eine hohe Diversität. 126 127 128 5. Ferienheim Büttenhardt: Analyse Geschichte Das Gebäude wurde 2008 bis 2010 als Ersatz für das alte Ferienheim einseitig an einen einzeln stehenden Bauernhof auf einer Waldlichtung angebaut. Es dient als Wohnheim für Jugendliche und beherbergt eine kleine Gastronomie im Erdgeschoss. Baukörper Der dreistöckige Holzbau mit flachem Walmdach steht auf einem massiven Kellergeschoss. Die Fassaden sind durch die Konstruktionshölzer klar geschossweise gegliedert. Im Erdgeschoss springt die Gebäudehülle hinter der Fassade zurück und macht für eine umlaufende Loggia Platz, welche aussen mit einem Holzgitter in Fassadenebene abgeschlossen ist. In der Ansicht hebt sich dieses Sockelgeschoss so von den beiden Obergeschossen ab. Die Fenstertüren haben in allen Geschossen dieselben Dimensionen und wirken als vertikale Elemente in der sonst horizontal gegliederten Fassade. Im Grundriss ist das Bauwerk durch zwei innere Achsen parallel zu den Schmalseiten annähernd gedrittelt. In der Mitte der Obergeschosse liegt eine zweigeschossige Halle, welche auch die Treppe aufnimmt. Die beiden flankierenden Bereiche sind jeweils ein weiteres Mal unterteilt, so dass von der Halle ohne weitere Erschliessungsflächen in jedem Geschoss vier Räume abgehen. Das Kaltdach ist nicht ausgebaut. Konstruktion Bestimmend für die Konstruktion ist die Verwendung vor Ort gewonnenen Laubholzes. Massive Laubholzquerschnitte sind schwierig zu trocknen und neigen dabei zum Verwerfen und Reissen. Diesem Problem wurde dadurch begegnet, dass der Kern der Balken von beiden Seiten ausgebohrt wurde. Bei einer Länge des Bohrers von 2,60 Metern erlaubt das eine maximale Bauteillänge von 5,20 Metern. Durch die Bohrung konnte die Trocknung stark beschleunigt und die Trocknungsspannungen im Holz verringert werden.224 Das Bauwerk gründet auf der betonierten Decke des massiven Kellergeschosses und besteht aus 224 Nach Aussage des Zimmerers Michael Koller wurde nach einem Jahr Lufttrocknung bei Querschnitten von 20 x 20 cm bereits eine Holzfeuchte von nur noch ca. 23 % gemessen. Für die Lufttrocknung von Eiche gilt die Faustregel, dass das Holz pro Jahr 1 cm in die Tiefe trocknet, das heisst die Balken müssten nach dieser Faustregel 10 Jahre trocknen (da sie von beiden Seiten trocknen, halbiert sich die Zeit). Bei den Balken, bei denen der Kern durch das Ausbohren entfernt wurde, gab es sehr wenig Risse, bei solchen wo der Kern durch die Bohrmaschine nicht genau getroffen werden konnte, war die Rissbildung grösser, jedoch nicht vergleichbar mit einem ungebohrten Stamm. 129 stockwerkweise gezimmerten Wänden und darauf liegenden Deckenplatten225, welche wiederum die nächsten Wände aufnehmen. Die Ebene der Deckenelemente wird aussen durch ein eichenes Futterholz verdeckt. Die Elemente definieren die Konstruktion kaum. Einerseits ist das Erdgeschoss nicht in Elementen gefertigt, ausserdem sind die Decken eher vorgefertigte Bauteilbündel, die während des Transportes mit provisorischen Massnahmen stabilisiert wurden und am Bauwerk nicht mehr als einzelne Elemente wirken. Die Wandelemente schliesslich ‹teilen› sich tragende Bauteile. Es gibt keine Dopplungen der vertikalen Konstruktionshölzer an den Stössen.226 Die Elemente sind also nur teilweise in sich stabile Platten beziehungsweise Scheiben.227 Die Lastabtragung der Wände geschieht über die meist sichtbaren Wandständer, lediglich in den Innenwänden gibt es zusätzliche, unter der Beplankung verborgene tragende Hölzer. 228 Die Aussteifung der Fassaden übernimmt die massive, diagonale Ausfachung von zehn Zentimetern Stärke, bei den Innenwänden die Beplankung. Vereinzelt existiert eine dreidimensionale Verzahnung von Bauteilen über die Elemente hinweg, wie in den durchgehenden Schwellen im Erdgeschoss und den Horizontalen in Deckenebene. Die Decken, die ausgesteifte Wandrahmen der Geschosse und die Innenwände sind klar voneinander getrennt. Zwischen den sichtbaren Deckenbalken liegen eingenutete Fehlböden, die mit den Deckenbalken verschraubt sind. 225 Dies ist heute nicht mehr ohne Alternativen. Durch weiterentwickelte Verbindungsmittel und durch entsprechend leistungsfähige Schrauber mit hohem Drehmoment ist es möglich, Deckenauflagerbalken von innen an die durchgehenden Aussenwandelemente zu schrauben. Das ist im Prinzip eine Rückkehr zum Geschossbau, bei dem die tragenden Vertikalen über die Geschosse hindurchgehen. Gründe sind Effizienzsteigerung, Vereinfachung der Planung, Vermeiden von Setzmassen und die Möglichkeit, die immer stärkeren Dämmschichten und die Winddichtungsschichten an den Aussenwänden ohne Unterbrechungen durchlaufen lassen zu können, vgl. z. B. Würth 2015. 226 Das Fügeprinzip ist also eher CCO anstatt OOO. 227 Das Gebäude ist damit technisch ein Rahmenbau: «Die tragenden Elemente bestehen aus geschossweise abgebundenen Kantholzrahmen, die durch eine flächige Verschalung oder eine Diagonalschalung ausgesteift werden.» (Deplazes 2008, S. 98). Beim Tafelbau tragen hingegen nicht mehr die Stäbe, sondern die ganze in sich ausgesteifte Platte. Der klassische Riegelbau hingegen ist ein Skelettbau, bei dem die Tragstruktur aus Stäben in sich bereits standfest und ausgesteift ist. 228 Da diese Wände nur im 1. und 2. OG vorkommen, sind sie als Träger mit Ober- und Untergurt ausgebildet. Die Gurtung wird von Rähmen und Schwellen übernommen, die Beplankung mit geklammerten Dreischichtplatten gewährleistet die Scheibenwirkung. 130 Im nicht sichtbaren Bereich sind metallische Holzverbindungsmittel, vor allem Schrauben, flächendeckend verwendet worden. Bei der Primärkonstruktion dienen sie in erster Linie zur Lagesicherung. Die Elemente sind verdeckt geschraubt, die Konstruktionshölzer sind nicht durch Holzverbindungen verbunden. Die diagonalen Schalungen sind ebenfalls verdeckt mit den Konstruktionshölzern verschraubt.229 Die Ausfachungen sind als Aussteifungen statisch wirksam. Im Unterschied zur klassischen Bohlenständerkonstruktion können sich die Hölzer also nicht frei in den Nuten bewegen. Durch technische Trocknung vor Einbau ist das Arbeiten jedoch minimiert. Die Haupt-Deckenbalken im Erdgeschoss, welche die Untergurte der tragenden InnenwandScheiben darstellen, bestehen aus mehreren, in einer Achse liegenden Balken, die längs stumpf gestossen sind.230 Im ausgebohrten Kern verläuft je eine Zugstange, welche die Verbindung zusammenhält und die Zugbelastung des Balkens übernimmt. Der konstruktive Holzschutz bestimmt die Geometrie der Hölzer. So ist auf den Horizontalen in Deckenebene oben ein Kamm stehengelassen worden, über den die Elemente mit Nuten aufgesetzt werden und der das Eindringen von Wasser in die Wand verhindert. Horizontale Flächen auf Konstruktionshölzern sind nach aussen abgeschrägt. Bei den Fenstern mussten wegen zu erwartender Durchbiegungen Toleranzräume vorgesehen werden. Material Die Buchen- und Eichenstämme wurden in Baustellennähe gefällt und dort mit einer mobilen Blockbandsäge zu Kanthölzern geschnitten. Anschliessend wurde der Kern ausgebohrt. Zusätzlich zur Lufttrocknung wurde über drei Monate mechanisch getrocknet.231 Aus Eiche wurden die Primärkonstruktion im bewitterten Bereich, die Fensterelemente sowie die Gitterstruktur im Erdgeschoss erstellt. Aus dem wenig witterungsbeständigen Buchenholz bestehen alle innen sichtbaren Holzteile mit Ausnahme der Einbauten im Erdgeschoss.232 Das 229 Verwendete metallische Verbindungsmittel sind: Holzschrauben zur Befestigung der Sparren an Pfetten und Gratsparren, Holzschrauben (Ausfachungen), Vollgewindeschrauben (z. B. bei Gurten der Innenwände), Klammern an Beplankungen innen (statisch berechnet), Zugstäbe zur Längsverbindung der Gurte der tragenden Innenwände, Ringdübel an stumpfen Längsstössen. 230 Durch Ringdübel werden die Balken gegen Verschieben zueinander fixiert. Über einen Zugstab im ausgebohrtem Kern wird eine Vorspannung erreicht, so dass diese Verbindung auch Biegenmomente aufnehmen kann. Diese Verbindung erlaubt dennoch minimales Verdrehen. 231 Insgesamt also 5/4 Jahre Trocknungszeit. 232 Nach Aussage von Benjamin Widmer bestanden bei den Architekten anfangs Bedenken, ob die Mischung verschiedener Holzarten am Gebäude zu heterogen wirken würde. Diese Bedenken wurden zerstreut, zumal im Inneren die meisten Wandflächen aus weiss gestrichenen Gipsfaserplatten bestehen. (Widmer 2015). 131 sind die Primärkonstruktion im Innenraum, die Fehlböden der Deckenuntersicht, die Böden und die Treppe. Die Ausfachungen der Fassaden und die Fenster in den Obergeschossen bestehen aus Kiefer, während für alle nicht sichtbaren und nicht dem Wetter ausgesetzten Konstruktionshölzer das preiswertere Fichtenholz verwendet wurde.233 Oberflächen Die aussen sichtbaren Oberflächen der Konstruktionshölzer sind sägeroh belassen, während die Ausfachungen gehobelt sind. Im Inneren wurden sichtbare Oberflächen von Konstruktionshölzern mit Handhobeln geputzt. Es gibt keine Oberflächenbehandlung durch Beschichtungen oder Imprägnierungen. Schmuck Es gibt keine Ornamente im eigentlichen Sinn. Füllelemente wie die gekreuzten, diagonalen Holzgitter vor der Veranda im Erdgeschoss oder die Brüstungsgeländer vor den Fenstertüren in den Obergeschossen wirken dennoch ornamental, ihre Form ist sicher nicht nur technisch bedingt. Die Eichenrahmen der Loggien im Erdgeschoss sind minimal gefalzt, um «grob und fein voneinander abzusetzen»234. Die Wirkung der Ausfachungen wird von ebenfalls diagonal beplankten Fenster-Schiebeläden aufgenommen. Diese Formen sind nicht unmittelbar während der Bearbeitung entstanden, sondern wurden im Entwurf festgelegt. 233 Insgesamt verwendet wurden an Eiche 26,5 m3, an Buche 44 m3, an Fichte 56,5 m3 und an Föhre 10,5 m3 verwendet (vgl. Bernath, Widmer. o. J). 234 132 Widmer 2015. Im Uhrzeigersinn: Die zentrale Halle in den Obergeschossen / Die Innenwände sind zwischen den Konstruktionshölzern glatt weiss gespachtelt / Die Gitterstruktur der Loggia / Die Beiz im Erdgeschoss / Der stumpfe Stoss des Unterzuges ist nur durch den im ausgebohrten Kern verlaufenden Zugstab möglich. 133 Das konkrete Material: Ferienheim Büttenhardt Rahmenbedingungen Absicht Absicht des Entwurfes ist das Verwenden der auf dem Grundstück selbst gewonnenen Laubhölzer.235 Hinzu kommt der Aspekt der Nachhaltigkeit und des Reduzierens von Energieverbrauch während der Herstellung. Das Material steht im Zentrum des beabsichtigten Ausdrucks. Der Solitär auf der Waldlichtung sollte als «Erhaben» 236 inszeniert werden, um das Baumaterial umzudeuten: Das Laubholz als das Rohmaterial des Hauses wird sonst meistens für Brennholz verwendet und ist so eigentlich ein ‹Abfallprodukt› der Forstwirtschaft. Um dieses Bild in Frage zu stellen, wurden als Referenz für die Form des Bauwerks explizit italienische Palazzi der Renaissance herangezogen. Zudem wurde gezielt ein Ausdruck des «Unperfekten» und «Rohen» 237 gesucht, welcher das verwendete Material thematisieren sollte. Dies beeinflusste Entwurfsentscheidungen wie die unregelmässigen Fasen, die sägerohen Oberflächen und das Zulassen von Rissen. Die Konstruktion referenziert historische Bohlenständerbauten. Für die Architekten sind konstruktive Themen Mittel zum Legitimieren von Entwurfsentscheidungen. Die Nuancierung der Oberflächen eine bewusste Geste zum Erreichen des gewünschten Ausdrucks.238 Beschränkung Beim Ferienheim Büttenhardt gibt es eine im Konzept festgelegte Beschränkung auf bestimmte Materialien und deren Bearbeitung. Zum einen wurde das zu verwendende Material so weit es ging auf das vorhandene Holz beschränkt. Zudem sollte möglichst wenig Energie beim Bearbeiten der Hölzer aufgewendet werden. Auf ästhetischer Ebene wurde die Zahl der verfeinernden Zwischenschritte vom rohen Holz zum fertigen Bauwerk reduziert. 235 Heiri Bührer aus Bibern, der Entwickler der Langholzbohrmaschine, überzeugte den Bauherrn, mit Holz aus dem eigenen Wald zu arbeiten. 236 Widmer 2015. 237Ebd. 238 134 «Feine Gesten», ebd. Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Der Zimmermeister Michael Koller stand an der Schnittstelle zwischen Planung und Ausführung. Er bearbeitete die Ausführungspläne der Architekten weiter zu Abbundplänen. Architekt Roland Bernath ist als Zimmerer ausgebildet und verfügt so über Erfahrung mit den zu erwartenden Problemen. Vor allem der konstruktive Holzschutz war sehr anspruchsvoll in der Ausführungsplanung.239 Qualifizierte Ausführende mit Erfahrung waren beim Bau essentiell. Der Abbund mit Handwerkzeugen, Handmaschinen und vereinzelten stationären Maschinen sowie das Anreissen von Hand erfordert Können und Wissen. Zwar sind alle Arbeiten nach detaillierten Plänen durchzuführen, dennoch ist diese Arbeit ohne ein Verständnis der Einbindung des jeweiligen Bauteils oder Elementes in die Gesamtkonstruktion praktisch nicht denkbar. Zum Beispiel müssen Fertigungstoleranzen an den Passungen eingeschätzt und bei Bedarf manuell nachgearbeitet werden. Das individuelle Abschätzen und Beurteilen der Materialqualität vor Ort war zentral und begann mit dem Auslegen der gefällten Stämme auf der Lichtung in der Nähe des Bauplatzes. Über den ganzen Prozess hinweg (Fällen, Zuweisung der späteren Verwendung, Grobzuschnitt, Ausbohren des Kerns, endgültiger Zuschnitt nach dem Trocknen, Abbund und Einbau) war eine Beurteilung des Materials notwendig. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Viele der hier angewandten Arbeitsschritte erfordern riskante Fertigung, unabhängig ob Handmaschinen oder Handwerkzeuge zum Einsatz kommen. Obwohl die Maschinen eine regulierte Umsetzung ermöglichen, hängt auch bei dieser Form der Bearbeitung das Ergebnis weitgehend vom Können und der Sorgfalt der Bearbeitenden ab. Die wichtigsten Spuren situativen Reagierens entstanden beim Fasen der Balken mit dem Beil. Sie hatten offensichtlich an den Kanten leichte Reste von Splintholz. Diese wurden vor dem Abbund entfernt, so dass die Hölzer nicht immer vollkantig sind. Die Kanten vieler Balken sind daher nicht scharf, sondern organisch dem Faserverlauf folgend geschwungen.240 Entschieden wurde das von den Architekten, die genaue Ausführung lag bei den Zimmerern. 239 Koller 2015 240 Man könnte auch sagen, dass das Akzeptieren dieser leichten Reste eine effizientere Materialausnutzung erlaubte: Ein Querschnitt von 20 auf 20 cm ist leichter aus einem Rundholz zu gewinnen, wenn es gewisse Toleranzen bei den Kanten gibt und nicht der Anspruch auf Vollkantigkeit besteht. 135 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Es gibt keine Spuren ungenauen Arbeitens und wenig freie Umsetzung. Der Abbund musste sehr genau erfolgen, da die Passgenauigkeit der gefertigten Verbindungen teilweise nicht sofort am Gegenstück geprüft werden konnte. Die vorhandenen Spuren beruhen darauf, dass bestimmte Vorgehensweisen im Entwurf festgelegt wurden. Sehr präsent sind neben den gefasten Splintkanten die sägerohen Oberflächen. In diesem Falle bedeuteten die Spuren sogar einen Mehraufwand, da die sägerohen Hölzer besonders vorsichtig hantiert werden mussten. Allfällige Schäden können hieran nicht durch Schleifen oder Flicken behoben werden, wie bei gehobelten Balken. Dennoch sind die Spuren nicht aktiv herbeigeführt worden, sondern Ausdruck eines ohnehin notwendigen Arbeitsschrittes. Vorliegende Fertigungsweisen In vielen Phasen des Bauprozesses herrscht handwerkliche Fertigung vor. Die Einschätzung der Angemessenheit der jeweiligen Teilergebnisse und der Qualität der Verbindungen lag klar beim Können und der Sorgfalt der einzelnen Ausführenden. Die Bearbeitung des Rohmaterials in Balkenquerschnitte geschah in determinierter Fertigung, jedoch wurden die einzelnen Stämme vorher individuell beurteilt und für den jeweiligen Einsatz am Bauwerk ausgewählt. Auch bei der Aufrichte liegt handwerkliche Fertigung vor. 136 Angemessenheit von Ausführenden beurteilt Arbeitsschritt Materialaufbereitung Abbund Aufrichte Ausbau Menschliche Interaktion ('Risiko') Ferienheim Büttenhardt 10.05.16 Können und Wissen der Ausführenden nötig Fertigungsweisen 1 • • • • 2 x • • • 3 • • • • Fertigungsweise determinierte Fertigung Handwerk Handwerk Handwerk Prozess Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung Das Gebäude wurde mit zeitgenössischen, nicht-digitalen Zimmerertechniken abgebunden und errichtet. Der Abbund geschah nach genauen Plänen für jedes einzelne Bauteil mit elektrischen Handmaschinen, teilweise auch mit stationären Maschinen.241 Feinarbeiten an den Verbindungen erfolgten mit Handwerkzeugen wie Stossaxt und Stemmeisen. Die Bauteile wurden in der Abbundhalle zu Elementen zusammengebaut und diese teilweise für den Transport provisorisch verstärkt.242 Ausschlaggebend für die Elementierung war eine möglichst kurze Aufrichtzeit, da besonders das Buchenholz sehr feuchteempfindlich ist. Die verwendeten Maschinen bedingten meist eine direkte statt einer inkrementellen Bearbeitung der Hölzer und eine regulierte Umsetzung. Vereinzelt und an exponierten Stellen wurde jedoch bewusst freie Fertigung eingesetzt. Obwohl sie nur vereinzelt vorkommt, ist ihre Wirkung auf den Ausdruck im Vergleich zum tatsächlichen Anteil am Gesamtaufwand gross. Umgang mit Toleranzen Da hier mit getrocknetem Material gearbeitet wurde, mussten die Massnahmen zur Kompensation des Arbeitens der Hölzer weniger wirkungsvoll sein als beim traditionellen Fachwerkbau. Dennoch ist das Arbeiten massiver Laubhölzer sehr viel ausgeprägter als bei homogenisiertem Bauholz und keineswegs zu vernachlässigen. Dies war ein Grund für den traditionellen Abbund mit Handwerkzeugen, da so besser individuell auf Materialeigenschaften eingegangen werden konnte. Bei den Füllungen der Aussenwände wurden leicht klaffende Fugen toleriert, anstatt alle Füllungsbretter frei in Nuten mit Ausdehnungsraum anzuordnen. Die Beplankung der Innenwände besteht hingegen aus dimensionsstabilen Dreischichtplatten oder Gipsfaserplatten, welche die Bewegungen des Holzes eher absperren. Solche Kombinationen aus massivem Holz und dimensionsstabilen Plattenwerkstoffen sind nur mit getrockneten Balken möglich. In Deckenebene addieren sich die Setzmasse von Rähm, Deckenbalken und Schwelle zu insgesamt 60 Zentimetern Höhe. Da diese Ebene mit starker Setzung jedoch ununterbrochen 241 Die verwendete Abbundmaschine ähnelt einer Kreissäge mit Schiebeschlitten, bei der das Werkstück auf dem Schlitten an verschiedenen, einzeln einstellbaren Sägeblättern entlanggeschoben wird. Auf diese Weise können Verbindungen wie Zapfen oder bestimmte Querschnittsprofile in Serie hergestellt werden. Der Abbund geschah nicht im Betrieb des beauftragten Zimmerers Michael Koller in Gonten AI, sondern in einer angemieteten Halle in der Nähe der Baustelle. Die ‹klassische› Arbeitsweise erlaubte es, mit einem beschränkten Stationärmaschinenpark und transportierbaren Handmaschinen und -werkzeugen zu arbeiten. 242 Dies vor allem bei den Deckenelementen. 137 durch das gesamte Bauwerk durchgeht und sich somit auch im Ganzen setzen kann, ist hier die Gefahr des Aufbaus von Spannungen gering. Die dreidimensionale Verzahnung der Hölzer in der Fassade dient vor allem dazu, das Eindringen von Wasser zu verhindern. Dennoch können auf diese Weise auch minimale Bewegungen der Hölzer aufgenommen werden. Lediglich bei den starren Fensterelementen mussten wegen zu erwartender Durchbiegungen besondere Toleranzräume vorgesehen werden. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Am Gebäude sind die wichtigsten Spuren des Herstellungsprozesses im Entwurf vorgegeben. Zum einen sind das die Sägespuren an den Konstruktionshölzern im Aussenbereich sowie die unregelmässig gefasten Kanten der Balken. Im traditionellen Zimmern werden die Splintseiten eher nicht an der Bundseite angebracht, hier aber wurden sie bewusst auch im Sichtbereich eingesetzt. Bemerkenswert ist noch das Fehlen von Spuren der Montage an den Konstruktionshölzern. Diese wären gerade am sägeroh gelassenen Holz sehr sichtbar geblieben.243 Trotz des rohen Ausdrucks wurden also mechanische Beschädigungen und Fehler auch hier nicht toleriert. Die unregelmässigen Baumkanten aber wurden nicht als Problem gesehen, sondern als Qualität gesucht. Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Die Verantwortung für den zu erreichenden Ausdruck wurde zwischen den Architekten und den Ausführenden geteilt, da wichtige Elemente des Ausdrucks erst in der Ausführung entstanden.244 Die vielen Einzelentscheidungen, die in dieser letzten Planungsphase oder sogar auf der Baustelle angefallen sind, mussten im Sinne der Absicht und des architektonischen Konzeptes sein. Untypisch für einen heutigen Holzbau ist, dass die Materialgewinnung und -aufarbeitung nicht aus der Produktionskette ausgegliedert war. Nach dem Auslegen der Stämme wurde bereits deren spätere Verwendung festgelegt. Diese Holzliste bildete den Ausgangspunkt der Planung, nicht umgekehrt. Es gab eine Rückkopplung; nach der Planung wurde das Material ausgewählt, zugleich wurde die Planung wiederum an das vorhandene Material angepasst. Jedes einzelne Konstruktionsholz wurde vom Zimmerermeister beim Abbund individuell beurteilt und beispielsweise festgelegt, welche Seite sichtbar eingebaut wurde und welche nicht. Er fertigte für jedes einzelne Bauteil einen Plan an. Wenn es Anpassungen während der 243 244 Zimmerer Michael Koller spricht von einer «adligen Behandlung». Koller 2015. Dies kann nur funktionieren, wenn der Meister der Ausführenden entsprechend sensibel für architektonische Themen ist. Laut Benjamin Widmer (Widmer 2015) hatten die angefragten regionalen Zimmereien wegen der Unwägbarkeiten und fehlender Erfahrung mit dem massiven Holz zuerst kein Interesse. Nach der Präsentation des Mock-Up stieg das Interesse der zuerst abgeneigten Firmen jedoch wieder. 138 Ausführung gab, wurde diese meistens im Plan eingetragen und selten direkt am Material entschieden. Obwohl hier auf das vorliegende Bauholz reagiert wurde, war die Strategie des Anpassens zu einem grossen Teil auf die Planung (durch den Zimmerermeister) abgestellt und nur zu einem Teil direkt bei den Ausführenden. Die Verantwortung für das Einhalten der Pläne lag jedoch bei den Ausführenden selbst. Bei Arbeiten, die auf Plänen für ein Bauteil beruhen, genügt fragmentierte handwerkliche Fertigung, da ein Referenzieren auf das gesamte Bauwerk auf die Planungsarbeit verlagert ist. Zimmermeister Michael Koller war in der Rolle des Planenden, welcher Verantwortung und Wissen zentralisiert und in einem Computermodell festhält. Es selbst war aber teilweise auch in die Ausführung eingebunden und hat das notwendige Erfahrungswissen im Umgang mit dem Material erworben. Hier sind also die Verantwortung und ein Teil des Wissens in die Planung übertragen und im Sinne eines fragmentierten Prozesses in Plänen abstrahiert worden. Sie ist jedoch in der Person des Meisters zentralisiert, der wiederum sehr nahe an der Ausführung war und teilweise selbst dort mitgewirkt hat. Hier liegt ein Übergang zwischen fragmentiertem und handwerklichem Prozess vor. Ausdruck der Fertigung Beschreibung Auch hier zeigt sich die Fertigung am Bauwerk durch den Ausdruck der Selbstverständlichkeit und des Organischen. Darüber hinaus wird ein Bild des Handwerklichen und des Rohen gesucht. Die Selbstverständlichkeit beruht auf der Regelmässigkeit der Konstruktion und der Ablesbarkeit und Plausibilität von Tragen und Lasten. An der Fassade sind die sichtbaren Stösse der Hölzer so angeordnet, dass optisch immer das eine auf dem anderen liegt.245 Insgesamt ist der Ausdruck der Konstruktion additiv, ihre Komponenten sind von Tragen, Lasten und Füllung hierarchisiert. Die diagonal stehenden Ausfachungen zeigen ihre Rolle als Aussteifungselemente. Stets bleiben die Einzelteile auch im Gefüge als solche lesbar. Auch hier gibt es eine organische Übereinstimmung von kleinem und grossem Massstab. Eine wichtige Komponente des Ausdrucks der Fertigung ist das Rohe. Die Massivität der Hölzer wird demonstrativ gezeigt, was durch Fertigungsspuren unterstützt wird. Risse machen die Stärke 245 Der sichtbare Stoss der Balken in Deckenebene liegt genau über den Ständern, obwohl er in der Logik der verwendeten Überblattung eher seitlich liegen müsste. 139 und räumliche Tiefe der Konstruktionshölzer direkt wahrnehmbar. Die Sägespuren erhöhen die Plastizität, die durch Fasen, Fugen und Risse noch gesteigert wird. Die durch freie Umsetzung entstandenen, unregelmässigen Splintkanten der Konstruktionshölzer wirken ebenfalls in diesem Sinne. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Der rohe Ausdruck der Fertigung kontrastiert den Ausdruck des Erhabenen, der durch die Referenz auf Palazzi entsteht. So unterstützt er die Absicht. Die Ausführung bedeutet die Verarbeitung beziehungsweise Veredelung des vorhandenen Materials, das im Zentrum des Entwurfes stand. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Am Gebäude wird ein Ausdruck der Fertigung erzeugt, der einem bestimmten Bild entspricht. Die freie Fertigung wird bei den Splintkanten tatsächlich ausgenutzt, um den Ausdruck zu verstärken. Im Gegensatz zu den vorherigen beiden Beispielen gibt es hier jedoch tatsächlich Diskrepanzen zwischen der tatsächlichen Herstellung und dem Ausdruck. So werden keine metallenen Verbindungsmittel gezeigt, obwohl diese für die Konstruktion sehr wichtig sind. Auch die eingeschobenen Füllungen der Fassaden sind nicht wirklich frei beweglich, sondern durch Schrauben fest mit den Elementrahmen verbunden. Der Ausdruck der Fertigung hingegen zeigt die traditionelle Bohlenständerkonstruktion ohne jedes Metall. Klar sichtbar wird das nur an den stumpfen Stössen der Deckenbalken im Erdgeschoss, bei denen eine innenliegende Zugstange die Vorspannung übernimmt. Sie würden ohne Metallverbindung nicht funktionieren; hier ist offenkundig, dass eine andere Art des Tragens vorliegen muss als nach aussen hin gezeigt wird. Hier vermischt sich der tatsächliche Ausdruck der Fertigung mit einem angestrebten bestimmten Bild von handwerklichen Bauten. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Er beruht auf dem gezielten Einsatz von Fertigungsspuren und den Eigenheiten der massiven Hölzer. Darüber hinaus aber ist er abhängig vom Verstecken der metallenen Verbindungsmittel und dem Einhalten eines bestimmten Bildes von Handwerk, das aus der Referenz auf traditionelle Typologien stammt. 140 Im Uhrzeigersinn: Die mit dem Beil gefasten Splintkanten sind wichtig für den Ausdruck / Die Struktur der Fassade referenziert den traditionellen Bohlenständerbau / Trotz der Trocknung reissen die Laubholzbalken; die Risse machen die Massivität der Hölzer sichtbar. 141 142 6. Neue Monte-Rosa-Hütte: Analyse Geschichte Die neue Monte-Rosa-Hütte wurde 2008 bis 2010 auf 2.889 Metern Meereshöhe als Ersatzbau oberhalb der alten SAC-Hütte246 gebaut. Aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der ETH Zürich wurde zum Bau der Hütte die Kooperation mit dem Bauherrn, dem SAC, gesucht. Das während dem Bau und der Lebensdauer extremen Bedingungen ausgesetzte Gebäude sollte als Prototyp dazu dienen, technische Lösungen zur Autarkie vor allem im Bezug auf den Energieverbrauch zu erproben. Der Entwurf wurde von Studierenden des ETH Studio Monte Rosa unter Leitung von Prof. Andrea Deplazes ausgearbeitet. Dabei wurden Entwürfe angefertigt, die gegenseitig in Wettbewerb standen. Unter den letzten beiden wurde das Projekt mit dem Namen ‹Glänzling› zur Weiterbearbeitung ausgewählt. Baukörper Die Assoziation der äusseren Form mit einem Kristall liegt nahe, allerdings eher aus einem Moderieren verschiedener äusserer Ansprüche mit dem wichtigen Entwurfsfaktor heraus, das Verhältnis zwischen Oberfläche und Volumen möglichst gering zu halten. Ein kompakter Körper verliert wenig Wärme über die Hülle, ausserdem bietet die Form wenig Angriffsfläche für Wind und Schneeverwehungen. Das Gebäude verfügt über fünf Geschosse. Über dem Untergeschoss mit Funktions- und Technikräumen liegt der Essraum, welcher von der Terrasse aus ebenerdig erschlossen wird. In den drei oberen Geschossen sind die einzelnen Schlafkammern angeordnet. Eine Kaskadentreppe, deren Raum sich entlang der Aussenwand spiralig nach oben zieht, übernimmt die Vertikalerschliessung. Der Raum ist auch in den oberen Geschossen grossflächig verglast; so ist er an der Fassade von aussen ablesbar und ermöglicht solaren Wärmegewinn.247 Im Zentrum des Gebäudes erlauben jeweils Verteiler die Erschliessung der an der Aussenhaut angeordneten Schlafkammern. Auch die Leitungsführung ist hier in Schächten an den Stirnseiten der Achsenwände angeordnet. 246 1895 wurde unterhalb des heutigen Standortes die erste Hütte (‹Bétempshütte›) erbaut, die in mehreren Stufen ausgebaut und 1939 in ‹Monte-Rosa-Hütte› umbenannt wurde. Die letzte Erweiterung der alten Hütte erfolgte 1984. Vgl. Eberle et. al. 2010, S. 124. 247 Deplazes nennt diesen Raum «räumliches und konzeptuelles Rückgrat des Projekts», in Eberle et. al. 2010, S. 101. 143 Konstruktion Die Entscheidung für das Material Holz hatte pragmatische Gründe. Ein Holzelementbau erlaubte eine Montage innerhalb der kurzen, möglichen Bauzeit im Sommer. Neben der Bauzeit waren Transportgewicht und Preis wichtige Faktoren. Alle Elemente wurden im Tal vorgefertigt, mit Lastwagen, Bahn und Helikopter zur Baustelle gebracht und direkt versetzt. Der Helikopter ersetzte den Baustellenkran.248 Die eigentliche Holzkonstruktion ruht auf einem Stahltisch aus radial angeordneten und umlaufenden Trägern, der wiederum als ‹Pfahlbau› auf Punktfundamenten aus Beton gründet. Um ein Auftauen des Permafrostbodens unter der Hütte zu verhindern, was zu Destabilisierungen des Untergrunds führen könnte, herrscht unter dem Stahltisch Aussenklima. Der Boden des Untergeschosses darüber ist gedämmt. Die Struktur basiert auf fünf statischen Achsen, die sich radial angeordnet im geometrischen Zentrum des Grundrisses treffen. Die zehn radialen Achswände darauf wirken als aussteifende Scheiben. Im Untergeschoss sind die Wandelemente beidseitig beplankte Platten. Im grossen Essraum im Erdgeschoss sind die Wände in Fachwerke mit Stabquerschnitten aufgelöst. Hier gibt es keine Beplankung.249 Überall da, wo es vom Brandschutz her möglich war, sind die Rahmenhölzer der Elemente innen sichtbar; die aussteifende Beplankung aus Dreischichtplatten liegt aussen. Zwischen den Wandelementen liegen Hartholz- Schubdübel. Die Elementstösse sind aussen auf der Beplankung winddicht abgeklebt. Darauf folgt eine Dämmschicht zwischen aufgelösten Dämmständern, eine überfälzte Schalung, eine Luftschicht und schliesslich eine weitere Schalung mit Fassadenblechen aus Rohaluminium als eigentliche Haut. Die äussere Kantengeometrie stimmt nicht mit der inneren Geometrie der fünf punktsymmetrischen Achsen überein, was zu teils sehr komplizierten Detailpunkten führt. Die Fassadenelemente sind mit den Geschossplatten verbunden; es gibt aber keine Regelverbindung zwischen Achsenwänden und Fassaden. Die Wandelemente stehen nicht auf den Deckenplatten. Durch die extrem trockene Luft musste mit einem sehr starken Schwinden des Holzes gerechnet werden, daher wurden liegende, lastabtragende Hölzer weitgehend vermieden. Auf den Wandelementen gibt es Stahlteile, welche die Deckenebene durchbrechen und auf denen die jeweils obenliegenden Wände stehen. Innerhalb der einseitig beplankten Wandelemente wurden die Konstruktionshölzer mit CNC248 Eberle et al. 2010, S. 103: «Die neue Monte-Rosa-Hütte ist deshalb wie ein grosses räumliches Puzzle aus 420 Holzelementen zusammengefügt, die mit dem Helikopter auf die Baustelle transportiert und dort direkt versetzt und montiert wurden.» Insgesamt waren laut Projektleiter Holzbau Egon Bumann rund 3.000 Helikopterflüge zur Baustelle (inkl. Rückweg) notwendig. 249 Die Hölzer sind hier auf einen Abbrand von 60 Minuten überdimensioniert, die ‹Schnitzereien› sind dabei berücksichtigt. 144 gefrästen Schwalbenschwanzverbindungen gefügt, die im Gebäude sichtbar sind. Die unbeplankten Fachwerkelemente im Essraum sind mit in Schlitzen liegenden Stahlblechen verbunden, die Kraftübertragung geschieht jeweils mit Gruppen von kleinen Stabdübeln. Die Stabdübel sind an der Oberfläche sichtbar.250 Material Die Konstruktionshölzer wurden aus heimischen Fichten-Lamellen im selben Betrieb verleimt, der auch die Zimmererarbeiten ausführte. Das Holz wurde gehobelt, getrocknet, verleimt, erneut gehobelt und per CNC-Anlage abgebunden.251 Wegen der extrem trockenen Luft musste die Holzfeuchte nach Vorgabe der Statik unter 12 Prozent sein; im fertigen Gebäude wurde mit Holzfeuchten zwischen 5 bis 10 Prozent gerechnet. Oberflächen mit Brandschutzanforderungen sind mit Gipsfaserplatten bekleidet. Die Fassadenbekleidung besteht aus Rohaluminium-Blechen auf einer Schalung. An der Südfassade ist eine Photovoltaikfläche in die Fassade integriert. Stahl kommt vor allem beim Auflagertisch vor. Aber auch innerhalb der Konstruktion spielen Stahlverbindungsmittel eine grosse Rolle. Die Beplankungen der Elemente sind schraubpressverleimt, die Stahlteile zur Überbrückung der Schwundmasse der Decken wurden bereits erwähnt, ebenso die Bleche der BSB-Verbindungen. Die Fundamente im Kreuzungspunkt der Achsen bestehen aus Ortbeton, der fertig gemischt eingeflogen wurde. Oberflächen Die sichtbaren Oberflächen der Konstruktionshölzer sind gehobelt. Die Holzoberflächen innen sind weitgehend unbehandelt, lediglich die Fachwerkbalken im Essraum wurden durch Studierende lasiert. Die Treppenhauswände sowie die Wände der Verteilerräume sind glatt gespachtelt und, wie die Türen, mit Acrylfarbe gestrichen. In den Räumen liegen KugelgarnTeppichböden. 250 BSB-System der Firma Blumer BSB, Schwellbrunn AR. 251 Vgl. Eberle et al. 2010, S. 59: Die Verwendung regionalen Holzes führte zur Unterstützung durch das BAFU. 145 Schmuck Im Essraum sind die Konstruktionshölzer des Fachwerks mit per CNC-Fräse hergestellten Mustern versehen.252 Die Eindringtiefe und damit auch die Breite der Muster, die mit einem spitzen Fräskopf gefertigt sind, variiert. Das Muster wurde parametrisch entwickelt auf Grundlage von ‹Kraftfeldern›. Die gefrästen Muster sind Holzmaserungen ähnlich, aber formal so weit von diesen entfernt, dass ein Verfremdungseffekt eintritt. 252 ebd. S. 188: Gramazio und Kohler, die Muster und deren Herstellung an ihrem Lehrstuhl entwickelten, sprechen von ‹digitalen Schnitzereien›. 146 Unten, im Uhrzeigersinn: Die Fassade aus Rohaluminium mit dem mäandrierenden Treppenhaus / Die Oberflächen des Treppenhauses sind relativ homogen / Die ‹digitalen Schnitzereien›. Linke Seite: Der Speiseraum mit der Fachwerkstruktur. 147 Autark bauen: Neue Monte-Rosa-Hütte Rahmenbedingungen Absicht Die Hütte sollte eine weitgehende Autarkie erreichen. In der Natur der (von der ETH zum Teil selbst gestellten) Aufgabenstellung lag es, dass ein Vorzeigeprojekt mit einer gewissen Aussenwirkung beabsichtigt war.253 In der äusseren Form wurde ein Ausdruck gesucht, welcher in der Erhabenheit der umgebenden Bergwelt bestehen kann.254 Die abstrakte und massstablose Form des ausgewählten Entwurfes (‹Glänzling›) ist insofern folgerichtig. Eine allzu radikale Reduktion auf einen Ausdruck von Innovation war hingegen nicht gewünscht, vielmehr sollte dieser durch Zugeständnisse an das gewohnte Bild einer SACHütte ausbalanciert werden. Im Inneren wurde sehr bewusst das Material Holz nicht nur wegen seiner atmosphärischen, sondern auch wegen seiner konnotativen Eigenschaften gewählt: «Im umgesetzten Holzbau kommt nun beides zusammen: das Technische bzw. das Logistische der vorgefertigten Bauelemente, die einen Einfluss auf die innere Ausprägung der Räume hatten, und – durch die Hintertüre – auch der zwar transformierte Traditionsbezug.»255 Dazu gehören auch die ‹Schnitzereien› genannten gefrästen Ornamente oder die gefrästen und gezeigten Schwalbenschwanz-verbindungen.256 Beschränkung Die bei der neuen Monte-Rosa-Hütte bestimmende Beschränkung ist ebenfalls durch die Stellung der Aufgabe erzeugt: die Knappheit der zum Unterhalt des Gebäudes verfügbaren Ressourcen, festgelegt im Anspruch auf Autarkie. Hinzu kommen die Beschränkungen für das Baumaterial, die sich aus dem Helikoptertransport ergaben.257 253 ebd. S. 13: «wegweisend, innovativ»; S. 14: «Von Planungsbeginn an war klar, dass eine Hütte gefragt ist, die ein Zeichen setzt. Auch sollte die Hütte zu mindestens 90 % energieautark und Wasser in genügender Menge vorhanden sein.» 254 ebd. S. 32: Adolph Stiller spricht von einer «Überhöhung der Dramatik der Landschaft durch Weiterführung der ‹Bewegung› des Berges, in äusserer Form oder innerer Erschliessung; in der Art der Steige im Hang windet sie sich im Inneren empor.» 255 Andrea Deplazes in ebd. S. 59. 256 Andrea Deplazes in ebd. S. 59 f.: «Die Fachwerke im Inneren des Essraums hätte man als ingenieurbedingte Strukturen belassen können. Doch liessen wir gemeinsam mit dem Lehrstuhl Gramazio & Kohler mit der neuesten Fertigungstechnik – einem computergesteuerten Roboter – übergrosse jahresringähnliche Zeichen einfräsen, die wiederum sehr handwerklich wirken.» 257 148 Hierzu Deplazes in ebd. S. 115: «Das didaktische Konzept [des ETH-Studio Monte Rosa] basierte auf Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Das Erfahrungswissen ausgebildeter Zimmerer floss auch hier direkt in die Ausführungsplanung und Arbeitsvorbereitung mit ein. Egon Bumann, Inhaber der ausführenden Zimmerei, betonte, dass hier nur ausgebildete und erfahrene Handwerker eingesetzt wurden. Auch beim Abbund an der CNC-Fräse kann das Einschätzen des Materials notwendig sein. Die gefrästen Schwalbenschwanzverbindungen helfen zwar beim Richten während der Elementfertigung, dennoch ist auch hier stetige Kontrolle und sorgfältiges Arbeiten notwendig. Bei der Aufrichte mit dem Helikopter waren Genauigkeit und Schnelligkeit sehr wichtig. Die schweren Elemente sind, einmal ungenau gesetzt, schwer zu richten. Dies geschieht mit schweren Schonhämmern und muss passiert sein, bevor das nächste Element einfliegt. Die Arbeit ist darüber hinaus gefährlich. Die Aufrichte ist weitaus mehr als ein blosses Zusammenstecken. Trotz aller Genauigkeit der Elementfertigung gibt es doch genug Spiel, so dass sich mögliche Montagetoleranzen sehr schnell addieren können. Im Elementbau muss die Montagetoleranz, besonders die Winkelgenauigkeit, laufend kontrolliert werden. Auch die Fluchten der Elemente wurden immer wieder geprüft, da Knicke in der Aussenhaut durch die Blechhaut sehr stark sichtbar gewesen wären. Laut Egon Bumann sind bei der Aufrichte Personen wichtig, die vorausdenken können. Dies ist nur möglich, wenn diese ein integrales Verständnis der kompletten Konstruktion haben. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Direkte menschliche Interaktion deutet beim CNC-Abbund auf eine Unzulänglichkeit im Prozess hin. Die Hölzer sollen in der gewünschten Geometrie direkt aus der CNC-Maschine kommen. Bei der Elementfertigung kann direkte Interaktion vorkommen, wenn die gefrästen Hölzer in die richtige Position gezwungen werden müssen. Vor allem bei der Aufrichte ist direkte menschliche Interaktion notwendig. Dies gilt einmal für das Versetzen der Elemente selbst mit dem Helikopter als Kranersatz und für den Einsatz von Werkzeugen wie Schonhammer, Nageleisen oder Diagonalspriessen. In der filmischen Dokumentation der Aufrichte ist sichtbar, dass die Passungen der Elemente an die Stahlteile zum Teil vor Ort mit der Kettensäge angepasst (leicht geweitet) werden mussten.258 Der Grund hierfür war die thermische Ausdehnung des Stahlgerüstes aufgrund der extremen Witterungsverhältnisse. der Schaffung einer künstlichen Notlage, das Resultat zielte auf eine autarke Insellösung.» 258 Holcim 2015, ab Minute 8:33. 149 Dieses Beispiel zeigt, dass es sehr schwierig ist, alle Unwägbarkeiten in der Planung auszuräumen und dass handwerkliche Arbeitsschritte zur Kompensation dieser Fälle sinnvoll sind. Ausser beim Holzbau ist besonders die Fassadenbekleidung eine Arbeit, bei der direkte menschliche Interaktion vorliegt. 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Das Einschätzen der Angemessenheit durch die Ausführenden kann in allen Bauphasen vorkommen. Alle Elemente mussten bei der Fertigung stets nachkontrolliert werden. Die Schwalbenschwänze helfen zwar beim Ausrichten der Bauteile, ersetzen aber die Kontrolle nicht. Vor allem bei der Aufrichte aber ist die Einschätzung der Angemessenheit ein unumgänglicher Bestandteil der Arbeit. Das ist auch bei Arbeiten wie dem Abkleben der Fall: Wird hier nicht gewissenhaft gearbeitet, so wird die Undichtigkeit erst beim Drucktest (dem sogenannten ‹Blower-Door-Test›) festgestellt und muss mühsam gefunden werden. Vorliegende Fertigungsweisen Bei der Materialaufarbeitung und dem Abbund sind handwerkliche Arbeitsschritte auf das Korrigieren von Unvorhergesehenem beschränkt, auch wenn das Erfahrungswissen in Bezug auf das Material hier eine Rolle spielt. Bei der Elementfertigung mit Hilfe von CNCFräsen gilt das ähnlich, hier gibt es aber mehr Freiräume innerhalb des Prozesses – und mehr Fehlermöglichkeiten. Die Aufrichte schliesslich ist reine handwerkliche Arbeit, die alle drei Komponenten von deren Definition klar einschliesst. 150 Menschliche Interaktion ('Risiko') Angemessenheit von Ausführenden beurteilt Arbeitsschritt Neue Monte-Rosa-Materialaufbereitung Hütte Abbund Elementfertigung Aufrichte Ausbau 10.05.16 Können und Wissen der Ausführenden nötig Fertigungsweisen 1 • • • • • 2 x (•) (•) • • 3 (•) (•) (•) • (•) Fertigungsweise determinierte Fertigung determinierte Fertigung / Handwerk determinierte Fertigung / Handwerk Handwerk Handwerk / qualifizierte Fertigung Prozess Techniken und Werkzeuge / Freie und regulierte Umsetzung Beim ganzen Bauwerk war hoch regulierte Umsetzung notwendig, da es sich vorwiegend um reinen Austauschbau handelt: Alle Teile mussten ohne Anpassungen und mit minimalen Fertigungstoleranzen zusammenpassen. Die Rahmen der Holzbau-Elemente und sogar die Einbaumöbel wurden per CNC-Fräse gefertigt und dann in der Abbundhalle in Mörel VS zusammengesetzt. Auch die gefrästen Ornamente sind vorgängig geplant. Die Fassadenbekleidung ist in traditioneller Spenglerarbeit in einzelnen Bahnen aufgebracht, mit Doppelstehfalz verbunden und abgedichtet. Umgang mit Toleranzen Die hier angewandte Strategie war, Toleranzen weitgehend auszuschalten. Die Elemente sind durch homogenisierte Plattenwerkstoffe abgesperrt, besonders die Furnierschichtplatten im Untergeschoss weisen praktisch keine Holzbewegungen mehr auf. Die Schwindmasse der Geschossdecken werden durch Stahlteile überbrückt. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Wenige Spuren lassen sich direkt auf den Herstellungsprozess zurückführen. Es sind an manchen Orten leichte Leimreste zwischen Rahmen und Beplankung der Innenwandelemente sichtbar. Die CNC-gefrästen Ornamente sind direkte Spuren des Werkzeuges; je tiefer der spitze Fräser ins Holz eindringt, desto breiter ist die gefräste Nut. Allgemein wurden Spuren der Fertigung nicht gesucht, sondern sollten vermieden werden. Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Obwohl handwerkliche Arbeitsschritte im gesamten Prozess vorhanden sind, hat er keinen handwerklichen Charakter. Der Abbund ist ein klar fragmentierter Prozess. Das gesamte Gebäude ist im Plan bis ins Kleinste vorbestimmt, alle Arbeiten referenzieren auf den Plan. Es gibt keine geometrischen Unschärfen. Vor allem in den ersten Phasen, von der Materialaufbereitung bis zur Elementfertigung, ist das Können und Wissen so weit es geht auf die Planung übertragen. Diese profitiert aber auch hier von der handwerklichen Erfahrung der Planenden. Dennoch nimmt der Anteil handwerklicher Arbeitsschritte mit fortschreitendem Prozess zu. Bei der Aufrichte schliesslich ist die Verantwortung für das Gelingen des Bauwerks klar auch mit den Ausführenden geteilt. Die Aufrichte ist ein iteratives Arbeiten. Bei ihr kann man von integraler handwerklicher Fertigung sprechen. 151 Ausdruck der Fertigung Beschreibung Der Ausdruck ist organisch und bis zu einem gewissen Grade selbstverständlich. Er ist zeitgenössisch und exakt, mit pragmatischen Komponenten. Entwurfsentscheidungen und die Wahl bestimmter Techniken sollen einen Ausdruck der Fertigung erlauben, der eine formale Nähe zum Handwerklichen hat. Die Konstruktion wird im öffentlichen Bereich des Hauses überall gezeigt, durch die sichtbaren Schwalbenschwanz-Verbindungen sogar inszeniert. Während die Elemente tatsächlich gestapelt sind, beruht der Ausdruck der Konstruktionshölzer innerhalb der Elemente auf dem Stecken. Diese Prinzipien sind auch im kleinen Massstab selbstverständlich nachvollziehbar. Die allseitige Beplankung mit Gipsfaserplatten im Untergeschoss und dem Treppenhaus wirkt massiv, schwer und homogen und kontrastiert stark den gegliederten Ausdruck der holzsichtigen Wände. Dies wird durch die Glanzfarbe zusätzlich unterstrichen. Die eigentliche Holzstruktur ist durch die Lamellierung geprägt und somit stark homogenisiert. Die Dimensionen der verleimten Hölzer sind jedoch nahe an denen von gesägten Balken. Sie sind von ihrer Dimension her noch als einzelne stabförmige Elemente lesbar, zumal sie oft freigestellt sind. Der Ausdruck der sichtbaren Konstruktion ist von der durch zeitgenössische Techniken geprägten geometrischen Präzision geprägt, die jedoch im Sinne der Angemessenheit auch nicht absolut ist. Kleinste, aber erkennbare visuelle Details wie kleine Schaumleimreste zwischen Elementrahmen und Beplankung lassen die Holzkonstruktion weniger abstrakt wirken als beispielsweise die gestrichenen Ausbauten aus Gipskarton. Die CNC-gefrästen Schwalbenschwänze und die sogenannten ‹digitalen Schnitzereien› auf den Fachwerkbalken des Erdgeschosses gehören zum Ausdruck der Fertigung. Sie referenzieren handwerkliche Prinzipien, verfremden diese jedoch. Schwalbenschwanz-Verbindungen gehören im Möbelbau zum handwerklichen Ausdruck, sind bei traditionellen Holzkonstruktionen jedoch an dieser Stelle nicht verbreitet. Obwohl diese Details nicht handwerklich sind, suchen sie eine Nähe zu mit Handwerk konnotierten Formen. Ein Inszenieren traditioneller handwerklicher Techniken hätte der Absicht der Innovation entgegengewirkt, weshalb die Abstraktion durch die ‹neuen Techniken› naheliegt. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Der Ausdruck versucht, zitathaft und ohne Imitation auf traditionelle handwerkliche Formen zu referenzieren, insofern stimmt beides überein. 152 Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Das Stecken innerhalb der Elemente und das Stapeln der Elemente selbst zeigt sich am Bauwerk so, wie es auch ausgeführt ist. Es gibt dennoch Vieles, das nicht gezeigt wird. Auch hier sind das vor allem die Stahlteile. Es wurde klar ein bestimmter Ausdruck gesucht, nicht unbedingt der Ausdruck der tatsächlichen Fertigung. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Die atmosphärische Referenz auf das Handwerkliche der alten SAC-Hütten geschieht über formale Bezüge, die keine Imitationen sind. Im Uhrzeigersinn: Fenster / Schlafraum mit sichtbaren Konstruktionshölzern / Im Bad dienen auch die Installationen dazu, die Diversität und den Ausdruck des Handwerklichen zu unterstützen. 153 154 7. Tamedia-Gebäude: Analyse Geschichte Das Bauwerk wurde vom japanischen Architekten Shigeru Ban im städtischen Kontext Zürichs geplant. Seit der Fertigstellung 2013 dient es als repräsentatives Büro- und Redaktionsgebäude eines Zeitungsverlags. Baukörper 259 Der geschlossene, kompakte Baukörper ist Teil einer Blockrandbebauung. Seine flächig verglasten Fassaden sind nur durch die Aluminiumprofile gegliedert, welche wiederum die Geschosse abbilden. Konstruktion Die Tragkonstruktion bildet das vorherrschende Gestaltungselement des Bauwerks und den Kern des architektonischen Konzeptes. Alle Bauteile der Primärkonstruktion sind gesteckt, die Kraftübertragung erfolgt Holz in Holz. Der Massstab ist jedoch ein völlig anderer als bei traditionellen Holzverbindungen. Die Konstruktion besteht aus Bindern, die quer zur Längsachse des Bauwerks hintereinander angeordnet sind. Sie bestehen aus jeweils vier vertikal durchlaufenden Stützen und unterhalb der Deckenebenen beidseitig aufgekämmten horizontalen Zangen. Die Binder sind in Längsrichtung durch Träger mit ovalem Querschnitt verbunden, über denen die Decken liegen. Am Gebäudekopf ist die Binderstruktur wegen des unregelmässigen Grundstücks etwas abgewandelt. Zwei Erschliessungskerne aus Beton und die Deckenplatten übernehmen die Aussteifung. Die Primärkonstruktion ist konzeptuell von den Innenwänden und Fassaden entkoppelt. Praktisch ist aber die Lage der Sekundärstruktur nicht völlig frei. Vor allem durch die Behandlung der Konstruktion an Brandabschnitten und durch den über mehrere Geschosse offenen Bereich an der Ostfassade können sie nicht mehr beliebig verschoben werden. Die vertikalen Brettschichtholz-Säulen laufen vom Erdgeschoss bis zum Dach durch und sind an den Knotenpunkten organisch verdickt. Hier sind beidseitig die horizontalen Zangen aufgekämmt, auch diese in gleicher Weise an den Knoten verstärkt. An diesem Kreuzungspunkt der horizontalen und vertikalen Bauteile treffen die ovalen Rähme in Längsrichtung und 259 Für die Untersuchung relevant ist das ab der Erdgeschossebene vollständig als Holzkonstruktion ausgeführte Bauwerk (Werdstrasse 15), die ebenfalls als Holzbau ausgeführte Aufstockung des Nachbarhauses (Stauffacherquai 8) soll nicht behandelt werden. 155 ‹stecken› die Konstruktion zusammen. Im Knoten sind die Leimholzbauteile unsichtbar durch Furnierschichtplatten verstärkt. Die Verbindung der beiden Binderträger beziehungsweise Zangen mit den vertikalen Ständern geschieht tatsächlich über einen massiven Dübel aus Buchensperrholz, der hindurchgesteckt und von aussen nicht sichtbar ist; diese Verbindung hat laut Ausführungsplänen ‹absolut passgenau› zu sein. An den beiden Enden des Dübels ist ein hakenartiger Zapfen ausgefräst. Dort werden wiederum die Längsrähme zwischen den Bindern mit einem entsprechenden Zapfenloch zugfest eingehängt. Da deren Querschnitt etwas grösser ist als der des Verbindungsstückes, werden so die Zangen am Ort gehalten und gleichzeitig die Sperrholz-Verstärkung verdeckt. Das ‹Zusammenstecken› der Konstruktion geschieht also nicht so direkt wie es den Anschein hat, sondern über den unsichtbaren, zusätzlichen Dübel; trotzdem wirkt die Kraftübertragung Holz in Holz. Auf der Ebene der einzelnen Bauteile kommen dennoch metallische Verbindungsmittel zum Einsatz, so sind die Sperrholz-Verstärkungen in den Leimbindern schraubpressverleimt. Auch innerhalb der Deckenkonstruktion und für untergeordnete statische Wirkungen (nicht Kraftübertragung, sondern Lagesicherung und zum Beispiel das Sichern gegen Torsionsmomente) sind Schrauben und Bolzen verwendet, die am Bauwerk nicht sichtbar sind. Es gibt keine Ausfachungen, da die Fassade, die Decken und die Innenwände nicht in den Achsenebenen der Primärkonstruktion angeordnet sind. Die Dimensionen der einzelnen Bauteile reichen über das gesamte Gebäude. Die gesamte Konstruktion, also auch die Knoten, wirken auf diesem Massstab: Im Querschnitt gibt es je einen Knoten pro Säule und Geschoss. Material Das Material Holz beschränkt sich auf die Primärkonstruktion. Sie besteht aus schichtverleimter Fichte. Ein Jahr vor Baubeginn wurde ein Wald in der Steiermark reserviert, um die notwendige grosse Menge an in Farbe und Wuchs möglichst homogenem Holz zu erhalten. Die Bäume wurden nach dem Fällen kerngetrennt. Die Qualitätssicherung geschah über Bemusterung. Die Leimholz-Bauteile innerhalb der Binder laufen alle in voller Länge durch und erreichen so Einzellängen von bis zu 18 Metern, die Lamellen innerhalb der Bauteile sind längs keilgezinkt. Die Bauteile wurden nach Bedarf durch die erwähnten Einsätze aus Buchensperrholz verstärkt. Erst solcherart homogenisierte und hochfeste Holzwerkstoffe erlaubten das Ausbilden der Knoten; so ist zum Beispiel der hakenförmige Fortsatz der Dübel, auf den die ovalen Längsrähme aufgehängt sind, in Vollholz undenkbar, da wegen des linearen Faserverlaufes der 156 Haken beim Angriff von Zugkräften mit der Faser abreissen müsste. Die einzelnen Bauteile sind nicht einfach aufbereitete Holzteile, sondern ihrerseits bereits Produkte eines komplexen Herstellungsprozesses, die in sich schon aus mehreren Komponenten bestehen. Die Holzbauteile sind aus Brandschutzgründen überdimensioniert, um bei einem Querschnittsverlust durch Abbrand die Resttragfähigkeit zu gewährleisten. In Bereichen, in denen Holzträger Brandabschnitte durchdringen, wurde auf einer Länge von einigen Zentimetern vor und nach dem Brandabschnitt eine Nut in die Bauteile gefräst, Brandschutzplatten eingelegt und mit Furnier überdeckt. Die Verdickungen an den Knoten sind aus dem vollen Material CNCgefräst. Dadurch läuft hier die Faser des Holzes aus; die Holzfaser folgt nicht den Kurven. Oberflächen Die Oberflächen der Konstruktionshölzer sind gehobelt. Durch die Verleimung aus Lamellen sind sie auch optisch sehr homogen. Es gibt kaum Risse. Auf den Hölzern ist eine dünne Lasur.260 Alle Oberflächen, die nicht zur Primärkonstruktion gehören, sind sehr homogen und heben sich so von der Primärkonstruktion ab. Im Bereich von Glaswänden und -fassaden sind graue Aluminiumelemente und -blenden eingesetzt. Die aussteifenden Kerne haben SichtbetonOberflächen, die Deckenuntersichten sind glatt weiss gespachtelte Gipsfaserplatten. Schmuck Es gibt keinerlei Ornamente an der Konstruktion oder am Bauwerk. Die ohne Brüche geschwungenen Verdickungen der Konstruktionshölzer an den Knoten sind zwar für den Ausdruck der Konstruktion bedeutend, haben aber auch den Zweck, Punktlasten und somit Kerbwirkung zu vermeiden. 260 Antemann 2015. 157 Im Uhrzeigersinn: Der Regelknoten / Reparatur an einem Knoten / Durchdringung eines Brandabschnittes / Der Knoten an der letzen Säule eines Binders. 158 Holz stecken: das Tamedia-Gebäude Rahmenbedingungen Absicht Die Absicht bestand auf entwerferisch-konstruktiver Ebene darin, einen Holzbau im grösseren Massstab zu schaffen261, der in der Primärstruktur ohne metallene Verbindungsmittel auskommt.262 Das Prinzip des Steckens grosser, stabförmiger Holzbauteile sollte am Bauwerk präsent und ablesbar bleiben. Ein gewisser Anspruch auf Innovation schwingt dabei mit. Das Gebäude sollte klar in der heutigen Zeit verankert sein. Viele formale Entscheidungen bis hin zu den abstrakten Oberflächen der Sekundärkonstruktion dienen dazu, diesen Ausdruck erkennbar zu machen. Beschränkung Die eigentliche Beschränkung (mit entsprechender Auswirkung auf die Konstruktion) ist durch die Absicht konstruiert worden: Die Beschränkung an metallischen Verbindungsmitteln ist nicht durch ökonomische Zwänge von ausserhalb des Projektes bestimmt, sondern eine Entwurfsentscheidung. 261 Vgl. Ban 2014: «From an architectural point of view one of the main features of the project is indeed the proposition of a main structural system entirely designed in timber where its innovative character from a technical and environmental standpoint, gives the building a unique appearance from the interior space as well as from the surrounding city. In order to reinforce and express this idea the building skin is entirely glazed and special attention was given to achieve low energy transmission levels that respond to the latest and very strict Swiss regulations for energy consumption.» Der Projektleiter Holzbau Martin Antemann sieht das Bauwerk nur in dem Sinne als einen Prototypen, als dass jedes Gebäude einer ist, ohne dass er einen gewissen Innovationsanspruch in Abrede stellt (Antemann 2015). Die Art der Holzverbindungen war prinzipiell erprobt, komplex wurde das Projekt vor allem durch den hohen Vorfertigungsgrad von 80 %, die zwei Fassaden (innen und aussen), Treppen, Kühldecken, die Forderung nach durchgängiger Sichtqualität der Konstruktion und vor allem die ausserordentliche Enge des Bauplatzes. Den Aspekt des Innovativen als eine Absicht des Gebäudes in den Vordergrund zu setzen, wäre wahrscheinlich nicht richtig, zumal Innovation heute beinahe selbstverständlicher Teil der Präsentation repräsentativer Bauwerke ist. 262 Auf den Computervisualisierungen des Entwurfs ist die Struktur hervorgehoben; auch auf Renderings, die den Entwurf von aussen visualisieren, ist die Struktur im Inneren der Glasfassade gut sichtbar (was in der Realität eher bei Nacht funktioniert). Verbindungen Holz in Holz waren vorgegeben; dies war wichtig für Bauherrn und Architekten (Antemann 2015). 159 Fertigungsweisen 1. Können und Wissen Ein genauer Blick auf den Herstellungsprozess zeigt, dass auch bei der Ausführung dieses Bauwerks Können und Wissen der Ausführenden wichtig waren. Nach Aussage des Projektleiters wurden die Arbeitsvorbereitung und die Abbundplanung im Holzbaubetrieb ausschliesslich von Personen bearbeitet, die sowohl eine handwerkliche Zimmererausbildung als auch eine Zusatzqualifikation – als Poliere, Zimmerermeister oder Holztechniker – und praktische Erfahrung hatten. In diesem Falle also wirkt das durch handwerkliches Arbeiten gewonnene implizite Wissen weiter, indem es das Ausarbeiten der Konstruktion bis zur praktischen Baubarkeit ermöglicht. Für sein Entstehen aber war die direkte Interaktion mit dem Material in früheren Projekten notwendig.263 Der Einbau der Verstärkungsplatten aus Sperrholz in den Knoten war schliesslich, trotz der Vorarbeiten durch die CNC-Fräse, handwerkliche Arbeit. Die Herstellung der Schraubpressverbindung schliesst das passgenaue Einarbeiten der Bauteile, die gleichmässige Verteilung des Leims, das genaue Positionieren der Platte an der richtigen Stelle und das Setzen der Schrauben ein. Auch die Montage benötigte erfahrenes Personal. Der Begriff des ‹Steckens› suggeriert, dass diese sehr einfach sei, da die Geometrie der Bauteile deren Lage bestimme. Im Gegenteil jedoch erfordert die Montage ein hohes Mass an Können und Wissen über das Material. Die Fähigkeit zum Einschätzen des Verhaltens der tonnenschweren Bauteile ist dabei auf Erfahrung begründet. Nach Einschätzung von Martin Antemann wäre der Bau des Tamedia-Gebäudes ohne erfahrene Handwerker in der Ausführung und der Planung nicht möglich gewesen. 2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren Direkte menschliche Interaktion im Sinne einer riskanten Fertigung ist an der Primärkonstruktion vor allem bei sichtbaren Reparaturen ablesbar. An den Knotenpunkten bilden die Säulen eine an Gelenkpfannen erinnernde Passung für die liegenden Bauteile. Hier laufen die Hölzer spitz zu, darüber hinaus läuft die Holzfaser seitlich aus. Diese sehr empfindlichen Stellen wurden offensichtlich stellenweise beschädigt und vor Ort handwerklich repariert. Risse und kleinere Schäden innerhalb der Hölzer wurden mit eingefrästen Flicken behoben. So wurden Risse, 263 Projektleiter Martin Antemann führte einige Beispiele an, wie durch eigene handwerkliche Erfahrung Probleme bei der Ausführung vorhergesehen werden konnten. Eine Anforderung der Statik war beispielsweise, die Dübelverbindung zwischen Zangen und Ständern ‹absolut passgenau› auszuführen. Aus der praktischen Erfahrung war den Planenden klar, dass es dann unmöglich ist, die Zange gleichzeitig auf vier Dübel aufzufädeln. Als Lösung wurde jeweils auf der Seite der Verbindung, auf der im Lastfall keine Kraftübertragung erfolgte, 4 mm ‹Montageluft› gelassen. Durch die Wahl der Aufhängepunkte wurden die 4 mm oben und unten auf je 2 mm verteilt, beim Ablassen des Krans spannte sich der Träger in die endgültige Stellung ein (ebd.). 160 Harzgallen oder Äste mit linsenförmigen Flickzapfen geschlossen, teils sind mehrere hiervon wie Ketten hintereinander angeordnet. Aber auch bei der Montage kann von situativem Reagieren gesprochen werden; das Risiko manifestiert sich noch am fertigen Bauwerk in den Reparaturen der vereinzelt bei der Aufrichte entstandenen Schäden. Auch bei der sehr wichtigen Herstellung der Knoten kommt direkte menschliche Interaktion vor, die allerdings keine Spuren hinterliess. 3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren Vor allem beim Einbau der Verstärkungsplatten in den Knoten muss die Passgenauigkeit beziehungsweise die Angemessenheit des Arbeitsergebnisses vom Ausführenden bestimmt werden, bei der Aufrichte die Lage der Bauteile. Bei der Materialaufbereitung wurden die Ergebnisse der Maschinensortierung stets kontrolliert; auch hier geht es um eine Beurteilung der Angemessenheit. Sie ist jedoch von der direkten Fertigung entkoppelt. Vorliegende Fertigungsweisen Die Aufbereitung der Rohstoffe und Herstellung der Halbzeuge und Bauteile durch Maschinen sowie das CNC-Fräsen der Knotenpunkte und der ovalen Querschnitte stellt mechanisierte Fertigung dar. Die Aufrichte entspricht der Definition handwerklicher Fertigung. Sie hängt beträchtlich von Können und Wissen der Ausführenden ab, die direkt mit dem Material interagieren. Beim Ausrichten der Bauteile und beim Einbau und Zusammenbau von Elementen greifen die drei Kriterien handwerklicher Fertigung. Schliesslich kommt diese auch bei den Reparaturen vor, sowie bei den Anpassungen im Bereich der Knoten. Handwerkliche Arbeitsschritte sind über die komplette Bandbreite des Projektablaufs verteilt, stellen aber eher Insellösungen an besonders heiklen Stellen dar. Die Ausführungsplanung basiert stark auf handwerklichem Wissen. 161 Menschliche Interaktion ('Risiko') Angemessenheit von Ausführenden beurteilt TamediaGebäude 10.05.16 Können und Wissen der Ausführenden nötig Fertigungsweisen Arbeitsschritt Materialaufbereitung Abbund 1 • • 2 x (•) 3 x x Fertigungsweise determinierte Fertigung determinierte Fertigung Verstärkungen, Anpassungen, Reparaturen • • • Handwerk Aufrichte Ausbau • • • • • (•) Handwerk Handwerk / qualifizierte Fertigung Prozess Techniken und Werkzeuge / Freie und regulierte Umsetzung Bei diesem Bauwerk kommt nach der Phase der Rohstoffgewinnung und -aufarbeitung der Komplex der Herstellung homogenisierter Holzwerkstoffe hinzu. Dieser – die Fertigung der Lamellen und des Leimholzes, sogar die Sortierung und Anordnung der Lamellen in den Leimbindern – war weitgehend mechanisiert und automatisiert. Bei der Herstellung der einzelnen Bauteile aus diesen homogenisierten Materialien war deren spätere Verwendung im Bauwerk bereits bekannt; es wurden also ab der Fertigung der Leimhölzer individuelle Bauteile hergestellt. Auf Grundlage der Architektenpläne wurde von der ausführenden Holzbaufirma ein dreidimensionales digitales Modell des Gebäudes angefertigt, alle Grundmasse überarbeitet und die Detailplanung angefertigt. Dabei gingen die planenden Zimmerer von der Montage als dem schwierigsten Schritt aus. Trotz der weitgehend automatisierten Herstellung der Leimbinder und dem Einsatz der CNCFräse kann nicht von einer Serienproduktion gesprochen werden. Die Decken beispielsweise sind nicht als Serienelemente gefertigt, da hier insgesamt 3›500 verschiedene Brandschutzdurchbrüche bestehen. Beim Herstellen der Knoten kamen Rohlinge und Halbzeuge aus dem Leimholzwerk und die Verstärkungen aus einem Sperrholzwerk zusammen. Bei der Leimholzherstellung wurden die Bauteile als Rohlinge mit Übermass hergestellt und anschliessend beim Abbund spanabhebend durch die CNC-Fräse auf die gewünschte Geometrie gebracht. Die Zangen sind in zwei 162 Teilen geleimt, dann wurden die Buchenholz-Verstärkungen eingepasst und die Hälften zusammengefügt. Bei der Konstruktion liegt durchweg regulierte Umsetzung vor, Abweichungen von der Geometrie als geometrische Unschärfen gibt es praktisch nicht. Ein weiterer wichtiger Faktor des Prozesses war in diesem Falle der Transport, welcher hier das limitierende Element der Bauteildimensionen war. Umgang mit Toleranzen Es sind keine Stellen erkennbar, an denen Toleranzen oder das Arbeiten des Holzes durch bauliche Massnahmen kompensiert wurden. Vielmehr wurden sie durch die Trocknung und Homogenisierung des Materials minimiert. Trotzdem noch zu erwartende minimale Bewegungen an Stellen, wo Holzbauteile auf starre Bauteilen treffen, wurden durch elastische Fugenmaterialien antizipiert.264 Auch innerhalb der Knoten ist durch die Verwendung des hochgradig homogenisierten Buchensperrholzes das Arbeiten des Holzes praktisch ausgeschaltet. Die mechanisierte Arbeit bietet nicht nur sehr hohe Genauigkeiten, sondern fordert sie auch, namentlich im Bereich der Anschlüsse von Holzbauteilen untereinander und mit anderen Materialien. So wird das Zusammenbringen vorgefertigter Bauteile aus verschiedenen Gewerken erleichtert. Für Projektleiter Holzbau Martin Antemann ist die CNC-Anlage daher besonders deshalb sinnvoll, weil diese den Massstab der Genauigkeit setzt und davon ausgegangen werden kann, dass alle hiermit bearbeiteten Bauteile auch kompatible Toleranzen aufweisen. Für Antemann ist die CNC-Maschine ein Kommunikationsmittel; Sie dient der Kommunikation von Informationen vom nicht-physischen 3-D-Modell ins physische Material. Die Kommunikation von Formen ist ins Material Holz viel einfacher als zum Beispiel ins Material Stahl. Jedes weitere Material wäre daher ein Risikofaktor im Prozess, was ein praktisches Argument für die Holz-in-HolzVerbindungen darstellt. Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren Überraschend ist die Dichte der Herstellungsspuren, die an der Primärkonstruktion erkennbar sind. Leichte Hobelspuren265 sind flächendeckend sichtbar. Sehr verbreitet sind kleine 264 Die Detailzeichnungen erwähnen z. B. ‹elastischen Brandschutzkitt›. 265 Die meisten Hobelmaschinen arbeiten mit einer rotierenden Welle, auf der mehrere Messer angebracht sind. Indem das Holz auf einem plan abgerichteten Tisch an der schnelldrehenden Messerwelle vorbeigeführt wird, fräst diese die oberste Schicht des Holzes ab und stellt eine mehr oder weniger glatte Oberfläche her. Je schneller das Holz an der Welle vorbeigeführt wird und je weniger Messer die Welle selbst hat, desto eher bleibt an der gehobelten Oberfläche eine Wellenstruktur mit minimalen Vertiefungen bestehen, die am Holz sichtbar bleibt. Im Möbelbau werden daher maschinengehobelte Oberflächen meist nachbearbeitet. Auch hier handelt es sich strenggenommen um inkrementelles Arbeiten, vergleichbar der Arbeit mit der Axt – wenn auch natürlich mit völlig anderen und viel weniger ausgeprägten Spuren. 163 Reparaturen am Holz, die zum Teil schon beim Abbund im Werk266 ausgeführt wurden. Es handelt sich hier um weniger sichtbare Spuren, welche besser sichtbare, ungewollte Spuren ersetzen. Spuren der Herstellung sind hier nicht für den Entwurf instrumentalisiert worden.267 Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess Das Tamedia-Gebäude bildet aufgrund seiner Grösse und der Komplexität seiner Anforderungen einen Extremfall unter den hier untersuchten Projekten. Trotz der umfassenden Planung als komplettes dreidimensionales Gebäudemodell und des hohen Anteils an computerunterstützter Fertigung kann die Ausführung keineswegs auf das reine Zusammenstecken mechanisiert gefertigter Elemente reduziert werden. Bei der Montage mussten alle Beteiligten «sensibilisiert»268 werden, mit den schweren Bauteilen, die ja schon die fertige Oberfläche hatten, entsprechend sorgsam umzugehen. Das bedeutet, dass bei der Aufrichte integrale handwerkliche Fertigung notwendig war. Der Bauprozess verlief nicht iterativ. Er bestand aus einzelnen Komponenten, die jeweils auf die Planung, das Computermodell, referenziert und dort koordiniert wurden. Alle ausgeführten Arbeiten wurden bis ins Kleinste mit einer übergeordneten Vorgabe abgeglichen. Die Rolle der CNC-Fräse als ‹Kommunikationsmittel› (Antemann) 269bedeutet nichts anderes, als die Gewissheit der Übereinstimmung von Plan und Physis, und gewährleistet die Austauschbarkeit der einzelnen Bauteile. Die Verantwortung der Ausführenden über den jeweiligen Arbeitsschritt hinaus ist externalisiert und wird von der Planung übernommen. Die Ausführenden haben an bestimmten (auch an besonders wichtigen) Stellen die Verantwortung für das Übereinstimmen des jeweiligen Bauteils mit dem Plan, sie können jedoch keine Verantwortung für dessen Funktionieren im Gesamtzusammenhang übernehmen. Wo im Abbund handwerklich gearbeitet wurde, handelt es sich also durchweg um fragmentierte handwerkliche Fertigung. Auch wenn handwerkliche Arbeitsschritte und handwerkliches Wissen an verschiedenen Stellen im Prozess vorkommen und eine sehr wichtige Rolle spielen, kann man insgesamt von einem fragmentierten Prozess sprechen. 266 Dies wegen der nötigen Nachbearbeitung und der daraus folgenden Gefahr von Farbunterschieden. 267 Shigeru Ban ist Japaner. In der japanischen Holzbautradition, auch der handwerklichen, ist regulierte Fertigung weitaus vorherrschend, während freie Fertigung dort sehr bewusst und punktuell eingesetzt wird. 268 Antemann 2015. 269 Ebd. 164 Ausdruck der Fertigung Beschreibung Hier bleibt die Fertigung vor allem im Prinzip des Steckens ablesbar, das vor allem im grossen Massstab wirkt. Das Stecken ist selbstverständlich nachvollziehbar. Im Kleinen herrscht ein Ausdruck der geometrischen Präzision und Homogenität vor. Die geschwungenen Verdickungen der Knotenpunkte sind hierbei (auch) formale Elemente, welche mit dem Material Holz beziehungsweise den organischen Formen des natürlichen Wachstums von Bäumen konnotiert werden können. Sie betonen aber vor allem die Steckverbindungen. Während die Binderbauteile rechteckige Querschnitte haben, sind die Horizontalen zwischen den Bindern oval. Wären die Zwischenhölzer rechteckig, gäbe es einen formal schwierigen Übergang von rechteckig zu oval im Bereich des Knotens. Das ovale Dübelloch wiederum verhindert Lastspitzen und Kerbwirkung. Also sind die Knoten für die Gestaltung der gesamten Konstruktion bestimmend. Auf diesem Massstab wirkt die Konstruktion selbstverständlich: Das Prinzip des Steckens und somit auch die Wirkungsweise der Konstruktion sind klar ablesbar. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Ausdruck des Steckens im Massstab des Gebäudes und dem Ausdruck in der Nahwahrnehmung. Die Vorholzlängen bei den Trägern sind sehr kurz und die Fasern des Nadelholzes laufen seitlich aus dem abgerundeten Querschnitt heraus. Dies entspräche nicht der Logik einer Vollholzkonstruktion, da bei dieser geringen Vorholzlänge der Knoten ohne die unsichtbaren Verstärkungen kaum tragfähig wäre. Der Ausdruck des Steckens steht teilweise im Widerspruch zur Logik des Holzes und ist nur in einem optimierten Holzwerkstoff sinnvoll. Die Spitzen der Gelenkpfannen mit ihren auslaufenden Fasern sind sehr fragil. Das Thema des Steckens, das für die Konstruktion im Gebäudemassstab wichtig ist, fehlt in der Nahwahrnehmung. Auf Materialebene gesehen sind die Träger selbst eigene Konstruktionen aus zusammengesetzten, meist geklebten Komponenten. Das Material wirkt durch die Verleimung flächig und homogen. Zwar sind Maserung und Äste sichtbar, jedoch wird durch die kleinteilige Verleimung das Holz auch optisch homogenisiert. Die Plastizität der Bauteile beschränkt sich, von den minimalen Rissen abgesehen, auf den Massstab der Konstruktion.270 270 Die Balken sind nur minimal gefast (laut Plan 5 mm), was bei den grossen Einzeldimensionen beinahe scharfkantig wirkt. Das Holz wirkt dadurch härter. 165 Die kleinste erkennbare Entität des Holzes ist nicht das Bauteil an sich, sondern die geleimte Lamelle. Auch die Risse sind vergleichsweise klein und meist innerhalb der Lamellen.271 Die Flächigkeit der Lamellenstruktur lässt keinen Rückschluss über Schwere und Massivität der Konstruktion zu. Die Holzstruktur wirkt beinahe tapetenartig. In der Nahwahrnehmung wirkt ein Ausdruck zeitgenössischer, mechanisierter Fertigungsweisen, der von Homogenität und geometrischer Perfektion geprägt ist. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein? Das Stecken als Entwurfsthema ist auf Massstab des gesamten Bauwerks im Ausdruck ablesbar. Auch der Ausdruck von Präzision und Homogenität vom Nahen entspricht der Absicht: Das Gebäude sollte durchaus in der heutigen Zeit verortet werden können. An den Reparaturen zeigt sich eine Diskrepanz. Sie sind sehr fachmännisch ausgeführt, aber Ausdruck handwerklicher Arbeitsschritte, womit sie der Absicht entgegenstehen. Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein? Auch hier wirkt der Unterschied zwischen kleinem und grossem Massstab. Die Konstruktion beruht auf dem Stecken von Bauteilen, die Bauteile selbst sind aber geklebt. Der Ausdruck im Grossen und im Kleinen stimmt jeweils mit der Fertigungsweise überein; lediglich zwischen beiden gibt es Diskrepanzen. Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung? Das Stecken wird durch Entscheidungen des Entwurfes sichtbar. Nicht nur die Konstruktion selbst, auch Entscheidungen wie Schattenfugen um die Steckverbindungen und nicht plane Überblattungen zeigen das. 271 166 Das ist auch einer der Gründe für diese Bauweise. Im Uhrzeigersinn: Die Materialien der Ausbauten kontrastieren das Holz / Die Gebäudeecke erfordert Sonderlösungen / Kleinere Reparaturen im Nahbereich und sehr homogene Oberflächen der Holzkonstruktion / Der Luftraum ist wichtig, um die Konstruktion als Ganzes erfassen zu können. 167 Holzstruktur Leimholzbinder Tamedia-Gebäude 168 IVSpuren 1. Synthese: Handwerkliches Bauen Können und Wissen im Handwerk Persönliches Wissen Erfahrung ist eine Kombination aus implizitem und explizitem Wissen. Sie kann durch körperliches Erleben verinnerlicht werden. Erfahrungswissen bedeutet ein Denken in Referenzen und schliesst lange Zeiträume ein. Bei einigen zeitgenössischen Bauten wurde Wissen aus der Ausführung in die Planung überführt. Es entsteht jedoch aus der handwerklichen Tätigkeit und bleibt an die Personen gebunden. Ein zentrales Merkmal des Handwerks ist, dass es sowohl physische als auch geistige Aspekte berührt. Machen ist eine physische Tätigkeit, während die Reflexion des Machens zur geistigen Sphäre gehört. Grundlage handwerklicher Fertigung ist also eine Kombination aus impliziten und expliziten Wissensformen, die einander bedingen und ergänzen und die während der handwerklichen Tätigkeit selbst entstehen und vertieft werden. Handwerk ist fester Bestandteil der materiellen Welt (vgl. ‹handeln›)272, aber nicht auf sie beschränkt. Auch wenn explizites Wissen verbalisierbar ist, bedeutet die Verankerung in der eigenen Erfahrung eine andere Präsenz. Es wird durch das physische Erleben tiefer ins Bewusstsein eingebettet. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass ein Werkstück beim Einbau zerbricht oder wem einmal ein Balken auf den Fuss gefallen ist, der wird diese Erfahrung ganz anders in die Beurteilung einer Situation einfliessen lassen, als jemand, der von solchen Gefahren gehört oder gelesen hat. Der Zimmerer und Bauingenieur Martin Antemann betonte die Rolle der 272 Vgl. Adamson 2007, S. 4: «Craft is organized around material experience.» 169 Erfahrungen als «Momente, die man kraft eigenen Erleidens verinnerlicht hat»273. Sie können wiederum reflektiert werden, um sie zu werten und richtig einzuordnen, also sie rational zu verstehen. Erfahrungswissen ist ein Denken in Referenzen und ergänzt das (rationale) Denken in Argumentationsketten.274 Bewusst oder unbewusst werden vorhandene Situationen mit vorher Erlebtem oder Beobachtetem verglichen und dadurch eingeschätzt. Dieses integrale Wissen sowie das direkte Arbeiten mit dem Material und das Erleben der Entstehung des Gesamtproduktes kann eine bestimmte Prägung oder geistige Haltung bedingen, die wiederum die Herangehensweise an die Arbeit beeinflusst. Ein Teil des expliziten Wissens im Handwerk kann durch empirische Beobachtung entstehen. Dieses Erfahrungswissen schliesst potentiell lange Zeiträume ein. Begegnen einem Zimmerer beim Reparieren oder beim Abriss immer wieder fäulnisgeschädigte Schwellen an alten Bauten, kann diese Beobachtung in die eigene Arbeit einfliessen, indem solchen Details besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. So können die Konsequenzen einer bestimmten Vorgehensweise auf den weiteren Bauprozess oder die Lebensdauer des Bauwerks vorhergesehen werden. In kurzen Zeiträumen gedacht kann das bedeuten, dass man den Stechbeitel so ansetzen wird, dass das Holz nicht reisst; ein Beispiel für lange Zeiträume sind die vielfältigen Methoden, Wasser von der Konstruktion wegzuleiten, wie es beim untersuchten Hochstudhaus an vielen Stellen zu beobachten ist.275 273 Anteman 2015. 274 Der Gedanke stammt von Zimmerer und Architekt Yves Dusseiller im Gespräch mit dem Verfasser. 275 Klaus Zwerger beschreibt in seiner umfassenden Darstellung «Das Holz und seine Verbindungen» etliche empirisch entstandene Lösungen für konstruktive Probleme, welche in das kollektive Wissen regionaler Handwerker eingegangen sind (Zwerger 2012). Kein Lego: Montage von Deckenelementen bei der Aufrichte der neuen MonteRosa-Hütte 170 Beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte wurde in hohem Masse Verantwortung von der Ausführung in die Planung verlagert. Offensichtlich kann aber mit der Verlagerung der Verantwortung hin zur Planung nicht das komplette Wissen explizit gemacht werden. Martin Antemann, Projektleiter Holzbau des Tamedia-Gebäudes, betonte, dass in der Ausführungsplanung und Arbeitsvorbereitung ausschliesslich Zimmerer mit grosser Praxiserfahrung und einer Zusatzausbildung arbeiteten. Deren Erfahrungswissen war wichtig für den reibungslosen Bauablauf, besonders in Hinblick auf das frühzeitige Erkennen möglicher Probleme. Die von Antemann beschriebenen Beispiele dafür, dass potentielle Probleme im Bauprozess bereits in der Planung vorhergesehen werden konnten, beruhen vor allem auf einem Gefühl für das Material Holz, für die Schwere der Bauteile und daraus resultierende Risiken bei der Aufrichte. Implizites handwerkliches Wissen wurde hier von der physischen Ausführung in die Planung übertragen, blieb dabei aber an die Personen gebunden. Auch dieses Erfahrungswissen muss durch direkte Interaktion mit dem Material aufgebaut und kumuliert worden sein, auch wenn die Interaktion in früheren Projekten gewonnen wurde.276 Die im Handwerk verinnerlichte Sichtweise verändert auch die Planung. Insofern profitieren auch hochtechnisierte Prozesse von im Handwerk aufgebautem Wissen. Überpersönliches Wissen Das zum Bau notwendige Wissen muss über die einzelne Person hinaus der Bautruppe zur Verfügung stehen. Traditionen sind ein Medium zum Speichern von Wissen. In ihnen kann festgelegt sein, wie genau etwas zu tun ist. Dies überschreitet rein technische Kriterien. Obwohl handwerkliches Wissen individuell ist, muss es beim Bauen zu einer kollektiven Leistung zusammenwirken.277 Das kollektive Wissen der Bautruppe kombiniert die unterschiedlichen persönlichen Fertigkeiten der Ausführenden, von angelernten Hilfskräften über Lehrlinge bis zum Meister, und kann so Lücken in den Fertigkeiten einzelner überbrücken.278 276 Antemann weist in dem Zusammenhang auf die Vorteile kleiner Zimmereien hin. Da die Ausführenden hier als Generalisten arbeiten, haben sie Kenntnisse über komplexe Zusammenhänge und gewinnen so eine umfassende Erfahrung über den gesamten Prozess hinweg.»Die kleinen Zimmereien haben den Vorteil, dass die Zimmerer noch Generalisten sind, welche die Dinge noch beherrschen und durchschauen.» Er betont ebenso die wichtige Rolle des ‹Faktors Mensch› in Herstellungsprozessen. Dabei ist die jeweilige Person, aber auch deren Hintergrund und gegenwärtige Situation wichtig (Antemann 2015). 277 Viele einzelne Arbeitsgänge beim Zimmern haben klar eine kollektive Komponente. Im traditionellen Zimmern wurde z. B. das Balkenhauen in Gruppen ausgeführt. Diese Arbeit im Takt ist enorm anstrengend und kann traditionell durch rhythmische Gesänge unterstützt werden. Aufrichten und Bewegen der Balken geschieht oft in Gruppen. Auch heute ist das Einbauen schwerer Bauteile nur in enger Zusammenarbeit mehrerer Personen einschliesslich der Kranführer möglich. 278 Karl Marx spricht im Zusammenhang mit der arbeitsteiligen Organisation der Manufaktur vom ‹Gesammtarbeiter› (sic); damit ist die Gesamtheit der Arbeitskräfte in der Manufaktur gemeint. Dadurch dass die einzelnen Arbeiter hochspezialisiert arbeiten, ist der ‹Gesammtarbeiter› im Ganzen sehr produktiv, da er 171 Traditionen können als Wissensspeicher wirken. Im Sinne von adaptierbaren Regeln, wie etwas zu machen ist, erleichtern sie die Zusammenarbeit, da Fehlerquellen und der Zeitaufwand für die Kommunikation reduziert werden. Rituale, wie sie am Schrein von Ise in Japan untersucht wurden, stellen einen Extremfall dar. Dieser wird seit 1300 Jahren in Zyklen von wenigen Jahrzehnten immer wieder neu aufgebaut. Die Vorgehensweise ist derart ritualisiert, dass sich sehr altertümliche Bauweisen erhalten haben. Damit sich die ursprüngliche Konstruktion möglichst wenig verändert, wird der jeweils neue Schrein immer als eine direkte Kopie des noch existierenden Vorgängerbaus aufgestellt, bevor dieser anschliessend abgetragen wird. Hier wurde eine hoch formalisierte, ritualisierte Regelung gefunden, um das unvermeidliche Weiterentwickeln von Formen und Techniken gezielt einzuschränken. Im Ritual wird implizites Wissen gespeichert. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass die Art und Weise, wie etwas zu tun ist, durch Nachahmung und Tradition weitergegeben werden kann. Es zeigt auch, dass diese Tradition veränderbar ist: Selbst das stark formalisierte Ritual in Ise ist durchaus wandelbar und passt sich, wenn auch langsam und reflektiert, an veränderte Rahmenbedingungen an.279 Tradition ist ein Kanon an Konventionen, auf welche Weise handwerkliche Tätigkeiten durchgeführt werden. Die Tradition geht jedoch über technische Belange hinaus und ist auch Träger des Ethos. Sie kann qualitätssichernd sein, indem sie die Beschaffenheit des Produktes der Arbeit festlegt. Diese Art der Weitergabe des Erfahrungswissens spielt auch heute noch eine wichtige Rolle, allerdings in subtilerer Form als in fast ritualisierten Tätigkeiten wie dem gemeinsamen Balkenhauen. Einzelne Ausführende müssen im Extremfall eine bestimmte Handlung nicht in ihrem Sinn, nicht einmal in ihrer Konsequenz verstehen, solange die in der Tradition vorgegebenen Schritte richtig ausgeführt werden. Diese Rituale sind eine Abstraktion, da in ihnen nur die Form vorgegeben ist, nicht unbedingt deren Sinn und Zweck. Durch stetiges Hinterfragen der Form und durch die Beobachtung der Ergebnisse kann sich die Form an veränderte Rahmenbedingungen anpassen. Ein Verständnis der Zusammenhänge ist nötig, um überholte Schritte zu überwinden. Tradition kann daher weder Selbstzweck noch starre Vorgabe sein. nicht wie eine reale Person Bereiche hat, die er weniger gut beherrscht. Marx 1983, S. 284: «Die spezifische Maschinerie der Manufakturperiode bleibt der aus vielen Theilarbeitern kombinirte Gesammtarbeiter selbst. (...) Nach der Trennung, Verselbstständigung und Isolirung der verschiednen Operationen werden die Arbeiter ihren vorwiegenden Eigenschaften gemäss getheilt, klassificirt und gruppirt.(...) Der Gesammtarbeiter besitzt jetzt alle produktiven Eigenschaften in gleich hohem Grad der Virtuosität und verausgabt sie zugleich auf`s ökonomischste, indem er alle seine Organe, individualisirt in besondern Arbeitern oder Arbeitergruppen, ausschliesslich zu ihren spezifischen Funktionen verwendet.» 279 Cassandra Adams beschreibt, dass der in religiöse Rituale eingebettete Prozess des zyklischen Wiederaufbaus die Techniken und Vorgehensweisen sowie ‹attitudes› der ursprünglichen Erbauer bewahrt hat. Sie bemerkt aber auch, dass die Bräuche und Rituale sich dennoch im Lauf der Zeit Schritt für Schritt und mit der Gesellschaft gewandelt haben. Auch bei diesem Extrembeispiel wird nicht strikt der Vorgabe gefolgt, es gibt durchaus Interpretationen der ursprünglichen Konzeptidee aus dem jeweiligen Hintergrund der Zeit heraus (Adams 1998). 172 Südost-Ecke Hotzenhaus 173 Mögliche Faktoren für die Ausbildung einer tradierten Art und Weise, wie ein handwerklicher Arbeitsschritt auszuführen ist, sind technisches Wissen (die Verwendung bestimmter Hölzer an bestimmten Orten), Langlebigkeit (empirische Beobachtungen über lange Zeiträume), Sicherheit (der Aberglaube, nie unter einer Leiter hindurchzugehen), aber auch soziale Gründe. Im Feiern der eigenen Arbeit, in der Verzierung des Kaiserpfostens, wird dieses Bauteil bewusst mit Bedeutung aufgeladen. Hier überschreitet die Tradition klar die technisch-funktionale Ebene. In der Berufslehre wird nicht nur das implizite Wissen stets durch Nachahmen weitergegeben, sondern auch die entsprechenden Qualitätsstandards. Die Weitergabe der Tradition geschieht über das persönliche Lernen von Generation zu Generation. Wird diese Kette des Lernens unterbrochen, ist das Wissen kaum rekonstruierbar. Polanyi argumentierte, dass in der Wissenschaft Tradition auch die Grundlage der Qualitätsbeurteilung und -sicherung bedeute, da wissenschaftliche Standards nicht kodifiziert, sondern im Fluss seien und immer neu ausgehandelt werden müssten; sie gehören zur ‹tacit knowledge›: «They are, in the main, tacitly implied in the traditional pursuit of scientific inquiry.»280 Auf das Handwerk übertragen bedeutet dieses Argument, dass auch das Ethos in diesem Sinne traditionell vorgegeben, aber wandelbar ist und die Rahmenbedingungen absteckt, wie eine Arbeit auszuführen ist. Traditionelle Typologien In der Tradition können auch bestimmte Formen bis hin zu ganzen Bauten festgelegt sein. Auch solche Typologien sind Wissensspeicher, um das eigentlich persönliche, implizite Erfahrungswissen zu speichern und weiterzugeben. Sie sind adaptierbar und können lange, empirische Beobachtungszeiträume berücksichtigen. Ihre Anwendung aber setzt implizites und explizites Wissen seitens der Ausführenden voraus. Eine einzelne Holzverbindung, die Konstruktion eines Hauses, aber auch das ganze Gebäude selbst von der Raumaufteilung bis zu den Konstruktionsdetails können als empirisch entwickelte Typologien in der Tradition gespeichert werden. Sie wirken als Wissensspeicher, mit deren Hilfe manche Komponenten des impliziten Erfahrungswissens weitergeben werden können. Der Architekturhistoriker Günther Binding spricht vom Bauen nach einer «vorbildhaften Gestalt» 281. Darüber hinaus sind sie Referenzen, auf die sich Ausführende, Planende und Bauherren beziehen können. Da sie im Gegensatz zu einem Plan konkret und nicht abstrahiert vorliegen, geht ihre deskriptive Wirkung viel weiter. Zudem können sie mit Traditionen verbunden sein, die festlegen, wie genau bestimmte Schritte auszuführen sind. 280 Polanyi 1966, S. 64. 281 Binding 1993, S. 180. 174 Das untersuchte Hochstudhaus in Birrwil ist ein Beispiel einer Architekturtypologie und zugleich einer Konstruktionstypologie. Der Entwurf des Hauses lag bei Baubeginn bis ins Detail vor, jedoch nicht in Form von Plänen, sondern durch bereits gebaute Vorbilder.282 Die Ausführung von Details wie Knoten und Holzverbindungen ist in Dimension und Geometrie ebenfalls sinngemäss festgelegt. Sie bilden den Baukasten, aus dem sich die Typologie zusammensetzt. Die Typologien entwickeln sich evolutionär. Dabei kann auf in langen Beobachtungszeiträumen gewonnene empirische Erfahrungen reagiert werden, indem sich mit der Zeit minimale Anpassungen an geänderte Rahmenbedingungen oder Verbesserungen kumulieren.283 Hinzu kommen zufällige Mutationen wie Fehler, Versehen oder Experimente, nicht zuletzt auch die Vorlieben der jeweiligen Meister. Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen, Beobachtungen oder Einflüsse von Aussen, zum Beispiel durch reisende Handwerker, gehören zur Anwendung der Typologien. Sie können daher kaum statisch sein, auch wenn Veränderungen sehr langsam geschehen. Zeit kann dabei Fehler und Irrtümer ans Licht bringen.284 Die Wirkungsweise von Konstruktionen wird dabei nicht nur praktisch ausprobiert, sondern wie in einem Langzeitversuch beobachtet. Bei Reparaturen oder Wiederverwendungen von Altholz285 lernt jeder Zimmerer zwangsläufig das Verhalten von Konstruktionen über lange Zeiträume hinweg kennen. Die Konsequenzen hieraus fliessen in die weitere Praxis ein. So kann ein Verständnis für die Faktoren entstehen, welche die Lebensdauer von Gebäuden mitbestimmen. 282 Das von Brunner als beispielhaftes Hochstudhaus beschriebene Chablihaus in Gettnau weist eine sehr starke Übereinstimmung der Konstruktion bis in die Details hinein mit dem Hochstudhaus in Birrwil auf (Brunner 1977). 283 Oertel spricht im Zusammenhang mit dem Bauablauf in der Gotik vom Reagieren auf «in empirischer Auseinandersetzung mit dem Material und den im Lauf der Bauführung auftauchenden Einzelproblemen (...)» (in Binding 1993, S. 192). 284 Katastrophen wie der Einsturz des Chores der Kathedrale von Beauvais 1284 oder der Tacoma Bridge 1940 markieren Extremfälle im empirischen Entwickeln von Konstruktionen, hier in Stein bzw. Stahlbeton. Im Holzbau gibt es, von Bränden abgesehen, kaum solche ‹significant disasters›. Das kann daran liegen, dass sich Holzkonstruktionen anders verhalten als Stein oder Stahl. Eine historische Holzkonstruktion würde wahrscheinlich nicht sofort total versagen, sondern dieses Versagen vorher durch starke Verformungen ankündigen. Das lässt Zeit für Reparaturen und Nachbesserungen. Der Blick auf solche Nachbesserungen kann also beim Holzbau enthüllen, wie sich Konstruktionen entwickelt haben. Auch das Entfernen von Bauteilen kann ein Hinweis auf eine nachträgliche Verbesserung der Konstruktion sein, indem als überflüssig Erkanntes herausgenommen (und potentiell das Rohmaterial für Neues) wird. 285 Dies kam im vormodernen Zimmererhandwerk sehr oft vor: Die hier vorherrschende Knappheit war meistens diejenige des (verarbeiteten) Baumaterials. Vgl. beispielsweise Reith 1998, S. 16: „Dem Mittelalter war also durchaus jener Zyklus zwischen neuwertigem Rohmaterial, handwerklichem Erstprodukt und handwerklichem Sekundärprodukt geläufig, welches wir heute als ‹recycling› zu bezeichnen pflegen.» Reith zitiert hier Walter Janssen, Handwerksbetriebe und Werkstätten in der Stadt um 1200, in Heiko Steuer (hg.), zur Lebensweise der Stadt um 1200, Köln 1986. Das häufige Wiederverwenden von Bauteilen und Materialien, namentlich Bauholz, muss auch bei Datierungen durch Dendrochronologie in der Bauforschung berücksichtigt werden, vgl. Grossmann 2010, S. 51. 175 Die Festlegungen der Typologien müssen so flexibel sein, dass sie an den jeweiligen Einzelfall angepasst werden können. Die Konzeption eines Hauses wird an Faktoren wie die gewünschte Raumgrösse, die verfügbaren Holzlängen, die Topografie oder besondere Anforderungen angepasst. So liegt im leicht abfallenden Baugelände des Hochstudhauses der bergseitige Schwellenkranz des Stalles etwas höher als der talseitige, so dass Holz und vor allem Erdarbeiten zum Anpassen des Baugrundes gespart wurden. Dagegen wurde das steiler abfallende Gelände unter dem talseitigen Wohnhaus zur Anlage von Erdkellern ausgenutzt. Auch auf Detailebene muss jede Holzverbindung an die jeweilige Situation angepasst werden. Unterschiedliche Holzstärken, der Ort des Einbaus samt der dort herrschenden Belastung oder Unregelmässigkeiten im Material führen dazu, dass bei aller Ähnlichkeit kein Exemplar einer Typologie eine exakte Kopie eines anderen sein kann. Kulturelle, funktionale und soziale Einflüsse prägen die Typologien über technische Anforderungen hinaus mit. Ursprünglich als technische Notwendigkeit entstandene Formen können im Lauf der Zeit in ästhetische Konventionen übergehen. So kann handwerkliches Wissen in regionalen Wissenskulturen verankert sein. Man denke an die speziellen Fachwerk-Zierformen der ‹Mannfigur› im alemannischen Fachwerk oder an Profile, deren zierende Funktion einhergeht mit der ganz pragmatischen Aufgabe, Wasser abzuleiten.286 Direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material Spezifisches Werkzeug Handwerkliches Arbeiten ist unabhängig davon, ob mit Elektro- oder Handwerkzeugen gearbeitet wird. Dies hat aber Einfluss auf die Spuren, da direkte Arbeitsweisen inkrementelle ersetzen können. Mit einem Elektrowerkzeug wie der Handkreissäge ist handwerkliches Arbeiten genauso möglich wie mit einer Axt. Für die Menge der Spuren, die am Gebäude entstehen, macht dies jedoch einen Unterschied. Dieser kommt aus der Unterscheidung zwischen direkten oder inkrementellen Techniken. 286 Clausnitzer 2000, zitiert von Zwerger, S. 26: «Profilierungen, die vielfach nur als Dekoration oder Stilmerkmal gesehen werden, sind, wenigstens entwicklungsgeschichtlich, aus keinem anderen Grund angebracht worden als zum Zweck der Wasserableitung.» Ich würde diese Aussage insofern einschränken, als dass der genaue Grund für bestimmte Lösungen sich nicht auf rein technische, rein ornamentale oder andere Einflüsse reduziert werden kann. Eine solche Trennung ist eine moderne Idee. 176 Die Bearbeitung der Verbindungen und vieler Details beim Hochstudhaus in Birrwil wurde durch die inkrementelle Arbeitsweise mit der Axt durchgeführt. Beim Hotzenhaus wurde hingegen mit Handmaschinen wie Handkreissägen und Kervenfräsen in direkter Arbeitsweise abgebunden. Diese hinterliess viel weniger Spuren als die inkrementelle mit der Axt, dabei sind beides handwerkliche Arbeitsschritte. Dies ist ein Grund dafür, dass die Verbreitung von Maschinen die Menge der Bearbeitungsspuren reduziert. Dies ist jedoch nur eine tendenzielle Entwicklung. Beispielsweise können auch völlig determinierte Arbeitsschritte inkrementell arbeiten und entsprechende Spuren hinterlassen, wie das bei der CNC-Fräse der Fall sein kann: Je schneller diese arbeitet, desto gröber sind die Spuren; auch hier muss das gewünschte Ergebnis mit der aufzuwendenden Zeit ausbalanciert werden. Die Auswahl der Werkzeuge und der damit verbundenen Techniken ist also relevanter für das Auftreten von Bearbeitungsspuren als handwerkliche oder nicht-handwerkliche Fertigung. Verteilung der Verantwortung Die direkte Interaktion mit dem Material bedeutet eine Übernahme von Verantwortung durch die Ausführenden. Sie kommt bei allen untersuchten Beispielen vor. Die Breite der Verantwortung der Ausführenden über den Prozess hinweg ist dabei sehr unterschiedlich. Die direkte menschliche Interaktion mit dem Material bedeutet, dass die Ausführenden für das Gelingen des Arbeitsschrittes direkt verantwortlich sind. Sie tragen das Risiko für dessen Scheitern. Die fragmentierte handwerkliche Fertigung, bei der sich die Verantwortung nur über den jeweiligen Arbeitsschritt erstreckt, kam beim Bau aller Fallbeispiele vor. In der Architektur kann man auch dann davon sprechen, wenn sich die Verantwortung auf ein Bauteil erstreckt, dessen Fertigung aus mehreren Arbeitsschritten besteht, aber nicht das gesamte Bauwerk umfasst. Nur das Bauwerk als Ganzes ist der Bezugspunkt für die Beschreibung von Handwerk in der Architektur. Bei der fragmentierten handwerklichen Fertigung ist die Vorgabe für den einzelnen Schritt die Referenzgrösse für das Ergebnis der Arbeit. In diesem Falle sind genaue Anweisungen notwendig, welche die Einordnung des Arbeitsschrittes in die Gesamtheit des Gebäudes übernehmen. Dies kam vor allem bei den Bauten vor, bei denen der Abbund direkt auf Pläne für einzelne Bauteile referenzierte. Integrale handwerkliche Fertigung bezieht die Verantwortung auf das gesamte Bauwerk über die Konstruktion hinaus, wie es beim Bau des Hochstudhauses in Birrwil und dem Hotzenhaus der Fall war. Dort ist nicht nur die Konstruktion sehr zentral für den architektonischen Entwurf, die 177 Verantwortung der Zimmerer ging noch darüber hinaus. Das Funktionieren des konstruktiven Holzschutzes in Birrwil schliesst auch das Dach und die Gründung ein. Die Grenzen zwischen Konstruktion und Ausbau verschwimmen vor allem an den Stellen, wo die Tragstruktur im Inneren sichtbar und entsprechend behandelt ist. Darüber hinaus haben die Zimmerer auch Arbeiten ausserhalb der Kernkompetenzen ihres Faches ausgeführt, wie das auch beim Hotzenhaus der Fall war. Die integrale handwerkliche Fertigung hat nicht nur Auswirkungen auf das Werk, sondern auch auf die Ausführenden.287 Eine hohe eigene Verantwortung fordert die geistige Beteiligung am Bauprozess und kann die Identifikation mit Arbeit und Resultat erhöhen. Dem entmündigten Handwerker ist das Resultat egal. Das Zugeständnis der Eigenverantwortung kann als Qualitätssicherungsstrategie im Prozess genutzt werden. Die Verteilung der Verantwortung ist daher Grundvoraussetzung für das Herausbilden des entsprechenden Ethos. Angemessenheit Beschränkung. Indikator 1: Die Art der Spuren Bei allen Fallbeispielen sind die Ressourcen beschränkt. Angemessenheit ist die Balance aus dem Einsatz von Ressourcen und dem gewünschten Ergebnis, das durch die Absicht des Bauwerks bestimmt wird. Die Beschränkung bestimmter Ressourcen wie Arbeitszeit, Material oder Energie wird nicht unbedingt durch äussere Zwänge bestimmt. Sie kann auch durch Entwurfsentscheidungen konzeptuell festgelegt werden, die entsprechende Auswirkungen auf die Konstruktion haben. So wird im Entwurf ein Regelwerk geschaffen, welches die Rahmenbedingungen für die Konstruktion bildet. Die Angemessenheit bedeutet, dass die richtige Proportion zwischen dem Einsatz der Ressourcen und dem gewünschten Ergebnis gefunden werden muss. Das gewünschte Ergebnis wird durch die Absicht des Bauwerks bestimmt. Die Beurteilung der Angemessenheit ist daher immer relativ. Beschränkung kann also nicht für sich bewertet werden, sondern immer in der Balance mit der gesuchten Qualität, welche in der Absicht festgelegt wird. Herrscht reiner Preisdruck vor, der 287 Zimmerer und Restaurator Thomas Gindhard beschrieb dies mit dem Satz «Niemand hat heute mehr schlaflose Nächte». Er meinte, dass die Spannung, ob ein abgebundener Dachstuhl auch zusammenpasst, vor dem Siegeszug des computergestützten Abbundes immer zu schlaflosen Nächten geführt habe; dafür aber war die Herausforderung und das Erfolgserlebnis beim Gelingen sehr motivierend. Die Verlagerung der Verantwortung geht einher mit einem Verlust an Selbstbestimmung und kann zu einem Gefühl der Degradierung führen. Für Gindhard war dies der Grund, sich auf Restaurierungsarbeiten zu konzentrieren. 178 ein solches Abwägen zwischen Qualität und Ressourceneinsatz unmöglich macht, kann auch die Angemessenheit nicht mehr abgewogen werden. Das Abwägen von Aufwand und Ergebnis lässt sich aus dem Umgang mit den Fertigungsspuren erschliessen. Bei der Beobachtung dieses Indikators lassen sich die untersuchten Fallbeispiele in drei Gruppen einteilen. Diese Unterteilung betrifft die – bewusst oder unbewusst – angewandte Strategie im Umgang mit den Spuren. Akzeptierte Spuren: Hochstudhaus in Birrwil Beim untersuchten Hochstudhaus wurden die bei der Fertigung ohnehin entstehenden Spuren akzeptiert. Die angewandten Techniken in inkrementeller Arbeitsweise brachten zugleich sehr viele Spuren hervor. Auf der einen Seite des Spektrums steht das barocke Hochstudhaus, bei dem über das gesamte Haus verteilt, innen wie aussen, ein dichtes Netz an Spuren des Herstellungsprozesses besteht. Diese Spuren sind vor allem durch die inkrementelle Arbeitsweise mit der Axt entstanden. Durch ein Mehr an Aufwand hätten theoretisch alle Bearbeitungsspuren beseitigt werden können. Gemessen an der Absicht – ein nach den geltenden Regeln der Kunst errichtetes Haus innerhalb eines bekannten Typus – wäre ein solcher Mehraufwand jedoch unangemessen gewesen. An einem Punkt, an dem die Arbeitsergebnisse ‹gut genug› sind, also eine als angemessen empfundene Qualität der Ausführung erreicht ist, wird der Prozess abgebrochen. Bestehende Beispiele dieser Typologie liefern die anschauliche Referenz für die angemessene Qualität. Die stillschweigende Strategie zum Umgang mit den Spuren ist, diese als natürliches Produkt der Fertigung zu akzeptieren. Im Bezug auf die Spuren macht es beim Hochstudhaus keinen Unterschied, wie exponiert oder bedeutungsvoll ein Bauteil ist; sie kommen im Bereich des mit Malerei und Inschrift geschmückten Tenntores ebenso vor wie unsichtbar weit oben im Dachraum. Hier wird der Aufwand an Material und an einzusetzender Arbeit und Anstrengung gegen das gewünschte Ergebnis abgewogen. Die Prägung der Ausführenden im Umgang mit dem Material, die durch die eigene Anstrengung verinnerlicht wurde, führt zum sparsamen Umgang damit. Was als angemessen gilt, ist im Ethos und damit im kulturellen Kontext festgelegt: Die gebauten Beispiele der Typologie bilden den allgemein verfügbaren Referenzrahmen.288 Auch die hier an vielen Stellen verwendeten Schmuckformen können als angemessen gewertet 288 Dillettanten im besten Sinne, also Personen, die ein Handwerk als Selbstzweck betreiben, haben daher oft das Problem, dass sie beim autodidaktischen Lernen des impliziten Wissens das Ethos nicht vermittelt bekommen können. Daher fehlen ihnen oftmals die Bewertungsmassstäbe der eigenen Arbeit: sie kann sehr gut, aber viel zu langsam ausgeführt sein, oder auch speditiv, aber zu wenig qualitätsvoll. 179 werden, da ihre Herstellung im Verhältnis zum gesamten Bau sehr wenig Zeit gebraucht hat. Darüber hinaus sind die meisten Zierformen Variationen von Massnahmen, die auch einen funktionalen oder technischen Hintergrund haben. Die Zierfasen dienen dem Schutz der Kanten, die ‹Öhrli› genannten konkaven Schnitzereien an Brettenden schützen die Kanten ebenfalls. Im Hirnholz verhindert diese Art des Details das Absplittern während der Herstellung. Letztendlich ist die Strategie, Spuren der Herstellung zu akzeptieren, durch Fragen der Effizienz bedingt. So kann Mehraufwand zum Entfernen oder Vermeiden der Spuren umgangen werden. Spuren verwischen: Tamedia-Gebäude Beim Tamedia-Gebäude wiedersprechen Fertigungsspuren dem beabsichtigten Ausdruck. Die angewandten Techniken erzeugten wenig Spuren. Entstanden dennoch welche, widersprachen sie dem Ausdruck der Fertigung und wurden aktiv minimiert. Das Gegenstück zur Strategie des pragmatischen Akzeptierens von Spuren stellt das TamediaGebäude dar. Herstellungsspuren oder freie Umsetzung unterstützen den beabsichtigten Ausdruck der Konstruktion, das Stecken, nicht. Die angewandten Fertigungsweisen bedeuten regulierte Umsetzung und wenig Spuren. Die homogenisierten Holzwerkstoffe wirken auch im Ausdruck gleichförmig. Entstehen dennoch vereinzelte Spuren, so fallen sie hier umso deutlicher ins Auge. Folgerichtig sind es meistens erkennbare, punktuelle Reparaturen. Die Flickzapfen oder die vor Ort ausgebesserten Ausbrüche sind zwar sichtbar, ersetzen jedoch auffälligere, ungewollte Spuren der Herstellung. Sie sind insofern angemessen, als sie so wenig wie möglich erkennbar sein sollen.289 Ihr Vorhandensein selbst ist jedoch nicht gewollt oder toleriert, sondern markiert Brüche im Ausdruck der determinierten Fertigung. Die Spuren sind im Entwurf nicht einkalkuliert; treten sie dennoch auf, ist ihre Wirkung schwer zu kontrollieren. Auch das Entfernen von Spuren kann mit einigem Aufwand betrieben werden, der, je nach Absicht des Gebäudes, durchaus angemessen sein kann. Gewünschte Spuren: Büttenhardt, Totenstube, Monte-Rosa-Hütte und Hotzenhaus Bei den anderen Beispielen werden Spuren als Mittel zum Erreichen eines bestimmten architektonischen Ausdrucks verstanden. Durch die technischen Rahmenbedingungen wäre hier spurloses Arbeiten ohne Mehraufwand möglich gewesen. Die gewünschten Spuren konnten jedoch nicht um ihrer selbst willen erzeugt werden, da dies eine Imitation erzeugt hätte. 289 Natürlich gibt es Beispiele aus der Holzbearbeitung, namentlich aus Möbel- oder Bootsrestauration, wo Reparaturen und Flickstellen sehr viel weniger sichtbar ausgeführt werden, jedoch mit entsprechend viel höherem Aufwand. Dies zeigt jedoch nicht, dass die Reparaturen beim Tamedia-Gebäude unangemessen (weil sichtbar) sind, sondern dass die Angemessenheit bei Möbel und Boot anders gewertet werden muss. Das Übertragen des im Möbelbau üblichen Zeitaufwandes pro bearbeiteter Fläche auf das Herstellen von Architektur kann nur in sehr wenigen Fällen angemessen sein. 180 Aufgedoppelter, genagelter Türrahmen am Hochstudhaus 181 Alle anderen Beispiele haben gemeinsam, dass sie – in verschiedener Form und Ausprägung – die Nähe zu einem von geometrischen Unschärfen geprägten Ausdruck wie im handwerklich erbauten Hochstudhaus von Birrwil suchen. Beim Hotzenhaus soll die tatsächlich vorherrschende handwerkliche Fertigungsweise im Ausdruck erkennbar sein. Bei der Totenstube dient er als Anknüpfungspunkt für das ‹Weiterbauen› des Dorfes, in Büttenhardt thematisiert er die eingesetzten Materialien, bei der neuen Monte-Rosa-Hütte ist er formale (und atmosphärische) Referenz der ‹alten› Berghütten des Schweizerischen Alpen-Clubs SAC. Fertigungsspuren werden in diesem Sinne für den Ausdruck genutzt. Im Unterschied zum vormodernen Hochstudhaus sind jedoch die gängigen Techniken durch die grössere Verbreitung direkter Arbeitsweisen, aber auch durch grössere Anteile determinierter Fertigung so verändert, dass das Entstehen von Spuren nicht mehr ohne Weiteres selbstverständlich ist. Heute geschieht vor allem die Materialaufbereitung weitgehend in determinierter Fertigung. Durch die zur Verfügung stehende Energie ist das maschinelle Hobeln der Balken möglich geworden. Gleichzeitig werden so die Anforderungen fragmentierter Prozesse nach geometrischer Präzision erfüllt. So verringern sich die Spuren der Materialaufbereitung auf ein Minimum. Würden die Spuren anschliessend durch eigene Arbeitsschritte bewusst herbeigeführt, so wären sie keine Herstellungsspuren, sondern reine Ornamente, deren Herstellung Mehraufwand und Selbstzweck wäre. Im Abwägen zwischen Aufwand und Wirkung wären sie völlig anders zu bewerten als tatsächliche Spuren der Herstellung. Absichtlich angebrachte Spuren werden zu Dekoration, zur Imitation290 eines Ausdrucks der Fertigung. Eine solche Imitation bedeutet, dass der Ausdruck der Fertigung nicht mit der tatsächlichen Fertigung übereinstimmt. Dies hat Auswirkungen auf dessen Wahrnehmung, welche später genauer betrachtet werden soll. 290 Duden: «Imitation: a. (bildungssprachlich) das Nachahmen; Nachahmung b. [minderwertige] Nachahmung eines wertvolleren Materials oder Gegenstandes». Obwohl eigentlich nicht zwangsläufig negativ, so schwingt doch oft die Konnotation des ‹minderwertigen›, nicht originären, ‹un-echten› bei dem Begriff mit. 182 2. Synthese: Handwerkliche Prozesse Anhand der Fallbeispiele können drei grundlegende Strategien unterschieden werden, die handwerkliche Fertigung in den Bauprozess einzubinden. In einem handwerklichen Prozess ist die handwerkliche Fertigung konstituierender und selbstverständlicher Bestandteil des Baus wie beim Hochstudhaus und dem Hotzenhaus. Sie bestimmt den Prozess. In einem fragmentierten Prozess wie bei der neuen Monte-Rosa-Hütte und dem TamediaGebäude wird handwerkliche Fertigung weitgehend reduziert. De facto aber wird sie dort angewandt, wo auf Unvorhergesehenes reagiert werden soll. Sie dient als punktuelles Steuerwerkzeug. Im Mittelfeld – bei der Totenstube und in Büttenhardt – wird dort mit determinierter Fertigung gearbeitet, wo es effizient ist. Handwerkliche Fertigung wird als ein Teil unter anderen in den Prozess eingebettet. Vor allem durch die Nähe von Ausführenden und Planung ist handwerkliche Fertigung dennoch bewusst eingesetzter Teil des Prozesses. Indikator 2: Spuren situativen Reagierens – das Arbeiten mit individuellen Materialien und Situationen Das Eingehen auf das Material ist selbstverständlich für handwerkliche Fertigung. Dies bedeutet situatives Reagieren. Es erlaubt Recycling und Reparieren. Spuren situativen Reagierens gibt es bei allen Fallbeispielen in unterschiedlicher Menge. Beim Hochstudhaus ist das situative Reagieren wichtiger Bestandteil des Prozesses. Am Hotzenhaus, dem Ferienheim Büttenhardt und der Totenstube wird es genutzt, wo es im Kontext Sinn macht, aber unterschiedlich in die Prozesse eingebettet. Im Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte kann durch situatives Reagieren Unvorhergesehenes im Prozess kompensiert werden. Ein Wesenszug der handwerklichen Fertigungsweise ist, dass auf das individuelle Material reagiert wird. Dieses situative Reagieren kann Spuren am Gebäude hinterlassen, die einen Indikator für handwerkliche Fertigung darstellen. Da die Beurteilung des Vorgefundenen zu jedem Schritt gehört, bedeutet das Reagieren keinen Mehraufwand. Dadurch erlaubt das situative Reagieren das Verwenden von individuellen Bauteilen oder inhomogenen Materialien291 und die 291 Vgl. Graubner 1986, S. 18: «Ein entscheidender Vorteil des Schreinerbetriebes gegenüber der Möbelindustrie liegt in seiner Möglichkeit, Massivholz zu verarbeiten. Hierzu sind grosses handwerkliches Geschick und Erfahrung im Umgang mit dem Material erforderlich, um auf die Besonderheiten jedes Stammes und jedes Brettes einzugehen.» 183 Zweitverwendung von Bauteilen und Materialien, das Recycling.292 Auch jede Reparatur bedeutet in diesem Sinne das Reagieren auf eine vorgefundene, individuelle Situation. In dem Falle ist das ein unerwünschter Zustand, welcher durch die Reparatur verändert werden soll. So kommen beim Tamedia-Gebäude genau da handwerkliche Arbeitsschritte vor, wo Spuren ungeplanter Ereignisse während des Prozesses beseitigt werden mussten. Reparaturen sind ihrem Wesen nach handwerklich. Tatsächlich sind Spuren situativen Reagierens während der Ausführung in allen Projekten vorhanden, wenn auch mit stark unterschiedlicher Bedeutung für die endgültige Erscheinung der Bauten. Beim barocken Hochstudhaus in Birrwil ist das situative Reagieren konstituierender Bestandteil der Vorgehensweise beziehungsweise des Prozesses. Die Holzverbindungen, die Auswahl der konkreten Hölzer und deren Beurteilung während der Bearbeitung bedeuten ein direktes Eingehen auf die jeweilige Situation. Strategien wie das Arbeiten mit Bundfluchten ermöglichten, mit inhomogenen Materialien die notwendige geometrische Genauigkeit zu erreichen und dabei den Aufwand zu minimieren. Das situative Reagieren bestimmt das gesamte Vorgehen bis hin zur Konstruktion. Am Gebäude hinterlässt es flächendeckende Spuren. Beim Bau des Hotzenhauses, des Ferienheims Büttenhardt und der Totenstube war das situative Reagieren nicht in der selben Form in den Prozess eingebettet wie bei dem vormodernen Beispiel. Die Herstellung von Bauteilen wie Balken mit geometrischer Präzision war ohne Mehraufwand möglich. Direkte anstatt inkrementeller Arbeitsweise war durch Maschinen sehr viel verbreiteter. Dennoch ist das situative Reagieren bei diesen drei Bauten in den Fertigungsprozess integriert. Graubners Zimmerleute verbauten im Hotzenhaus wiederverwendete Materialien und sogar ganze Bauteile wie Fenster. In Büttenhardt mussten während des Bauprozesses immer wieder die Laubholzstämme mit ihren Rissen und allfälligen Verformungen eingeschätzt und bearbeitet werden. Wichtiges Beispiel sind vor allem die von Hand individuell gefasten Splintkanten. Bei der Totenstube zeugt vor allem das stetige Anpassen beim Abbund und bei der Montage von situativem Reagieren. Die sorgsam gesetzten Flickzapfen sind hier ein kleines, aber bezeichnendes Detail. Auch beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte wurden die technischen Vorteile des situativen Reagierens ausgenutzt. Hier wurde die handwerkliche Fertigung an manchen 292 Hierzu Antemann: «Im Handwerk war Zweitverwendung die Regel statt die Ausnahme, bei mechanisierter Fertigung ist Zweitverwendung praktisch unmöglich» (Antemann 2015). 184 Stellen eingesetzt, weil sie die effektivste Fertigungsweise für die jeweiligen Schritte darstellte. Das gilt zum Beispiel für den Einbau der Verstärkungen oder die Aufrichte, bei der vor Ort minimale Anpassungen wegen der Thermischen Bewegungen des Stahlkranzes notwendig waren. Die Organisation der Fertigung zielt im Grunde darauf ab, situatives Reagieren zu minimieren. Wo das nicht vollständig gelingt, kommt handwerkliche Fertigung zum Einsatz. Indikator 3: Iterativer Prozess Situatives Reagieren kann schrittweise aufbauendes Arbeiten erlauben. Dieser iterative Prozess ist im Prinzip steuerbar, im Gegensatz zum fragmentierten Prozess, der idealerweise determiniert ist. Das Reagieren auf eine vorgefundene Situation kann auch heissen, dass diese Situation erst durch den vorhergehenden Arbeitsschritt entstanden ist. Die Reihenfolge der Verarbeitung ist dabei vorgegeben, da jedes Zwischenergebnis den Ausgangspunkt für den nächsten Schritt bildet. Dieses schrittweise Aufbauen kann als iterativer Prozess bezeichnet werden Der iterative Prozess wird permanent gesteuert. Jede neue Situation wird evaluiert und bildet den Ausgangspunkt für den nächsten Schritt. Dies geschieht in allen Massstäben: Bewegt sich die Handkreissäge vom Anriss weg, wird bewusst und unbewusst minimal gegengesteuert. Genauso wird der Abstand zwischen den Fachwerkständern des Hotzenhauses nicht absolut festgelegt, sondern nach der Verfügbarkeit des Holzes und den Proportionen beim Auslegen der Fassaden auf dem Reissboden. Diese ohnehin notwendigen stetigen Anpassungen und Korrekturen wirken wie die permanenten, minimalen Lenkbewegungen, die ein Fahrzeug auf der Fahrbahn halten. Jeder Arbeitsschritt ist ein stetiges Hinarbeiten auf ein gewünschtes Ziel, welches aber nicht absolut festgelegt sein muss. Das Arbeiten mit individuellen Situationen ist die Grundvoraussetzung für die Steuerbarkeit eines handwerklichen Prozesses. Sie kann ein natürlicher und beinahe unbewusster Bestandteil des Prozesses sein; die Beurteilung der Situationen und Materialien ist in die handwerkliche Bearbeitung eingebettet und nicht auf rationale Reflexion beschränkt. Ein anderes Prinzip herrscht dagegen bei den Bauten vor, die in einem fragmentierten Prozess erstellt wurden. Hier sind auch die Ziele der einzelnen Arbeitsschritte absolut vorgegeben, damit ein Zusammenfügen der unabhängig voneinander gefertigten Elemente möglich ist. In diesem Sinne ist ein fragmentierter Prozess die Entsprechung der determinierten Fertigung auf Ebene des gesamten Gebäudes: Alle Masse sind hier vorher geplant und festgelegt. Ein Steuern des Prozesses oder Reaktionen auf Unwägbarkeiten sind sehr viel schwieriger. 185 In der Praxis kommen auch in fragmentierten Prozessen Abweichungen vom festgelegten Weg vor. Handwerkliche Arbeitsschritte können ein effektives Mittel sein, steuernd in den Prozess einzugreifen. Auch hier muss also individuell reagiert werden. Im Uhrzeigersinn: Sowohl die materialeffiziente Verwendung des Holzes beim ursprünglichen Bau (mit Baumkante!) als auch die Reparatur mit einem ‹falschen Zapfen› sind situatives Reagieren / Zusammenzeichnen eines Blattes: situatives Reagieren und iterativer Prozess / Diese Schwalbenschwanzverbindung an einem barocken Schmucksekretär (!) ist eher schlampig ausgeführt, jedoch wurde der iterative Prozess hier zur Effizienzsteigerung angewandt. 186 Relatives vs. absolutes Masssystem Der iterative Prozess erlaubt ein relatives Masssystem, während der determinierte Prozess absolute Masse braucht. Dazwischen gibt es Kombinationen wie in Büttenhardt. Das relative Masssystem erlaubt und erfordert den Umgang mit Toleranzen. Der iterative Prozess ermöglicht ein relatives Masssystem. Dies ist am Hochstudhaus in Birrwil erkennbar. Absolute Geometrien an Stellen, wo dies mit den vorhandenen Mitteln unangemessenen Aufwand bedeuten würde, wurden nicht angestrebt. An neuralgischen Punkten wie den Geschosshöhen waren zwar absolute Masse einzuhalten, ebenso bestimmt die Länge eines Wandständers die Länge aller anderen, wenn der Rähm waagerecht liegen soll. Viele andere Masse wurden jedoch während des Prozesses relativ zueinander festgelegt, wenn dadurch Material oder Aufwand gespart werden konnte. Ein relatives Masssystem erlaubt und erfordert das Arbeiten mit Toleranzen. Es muss unterschieden werden zwischen bei der Fertigung entstehenden Masstoleranzen und solchen, die während der Lebensdauer des Gebäudes entstehen können. Zu letzteren gehören die als Arbeiten bezeichneten Bewegungen des Holzes aufgrund der Änderung der Feuchtigkeit. Fertigungstoleranzen sind auch in relativen Masssystemen nicht überall tolerierbar: Holzverbindungen beispielsweise müssen passgenau sein. Die absolute Notwendigkeit zur Genauigkeit ist im iterativen Prozess jedoch auf die notwendigen Punkte beschränkt. Innerhalb der iterativen Vorgehensweise ist der Umgang mit den im Prozess entstehenden geometrischen Unschärfen problemlos möglich. Die Vorwegnahme von Toleranzen, die während der Lebensdauer entstehen, ist hingegen eine strategische Frage. Wolfram Graubner betonte, dass im Handwerk Techniken und Vorgehensweisen zum Umgang mit Toleranzen entwickelt wurden.293 Die determinierte Fertigung dagegen bietet nicht nur eine sehr hohe Genauigkeit, sondern fordert sie auch.294 Hier sind durchweg absolute Masse vorgegeben. In fragmentierten Prozessen, wo die Verantwortung von der Ausführung weg verlagert wird, sind sie sinnvoll oder unumgänglich. Insofern ist die CNC-Fräse in erster Linie ein Werkzeug, um das Einhalten der absoluten Masse als Kommunikationsmittel von «Informationen vom nicht-physischen 3-D-Modell ins physische Material»295 zu gewährleisten. 293 Graubner, W. (2014, April 11). Wolfram Graubner im Gespräch mit U. Herres. 294 Martin Antemann hob in diesem Zusammenhang hervor, dass es für den (determinierten) Prozess am besten ist, wenn keine Techniken mit verschiedenen Toleranzen gemischt werden. Insofern machen für ihn auch die Holz-in-Holz-Verbindungen des Tamedia-Gebäudes Sinn. Da alle Bauteile durch die CNC-Fräse gehen, gelten für alle dieselben Toleranzen. Bereits bei Stahl-Formteilen wäre das nicht mehr der Fall. 295 Antemann 2015. 187 Beim Tamedia-Gebäude sind absolute Masse überall entscheidend; die Steckverbindungen sind nach Plan ‹absolut passgenau› auszuführen, in der Praxis konnte durch Ausnutzen verschiedener Lastfälle bei Einbau und im Endzustand ein zum Einbauen notwendiges Spiel von vier Millimetern erreicht werden.296 Die hier angewandten Fertigungstechniken und die Berechnungsmethoden benötigen durchweg absolute Masse. Der Austauschbau erlaubte eine Fertigung der Bauteile unabhängig voneinander. Die Information über die Geometrie wurde direkt von deren numerischer Definition im Computer per CNC-Fräse auf das Material übertragen, während bei der Bauweise des Spittelfritzenhauses die endgültigen Geometrien von den Ausführenden bestimmt wurden. Techniken zum Ausgleich des Arbeitens – wie Ausdehnungsräume oder ‹schwimmende› Befestigungen – sind in allen anderen Fertigungsweisen möglich. Beim Tamedia-Gebäude sind das vor allem Arbeitsfugen, die durch dauerelastische Dichtungsmittel Bewegungen innerhalb der Konstruktion kompensieren können. Dies betrifft in erster Linie die unterschiedlichen Bewegungen der Bauteile und ist minimal.297 Die Wichtigkeit absoluter Masse im Austauschbau unterstützt die Fixierung auf homogenisierte und nicht mehr arbeitende Materialien bei fragmentierten Prozessen. Material-Effizienz An den Fallbeispielen lässt sich eine induktive von einer deduktiven Materialeffizienz unterscheiden. Letztere erfordert eine Homogenisierung des Materials. Beide Arten kommen bei den Fallbeispielen in Kombination vor, allerdings mit stark unterschiedlicher Gewichtung. Beim Tamedia-Gebäude wurden die erforderlichen Querschnitte der Konstruktionshölzer statisch berechnet und mit den entsprechenden Sicherheiten versehen.298 Zuerst wurden also die notwendigen Materialeigenschaften bestimmt. Danach konnte das Material selbst daran angepasst beziehungsweise sogar hergestellt werden. Das Ausnutzen des berechneten, optimalen Bauteilquerschnittes bedeutet eine deduktive Materialeffizienz, die vom Ergebnis ausgedacht ist. Die Berechenbarkeit erfordert dabei eine Homogenisierung des Materials. Es wird in Mittelwerten gerechnet oder die Eigenschaften der Hölzer an einen Durchschnittswert 296 Ebd. 297 Ein Beispiel sind mit dauerelastischem Brandschutzkitt ausgefüllte Fugen. 298 Ein wichtiger bestimmender Faktor ist der Brandschutz: Die Bauteile sind so überdimensioniert, dass ein Querschnittsverlust durch Abbrand über einen genau definierten Zeitraum nicht zum Kollaps der Tragstruktur führt. 188 angeglichen. Durch Halbzeuge wie Holzwerkstoffplatten werden die Eigenschaften des Holzes «klassifizierbar, normierbar und berechenbar (...)»299. So können Bauteile mit Eigenschaften und Dimensionen entstehen, die sich von denen des nicht homogenisierten Holzes stark unterscheiden. Innerhalb einer Holzart können je nach Wuchs, Trocknung, Faserverlauf oder Einschnitt grosse Unterschiede zwischen individuellen Stämmen bestehen. Homogenisierung bedeutet zuerst ein Aufteilen des Holzes in kleinere Einheiten wie Furniere oder Lamellen. Werden diese Einheiten neu zusammengeleimt, gleichen sich ihre abweichenden Qualitäten aus. Dabei wird der Verbrauch von Ressourcen (an Energie und Material) in die Rohstoffaufbereitung und die Homogenisierungsprozesse ausgelagert. Auch beim Hochstudhaus in Birrwil ist diese deduktive Materialeffizienz erkennbar. Hier wurde vor allem mit der Materialauswahl gearbeitet. Die Rofen des ursprünglichen Strohdaches bestanden aus sehr dünnen, minimal bearbeiteten Rundhölzern ohne Mittelpfetten (diese wurden erst mit der Ziegeldeckung ergänzt).300 Die erforderlichen Mindestquerschnitte wurden nach empirischen Erfahrungswerten festgelegt und nicht berechnet – und offenbar aus Sparsamkeit eher dünn dimensioniert. Bei diesem Gebäude kommt jedoch noch ein anderes Prinzip vor. Hier wurde das vorhandene Material nach Eignung eingesetzt und möglichst vollständig verbraucht. Die individuelle Reaktion auf konkrete Materialien erlaubt, auch nach oben oder unten abweichende Qualitäten auszunutzen und je nach Eignung angemessen einzusetzen. Diese induktive Materialeffizienz geht vom Vorhandenen selbst aus. Die Eigenschaften des Materials werden eingeschätzt und danach die Konstruktion endgültig konzipiert. Einleuchtendes Beispiel ist das Nutzen von krumm gewachsenem Holz für ebensolche Bauteile.301 Da der Faserverlauf der Geometrie folgt, sind solche Bauteile sehr viel stabiler als aus gerade gewachsenen Stämmen geschnittene Kurven.302 Auch Äste können so vermieden oder sogar 299 Schindler 2008, S. 224. 300 Fasolin und Rauch beschrieben für die sehr ähnliche Dachkonstruktion der Hotzenhäuser des südlichen Schwarzwaldes, dass deren Rofen so dünn bemessen waren, dass sie sich unter Schneelast stark durchbogen und daher am unteren Auflager, in der Art eines Gleitlagers, nicht befestigt waren (Fasolin, Rauch 2010). 301 Krummgewachsene Stämme aus Hanglage wurden nach Aussage von Zimmerer Yves Dusseiller beispielsweise für Wangen von gewendelten Treppen verwendet. 302 Bei den hohen Anforderungen des Bootsbaus kann die genaue Differenzierung individueller Hölzer essenziell sein. Wegen der besonders starken und teils dynamischen Belastungen sind im Bootsbau Konstruktionsprinzipien oft sehr viel anschaulicher ablesbar als beim Bauen, auch wenn die selben Prinzipien gelten. 189 im Sinne der Konstruktion ausgenutzt werden. Auch konnten hier minderwertige oder dünnere Hölzer an weniger sichtbaren oder weniger belasteten Orten eingesetzt und das vorhandene Material möglichst vollständig verwertet werden. Die induktive Materialeffizienz ist dem iterativen, handwerklichen Prozess naturgemäss näher. Werden im handwerklichen Prozess die vorhandenen Qualitäten gezielt ausgenutzt, so müssen sie im fragmentierten Prozess aktiv und unter Einsatz von Ressourcen hergestellt werden. Der durch iterative Prozesse mögliche induktive Umgang mit dem Material erlaubt das ressourcenschonende Wiederverwenden von Materialien und Bauteilen, wie es im traditionellen Zimmern die Regel war. Effizienz im Prozess Auch in Bezug auf die Arbeit selbst können handwerkliche Prozesse effizient sein. Neben der Materialeffizienz kann ein handwerklicher Prozess auch im Bezug auf die Arbeit selbst eine effiziente Alternative darstellen. Dies gilt besonders für Reparaturen oder Recycling. In einem fragmentierten Prozess müsste die entsprechende Situation zuerst aufgenommen, evaluiert und in die Planung abstrahiert werden. Dann müssten die entsprechenden (normierten) Rahmenbedingungen geschaffen werden, um den Prozess wieder zu konkretisierten. Da das Material bei handwerklicher Arbeit ohnehin während der Bearbeitung evaluiert wird und in Echtzeit darauf reagiert wird, können diese Schritte bei handwerklicher Fertigung entfallen. 303 Es ist daher naheliegend, dass die Reparaturen auch in einem fragmentierten Prozess wie dem Bau des Tamedia-Gebäudes als handwerkliche Arbeitsschritte ausgeführt wurden. 303 Zimmermeister T. Gindhard berichtet davon, dass oft das Herstellen von Kerven mit Handkreissäge (für den stumpfen Winkel) und Axt (zum Wegschlagen des spitzen Winkels) schneller war, als ‹die Kervenfräse aus dem Auto zu holen und einzustellen› (Gindhard 2014). Diese eichene Knagge, die eine Mittelpfette halten soll, ist in die Bundstrebe eingezapft. Damit sie bei Rissen nicht vollständig spaltet, wurde bewusst ein Astknoten ausgewählt; dies ist der Fall bei allen acht Knaggen an diesem Dachstuhl. 190 Determinierte Fertigung verlagert Arbeitszeit und Wissen von der Ausführung weg in die Vorbereitung und braucht meistens mehr und komplexere Werkzeuge. Darüber hinaus bedeutet diese Verlagerung auch eine Verschiebung von Personal von der Ausführung in die Planung.304 Handwerkliche Prozesse können insofern effizient sein, als dass das Beurteilen des Materials und die daraus resultierenden Entscheidungen direkt in die Ausführung integriert sind, ohne dass Mehraufwand für Aufnahme, Planung und Qualitätskontrolle erforderlich ist. Hinzu kommt, dass der Investitionsaufwand für Maschinen und den Aufbau von Systemen sehr viel geringer bleiben kann.305 Das Hochstudhaus konnte mit einer geringen Bandbreite relativ einfacher Werkzeuge und entsprechend hohem Stundenaufwand hergestellt werden. Der Stundenaufwand bei einem der anderen Fallbeispiele war sicher sehr viel geringer, jedoch sind die notwendigen Investitionen und der nötige Energie- und Ressourcenverbrauch für die eingesetzten Maschinen und die Aufbereitung des Materials in einen Vergleich der Effizienz einzubeziehen. Die Verwendung traditioneller Typologien stellt ebenfalls eine Massnahme zur Effizienzsteigerung dar. Der Planungsaufwand für das Hochstudhaus konnte sehr gering gehalten werden und beschränkte sich auf die Organisation und die Anpassung der Typologie auf den konkreten Einzelfall, was praktisch während des Bauprozesses geschehen konnte. Die Planungsleistung war in der Typologie bereits weitgehend vorhanden. Die Effizienz handwerklicher Arbeitsschritte selbst hängt daher direkt mit dem expliziten und impliziten Wissen der Ausführenden zusammen. Je weniger Werkzeuge und Techniken zur Anwendung kommen, desto mehr Erfahrung haben die Ausführenden damit. Dies steigert die Effizienz und führt zu einer Reduktion statt Diversifikation der Mittel. Im Zweifel kann eine vertraute Technik einer vielleicht besser geeigneten vorgezogen werden, da mit dem Wechsel der Techniken auch das effizienzsteigernde Können verloren ginge.306 Die geringe Anzahl 304 Davon berichtete Egon Bumann, Geschäftsleiter der Holzbau AG in Mörel, welche den Holzbau der neuen Monte-Rosa-Hütte ausgeführt hatte. Wo im Handabbund früher fünf Personen tätig waren, arbeitet heute eine Person an der CNC-Abbundanlage. Dafür sind in seinem Betrieb heute von 50 Personen 12 mit der Planung im Büro beschäftigt (Bumann 2016). 305 Martin Antemann nannte ein Beispiel, bei dem wegen der hohen Investitionskosten der Maschinen das individuelle manuelle Ablängen nach Holzliste auf einer manuell bedienten Kappsäge kostengünstiger war als das sehr effiziente Zuschneiden per CNC-Anlage (Antemann 2015). 306 Das bedeutet nicht unbedingt Konservatismus. Im Gespräch mit dem Verfasser berichtete ein Chirurg, dass in Kliniken oft die Einführung völlig neuer Techniken verzögert erfolgt, da deren Vorteile manchmal dadurch zunichte gemacht werden, dass das Team in den alten Techniken eingespielt ist und diese daher effizienter/ besser funktionieren als die technisch eigentlich überlegenen, neuen Techniken. Hierzu auch Reith 1998, S. 34: «Häufig wurde im übrigen auch die Produktivität solcher [effizienzsteigernder] Innovationen überschätzt, und (wie z. B. bei der Bandmühle oder dem Schnellschützen) aus der geringen Diffusionsgeschwindigkeit auf Technikfeindschaft geschlossen.» Eine Veränderung der Technik bedeutet auch potentiell eine Verringerung der 191 Werkzeuge wird durch möglichst grosse Anwendungstiefe ausgeglichen. Die benötigten Fertigkeiten für die einzelnen Werkzeuge einer ‹Gattung› (Äxte, Sägen, Hobel, Stemmzeug) sind jeweils sehr ähnlich oder gleich. Das bedeutet ein möglichst breites Ausnutzen der einmal gelernten Techniken und damit effizientes Arbeiten, indem ein konsequentes Vertiefen der Techniken möglich ist. Induktiver vs. deduktiver Prozess Handwerkliche, iterative Prozesse sind induktiv. Fragmentierte Prozesse sind deduktiv. Der im Handwerk mögliche iterative Prozess ist induktiv. Da die einzelnen Schritte aufeinander aufbauen, ist der Ausgangspunkt des Prozesses von grosser Wichtigkeit. Das Hochstudhaus zeigt dies schon in der Ausformulierung der Konstruktion: Mit den grossen erforderlichen Holzlängen für die Hochstude und die Geschossbauweise sowie der erforderlichen Elastizität der auf Gleitlagern liegenden Sparren wurde die Konstruktion direkt aus dem regional verfügbaren Nadelholz entwickelt. In Eichenholz wäre sie praktisch undenkbar, da dieses viel schwieriger in langen, geraden Stücken verfügbar und auch spröder ist. Nicht nur die Entwicklung der Typologie geschieht ausgehend von den Gegebenheiten. Material, Fertigungsweisen und das zur Verfügung stehende Wissen bestimmen deren Entwicklung. Auch die Anpassungen der Typologie an den Einzelfall werden durch die verfügbaren Ressourcen mitbestimmt. Das Material bildet die Basis für die Konzeption des Gesamtgefüges. Das Konkrete bildet die Ausgangslage für das Ganze. Umgekehrt sind die fragmentierten Prozesse des Tamedia-Gebäudes und der neuen MonteRosa-Hütte im Grunde deduktiv. Am Anfang steht das gewünschte Ergebnis in Form einer Geometrie des Gebäudes oder einer bestimmten Konstruktion. Anschliessend werden in Hinblick auf dieses Ziel die entsprechenden Materialien homogenisiert und zu Halbzeugen verarbeitet sowie gegebenenfalls Fertigungsweisen und Techniken ausgewählt. Das Ergebnis bildet die Ausgangslage für das Detail. Dabei kann in beiden Fällen das jeweils andere Ende des Spektrums nicht völlig ausgeblendet werden. Beim Hochstudhaus ist das Ziel durch die gewünschte Typologie mit Freiräumen in der absoluten Gestalt vorgegeben. Umgekehrt mussten beim Tamedia-Gebäude auch die Möglichkeiten heutiger Holzwerkstoffe mitgedacht werden. Der Unterschied zwischen Deduktion und Induktion der beiden Prozessarten ist nicht absolut, sondern beschreibt einen grundsätzlichen Unterschied der Geisteshaltung. Effizienz durch den Verlust an erprobtem Können. 192 Pragmatik Teil der handwerklichen Haltung ist eine Pragmatik, die eine Arbeit auf dem Wege des geringsten Widerstandes ausführt. Die Einschätzung der Angemessenheit bedeutet manchmal, Lösungen für Probleme pragmatisch zu lösen, auch wenn diese in der Denkweise eines architektonischen Konzeptes nicht völlig konsequent wären. Ein Beispiel ist ein stumpfer Stoss in den Unterzügen im Erdgeschoss des Ferienheims Büttenhardt. Da hier innerhalb der ausgebohrten Träger ein stählerner Zugstab verläuft, ist diese Lösung technisch und im Sinne der tatsächlich angewandten Technik konsequent. Sie wiederspricht jedoch dem gewünschten architektonischen Ausdruck des Tragens und Lastens und der Referenz auf klassisches Zimmererhandwerk. Bei der Totenstube ist eine ähnliche Abweichung zwischen tatsächlicher Fertigung und gesuchtem Ausdruck die Decke über dem Untergeschoss, die unsichtbar an einem Überzug im Dachraum aufgehängt ist. Graubner schliesslich integrierte bewusst minimale Inkonsequenzen in die Gestaltung des Hotzenhauses, um «Prinzipienreiterei»307 zu umgehen. Solche aus Pragmatik gewachsenen kleinen Inkonsequenzen entstammen direkt der handwerklichen Prägung, auch wenn sie im einzelnen Falle der als handwerklich angesehenen Ausdruck widersprechen. Tatsächlich waren alle Architekten der betreffenden Bauten im Handwerk ausgebildet.308 Strategien: Prozessvorgabe mit Unschärfe Handwerkliche, iterative Prozesse können relative Zielvorgaben machen. Im Unterschied zur absoluten Zielvorgabe fragmentierter Prozesse erzeugen diese Unschärfen im Ergebnis, die durchaus gewünscht sein können. Manche Objekteigenschaften entziehen sich einer genauen geometrischen Definition. Das Computermodell des Ferienheims Büttenhardt zeigt keine Bearbeitungsspuren. Der Plan als Abstraktion blendet die Ebene der Spuren wie die der Texturen weitgehend aus. Es wäre möglich, nach demselben Plan oder Modell unterschiedliche Gebäude zu erstellen, ob in geometrischer Perfektion oder in sehr freier Umsetzung. Wenn der Entwurf auch auf diesen Bereich des Bauwerks Einfluss nehmen will, sind entsprechende Strategien notwendig. 307 Graubner 1986, S. 26. 308 Roland Bernath (Ferienheim Büttenhardt) ist ebenso wie Wolfram Graubner (Hotzenhaus) ausgebildeter Zimmerer, Gion Caminada (Totenstube) hat eine Bauschreinerlehre. 193 Beim fragmentierten Prozess erfolgt eine absolute Zielvorgabe. Vorgegeben wird ein geometrisch und gestalterisch genau definiertes Ziel für jeden Arbeitsschritt und für das gesamte Gebäude. Der Erfolg des Prozesses hängt davon ab, ob es komplett im Plan oder Computermodell vorweggenommen wird, um die Ausführung danach auf das Modell zu referenzieren. Abweichungen zwischen Soll und Ist sind nicht zulässig. Beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte ist diese Art des Prozesses weit fortgeschritten. Eine andere Möglichkeit ist die relative Zielvorgabe. Hier wird das Ziel im Prinzip vorgegeben, allerdings ist es nicht bis ins Kleinste hinein determiniert. Der Fokus liegt auf der Bestimmung des Weges, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Das genaue ‹Wie› wird wiederum den Ausführenden überlassen, es wird also Verantwortung übertragen. Graubner bestimmte für die Ausführung des Hotzenhauses an vielen Stellen handwerkliche Arbeitsschritte, deren Ergebnisse in der Planung nicht völlig vorweggenommen wurden: Niemand konnte vorher das während des Verlegens entstandene Muster der Bodenplatten, niemand die genaue Geometrie der minimalen Unregelmässigkeiten des Putzes festlegen. Da diese Schritte in einen handwerklichen Prozess eingebunden waren, konnten sich darauf aufbauende Schritte ohne Mehraufwand an diese Unschärfen anpassen. Beim Ferienheim Büttenhardt gab es keinen rein handwerklichen Prozess. Die Elemente mussten wie beim Tamedia-Gebäude genauestens die im Computermodell festgelegten Masse einhalten. Geometrische Unschärfen waren nicht uneingeschränkt möglich, wurden aber an bestimmten Stellen gezielt eingesetzt. Das Bearbeiten der Splintkanten mit der Axt war gut möglich, während bei den Elementstössen absolute Masse nötig waren. Relative Masse mussten bewusst gesucht und sehr gezielt in den Prozess eingebettet werden. Hier wurden handwerkliche Arbeitsschritte bewusst dort integriert, wo es auch technisch sinnvoll war und sie nicht mit absoluten Geometrieansprüchen kollidierten. Dieses Vorgehen bedeutet Freiräume für die Ausführenden und auch, dass die Kontrolle über das geometrische Endergebnis von den Architekten ein Stück weit abgegeben oder geteilt wird, um wiederum einen bestimmten Ausdruck zu erreichen. Ein solcher Prozess ist teilweise ergebnisoffen. Die Geometrie kann nicht mit absoluter Perfektion eingefordert werden, und gerade diese minimen Abweichungen beeinflussen die Erscheinung des Bauwerks. Die aus dem iterativen Prozess entstehende Relativität ist am physischen Ergebnis ablesbar. Auf diese Weise konnten einige Fallbeispiele einen handwerklichen Ausdruck hervorrufen, der nahe an den geometrischen Unschärfen vorindustrieller Häuser ist. Der abstraktere Ausdruck, 194 der am Gebäude durch determinierte Fertigungsschritte entstehen kann, wurde durch den strategischen Einsatz der handwerklichen Fertigungsweise und des handwerklichen Prozesses kompensiert. Totenstube: Detail über der oberen Türe, Sockeldetail 195 3. Synthese: Eigenheiten handwerklicher Bauwerke Handwerkliche Fertigung führt nicht zwangsläufig zu bestimmten Spuren oder Eigenheiten eines Gebäudes, aber sie ermöglicht oder erleichtert deren Entstehen. Physische Eigenschaften Diese Eigenschaften können durch die Fertigung entstehen und sind objektiv am Bauwerk unterscheidbar. Potentielle Eigenschaften der Konstruktion Handwerkliche Fertigung kann langlebige und resiliente Gebäude hervorbringen. Dies kann im handwerklichen Ethos enthalten sein. Technische Gründe sind die induktive Materialeffizienz, die nicht-optimierte redundante und statisch unbestimmte Konstruktion sowie die Reparierbarkeit, die aus der Entwicklung der traditionellen Typologien herrühren. Auf einer grundlegenden Ebene kann eine handwerkliche Prägung die Langlebigkeit der zu fertigenden Objekte als Kriterium zur Bewertung der Arbeit etablieren. Die persönliche Erfahrung anstrengender Arbeit verändert zwangsläufig die Wertschätzung der hergestellten Objekte. Je länger deren Lebensdauer, desto eher lohnt sich die anstrengende Arbeit. In einem solchen Fall wird das Streben nach langlebigen Erzeugnissen der Arbeit zu einem Teil des Ethos. Für Pye ist diese Auffassung selbstverständlich: «There is a question of morale involved. A world with everything ephemeral would not be worth working for. There are overwhelming social and aesthetic arguments for durability in certain things even if, as we are told, there are no economic ones.»309 Auch für Graubner war die Langlebigkeit des Hotzenhauses klares Ziel. Im Zusammenhang mit den langen Beobachtungszeiträumen traditioneller Typologien wurde bereits darauf eingegangen, dass die Lebensdauer von Konstruktionen in deren Beurteilung einfliessen kann. Dies ist nur möglich, wenn ein Ethos existiert, wofür die Übernahme von Verantwortung durch die Ausführenden unabdingbar ist. Unabhängig davon, woher die Motivation kommt, ermöglicht handwerkliche Fertigung auch durch praktische Rahmenbedingungen langlebige Bauten. Manche Faktoren, welche die Langlebigkeit eines Bauwerkes bestimmen, entstehen nicht direkt durch handwerkliche Fertigung, sondern durch die handwerkliche, empirische Entwicklung von Konstruktionstypologien. 309 196 Pye 1968, S. 83. Handwerkliche Arbeitsschritte erlauben die oben beschriebene induktive Materialeffizienz, also das individuelle Ausnutzen der Qualitäten des vorliegenden Materials. Auf der Ebene der Konstruktion sind die Hölzer im handwerklichen Zimmern oft überdimensioniert im Bezug auf die tatsächlich vorkommende Belastung. Das liegt einerseits daran, dass die Dimensionierung auf empirischen Erfahrungen statt auf genauen Berechnungen beruht. Andererseits bestimmt nicht die Tragfähigkeit, sondern der Knoten die Holzdimensionen. Hier wird der Querschnitt geschwächt, weswegen die Hölzer ausserhalb der Knoten oft eigentlich zu stark sind. Diese Ansicht kann insofern eingeschränkt werden, als zugbelastete Hölzer zwar oft tatsächlich überdimensioniert sind, da sie wie eine Kette nur so stark sind wie der schwächste Querschnitt. Hingegen treten solche Bauteile bei handwerklichen Zimmererkonstruktionen nur sehr untergeordnet auf.310 Bei auf Druck und Biegung belasteten Balken hingegen sind die Biegemomente dort am grössten – in Feldmitte – wo auch das meiste Material vorhanden ist. Die sehr langen Hochstude des Birrwiler Hauses sind an den Kreuzungspunkten mit den Dachbalken stark geschwächt. Zugleich sind sie gerade hier aber gegen Ausknicken ausgesteift. Im Städtebau wird vermehrt der Begriff der Resilienz verwendet, der ursprünglich aus der Psychologie stammt. Er bezeichnet die Fähigkeit von Systemen, bei Störungen von Aussen die «Systemfunktionen aufrechtzuerhalten»311. Auf die Konstruktion übertragen beschreibt der Begriff eine hohe Fehlertoleranz. Qualitativ optimiertes Material und überdimensionierte Konstruktionen bedeuten Sicherheiten im Falle von Schwächungen durch äussere Einflüsse. Die Überdimensionierung macht die Konstruktion resilient gegen Schäden. Hinzu kommt, dass viele handwerkliche, empirisch entwickelte Konstruktionen nicht nur überdimensioniert, sondern statisch unbestimmt sind: Die Aufgaben einzelner Bauteile sind nicht eindeutig in Zug-, Druck- oder Momentenbelastung einzuordnen. Ein und dasselbe Bauteil kann je nach Setzungen, Holzbewegungen und Lastfall nach unterschiedlichen Prinzipien funktionieren.312 Knotenpunkte sind manchmal nicht völlig biegesteif, ohne direkte Gelenke darzustellen. Dadurch kann bei einem Schaden der Fall eintreten, dass benachbarte Bauteile die Aufgaben des beschädigten aufnehmen, wodurch sich das komplette Tragsystem ändern kann.313 Spannungen 310 Vgl. Mönck, Erler 2004, S. 25. 311 Vgl. Kegler 2014, S. 19.: Kegler benutzt die von Gerstengarbe, Welzer 2013 aufgestellte Definition. 312 David Yeomans hat am Beispiel eines englischen Fachwerkhauses dargelegt, welche verschiedenen Lastfälle bereits durch minimale Deformationen im Holz einer Fachwerkkonstruktion möglich sind. (Yeomans 2003.) 313 Beim Abbruch oder bei der Begutachtung von teilweise zerstörten gezimmerten Konstruktionen überrascht oft die hohe Reststabilität selbst beim Fehlen wichtiger Konstruktionselemente. Ich habe z. B. einen liegenden Pfettendachstuhl besichtigt, bei dem trotz durchgesägtem Spannriegel zwischen den Stuhlsäulen weder Schäden noch Deformationen aufgetreten sind. Die Aufgabe des Spannriegels wurde offensichtlich vom schwächeren, darüber liegenden Kehlbalken übernommen. 197 können innerhalb der Konstruktion abgefedert werden. Auch diese Redundanzen können zur Langlebigkeit der Konstruktion beitragen. Das Hochstudhaus von Birrwil steht seit mehreren Jahrzehnten leer und weist einige Schäden auf, darunter Feuchteschäden, aktiven Befall durch tierische Holzschädlinge und Schwächungen durch Umbauten. Dennoch ist die Konstruktion in ihrer Integrität einsatzfähig geblieben. Das Streben nach einem effizienten Einsatz von Ressourcen im Handwerk und die langen Beobachtungszeiträume bei der empirischen Entwicklung von Konstruktionen können bedeuten, dass Reparierbarkeit als Faktor in die Entwicklung der Konstruktionen einfliesst. Dass Reparaturen die Regel waren, belegen «spätestens im 17. und 18. Jahrhundert»314 entwickelte Reparatursysteme und -verbindungen, wie sie Gerner beschreibt. Auch die für manche Bauten belegte Mobilität ermöglicht die Demontage, dadurch auch den Austausch von Bauteilen.315 Beim Hochstudhaus gibt es eine starke Hierarchisierung der Bauteile nach deren Gefährdung. An exponierten Stellen wurden leicht ersetzbare ‹Opferbauteile› eingesetzt, welche die eigentliche Konstruktion schützen.316 Ziel ist die Langlebigkeit des Gesamtsystems. 314 Gerner 2003, S. 51. 315 Die durchweg einige Zentimeter mit der Spitze herausragenden Holznägel erlaubten dem Verfasser bei der Reparatur eines Dachstuhles auch nach 250 Jahren das problemlose Ausbauen der beschädigten Bauteile. Die Nägel konnten von hinten herausgeschlagen und dann von vorne gezogen werden. Zimmerer und Restaurator Thomas Gindhard teilte die Ansicht, dass die Spitzen der Holznägel auch aus diesem Grunde nicht gekürzt wurden (Gindhard 2014). 316 Das grösste ‹Opferbauteil› war das ursprüngliche Strohdach, das eine geringe Lebensdauer hatte, aber leicht auszutauschen war. Links: Die Anstrengung des eigenen Erlebens verändert die Einstellung gegenüber dem gefertigten Objekt. Rechts: Das ‹Schiefe Haus› in Ulm zeigt die Resilienz empirischer Konstruktionstypologien. 198 Formale Möglichkeiten handwerklicher Gebäude Handwerkliche Fertigung kann eine ‹geometrische Unschärfe› am Bauwerk erzeugen, welche die Relativität der Prozesse spiegelt. Aus Spuren des iterativen Prozesses kann ein organischer (statt additiver) Ausdruck entstehen. Dieser hat eine ‹ästhetische Fehlertoleranz›. Viele formale Merkmale sind in der Entstehung mehrdeutig und sowohl technisch wie ästhetisch begründet. Das Ideal kann mit dem altgriechischen Schönheitsbegriff καλός beschrieben werden. Durch handwerkliche Fertigung kann eine geometrische Unschärfe entstehen. Sie bezeichnet die objektiv feststellbare Abweichung von einem abstrakten Idealzustand, wie einer geraden Linie oder einer perfekt planen Fläche. Sie ist die physische Folge der freien Umsetzung einer Vorgabe, die Pye mit ‹free workmanship› bezeichnete. Handwerkliche Prozesse können mit dieser freien Umsetzung einer Vorgabe umgehen. Im Hochstudhaus von Birrwil wurden Unterschiede in den Abständen der Wandständer oder deren Dicke innerhalb des schrittweisen, handwerklichen Vorgehens ohne Mehraufwand ausgeglichen. Auf dem Massstab des gesamten Bauwerks spiegelt diese Unschärfe die Relativität des Prozesses. Sie entsteht aus den Abweichungen von einer absoluten Geometrie, welche der iterative handwerkliche Prozess erlaubt. Die Übereinstimmung mit absoluten Vorgaben sind auf das Notwendige beschränkt, zum Beispiel die Bundseite, die Knoten oder bestimmte festgelegte Masse. Die Unschärfen können ein dichtes Netz darstellen und die komplette Konstruktion überziehen wie beim untersuchten Hochstudhaus. Sie können aber auch punktuell und sehr gezielt eingesetzt sein wie bei den unregelmässigen Splintkanten der Deckenbalken in Büttenhardt. Jede kleine Reaktion auf die vorgefundene Situation und jede Anpassung an spezifisches Material kann eine ablesbare geometrische Unschärfe am Bauwerk erzeugen. Insgesamt kann so eine grosse Komplexität entstehen, während die Bauteile gleichzeitig als Teil eines Ganzen erkennbar bleiben. Die erkennbare Einordnung einzelner Bauteile in die Struktur der gesamten Konstruktion kann als organisches Bild ablesbar sein.317 Das Gegenstück dazu ist ein additives Bild. Determinierte Arbeitsschritte ermöglichen den Austauschbau, also das Herstellen von Bauteilen unabhängig voneinander und deren späteres Zusammenpassen. Das Treppengeländer in Büttenhardt ist ein Beispiel hierfür. An den Stössen sind die Hölzer gefast, um die Kanten vor Schäden zu schützen. Wären sie ohne Fase gestossen, würde sich jede kleine Ungenauigkeit der Passung am fertigen Objekt zeigen. Die Fase ist also auch eine Massnahme, potentielle Schwächen der determinierten Fertigung auszugleichen. 317 Duden: „organisch: (…) 4. (bildungssprachlich) [mit etwas anderem] eine Einheit bildend; sich harmonisch in ein größeres Ganzes einfügend“. 199 Bei handwerklicher Fertigung würde man damit umgehen, indem beide Bauteile nach dem Zusammenbau noch einmal geputzt würden, um so eventuelle Absätze zu entfernen. Solche Fasen finden sich in Büttenhardt wie beim Hotzenhaus auch an den Ausfachungsbohlen der Fassaden. Meist werden sie im Hobelwerk im selben Arbeitsgang wie die Profilierung angebracht. Diese Details entstammen der Logik fragmentierter Prozesse, in der jedes Zwischenergebnis als abgeschlossen betrachtet wird. Sie erzeugen ein additives Bild; die einzelnen Bauteile sind auch am fertigen Bauwerk als solche sichtbar. Beim Hochstudhaus hingegen sind die Ausfachungsbohlen nicht gefast; die Stösse verschwinden beinahe, die Bohlen wirken als eine Fläche. Im Uhrzeigersinn:Die Bauteile der Treppe in Büttenhardt sind einzeln gefertigt und gefast. / Bei diesem Detail im Stall (!) des Hochstudhauses ist die Fase unten mit einer kleinen Kante an der Säule überdeckt. / Die ungleichen Brüstungsstaketen im Hotzenhaus kommen aus effizienter Materialausnutzung und bewirken geometrische Unschärfe. 200 Die beschriebenen Unschärfen können den Effekt haben, dass auch auf einer formalen Ebene eine gewisse Fehlertoleranz entsteht. Je gleichförmiger und geometrisch bestimmter ein Gebäude ist, desto auffälliger werden Schäden. In einem von Masshaltigkeit und geometrischer Perfektion geprägten Kontext wie beim Tamedia-Gebäude fallen die Reparaturen, obwohl sie sehr sorgfältig gemacht sind, viel eher auf als bei den anderen Bauten. Hier ist ausserdem klar erkennbar, dass sie dem gewünschten Ausdruck widersprechen. Beim Hochstudhaus in Birrwil kombinieren sich Materialtexturen, Bearbeitungsspuren und Alterung. Durch die stillschweigende Strategie, flächendeckend Spuren zu lassen, können sich einzelne Fehler oder Schäden unter deren Vielzahl verlieren. Auch bei der Totenstube, in Büttenhardt und beim Hotzenhaus gibt es sehr kleine Schäden oder Stellen, die in einem homogeneren Kontext als solche auffallen würden wie Risse, klaffende Fugen oder leichte geometrische Abweichungen. Im Kontext der Gebäude fallen sie aber entweder nicht auf oder werden nicht als Fehler wahrgenommen. Ein Bauwerk, das einen Ausdruck der handwerklichen Fertigung trägt, ‹toleriert› auch deshalb Reparaturen, weil diese integral zum Konzept gehören. Bei vielen Details verschwimmt die Grenze zwischen Funktion und Ornament. Beispiele am Hotzenhaus sind eine oktogonale Holzplatte am Kreuzungspunkt der Türfriese, die kleine konkave Holzscheibe am Kreuzungspunkt der Fenstersprossen oder die gedrechselten Staketen der hölzernen Brüstungen in der Halle 318. Solche Mehrdeutigkeiten sind beim Hochstudhaus ebenfalls zu finden. Analog zur schon beschriebenen statischen Unbestimmtheit existiert auch eine solche der Aufgaben der Bauteile und der Details. Die geschwungen profilierten Büge stützen einerseits den enormen Dachüberstand, sind andererseits aber wichtige Gliederungs- und Schmuckelemente der Fassaden. Konstruktionshölzer der Fassade werden um die Öffnungen herum zu Tür- und Fenstergewänden, die durch entsprechende Behandlung wie durch Fasen betont werden. Die Fasen selbst schützen einerseits die Kanten, sind aber durch die konkav abgesetzten Enden auch Schmuck. Die handwerkliche Denkweise behandelt formale und technische Fragen und solche der Bedeutung prinzipiell gleichwertig. Im angestrebten Ideal sind ästhetische Fragen nicht von Technisch-Pragmatischen zu trennen: Schönheit ist nicht getrennt von Funktion. Im Altgriechischen vereint das Wort καλός ‹schön› die physische Schönheit, die funktionale Eignung 318 Im Laufe der Entwicklung einer Typologie können sich ursprünglich technisch bedingte Formen verselbständigen und zu einer formalen Konvention werden. Ein Beispiel sind geschwungene Formen im Bootsbau. Solche Formen verhindern das Auftreten von Punktlasten und Kerbwirkung vor allem bei dynamischer Belastung. Sie werden aber auch an Stellen angewandt, an denen eine solche Formensprache keinen technischen Sinn erfüllt; sie werden zu einem Element einer bestimmten Formensprache, die mit dem Ausdruck der Herstellung verknüpft ist. 201 für einen Zweck, aber auch eine moralische Schönheit im Sinne von ‹edel, moralisch schön› . Dies zeigt sich am Gebäude in einer Mehrdeutigkeit von Formen und Entscheidungen und 319 unterstützt den Eindruck des organischen Ganzen. Diversität Der Begriff ‹Diversität›, der auf David Pye zurückgeht, beschreibt eine objektive Eigenschaft des Gebäudes, die aus der Fertigung entstehen kann. Dies war beim Hochstudhaus in Birrwil der Fall. In Büttenhardt, dem Hotzenhaus und der Totenstube wurde sie bewusst gesucht. Am Tamedia-Gebäude ist sie in geringerem Masse an der Holzkonstruktion vorhanden. Diversität braucht Variation. Wichtig ist die Kongruenz der visuellen Details über alle Massstäbe. Diversität beschreibt jene formale Eigenschaft eines Objektes, die durch die freie Umsetzung eines Entwurfes beziehungsweise durch die riskante Fertigung entstehen kann. 320 Als eine Summe visueller Details kann sie aber auch durch Alterung oder durch Materialeigenschaften wie Holzmaserung entstehen. Von den untersuchten Bauten ist die Diversität beim vormodernen Beispiel am grössten. Im Nahbereich sind die Unschärfen der Fertigung erkennbar, die sich mit Eigenschaften des massiven Holzes, den Rissen und der Maserung mit Alterungsspuren aus Schäden, Verwitterung und Verfärbungen überlagern. Es gibt praktisch keine homogenen Flächen. Alle Bauteile sind als einzelne Komponenten ablesbar, jedoch ohne durch Fasen oder Fugen voneinander getrennt zu sein. Im grossen Massstab ist es die Struktur, die zwar regelmässig ist, aber kaum genau wiederkehrende Masse aufweist. Das Hotzenhaus und das Ferienheim Büttenhardt nähern sich, was die Diversität angeht, an das Hochstudhaus an. Graubner hat sie beim Hotzenhaus bewusst gesucht. Neben den genannten, sorgsam platzierten Details tragen auch die handwerklichen Arbeitsschritte, die gezielt freie Umsetzung ermöglichen, zur Diversität bei. Auch in Büttenhardt besteht am Äusseren eine hohe Diversität, die durch das Verwenden von gespachtelten mineralischen Wandflächen und grossflächigeren sehr reguliert gefertigten Fenstern im Innenraum etwas geringer ist. Bei der Totenstube bedingt die Strickbaukonstruktion, dass vor allem die Holzstruktur und die Stösse für Diversität sorgen. Doch auch hier wird die Menge an visuellen Details durch besondere Massnahmen gesteuert wie die doppelten Vorstösse an den Ecken, die Umrahmungen der Fenster und im Nahbereich die Schellackoberfläche im Inneren. 319 Riemer 1823, S. 1009: «καλός schön; lieblich, angenehm; (...) 2) moral. schön, od. gut, edel, brav, tapfer; lobenswürdig; (...)». 320 Pye 1968, S. 35: «In free workmanship the flat surface is not quite flat but, when seen from close by, shows a faint pattern of tool marks: and the straight edge is not quite straight, but, seen close, shows slight divagations. The effect of such approximations is to constibute very much to the aesthetic quality in workmanship which I shall call diversity.» 202 Knoten Tamedia-Gebäude Schwellen am Hotzenhaus 203 Beim Tamedia-Gebäude ist die Diversität am geringsten. Der Ausdruck der determinierten Fertigung umfasst wenig visuelle Details. Die Konstruktion ist beinahe nur auf dem Massstab des gesamten Gebäudes ablesbar. Um sie auch auf Geschossebene erkennbar zu machen, muss sich die Materialität der Konstruktion vom Ausbau unterscheiden. Die Materialien des Ausbaus sind daher sehr homogen, um die hölzerne Primärkonstruktion zu kontrastieren. Die Hölzer selbst sind durch die Verleimung bereits nicht nur technisch, sondern auch optisch homogenisiert. So bleibt die Diversität des Tamedia-Gebäudes hinter dem der anderen zurück. Die Diversität wird durch die erkennbaren Spuren der Herstellung vor allem bei freier Umsetzung sowie durch die geometrischen Unschärfen erzeugt oder verstärkt. Pye betont, dass Diversität in verschiedenen Massstäben wirken kann. Die Spuren der Fertigung sind vor allem im Nahbereich sichtbar. Verschwindet dieser Bereich mit wachsender Entfernung vom Gebäude aus der Sichtbarkeit, kann die Konstruktion die Diversität tragen. Im grossen Massstab sind es die Kubatur, die Anordnung von Fenstern oder wie beim Hotzenhaus die Komposition aus massiven und hölzernen Fassadenteilen. Diversität ist eine objektive Eigenschaft der Gebäude; sie liesse sich sogar quantitativ in visuellen Details pro Flächeneinheit abbilden. Ihre qualitative Bewertung entzieht sich jedoch der Objektivität und hängt von der Absicht des Gebäudes und dem gesuchten Ausdruck ab. Konnotative Eigenschaften Konnotative Eigenschaften der Bauwerke sind solche, die nicht objektiv ablesbar und beschreibbar sind, sondern auf dem Vorwissen des Betrachters um die Fertigung beruhen. Sie sind subjektiv. Es ist sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich, die subjektive psychologische Wirkung von Spuren der Fertigung auf die Betrachter von Architektur zu fassen. Eine genaue Beschreibung der möglichen konnotativen Verknüpfungen würde so verschiedene Gebiete betreffen wie die Wahrnehmungspsychologie, die Gestalttheorie oder die Semiotik. Diese subjektive Seite der Rezeption deshalb aber völlig auszuklammern, würde das zu beschreibende Bild des Zusammenhanges von Fertigung und Architektur jedoch verfälschen. Eine mögliche Lösung dieses Problems ist, die denkbaren Anknüpfungspunkte für bestimmte Wirkungen zu beschreiben. Jene objektiv feststellbaren Merkmale, die ein subjektives InBeziehung-Treten mit dem Bauwerk ermöglichen. Die ‹Spuren im Kopf› bei den Fallbeispielen können jedenfalls soweit untersucht werden, wie ihr Entstehen im Entwurf gewollt war und dies am Gebäude nachvollziehbar ist. 204 Handwerklicher Ausdruck Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigungsweise am Bauwerk ablesbar ist. Hier knüpfen die Konnotationen an. Ist dieser Ausdruck nicht tatsächlich durch handwerkliche Fertigung entstanden, so handelt es sich um eine Imitation. Dies kann die Konnotationen völlig verändern. Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigungsweise am Gebäude ablesbar ist. Umgekehrt kann auch ein Ausdruck gesucht werden, der statt der Fertigung andere Phänomene in den Vordergrund stellt, wie es beim Tamedia-Gebäude mit dem Ausdruck des Steckens verfolgt wurde. Die Lesbarkeit des Ausdrucks geschieht über Analogien mit bestimmten Bildern, welche der Betrachter mit der Fertigung verbindet. Es gibt zwei unterschiedliche Prinzipien für das Entstehen eines handwerklichen Ausdrucks. Einerseits können Spuren der tatsächlichen Fertigung als Hinweise auf diese dienen. Andererseits kann auf bestimmte formale Eigenschaften referenziert werden, die im jeweiligen Kontext mit Handwerk konnotiert werden. Personen mit handwerklicher Erfahrung ‹lesen› die entsprechenden Hinweise am Gebäude leichter. Darüber hinaus gelten in einem bestimmten Kulturkreis Konventionen, welche Spuren mit Handwerk verbunden sind und welche nicht. Der handwerkliche Ausdruck ist daher subjektiv und abhängig vom kulturellen Kontext. Architekten wie Ausführende sind Teil dieses Kontextes und daher potentiell in der Lage, die Rezeption bestimmter Massnahmen abzusehen und diese so gezielt einsetzen zu können. Der handwerkliche Ausdruck bedeutet insofern, dass beim Betrachter gezielt die Konnotationen mit der handwerklichen Herstellung hervorgerufen werden. Die Wirkung der Konnotation beruht darauf, dass der handwerkliche Ausdruck auch tatsächlich auf eine solche Fertigung verweist. Wird der Ausdruck als Imitation erkannt, verändern sich die verknüpften Konnotationen grundlegend. Selbstverständlicher Ausdruck: Das Hochstudhaus in Birrwil Der Ausdruck des Hochstudhauses kann nur von der heutigen Warte aus eingeschätzt werden. Bei ihm liegt ein Ausdruck der Unschärfe, der Organik und der Selbstverständlichkeit vor. Es bildet eine Referenz für handwerklichen Ausdruck in seinem kulturellen Kontext. Bei der Betrachtung des Hochstudhauses von Birrwil geht es nicht darum, den von den Erbauern gewünschten Ausdruck zu rekonstruieren. Man könnte argumentieren, dass es zur Erbauungszeit des Hauses einen handwerklichen Ausdruck nicht gegeben haben kann, da diese Fertigungsweise noch so selbstverständlich war, dass sie nicht thematisiert werden konnte. 205 Aus heutiger Sicht kann man von einem handwerklichen Ausdruck sprechen. Im Grunde ist ein vormodernes handwerkliches Gebäude wie das Hochstudhaus für die heutige Sicht das Referenzobjekt, der Prüfstein, an dem unwillkürlich ein handwerklicher Ausdruck gemessen wird. Der traditionelle Typus ist aus der handwerklichen Herstellung entwickelt. Auch wenn die Motive für die einzelnen Entscheidungen nicht nur auf Handwerk reduziert werden können, so ist es mit seinem integralen Charakter am Gebäude allgegenwärtig. Spuren menschlicher Interaktion sind verbreitet. Am Bauwerk erkennt man die geometrische Unschärfe der Materialien durch die Bearbeitung. Risse und Verbindungen geben der Wand eine erkennbare Tiefe. Die feinere Bearbeitung von Ausbauteilen wie Täfern oder Fenstern hebt diese von der Primärstruktur ab. Statt starrer Rastermasse gibt es Abfolgen ähnlicher, aber nicht identischer Bauteile. Zusammen ergibt sich ein sehr differenzierter, abgestufter und komplexer Ausdruck, der durch die konstruktiven Gesetzmässigkeiten der Struktur organisch zusammengefasst wird und selbstverständlich nachvollziehbar ist. Es handelt sich um einen Ausdruck der Unschärfe, der direkte Folge des iterativen Prozesses ist. Eine Fülle individueller Entscheidungen hat ihre Spuren am Gebäude hinterlassen, die alle unverwechselbar sind. Die Arbeitsspuren sind nicht um ihrer selbst willen entstanden, sondern gleichsam als Nebenprodukt der Einschätzung der Angemessenheit. Gewünschter handwerklicher Ausdruck: Hotzenhaus, Büttenhardt und Totenstube Bei diesen drei Bauten wurde ein handwerklicher Ausdruck gesucht, ohne zu imitieren. Dazu kann die Strategie der beiläufigen Spuren eingesetzt werden. Bei allen untersuchten neuzeitlichen Fallbeispielen ausser dem Tamedia-Gebäude ist im Entwurf die Absicht enthalten, einen handwerklichen Ausdruck zu erzeugen. Beim Bau des Hotzenhauses war die handwerkliche Fertigungsweise das wichtigste Mittel zum Erreichen der Absicht, ein nachhaltiges Haus zu bauen. Es ist folgerichtig, dass sie am Bauwerk zum Ausdruck kommt. Begründet durch die angestrebte Langlebigkeit sollte der Ausdruck nicht explizit auf die Entstehungszeit hinweisen. Der Entwurf sucht eine formale Nähe zu gewachsenen und traditionellen Bauformen, ohne die einzelnen Entscheidungen ausschliesslich formal zu begründen. Durch die Variationen im Grundriss und den Fassaden wirkt das Haus ‹gewachsen›. Die Formen wurden aus den lokalen, traditionellen Zimmerertechniken heraus entwickelt. 206 Fassadendetail in Geschossdeckenebene, Ferienheim Büttenhardt 207 Handwerkliche Fertigung wurde auch dort eingesetzt, wo sie keine Spuren hinterliess. Die handwerklichen Arbeitsschritte wurden nicht als solche inszeniert: Alle Spuren sind sehr subtil, und bei Details wie den Fenstern wurde in Kauf genommen, dass deren handwerkliche Herkunft erst auf den zweiten Blick augenfällig wird. Holzverbindungen werden kaum gezeigt, Spuren nicht imitiert oder flächendeckend gesucht. Der handwerkliche Ausdruck entsteht über gezielt eingesetzte freie Fertigung und Details, deren Ausführung Sorgfalt erfordern. Hier gibt es keine Diskrepanz zwischen Ausdruck und tatsächlicher Fertigung. Der handwerkliche Ausdruck entsteht hauptsächlich durch die Spuren handwerklicher Fertigung und durch das Verwenden der als handwerkliche Typologie bekannten Konstruktion. Der Ausdruck in Büttenhardt wird durch den Kontrast zwischen dem erhabenen Bild des Baukörpers, das ausdrücklich sein Vorbild bei Palazzi der Renaissance hat, und den Analogien mit traditionellen bäuerlichen Häusern bestimmt. Gleichzeitig sollte sich die handwerkliche Fertigung im Ausdruck spiegeln. Er wird geprägt von der präsenten Konstruktion, den Unregelmässigkeiten der massiven Hölzer und durch gezielt eingesetzte Fertigungsspuren wie den unregelmässigen Splintkanten. Bei diesem Beispiel wurde an manchen Stellen vorkommende freie Umsetzung genutzt, um einen handwerklichen Ausdruck zu erreichen. Dieser beruht jedoch vor allem auf der Referenz auf die traditionelle Bohlenständerkonstruktion. Es besteht aber trotz handwerklicher Fertigung in der Ausführung eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Ausdruck und der tatsächlichen Fertigung; die zahlreichen metallenen Verbindungsmittel werden nicht gezeigt. Die Absicht der Totenstube in Vrin ist das zeitgenössische Weiterbauen des Dorfes im physischen und im sozialen Sinne. Handwerk spielt bei diesem Konzept als regionale Wertschöpfung und als Teil der Tradition eine Rolle. Entwurfsentscheidungen wurden im Detail aus dem physischen Kontext hergeleitet und so bewusst Bezüge zur direkten Umgebung hergestellt. Die Strickbau-Konstruktion der Totenstube bietet ein starkes Regelwerk, welches Entwurfsentscheidungen zu legitimieren hilft. Die Verwendung regionaler Materialien und deren Veredelung durch lokales Handwerk beruhen auf der Absicht des Entwurfes. Bewusst wurden auch hier einzelne Massnahmen gewählt, bei denen die handwerkliche Herstellung Spuren hinterlässt. Dies ist bei der Dachdeckung der Fall, die zugleich auf die lokale Referenz zurückgeht. Auch die Oberflächenbehandlung des Innenraums kann in diesem Zusammenhang gelesen werden. Wichtig ist jedoch, dass eine ‹entfremdete› Sichtweise auf das Dorf unbedingt vermieden werden sollte, vielmehr strebte auch Caminada eine Selbstverständlichkeit der Entwurfsentscheidungen an. 208 Der handwerkliche Ausdruck ist sehr zeitgemäss, da er sich auf in heutige Techniken übertragene, handwerklich entwickelte Konstruktionstypologien beschränkt. Dadurch wird das Gebäude in der heutigen Zeit und gleichzeitig im Dorf verortet. Der handwerkliche Ausdruck entsteht durch die mit Handwerk konnotierte Strickbaukonstruktion. Zusätzlich geben Spuren und kleinere Massnahmen wie die geschmiedeten Türdrücker Hinweise auf die Fertigung. Der handwerkliche Ausdruck kann also auch dadurch gesucht werden, indem auf Konstruktionsweisen handwerklicher Typologien wie den Strickbau und die Bohlenständerbauweise referenziert wird. Den heutigen Bauten fehlt im Vergleich zum Hochstudhaus die selbstverständliche Unschärfe, die sich über das gesamte Gebäude zieht, da absolute Masse und Geometrien durch den verbreiteten Einsatz direkter Arbeitsweisen und determinierter Arbeitsschritte viel verbreiteter sind. Die heutigen Rahmenbedingungen erlauben es, handwerklich und angemessen mit sehr viel weniger Spuren zu fertigen. Das führt zu einem veränderten Ausdruck von Bauwerken, die handwerklich entstehen. Sie sind homogener und abstrakter als die vormodernen Beispiele. Wird dennoch ein handwerklicher Ausdruck angestrebt, so kann dieser nicht durch das aktive Herstellen von Spuren erzeugt werden. Im Handwerk werden Spuren nicht forciert, sondern (im Rahmen der Angemessenheit) möglichst klein gehalten. Aus Selbstzweck erzeugte Spuren wären eine Imitation, da sie nicht auf handwerkliche Herstellung hinweisen. Sie wären mit dem Abwägen der Angemessenheit nicht zu vereinbaren. Eine mögliche Strategie, durch Spuren einen handwerklichen Ausdruck zu erzeugen, ohne zu imitieren, sind beiläufige Spuren.321 Am besten lässt sich dies an der Putztechnik im Hotzenhaus erklären. Die Vorgabe an die Verputzer war, so glatt wie möglich zu verputzen, jedoch ohne Anschlagschienen, die aus einem handwerklichen Arbeitsschritt einen determinierten gemacht hätten. Bleiben so leichte Unebenheiten auf dem Putz, sind es selbstverständliche Spuren der Herstellung. Eine ganz andere Art von Spuren wäre entstanden, hätten die Verputzer bewusst unebenen Putz hergestellt. Auf diese Weise ist die Angemessenheit der Spuren gewahrt und die Imitation vermieden. Die Spuren sind Merkmale handwerklicher Arbeitsschritte, nicht Ornamente. Die handgehobelten Fasen und die Ziegelböden am Hotzenhaus, auch die gebeilten unregelmässigen Splintfasen in Büttenhardt sind bewusst eingesetzte handwerkliche Arbeitsschritte, die Spuren hinterlassen und einen handwerklichen Ausdruck verstärken 321 Der Begriff lehnt sich an Wolfram Graubners Idee der ‹beiläufigen Wirkungen› an: «Bevor ich auf die Textur des Bodens näher eingehe, lassen Sie mich etwas zur Frage der Wirkungen sagen: Es geht nicht um Wirkungen als solche, sondern um beiläufige Wirkungen.» (Graubner 1984, S. 33). 209 können. Sie haben technische Begründungen, sind jedoch auch wichtig für den speziellen Ausdruck der Gebäude. Sie reichern das Gebäude mit visuellen Details an. Sie erhöhen bewusst die geometrischen Unschärfen und referenzieren so das in unserer Kultur geltende Bild des Ausdrucks von handwerklicher Fertigung. Die Spuren entstehen nicht als Selbstzweck, sondern sind Nebenprodukte von gezielt eingesetzten, aber technisch oder durch den Prozess legitimierten handwerklichen Arbeitsschritten. Die objektiven Merkmale, die durch handwerkliche Fertigung entstehen können, werden gezielt eingesetzt, um sich einem Ausdruck der Unschärfe, Diversität und Organik anzunähern, der bei vorindustriellen Bauten wie dem Hochstudhaus vorliegt und der als handwerklich gilt. Zitat des Handwerks: die neue Monte-Rosa-Hütte Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte wurde ein ‹Bild des Handwerks› mit teilweise nichthandwerklichen Mitteln erzeugt. In der Natur der (von der ETH zum Teil selbst gestellten) Aufgabenstellung der neuen MonteRosa-Hütte lag es, dass ein Vorzeigeprojekt mit einer gewissen Aussenwirkung beabsichtigt war. Der Anspruch auf Innovation spielte eine grosse Rolle.322 Dies musste den gesuchten Ausdruck wenigstens implizit mitbestimmen. Anscheinend sollte aber eine allzu radikale Reduktion auf einen Ausdruck von Innovation gezielt durch Referenzen des gewohnten Bildes einer SAC-Hütte ausbalanciert werden. Im Inneren wurde das Material Holz nicht nur wegen seiner atmosphärischen, sondern auch wegen seiner konnotativen Eigenschaften gewählt. Der Ausdruck sollte die Materialität und die handwerkliche Entstehung der alten SAC-Hütten referenzieren.323 Ein Inszenieren traditioneller handwerklicher Techniken hätte jedoch der Absicht der Innovation widersprochen, weshalb die Abstraktion durch die ‹digitale Schnitzereien› genannten Ornamente nahe liegt. 324 Hier wurde also beim Holzbau nicht das tatsächlich vorhandene Handwerk zum Erzeugen eines bestimmten Ausdrucks genutzt, obwohl auch hier sehr viel handwerkliche Fertigung und handwerkliches Wissen beteiligt war. Vielmehr wurden Techniken und Fertigungsweisen ausgewählt, die formale Resultate erzeugen, welche einem in unserem Kulturkreis gültigen Bild handwerklicher Fertigung nahekommen. 322 Vgl. Eberle et. al. 2010, S. 13: «wegweisend, innovativ» und S. 14: «Von Planungsbeginn an war klar, dass eine Hütte gefragt ist, die ein Zeichen setzt.» 323 Ebd., S. 59: «Im umgesetzten Holzbau kommt nun beides zusammen: das Technische bzw. das Logistische der vorgefertigten Bauelemente, die einen Einfluss auf die innere Ausprägung der Räume hatten, und – durch die Hintertüre – auch der zwar transformierte Traditionsbezug.» 324 «Die Fachwerke im Inneren des Essraums hätte man als ingenieurbedingte Strukturen belassen können. Doch liessen wir gemeinsam mit dem Lehrstuhl Gramazio & Kohler mit der neuesten Fertigungstechnik – einem computergesteuerten Roboter – übergrosse jahresringähnliche Zeichen einfräsen, die wiederum sehr handwerklich wirken.» Ebd. S. 59 f. 210 Schnitt durch die Türschwelle, Hochstudhaus 211 Gleichzeitig wird die tatsächliche Fertigung nicht versteckt. Hier kann man ebenso wenig von einem handwerklichen Ausdruck wie von einer Imitation sprechen. Erzeugt wurden zitathafte Bilder handwerklicher Fertigung. Nicht-handwerklicher Ausdruck: Tamedia-Gebäude Beim Tamedia-Gebäude existiert eine Diskrepanz zwischen manchen handwerklichen Spuren und dem gesuchten Ausdruck. Das Tamedia-Gebäude ist das einzige der untersuchten Fallbeispiele, das in keiner Weise einen handwerklichen Ausdruck anstrebt. Das Prinzip des Steckens grosser stabförmiger Holzbauteile sollte ablesbar bleiben und der Ausdruck das Gebäude als innovativ in der heutigen Zeit verorten. Die Fertigungsweise des Bauwerks beruht auf überwiegend determinierten Arbeitsschritten in einem fragmentierten Prozess. Sie forderte und erzeugte absolute Masse. Das Material der Primärstruktur ist – technisch und formal – hochgradig homogenisiert und punktuell verstärkt. Um die Konstruktion auch im Nahbereich erkennbar zu machen, wird sie durch die Materialien des Ausbaus kontrastiert, die homogener sind als die Brettschichtträger. Insgesamt ist der Ausdruck von vergleichsweise grosser Homogenität geprägt, was dem technischen Charakter der determinierten Fertigung entspricht. Doch auch beim Tamedia-Gebäude gibt es Spuren handwerklicher Arbeitsschritte, die vor allem durch kleinere Reparaturen entstanden. Ein Fehler325 ist eine Abweichung von der beabsichtigten Form des Bauwerks oder eines Details davon. Er ist zu unterscheiden von Toleranzen (hier ist die Abweichung noch innerhalb eines tolerierten, also annehmbaren Bereiches, beim Fehler ist sie ausserhalb) oder von Freiräumen (wenn die Intention mehrere Wege zulässt, ein Ziel zu erreichen). Ein Fehler ist immer relativ, der Massstab ist die Absicht. Am Tamedia entstanden nicht mehr Fehler als an den anderen Bauwerken, sie sind hier nur auffälliger. An diesen kleinen Stellen stimmen der gesuchte Ausdruck und die tatsächlichen Spuren der Fertigung nicht überein. Je homogener das Umfeld ist, umso eher fallen diese Spuren ins Auge. Das Kombinieren von handwerklichen Arbeitsschritten mit anderen Fertigungsweisen ist prinzipiell gut möglich und war in allen untersuchten Bauten der Fall. Durch die ihm eigene Flexibilität und Steuerbarkeit können im handwerklichen Prozess auch Komponenten mit 325 212 vgl. Duden: „Fehler: (…) 4. Stelle an einer hergestellten Ware, die nicht so ist, wie sie sein müsste». absoluten Massen eingefügt werden. Werden wie beim Tamedia-Gebäude handwerkliche Arbeitsschritte in einen fragmentierten Prozess eingebunden, ist auch das nicht prinzipiell ein Problem. Jedoch kann sich der Umgang mit den Spuren verändern. Die formale Strategie, Spuren pragmatisch zu akzeptieren und als Teil des Ausdrucks auszunutzen, ist im Tamedia-Gebäude nicht möglich. Wahrnehmungspsychologie Objektive Eigenschaften von Bauwerken, die durch handwerkliche Fertigung entstehen, können im Kontext der Wahrnehmungspsychologie relevant sein. Die Unverwechselbarkeit von Details kann die Möglichkeit der Identifikation mit dem Gebäude beinhalten. Die Wahrnehmungspsychologie ist nicht das Thema dieser Betrachtung. Dennoch ist es wichtig, auf mögliche Anknüpfungspunkte mit diesem Gebiet hinzuweisen. Es gibt Argumente dafür, dass die Fertigung hierauf Auswirkungen haben kann. Manche durch die handwerkliche Fertigung entstehenden Eigenschaften können auch für phänomenologische Betrachtungen eine Rolle spielen. Der finnische Architekt und Theoretiker Juhani Pallasmaa spricht von einem Detailreichtum, der vor allem in der peripheren Wahrnehmung von Räumen Einfluss auf den Betrachter ausübt und der Beschreibung der Diversität entspricht. Als extremes Beispiel nennt er den Wald. Auf die Architektur übertragen sind für ihn die Innenräume des Rokoko exemplarisch für den Versuch, das periphere Sehen im Entwurf zu adressieren.326 Auch für David Pye ist Diversität durchaus eine positive Qualität eines Objektes. Sie verleiht ihm Komplexität.327 Demnach wäre ein Reichtum an visuellen Details ein Potential handwerklich gefertigter Architektur. Dabei besteht ein Unterschied darin, ob visuelle Details völlig gleich, Abstufungen des selben Prinzips oder unverwechselbar sind. Wenn der Betrachter bei der Annäherung an ein Gebäude immer wieder neue Beobachtungen macht, ergibt das einen anderen Ausdruck des Bauwerks, als wenn alle neu in den Blick kommenden Details Graduierungen von Bekanntem sind. Während sich die Maserung und Struktur von Balken derselben Holzart stark gleichen können, ist doch jede Struktur einmalig. Die einzelnen Balken sind unverwechselbar. Auch Spuren der handwerklichen Fertigung, besonders bei freier Umsetzung, haben diese Eigenschaft. 326 Er spricht von ‹peripheral vision›. Pallasmaa 2014. 327 Pye 1968, S. 63: «In the art of workmanship, then, we seek to diversify the scale of those formal elements which begin to be distinguishable at close range and also in season – to diversify the forms themselves by allowing slight improvisations, divagations and irregularities so that we are continually presented with fresh and unexpected incidents of form.» 213 Diese Unverwechselbarkeit der visuellen Details macht in der Summe auch das Bauwerk unverwechselbar. Mit der Annäherung an das Gebäude ist es möglich, immer weitere neue Beobachtungen zu machen, die man nicht vorhersehen kann. Auch das erhöht die Komplexität der Wahrnehmung eines Gebäudes. Die Summe unverwechselbarer Details ermöglicht die Identifikation mit dem Bauwerk: Sie ist eine Voraussetzung, mit ihm in Beziehung zu treten. Konnotationen: Spuren im Kopf Ein Gebäude kann aufgrund der Herstellung mit Konnotationen belegt sein, welche auf dem subjektiven Wissen der Betrachtenden um die Fertigung beruhen. Physische Unverwechselbarkeit kann dieses Vorwissen ersetzen. Die ‹Zeitlichkeit› beschreibt die im Gebäude gespeicherte Arbeitszeit der Herstellenden. Es kann – auch bewusst – mit Bedeutung aufgeladen werden. Auf diese Weise wird es zum Kommunikationsmittel zwischen Erbauer und Betrachter. Das Wissen um die Herkunft eines Objektes kann dessen Bewertung ganz allgemein beeinflussen. Sehr augenscheinlich ist dies bei religiösen Reliquien, deren Wert allein aus dem Wissen kommt, dass ein als Objekt völlig austauschbarer Knochen von einem bestimmten Heiligen stammt. Etwas profaner lässt sich dies an der Bewertung von Kunstwerken beobachten. Das Wissen darum, dass ein Kunstwerk von einem berühmten Meister geschaffen wurde, kann dessen materiellen Wert um ein Vielfaches steigern. So kann auch die Bewertung der Entstehung oder der Herstellung in diejenige des Objektes einfliessen. Auch ein Gebäude kann aufgrund der Herstellung mit Konnotationen belegt sein, welche prinzipiell völlig subjektiv sind und nur auf dem Vorwissen des Betrachters um die Fertigung beruhen. Entweder weiss der Betrachter um die handwerkliche Fertigung: dann ist eine physische Erkennbarkeit nicht notwendig. Oder er erkennt diese Fertigung an ihren Spuren, da er selbst Kenntnis des Handwerks hat. In dem Falle können die Spuren sehr subtil sein, wie teilweise beim Hotzenhaus. Oder aber der Ausdruck des Bauwerks nähert sich einem Bild an, welches in der Kultur des Betrachters mit handwerklichen Bauten verknüpft ist. Im Gegensatz zum Kunstwerk oder dem Konsumobjekt wird Architektur als Gebrauchsgegenstand oft unvoreingenommen und ohne konkretes Vorwissen über dessen Herstellung betrachtet: Die Betrachtenden müssen das Gebäude selbst lesen. Wenn sie also nichts über die handwerkliche Herstellung des Bauwerks wissen, sind physische Anknüpfungspunkte nötig, damit eine Konnotation des Handwerklichen entstehen kann. Eine Rolle spielt dabei die Unverwechselbarkeit von visuellen Details. 214 Türdetail, Hochstudhaus 215 Die Fenster im Hotzenhaus sind mit der Hilfe zeitgenössischer Maschinen handwerklich gefertigt. Trotz der sehr präzisen Bearbeitung gibt es an einzelnen Stellen kleine Spuren der Herstellung, zudem fügen die konkaven Holzscheiben am Kreuzungspunkt der Sprossen Diversität hinzu. Zusammen mit den Eigenheiten des Materials ist jedes Fenster ein wiedererkennbares unverwechselbares Objekt. Walter Benjamin reflektierte in seinem Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» über Phänomene, die in diesem Zusammenhang auch relevant sind. Er beschreibt das ‹Hier und Jetzt› eines Kunstwerkes als das «einmalige Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist.» 328 Dieses unverwechselbare Objekt kann eine ‹Echtheit› im Sinne Benjamins aufweisen, indem es zum Träger seiner eigenen Geschichte, von der Entstehung bis zur Lebensdauer, wird.329 Auch ein Bauwerk hat ein solches Hier und Jetzt. Die Unverwechselbarkeit des Bauwerks bis in die Details hinein erleichtert es auch dem unvoreingenommenen Betrachter, das Objekt im Zusammenhang mit seiner Geschichte zu bewerten: «Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.»330 Die Unverwechselbarkeit allein ist neutral zu werten. Jedoch ist die Grundlage dafür, mit dem konkreten Objekt in Bezug zu treten, dieses auch als solches erkennen zu können. Spuren sind die Rezeptoren, an denen der Betrachter anknüpfen und sich mit dem Herstellenden identifizieren 328 Benjamin 2006, S. 11 f. 329 Ebd. S. 11 f: «(...) Dieses Hier und Jetzt macht den Begriff der Echtheit aus (...) der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit». 330 ebd. S. 13. Fensterdetail am Hotzenhaus / Oberflächenbehandlung in der Totenstube 216 kann. Gerade die unverwechselbaren Spuren riskanter Fertigung oder freier Umsetzung sind jene Punkte, mit denen sich die ‹Echtheit› im Sinne Benjamins verknüpfen lässt. Eine mögliche gedankliche Verknüpfung ist die Zeitlichkeit. In die Bewertung eines Objektes fliesst dann das Wissen der Betrachtenden um die darin gespeicherte Arbeitszeit (und damit Lebenszeit) einer Person mit ein. Die Unverwechselbarkeit des Objektes macht einen solchen Schluss erst möglich. Die direkte Interaktion mit dem Material beinhaltet das Ethos; auch dieses kann, gleichsam als ‹im Objekt gespeicherte Hingabe›, dessen Bewertung beeinflussen.331 Solche konnotativen Verknüpfungen können im Entwurf bewusst gefördert werden, indem das Gebäude durch die Herstellung mit Bedeutung aufgeladen wird. Beim Hochstudhaus wurde dem Tenntor mit der geschnitzten Inschrift eine besondere Bedeutung verliehen. Der nicht funktional bedingte Aufwand, der zudem sehr sorgfältig ausgeführt ist, ist sichtbares und ablesbares Zeichen besonderer Wertschätzung dieses Gebäudeteils. Bei der Totenstube ist es die Bearbeitung des Innenraumes mit Schellack, die eine Bedeutungsebene hinzufügt. Die Lackierung des Innenraumes ist eine Spur menschlicher Arbeit, die an sich nicht notwendig gewesen wäre und auch nicht üblich ist. Hier wurde mehr Zeit und Sorgfalt investiert als nötig. Die Begründung liegt darin, den besonderen Charakter des Raumes zwischen einer (Wohn-) Stube und einem sakralen Raum zu unterstreichen, dem Raum durch das Material, aber auch die investierte Zeit, eine besondere Bedeutung zu verleihen. Die Absicht des Bauwerks legitimiert diesen Mehraufwand. Auch auf pragmatischer Ebene spricht Caminada davon, dass die handwerkliche Fertigung zum ‹Schaffen von Kultur› genutzt wird: die Bedeutung des Bauwerks wird bewusst beeinflusst.332 Bei der Errichtung des Hotzenhauses arbeitete Graubner bewusst mit Bedeutungen. Ob es die schmückenden Fensterdetails sind, die gedrechselten Staketen der Galerie oder die Deckenbemalungen: Am Gebäude gibt es viele Stellen, wo im Detail bewusst mit viel grösserer Sorgfalt oder Aufwand gearbeitet wurde als nach absoluten Standards technisch notwendig gewesen wäre. Besonders diese Punkte drücken eine Wertschätzung aus, die sich wie eine Matrix über das ganze Bauwerk zieht. Gerade sie sind per Definition nicht imitierbar, da sie ihre 331 Der deutsche Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat sich mit dem modernen Verhältnis zu Gegenständen befasst und beschreibt ausführlich die These, dass dieses lange nicht so rational sei wie gemeinhin angenommen. Vgl. Böhme 2006 sowie Böhme 2009. 332 «Die doppelte Strickkonstruktion brauche zwar viel Holz, das Material sei jedoch günstig, und weil es aus dem Ort komme und von einheimischen Handwerkern in intensiver Arbeit aufbereitet werde, sei die Wertschöpfung gross. Die Strategie, das einheimische und somit kostengünstige Material durch einen hohen Grad an Bearbeitung in einen höheren Zustand zu versetzen, bedeutet für die Bauleute eine planerische und handwerkliche Herausforderung. So schafft man Kultur.» (Caminada in Cabalzar et. al. 2003, S. 28). 217 Bedeutung aus dem Wissen um die aufgewandte Sorgfalt beziehen. Gezielt wurde menschliche Interaktion auch dort eingesetzt, wo sie kaum oder keine sichtbaren Spuren hinterliess. Auch dies trägt dazu bei, das Bauwerk mit Bedeutung aufzuladen.333 Das funktioniert nur, wenn die entsprechenden Spuren auch auf menschlicher Arbeit beruhen – eine entlarvte Imitation hat eine völlig andere Bedeutung. Konnotationen von Sorgfalt würden durch solche von Täuschung ersetzt. Wenn das Gebäude bestimmte Konnotationen beim Betrachter hervorrufen kann, die bis zu einem gewissen Grade vom Architekten und Ausführenden steuerbar sind, bedeutet das, dass ein Gebäude auch ein Kommunikationsmittel ist. Dies funktioniert nur dann, wenn die jeweilige Sprache bekannt ist. Die kulturellen Rahmenbedingungen enthalten die Konventionen, welche deren Grundwortschatz ausmachen. Die beiläufigen Spuren funktionieren als Spuren handwerklicher Fertigung, weil sie durch den angemessenen Umgang mit den Ressourcen entstanden sind und tatsächlich auf handwerklicher Fertigung beruhen. Sie sind Manifestationen der Arbeit, die notwendig war, das Haus zu bauen. Emergenz Das Beispiel, an dem Polanyi erklärt, dass wir mehr wissen als wir mitteilen können,334 mit dem er also ‹tacit knowledge› einführt, ist die menschliche Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen. Dieses besteht aus einzelnen Merkmalen (‹particulars›). Das menschliche Gesicht aber transzendiert die blosse Summe der Merkmale, aus denen es gebildet ist. Hier findet eine Emergenz statt: Aus der Summe der einzelnen Elemente bildet sich eine grössere Entität, welche nicht durch die Eigenschaften der einzelnen Elemente erklärbar oder auf diese zurückführbar sind. Die Wahrnehmung eines Bauwerks besteht aus vielen Komponenten: Physisch wahrnehmbar sind beispielsweise der Baukörper, die Konstruktion, die visuellen Details. Subjektiv kommt das Wissen der Betrachtenden um die Fertigung und die Geschichte des Bauwerks, die Vorgeschichte der Materialien und anderes hinzu. All das kann zu einem Emergenzphänomen führen: Die Pyramiden werden nicht als Stapelung von Steinblöcken wahrgenommen. In ihre Bewertung fliesst ihr Alter hinein, Benjamins ‹geschichtliche Zeugenschaft›, und auch die Herstellung: in dem Eindruck, den das Wissen um den menschlichen Ursprung dieser riesigen Masse erzeugt. 333 Graubner betonte, dass die Sorgfalt gerade da wichtig ist, wo sie nicht sichtbar ist (Graubner 2014). 334 «(...)we know more than we can tell.» Polanyi (1966), S.4 218 Ohne die Teile kann es das Ganze nicht geben. Ohne die physischen Steinblöcke ist die Pyramide nicht denkbar, und ohne die Komponenten ihrer Wahrnehmung ist die Bewertung nicht möglich. Aber das Ganze ist umgekehrt nicht durch die Kenntnis der Teile erklärbar. Die Teile mögen kodifizierbar, also explizit sein. Das Ganze hat jedoch eine implizite Komponente. Die Emergenz als das ‹Mehr›, das hier entsteht, ist Teil des impliziten Wissens des Betrachters. Obwohl die untersuchten Fallbeispiele weniger spektakulär sind als die Pyramiden, ist dieses Phänomen übertragbar. Die Herstellung kann eine der Partikularitäten sein, die zum Entstehen der Emergenz in der Architektur beitragen. Selbstverständlichkeit Das selbstverständliche und das bewusst eingesetzte Handwerk Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Bauten, bei denen handwerkliche Fertigung selbstverständlich zur Anwendung kam, und solchen, bei denen bewusst für diese Fertigungsweise entschieden wurde. Dies führt zum Problem der Selbstverständlichkeit. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Bauten, bei denen handwerkliche Fertigung als selbstverständliche Fertigungsweise angewandt wurde und solchen, bei denen man sich bewusst für eine handwerkliche Fertigung entschied. Die Rezeption von Bauwerken ist kulturabhängig. In einem Kontext, in dem geometrische Präzision allgegenwärtig verfügbar ist, muss sich die Bewertung von geometrischen Unschärfen zwangsläufig verändern. Erst das Verschwinden der Selbstverständlichkeit von Spuren handwerklicher Fertigung bewirkt ein Bewusstsein dafür.335 Mit dem Überschreiten einer kritischen Masse an Verfügbarkeit von quantitativer Perfektion werden sie erkennbar und relevant. Die Bewertung der Spuren hat sich verschoben. Im alternativlosen Handwerk des Hochstudhauses sind die Spuren selbstverständlich. Dass sie beim Ausbau zwar toleriert, aber nicht gesucht wurden, lässt den Schluss zu, dass sie entweder neutral oder sogar leicht negativ bewertet wurden. Im bewusst eingesetzten Handwerk und im heutigen veränderten kulturellen Umfeld kann das anders sein. Sie können im Sinne eines Ausdrucks gesucht werden – müssen jedoch immer durch die Herstellung begründet sein, sonst wären sie eine Imitation. Die fast unsichtbaren Flickzapfen in der Totenstube kommen noch aus einem Ethos des alternativlosen 335 Glen Adamson argumentiert, dass ‹craft› als Begriff überhaupt erst entstehen konnte, als dem Handwerk mit der beginnenden Industrialisierung ein Gegenpol entstand. Adamson 2013. 219 Handwerks. Die Oberflächenbehandlung innen ergibt sich jedoch aus einem bewussten architektonischen Konzept, das die Herstellung am Bauwerk zeigen will. Dass handwerkliche Fertigung heute vermeidlich ist, führt dazu, dass heute handwerklich gefertigten Objekten «eben jene Fraglosigkeit abgeht, die den Handwerkserzeugnissen früherer Epochen eigen war»336. Die Strategie der beiläufigen Spuren kann als Reaktion auf dieses Problem gelesen werden. Symmetria Das Abwägen der Angemessenheit bei der handwerklichen Fertigung bedeutet die Suche nach einer bestimmten Proportion. Das gesuchte Ideal lässt sich durch Vitruvs Symmetriebegriff beschreiben. Dieses Ideal bedeutet auch, dass handwerkliches Bauen nicht Originalität, sondern Selbstverständlichkeit anstrebt. Durch die stets notwendige Einordnung der Angemessenheit gehört der Umgang mit Beschränkung zum Handwerk. Diese Beschränkung ist relativ: In der Konstruktion und der Ausführung muss die richtige Proportion aus Aufwand und Ergebnis gefunden werden. Der antike Begriff der Symmetria beschreibt jenes gesuchte ausgewogene Verhältnis der Teile eines Bauwerks relativ zueinander und zum Ganzen. Bei Vitruv heisst es dazu: «Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die auf einem berechneten Teil (modulus) beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile für sich gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem. Wie beim menschlichen Körper aus Ellenbogen, Fuss, Hand, Finger und den übrigen Körperteilen die Eigenschaft der Eurytmie symmetrisch ist, so ist es auch bei Ausführung von Bauwerken.»337 Dieser Symmetriebegriff beschreibt die relative Verhältnismässigkeit der Teile eines Ganzen zueinander und zum Ganzen selbst. Während Vitruv eher die Bauteile als Teil des gesamten Bauwerks meint, kann der Begriff auch weiter gefasst und auf den Bauprozess übertragen werden: Fertigung, Ressourcen und Absicht müssen in einen stimmigen Einklang gebracht werden, der immer relativ ausgehandelt werden muss, für den es keine absoluten Kriterien geben kann und der in jedem Einzelfall neu zu bestimmen ist. Das Ziel ist ein Gebäude, welches die 336 Christoph Peters beschreibt in seiner Einführung in das japanische Handwerk das Dilemma der «absichtslosen Absichtslosigkeit» (Peters 2010, S. 25). In dem Moment, wo die Natürlichkeit eines vernakulären Gegenstandes, der ohne gestalterische Absicht entstanden ist, bewusst nachempfunden wird, geht genau diese Natürlichkeit verloren. Die Selbstverständlichkeit verändert sich. Auch wenn – oder gerade weil – dies ein Extrembeispiel darstellt, ist es doch gut zur Illustration des beschriebenen Phänomens geeignet. 337 220 Vitruv, Fensterbusch 1981, Buch 1 Kap. II.4. Symmetrie der Herstellung im Ausdruck wiederspiegelt. Diese Symmetrie verbindet Spuren und Konstruktion, Fertigung und Bauwerk. Das Ideal der Symmetrie bedeutet, dass keiner der Faktoren zu sehr auf Kosten der anderen gewichtet werden darf. Das gilt also auch für die Fertigung: Das Ideal der handwerklichen Fertigung ist nicht Originalität, sondern Selbstverständlichkeit. Dies passt zum Kriterium der Angemessenheit. Es bedeutet, dass nicht nur gegenüber der Absicht des zu fertigenden Objektes, sondern auch gegenüber der jeweils herrschenden Beschränkung an Ressourcen Verantwortung übernommen wird. In diesem Sinne hat Handwerk eine dienende Funktion. Eckdetail, Hotzenhaus 221 Totenstube 222 V Fazit 1. Handwerk in der Architektur Definition Handwerkliche Fertigung in der Architektur kann durch drei Kriterien definiert werden. Es beruht auf einer Kombination aus explizitem und implizitem Wissen. Zum impliziten, nicht kodifizierbaren Wissen gehören die durch praktische Tätigkeit gewonnenen physischen Fertigkeiten. Sie sind direkt mit dem jeweiligen Werkzeug und dem Material verknüpft. Dazu kommt die Fähigkeit zum intuitiven Einschätzen von Situationen. Die zweite Komponente der handwerklichen Fertigung ist die direkte Interaktion mit dem Material. Sie liegt dann vor, wenn das Risiko über das Gelingen eines Arbeitsschrittes während der Ausführung bei den Bearbeitenden liegt. Diese Interaktion ermöglicht erst den Aufbau des impliziten Wissens. Schliesslich gibt es keine absoluten Kriterien als Massstab für die Ergebnisse der handwerklichen Fertigung. Sie schliesst die Einschätzung der Angemessenheit ein, der Balance aus den eingesetzten Ressourcen – an Energie oder Anstrengung, Zeit und Material – und dem Werk als dem gewünschten Ergebnis. Abstufungen Handwerk in der Architektur kann in verschiedenen Ausprägungen vorliegen. Sie unterscheiden sich dadurch, was als das Werk des Schaffens angesehen wird, also auch durch die Breite der prospektiven Verantwortung, welche die Ausführenden übernehmen. Erstreckt sich diese nur über den konkret vorliegenden Arbeitsschritt, handelt es sich um fragmentiertes handwerkliches Bauen. 223 Von integralem handwerklichem Bauen kann dagegen nur gesprochen werden, wenn die Verantwortung der Ausführenden sich über den vorliegenden Arbeitsschritt hinweg auf das gesamte Bauwerk erstreckt. Bedeutung Handwerkliche Fertigung ist nicht auf traditionelles Bauen, auf Handwerkzeuge oder historische Beispiele beschränkt. Obwohl die Einordnung in die jeweiligen Bauprozesse verschieden war, bildete sie bei allen untersuchten Bauten eine unverzichtbare Komponente der Fertigung. Spezifisches Wissen Beim spezifischen Wissen des Handwerks sind geistige und physische Aspekte nicht voneinander zu trennen. Das implizite und explizite Wissen werden durch stete Wiederholung der Arbeit in das Bewusstsein eingebettet. Das Lernen geschieht langsam und ist durch die physische Erfahrung sehr präsent. Erfahrung bedeutet die Möglichkeit, bewusst oder unbewusst auf eine stetig steigende Zahl von Referenzen zurückgreifen zu können, mit denen eine konkrete Situation abgeglichen werden kann. Sie ergänzt das rationale Denken in Argumentationsketten. Die Erfahrung ist teilweise körperlich, umfasst alle Sinne und bleibt so an die Personen gebunden. Handwerkliche Fertigung hat insofern einen ausbildenden Charakter. Als Nebenprodukt der Fertigung wird Wissen und Erfahrung aufgebaut. Der Bau aller Fallbeispiele hing von dieser Art des Wissens ab. Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte und beim Tamedia-Gebäude wurde es in die Planung verlagert, blieb aber an die Personen gebunden, die handwerkliche Erfahrung vorher in anderen Projekten aufbauen konnten. Handwerkliches Wissen kann überpersönlich in Traditionen gespeichert sein, in denen festgelegt ist, wie eine Arbeit auszuführen ist. Eine besondere Form dieses gespeicherten Wissens sind Typologien. Sie können eine Holzverbindung, aber auch eine Konstruktionsweise oder ein ganzes Gebäude definieren. Sie bestimmen die Form und deren Fertigung sinngemäss und enthalten implizit das Wissen um deren Funktionsweise. Sie werden dabei stets an die Anforderungen des Einzelfalles angepasst. Da der Beobachtungszeitraum der Entwicklung jener Typologien sehr lange ist, kann auch das Langzeitverhalten und die Alterung der Bauwerke in das darin gespeicherte Wissen mit einfliessen. Technische und kulturelle Beweggründe sind bei der Entstehung der Typologien jedoch kaum voneinander zu trennen. Menschliche Interaktion mit dem Material Direkte Interaktion mit dem Material setzt das Übernehmen von Verantwortung durch die 224 Ausführenden voraus, da das Risiko, den Arbeitsschritt zu verderben, nicht nur von ihrem Können und Wissen, sondern auch von ihrer Sorgfalt abhängig ist. Sobald Verantwortung übernommen wird, muss eine Motivation bestehen, dieser nachzukommen. Diese Interaktion ist unerlässlich zum Aufbau des impliziten Wissens und die Voraussetzung für situatives Reagieren, das direkte Eingehen auf eine bestimmte Situation während des Arbeitsschrittes. Angemessenheit Die Einordnung der Angemessenheit bedeutet ein relatives Abwägen von Aufwand und Wirkung während der Ausführung. Sie ist nicht absolut, sondern muss stetig neu ausgehandelt und an die jeweilige Situation angepasst werden. Die Art und Weise, wie die Arbeit zu verrichten ist, aber auch die Qualitätsansprüche und damit die Angemessenheit sind in stillschweigenden Normen und Gebräuchen festgelegt, die ein handwerkliches Ethos bilden. Es wird beim Lernen eines Handwerks vermittelt. Das bedeutet, dass ein Ethos in der Ausbildung von Vorbildern abgeschaut, gelernt und übernommen werden muss. Das Ethos ist nicht fixiert, sondern wandelbar und im jeweiligen kulturellen Kontext verwurzelt: Es ist Teil der Tradition. Solche Normen bilden die Rahmenbedingungen für die Übernahme der Verantwortung. Die Absicht des Bauwerks bestimmt das gewünschte Ergebnis der Arbeit, welches gegen den Einsatz der Ressourcen abgewogen wird. Sie geht über rein funktionale Elemente hinaus und schliesst auch ästhetische und übergeordnete Anforderungen ein. Handwerk ordnet sich dieser Absicht unter. Es ist pragmatisch und zielgerichtet und hat eine dienende Funktion. Handwerkliche Prägung Die direkten Auswirkungen der eigenen Tätigkeit, der Widerstand des Materials und physische Anstrengungen betten die physische Erfahrung in das implizite Wissen ein. Dieses Wissen ist im Fluss, es verändert sich. Gleichzeitig mit den Fertigkeiten wird beim Lernen durch Abschauen und Verinnerlichen von Tätigkeiten auch die Art und Weise übernommen, wie eine Arbeit auszuführen ist. Verinnerlichtes Wissen und Ethos bilden zusammen eine handwerkliche Prägung, welche die Einstellung zur Arbeit und zu deren Ergebnis einschliesst. Sie ist bestimmt durch das Arbeiten mit beschränkten Ressourcen. Diese Prägung erklärt manche Entscheidungen im Handwerk. Ohne Verantwortung ist die Entwicklung eines Ethos und einer solchen Prägung nicht möglich. Das Ethos bestimmt die Grenzen für die eigenen Entscheidungen der Ausführenden. Es ist obsolet, wenn kein Entscheidungsspielraum besteht. 225 2. Der handwerkliche Bauprozess Definitionen Das Vorliegen handwerklicher Arbeisschritte bedeutet nicht zwangsläufig auch einen handwerklichen Bauprozess. Die Einbindung handwerklicher Fertigung in Bauprozesse Beim Umgang mit Handwerk können beim Bau der untersuchten Fallbeispiele drei Strategien unterschieden werden. Einerseits kann handwerkliche Fertigung ein bestimmender Teil des Prozesses sein, wie beim Hochstudhaus von Birrwil und dem Hotzenhaus. Dann können handwerkliche Arbeitsschritte gezielt dort in den Prozess eingebettet werden, wo sie im Sinne der Absicht sinnvoll und effizient sind. Sie bilden wichtige und verbindende Elemente des Prozesses, wie bei der Totenstube und dem Ferienheim Büttenhardt. Zudem waren hier Planung und Ausführung personell eng verbunden. Schliesslich können handwerkliche Arbeitsschritte zur punktuellen Steuerung des fragmentierten Prozesses dienen, wie beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte. Der handwerkliche Bauprozess Beim handwerklichen Bauprozess ist die Verantwortung über das Erreichen der Absicht des Bauwerks zwischen Planenden und Ausführenden geteilt. Diese Art des Prozesses setzt also integrale handwerkliche Fertigung voraus. Die direkte Interaktion mit dem Material während der Fertigung bedeutet, dass der Prozess jederzeit anpassbar bleibt. Daher ist das situative Reagieren konstitutiver Bestandteil des handwerklichen Bauprozesses. Besondere Situationen zu bewerten und darauf zu reagieren ist keine Korrektur, sondern natürlicher Teil des iterativen Prozesses. Dieser bleibt daher zu jeder Zeit steuerbar und flexibel. Der handwerkliche Bauprozess ist induktiv, indem er vom vorhandenen ausgeht und auf ein bestimmtes Ziel zusteuert, welches jedoch mit einer gewissen Offenheit definiert ist. Der fragmentierte Bauprozess Im fragmentierten Bauprozess wird handwerkliche Fertigung möglichst ausgeschlossen, indem soweit wie möglich die Verantwortung und das Wissen in der Planung zentralisiert und die eigentliche Ausführung auf determinierte Fertigungsweisen verlagert wird. In dieser Sichtweise werden einzelne Arbeitsschritte als in sich abgeschlossen betrachtet. Das Ideal des fragmentierten Prozesses ist, dass bereits vor Beginn der physischen Fertigung 226 das Ergebnis samt aller Teilergebnisse absolut feststeht, da ein Reagieren nicht vorgesehen ist. Je determinierter der Prozess ist, desto weniger Freiheiten lässt er bei der Geometrie der Zwischenstufen und der Endergebnisse zu. Er fordert und fördert absolute Masse. Der fragmentierte Prozess ist deduktiv. Er geht vom Ergebnis aus und passt Material und Vorgehensweise an dieses an. In fragmentierten Prozessen ist es sehr wichtig, dass in der Planung alle Eventualitäten gelöst werden, damit in der Ausführung keine Anpassungen mehr notwendig sind. In industriellen Herstellungsprozessen kann dies durch letztlich empirisches Anpassen und Abstimmen der Produktionsprozesse erreicht werden, indem nach einer Nullserienproduktion eventuelle ‹Kinderkrankheiten› eines Serienproduktes beseitigt werden. Solange Architektur die Fertigung von individuellen Bauten bedeutet, ist es hier ist sehr schwierig, alle Unwägbarkeiten auszuschliessen. Anpassungen im fragmentierten Prozess müssen dann stets eine Schlaufe von der Aufnahme der Situation, über die Abstraktion der Planung und zurück zur angepassten Ausführung nehmen, oder eben durch handwerkliche Arbeitsschritte geschehen. Bedeutung handwerklicher Prozesse Handwerkliche Prozesse ermöglichen spezielle Vorgehensweisen und Strategien. Situatives Reagieren Die Möglichkeit des Arbeitens mit vorhandenem Material schliesst auf selbstverständliche Weise das Wiederverwenden von Materialien und Bauteilen ein. Auch Reparaturen sind per definitionem handwerkliche Fertigung, sobald sie das blosse Austauschen vorgefertigter Teile übersteigen: sie sind der Idealtyp für das Arbeiten mit vorgefundenen, konkreten Situationen. Die Steuerbarkeit ist im Prozess direkt angelegt, da das Eingehen auf die Besonderheiten des Einzelfalles durch die direkte Interaktion mit dem Material der Normalfall ist. Auf Unvorhergesehenes kann reagiert werden, ohne dass der Prozess sich grundsätzlich ändern müsste. Dadurch wird er resilient und flexibel. Handwerkliche Arbeitsschritte können auch im fragmentierten Prozess gezielt steuernd eingesetzt werden. Iterativer Prozess Die einzelnen, zeitlich und räumlich aufeinanderfolgenden Schritte des iterativen Prozesses sind relativ zueinander. Absolute Masse sind nicht per se und überall relevant. Die Relativität kann zur Effizienzsteigerung genutzt werden und einen bestimmten Ausdruck hervorrufen. Sie erschwert jedoch den Austauschbau. 227 Effizienz Die Effizienz von Bauprozessen muss im Gesamten betrachtet und über den Prozess selbst hinaus beurteilt werden. Beim handwerklichen Bauen wird mit den vorhandenen Restriktionen und Beschränkungen gearbeitet – des Materials, der Fertigungsweise, der Kräfte, der Techniken. Durch die Beurteilung der Angemessenheit ist Effizienz ein fester Bestandteil handwerklichen Denkens: eine Verschwendung von Ressourcen wäre nicht angemessen. Durch die geteilte Verantwortung mit den Ausführenden im handwerklichen Prozess können Probleme direkt am Objekt gelöst werden. Dadurch kann die Qualitätskontrolle sehr effizient sein, allerdings ist sie abhängig vom Bestehen eines entsprechenden Ethos. Die Rahmenbedingungen handwerklicher Fertigung müssen nicht absolut sein. Diese Bauweise kann effizient mit der Welt umgehen, wie sie ist. Die Steuerbarkeit des handwerklichen Prozesses erlaubt es, auf Homogenisierungen des Materials zu verzichten. Dadurch ist es möglich, mit vorhandenem Material zu arbeiten und dieses im Sinne einer induktiven Materialeffizienz zu nutzen: Individuelle, inhomogene Ausgangsstoffe können Vorteile im Bezug auf Nachhaltigkeit und technische Eigenschaften haben, die in fragmentierten Prozessen nicht nutzbar sind. Die konkreten Vorteile des individuellen, vorliegenden Werkstoffes können gezielt ausgenutzt werden. Dadurch kann die Materialaufbereitung oder die Herstellung von Halbzeugen entfallen, die oftmals einen hohen, aus dem eigentlichen Bauprozess ausgelagerten Aufwand an Ressourcen bedeuten. Die Flexibilität des Prozesses erlaubt umgekehrt das Anpassen des Bauwerks bzw. des Planes an das Material. In einem handwerklichen Prozess kann dezentral mit begrenzten (vorhandenen) Rohstoffen zielführend agiert werden. Im handwerklichen Prozess kann zudem die Planungsleistung stark reduziert werden. Viele detaillierte Entscheidungen werden direkt bei der Bearbeitung des Materials getroffen. Die genaue Ausführung von Details, deren Auswahl, die Oberflächenbearbeitung oder das Anpassen wird vor Ort entschieden, ohne den Zyklus von Abstraktion (Aufnahme), Planung, Re-Konkretisierung und Qualitätskontrolle durchlaufen zu müssen. Dies gilt vor allem für das Arbeiten im Bestand und mit nicht-homogenisiertem Material, da die Beurteilung des Vorhandenen ohnehin Teil des Prozesses ist. Ein weiterer Faktor ist die notwendige Infrastruktur. Handwerkliche Herstellung kommt prinzipiell mit einer beschränkten Auswahl an unkomplizierten Werkzeugen aus und kann auch so viele versteckte und aus dem eigentlichen Bauprozess ausgelagerte Kosten an Ressourcen vermeiden. 228 Die Faktoren der Effizienz handwerklicher Arbeitsschritte kommen vor allem dort zur Wirkung, wo die Rahmenbedingungen nicht die für fragmentierte Prozesse notwendige Planbarkeit und Absolutheit erlauben, wie es bei Reparaturen, beim Bauen im Bestand, aber auch bei innovativen Ansätzen der Fall ist, sowie überall, wo Austauschbau nicht angestrebt wird oder nicht möglich ist. 3. Handwerk und Bauwerk Es gibt keine zwangsläufigen Zusammenhänge zwischen der Fertigungsweise und bestimmten Eigenschaften des gefertigten Bauwerkes. Manche Eigenschaften von Architektur entstehen jedoch folgerichtig aus bestimmten Fertigungsweisen. Objektive Eigenschaften von Bauwerken Diese sind am Bauwerk direkt und unvoreingenommen erkenn- und benennbar. Technische Eigenschaften Die Langlebigkeit der Konstruktion kann ein Kriterium des handwerklichen Ethos darstellen, wenn die Ausführenden beim Lernen mit dem langfristigen Verhalten von Konstruktionen konfrontiert werden und dieses in die eigene Herangehensweise einbetten. Die direkt erfahrene Anstrengung der Arbeit, welche in die handwerkliche Prägung eingebettet ist, verändert ebenfalls die Einstellung zur Langlebigkeit der zu fertigenden Architektur. Manche technischen Eigenschaften sind nicht direkt mit handwerklicher Fertigung, sondern mit den empirisch entstandenen handwerklichen Typologien verknüpft. Deren beobachtetes, langfristiges Verhalten fliesst als Faktor in ihre Konzeption ein. Auch hier ist das wichtigste Potential die Langlebigkeit. Durch die empirische Entwicklung ohne rechnerische Nachweise sind Konstruktionen oft überdimensioniert: das Material ist optimiert, nicht die Querschnitte, was Fehlertoleranz und Resilienz erhöht. Durch die statische Überbestimmung der Bauteile entstehen Redundanzen. Da die Konstruktionen oft statisch überbestimmt sind, kann im Falle des Versagens eines Bauteils dessen statische Funktion auf andere Bauteile übertragen werden. Schliesslich ist in vielen handwerklich entwickelten Konstruktionen die Austausch- bzw. Reparierbarkeit im Konstruktionsprinzip angelegt. Resilienz, Langlebigkeit der Bauten und Ausnutzen des Materials machen handwerkliche Fertigung in der gesamtheitlichen Betrachtung zu einer potentiell ressourceneffizienten Bauweise. 229 Formale Eigenschaften Das situative Reagieren und namentlich der iterative handwerkliche Prozess kann eine geometrische Unschärfe am Bauwerk erzeugen. Auf Materialebene sind dies die Abweichungen von absoluten Idealzuständen wie geraden Linien oder planen Flächen, die durch freie Umsetzung einer Vorgabe entstehen. Auf dem Massstab der Konstruktion sind es Unregelmässigkeiten in den Massen, die auf individuellen Anpassungen an Material oder Situation beruhen. In einem solchen Umfeld werden Abweichungen vom Absoluten nicht als Fehler wahrgenommen, es besteht eine ästhetische Fehlertoleranz. Aus der Induktivität aufeinander aufbauender iterativer Prozesse kann ein organisches Bild des Bauwerks entstehen, indem die einzelnen Bauteile zwar noch als solche, aber auch als Komponenten eines Ganzen erkennbar sind. Aus möglichen Spuren freier Umsetzung, der geometrischen Unschärfe und den Eigenschaften des individuellen Materials schliesslich entsteht Diversität. Dies beschreibt eine hohe Anzahl visueller Details über alle Massstabsstufen hinweg. Bei handwerklicher Fertigung sind diese Details unverwechselbar. Der handwerkliche Ausdruck Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigung am Bauwerk ablesbar ist. Er beruht auf dem Vorwissen der Betrachtenden oder auf im jeweiligen Kulturkreis gültigen, unausgesprochenen Konventionen, welche das Bauwerk als handwerklich erkennbar machen. Die beschriebenen formalen Eigenschaften, die durch die Fertigung am Bauwerk entstehen können, bilden die Referenz für einen handwerklichen Ausdruck in unserem heutigen kulturellen und zeitlichen Kontext. Da auch Architekten und Ausführende Teil des kulturellen Umfeldes sind, können sie diesen Ausdruck bis zu einem gewissen Grade antizipieren. Der Ausdruck kann je nach der Absicht des Gebäudes aktiv gesucht werden. Die handwerkliche Fertigung kann beim Errichten von Architektur unvermeidbar oder bewusst eingesetzt sein. Das unvermeidbare Handwerk ist nur bei Bauten möglich, bei denen es keine sinnvolle Alternative zu handwerklicher Fertigung gibt, wie es der Fall bei dem vormodernen Fallbeispiel ist. Der handwerkliche Ausdruck kann selbstverständlich entstehen, gewünscht oder vermieden werden. Nur unvermeidbares Handwerk erzeugt den selbstverständlich entstehenden handwerklichen Ausdruck. Ob der handwerkliche Ausdruck gewünscht oder vermieden wird, hängt mit der Absicht des Bauwerks zusammen.Wird er gewünscht, gibt es verschiedene Möglichkeiten, ihn hervorzurufen 230 oder zu fördern. An den untersuchten Fallbeispielen lassen sich einige grundsätzliche Arten des Umgangs mit einem handwerklichen Ausdruck unterscheiden. Eine Strategie besteht im Adaptieren einer empirisch entstandenen, handwerklichen Konstruktionstypologie. Das Ferienheim Büttenhardt und die Totenstube weisen beide vereinzelte und gezielt eingesetzte Spuren handwerklicher Arbeitsschritte auf, welche den Ausdruck unterstützen. Er wird jedoch vor allem durch das Adaptieren der Konstruktionstypologien des Bohlen-Ständerbaus und des Strickbaus hervorgerufen. Gleichzeitig bleibt dieser Ausdruck durch die gebrauchten Techniken zeitgenössisch. Auch das Hotzenhaus nutzt die klassische Bohlenständerkonstruktion. Hier wurde zudem ein handwerklicher Prozess angewendet, bei dem an geeigneten Stellen freie Umsetzung möglich ist. Die Verantwortung wurde bis hin zu gestalterischen Entscheidungen mit den Ausführenden geteilt. Auf diese Weise entstehen nicht forcierte, beiläufige Spuren, die jeweils Nebenprodukte eines ohnehin notwendigen oder sinnvollen, jedenfalls angemessenen Vorganges sind. Sie bereichern den handwerklichen Ausdruck vor allem im Detail. Gerade die Details brauchen ein hohes Mass an Kenntnis, um erkannt zu werden; das Bauwerk ist viel elaborierter, als es zuerst den Anschein hat. Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte schliesslich bestehen die Referenzen auf das Handwerkliche der alten Alpenclub-Hütten in den sichtbaren Balken und Details wie Schwalbenschwanzverbindungen oder den sogenannten ‹digitalen Schnitzereien›. Obwohl auch bei diesem Bauwerk an anderer Stelle viele handwerkliche Arbeitsschritte vorlagen, sind diese Referenzen durch determinierte Fertigung entstanden; sie sind abstrahierte Zitate des Handwerklichen. Beim Tamedia-Gebäude schliesslich wurde ein Ausdruck zeitgenössischer Fertigungsweisen gesucht. Obwohl auch hier Handwerk für den Prozess wichtig war, blieb es im Einklang mit der Absicht des Entwurfes weitgehend spurlos. Die wenigen, dennoch vorhandenen Spuren handwerklicher Fertigung sind Reparaturen, die dem Ausdruck des Bauwerks eigentlich widersprechen. Wahrnehmungspsychologie Die durch handwerkliche Prozesse möglichen formalen Eigenschaften von Bauwerken sind im Zusammenhang mit der Wahrnehmungspsychologie relevant. Zu ihnen gehören die geometrische Unschärfe und die Diversität, die eine hohe quantitative Komplexität in der Wahrnehmung des Bauwerks bedeuten. Auch deren Wahrnehmung ist eine Art des impliziten Wissens; Michael Polanyi beschreibt dieses mit der nicht genau kodifizierbaren Fähigkeit, ein bestimmtes Gesicht zu erkennen. 231 Konnotationen Das unverwechselbare Objekt Ist das Bauwerk ein unverwechselbares Objekt mit einer eigenen Geschichte und einem Hier und Jetzt im Sinne Walter Benjamins, kann es zum Träger von Konnotationen werden. Handwerkliche Fertigung kann es mit bestimmten Assoziationen verbinden, die auf dem Wissen um die handwerkliche Fertigung bei den Betrachtenden beruhen. Wenn diese nichts von der Herstellung eines bestimmten Hauses wissen, bildet der handwerkliche Ausdruck die Grundlage für das Entstehen der Konnotationen. Die Betrachtenden können dann vom Gebäude auf dessen handwerkliche Erstellung schliessen, ohne konkrete Kenntnisse über den Bauprozess zu haben. Bedeutung Das Wissen um die Fertigung fliesst in einem solchen Falle in die Bewertung des Bauwerks mit ein. Eine mögliche gedankliche Verknüpfung ist die Zeitlichkeit. Die aufgewandte Lebenszeit und die Sorgfalt der am Bau Beteiligten kann das Gebäude mit Bedeutung aufladen. Dies kann auch sehr bewusst geschehen, indem in Entwurf und beim Bau mehr Aufwand an Ressourcen, Zeit und Sorgfalt in bestimmte Teile des Bauwerks gesteckt wird als eigentlich notwendig, um diese besonders hervorzuheben. Sorgfalt und Zeit sind so als Konnotation mit dem Bauwerk verknüpft. In solchen Fällen sind Bauwerke Kommunikationsmittel zwischen den Entwerfenden oder Ausführenden und den Betrachtenden. Spuren des Machens können auch Spuren des Menschen sein. Imitation Beruht ein handwerklicher Ausdruck nicht tatsächlich auf einer ebensolchen Fertigungsweise, so handelt es sich um eine Imitation. Sobald diese erkannt wird, verändern sich die Konnotationen grundlegend. Die Verknüpfung eines Bauwerks mit der zu seinem Bau notwendigen Sorgfalt und Zeit funktioniert dann nicht mehr, an ihre Stelle können Assoziationen mit Täuschung oder Künstlichkeit treten. Emergenz In diesem Sinne kann man beim Bauen von einem möglichen Emergenzphänomen sprechen: das bedeutet, dass das Bauwerk als Ganzes mehr ist als die Summe seiner einzelnen Komponenten, so wie das bestimmte Gesicht mehr ist als die Anordnung von einzelnen Organen. Dieses ‹Mehr› ist jedoch nicht klar benennbar: Das Ganze kann nicht durch die Beschreibung der Partikularitäten erklärt werden. Die Emergenz ist nach Polanyi wiederum ein Teil des impliziten Wissens auf Seiten des Betrachters. 232 Das Ideal der Symmetria Das im Bauhandwerk angestrebte Ideal ist nicht absolut, sondern relativ. Die Angemessenheit der eingesetzten Ressourcen im Verhältnis zur Absicht des Bauwerks muss gesucht und stets neu festgelegt werden. Dieses Abwägen verschiedener Faktoren bringt mit sich, dass Entscheidungen oft mehrdeutig sind: formale, technische und kulturelle Fragen können prinzipiell gleichwertig behandelt werden, gleichzeitig sind Entscheidungen oft nicht nur durch eine davon bestimmt. Diese Mehrdeutigkeit zusammen mit den aus dem iterativen Prozess entstehenden Unschärfen und den dennoch über das gesamte Bauwerk wirksamen Gesetzmässigkeiten der Fertigung erzeugt Bauten aus organisch zusammengehörigen Komponenten. Ein Begriff zum Beschreiben dieses Ideals ist der antike Symmetriebegriff. Symmetria beschreibt das ausgewogene Verhältnis zwischen den Teilen eines Ganzen zueinander und zum Ganzen selbst. Dies überschreitet rein formale Aspekte und schliesst auch die Ressourcen, die Absicht und den Kontext des Bauwerks ein. Handwerk in der Architektur strebt nicht Originalität, sondern Selbstverständlichkeit an. Dieser Anspruch entspricht dem Schönheitsbegriff des καλός, welcher über die ästhetische Schönheit hinaus die funktionale Eignung und die Angemessenheit einschliesst. 233 4.Ausblick Das Wesen handwerklicher Prozesse beruht auf dem Verteilen von Wissen und Verantwortung. Sie sind dezentral gesteuert. Dieses System verstärkt sich selbst, indem es seine eigenen Rahmenbedingungen aufbaut: mit der verteilten Verantwortung entstehen und verstärken sich das Können und das Ethos. Es gibt in einem solchen Prozess keinen absoluten Zwang, alle Fehler und Unwägbarkeiten auszuschalten, stattdessen ist das Reagieren darauf dessen natürlicher Bestandteil . Umgekehrt führt ein Zentralisieren der Verantwortung im idealen fragmentierten Prozess dazu, dass auch die Qualitätssicherung der Arbeit zentralisiert werden muss. Alle Eventualitäten der Ausführung müssen vorher bedacht sein, ein Ethos au Seiten der Ausführenden entsteht nicht. Auch dieser Prozess verstärkt sich selbst. Die Vereinfachung und Homogenisierung der Bauten sind schlussendlich eine Folge der Rahmenbedingungen, die der fragmentierte Prozess schafft. Doch auch in solchen Prozessen scheinen Menschen als Faktor sehr wichtig zu sein. Nicht nur deren Wissen, Können und Erfahrung, sondern sogar deren persönliche Situation beeinflussen den Bauprozess.338 Diese Faktoren liegen oft nicht auf der Hand, werden kaum adressiert und sind eher vermeintlich «weiche» Faktoren eines Projektes, die dennoch einen grossen Einfluss auf sein Gelingen haben. Natürlich könnte die Lösung darin gesucht werden, diesen Unsicherheitsfaktor möglichst völlig auszuschliessen. Doch das Übertragen von Verantwortung gehört zur menschlichen Kultur. Im Kontext seines Plädoyers für die Freiheit der Wissenschaften schrieb Michael Polanyi kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges darüber, wie verbreitet das Übertragen von Entscheidungsfreiheiten in der Gesellschaft ist: «The granting of such discretion to individuals for the purposes of their profession is fairly common in all departments of life. Holders of higher posts in Business, Politics, the Law, Medicine, the Army, the Church, are all invested with powers which enable them to follow their own intuitive judgment within the framework of certain rules.»339 Die untersuchten Beispiele haben zudem gezeigt, dass eine scharfe Trennung zwischen fragmentierten und handwerklichen Bauprozessen – jedenfalls bei den untersuchten Bauwerken, die allerdings mit einem hohen architektonischen Anspruch errichtet wurden – nicht existiert. Es gibt Grauzonen: selbst bei den stark mechanisiert und in fragmentierten Prozessen errichteten Gebäuden spielte das handwerkliche Wissen eine grosse Rolle. Anzuerkennen, dass auch in zeitgenössischen und hochkomplexen Projekten der Faktor Mensch, das handwerkliche 338 Diesen Gedanken betonte Martin Antemann im Gespräch mit dem Verfasser (Antemann 2015). 339 Polanyi 1964 234 Können und Wissen und sogar das Ethos eine Bedeutung haben, kann auch fragmentierte Prozesse insgesamt flexibler und resilienter machen oder allgemein helfen, deren Schwächen zu kompensieren. Am Anfang steht jedoch die Erkenntnis, dass der Dualismus aus Handwerk und Innovation nicht haltbar ist. Sieht man Innovation als die Möglichkeit, auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können, so ist sie kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Problemlösen. Es besteht eine grosse Chance darin, diese vermeintliche Dualität zu hinterfragen und zu versuchen, das Beste aus beiden Welten zu suchen, wie es heute schon stillschweigend (‹tacitly›) geschieht. Diese Untersuchung zeigt einige Möglichkeiten einer solchen Vorgehensweise. Auf der Ebene der Wahrnehmung mag es eine wichtige Aufgabe der Architektur in unserem Kulturkreis sein, Mittel zum Umgang mit der fortschreitenden Abstraktion der gebauten Umwelt zu finden. Die Qualität handwerklicher Arbeit an sich ist Thema für andere Untersuchungen. Die Verteilung der Verantwortung impliziert in letzter Instanz Selbst- und Mitbestimmung. Schliesslich lassen gerade absolute Kriterien wie der ökologische Einfluss auf die gebaute Umwelt, der nachhaltige Umgang mit Ressourcen und allgemein der gesellschaftliche Nutzen der Architektur den Blick auf handwerkliches Bauen als sehr lohnend erscheinen. Handwerk ist komplex und rein rational nicht völlig fassbar. Gerade das implizite Wissen kann nicht in Systemen abgebildet werden. Es ist aber nur eine mögliche Sichtweise, dies als Nachteil zu sehen: Menschen sind ebenfalls komplex und rational nicht völlig fassbar. Handwerk reagiert auf die Welt. 235 236 Anhang 237 Daten der untersuchten Fallbeispiele Hochstudhaus in Birrwil («Spittelfritzenhaus») Adresse Zopf 106, Birrwil AG Bauherranonym Architektur und Konzeption tradierte Typologie Ausführende Holzarbeiten (lokale Zimmerleute, Eigenleistung der Bauherrschaft möglich) Baujahr 1692 (Inschrift auf Sturzriegel Scheunentor) Archivalien, Dokumente etc. Denkmalpflege Kanton Aargau, Kurzinventar Birrwil Inv. Nr. 909 Liebegger Gerichtsmanualen, recherchiert von Willi Hintermann (vgl. Inventar) Brandkatastereintrag von 1876 Gespräche mit Claus Niederberger, ehemaliger kantonaler Denkmalpfleger Luzern, sowie Cecilie Gut und Jonas Kallenbach von der kantonalen Denkmalpflege Aargau. Haus Graubner / Hotzenhaus Adresse D-Herrischried, Ortsteil Grossherrischwand BauherrWolfram Graubner Architektur und Konzeption Hugo Kückelhaus / Wolfram Graubner Ausführende Holzarbeiten Wolfram Graubner, Zimmerei Hotzenholz Herrischried Baujahr Oktober 1982 bis 1985 (jeweils über Winter) Archivalien, Dokumente etc. Graubner 1986 Gespräche mit Wolfram Graubner sowie den neuen Nutzern. Neue Monte-Rosa-Hütte BauherrSAC Architektur und Konzeption ETH Studio Monte Rosa Ausführende Holzarbeiten Holzbau Bumann, Mörel VS Baujahr2008-2009 Archivalien, Dokumente etc. Eberle et. al. 2010 Holcim 2015 238 Gespräch mit Egon Bumann, Projektleiter Holzbau. Totenstube Name Stiva da Morts / Totenstube AdresseVrin BauherrGemeinde Vrin Planung und Konzeption Gion A. Caminada Ausführende Holzarbeiten Holzbau Alig, Vrin GB Baujahr2002 Archivalien, Dokumente etc. Cabalzar et. al. 2003 Schlorhaufer et. al. 2006 Mazuch 2008 Gespräche mit G.A. Caminada und Zimmerer Claudio Alig Ferienheim Büttenhardt Adresse Ferienheim 47, Büttenhardt SH BauherrBeat Mader Architektur und Konzeption Bernath + Widmer Architekten, Zürich Initiator kernfreies Laubholz Heiri Bührer, Bibern Ausführende Holzarbeiten Zimmerei Brädäx, Michael Koller, Appenzell (Bergauer Holzbau, Büttenhardt) Baujahr2008-2010 Archivalien, Dokumente etc. Fotodokumentation der Aufrichte auf http://www.braedaex.ch/67/zimmerei-referenzen Simon 2010 Website Bernath + Widmer bernathwidmer.ch Bernath, Widmer o.J. Gespräche mit Beat Mader (Bauherr), Benjamin Widmer (Architekt) und Michael Koller (Zimmerermeister). Tamedia-Gebäude Adresse Werdstrasse 15, Zürich BauherrTamedia AG Architektur und Konzeption Shigeru Ban Architects Ausführende Holzarbeiten Blumer-Lehmann AG, Gossau SG BaujahrEröffnung 2013 Archivalien, Dokumente etc. http://www.tamedia.ch/de/unternehmen/tamedia/neubau-werd/ Gespräche mit Projektleiter Holzbau Martin Antemann und Christoph Zimmer, Leiter Unternehmenskommunikation der Tamedia AG 239 Literatur Adams 1998 Adams, C. (1998). Japan’s Ise Shrine and Its ThirteenHundred-Year-Old Reconstruction Tradition. Journal of Architectural Education, 52(1). Adamson 2007 Adamson, G. (2007). Thinking through Craft. Oxford: Berg. Adamson 2013 Adamson, G. (2013). The Invention of Craft. London: Bloomsbury. Alig 2015 Alig, C. (03.07.2015). Interview. Protokolliert von U. Herres. Antemann 2015 Antemann, M. (07.10.2015). Interview. Protokolliert von U. Herres. Arendt 1960 Arendt, H. (1960). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer Ban 2014 Ban, S. (2014). 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Herres, mit Ausnahme von: Luc Merx S. 11 Hanspeter Bürgi S. 19 Lukas Galantay S. 33, S. 237 Wikipedia S. 142, S.146, S. 147 oben, S. 153 oben ( Open Source, Fotograf HWKing) Patrick Unruh: S. 147 unten, S. 153 unten Holzbau AG, Mörel: S. 170 244 Danke Ich möchte mich herzlich bei den Personen bedanken, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Zuerst bei meinen Betreuenden Annette Spiro, Dieter Geissbühler und Tina Unruh, die die Entwicklung des Themas stets motivierend, unterstützend, im positiven Sinne kritisch und mit grosser Energie und Kompetenz begleitet haben. Ohne die freundschaftliche Unterstützung von Luc Merx wäre die Entwicklung der Fragestellung nicht möglich gewesen. Mit Yves Dusseiller, Oliver Zumbühl und Guido Eifel habe ich lange und hilfreiche Diskussionen über Handwerk führen können und von ihnen viele wertvolle Anregungen erhalten. Auch mit meinen Kollegen der Abteilung Architektur der HSLU – T&A konnte ich die Arbeit zu verschiedenen Phasen diskutieren. Dies sind vor allem Hanspeter Bürgi, Eduardo Gascon Alvarez, Lukas Hodel, Christian Hönger, Marvin King, Peter Omachen, Christoph Schindler, Christoph Wieser und Rainer Vonäsch. Besonders danke ich Stefan Kunz und meiner Schwester Ina Trouet für das sorgsame Korrekturlesen. Wertvolle Unterstützung und Input in verschiedenen Phasen der Arbeit kamen von Martin Düchs, Andri Gerber, Conny Grünenfelder, Cecilie Gut, Stefan Hradil, Jonas Kallenbach, Adrian Knüsel, Werner Oechslin, Sarah Pape, Ben Schürrer und Patrick Unruh. Für wichtige Interviews und Diskussionen standen Claudio Alig, Martin Antemann, Egon Bumann, Gion Caminada, Thomas Gindhard, Valentin Groebner, Julian Harrap, Michael Koller, Claus Niederberger, Juhani Pallasmaa und Benjamin Widmer zur Verfügung. Besonders möchte ich Wolfram Graubner danken, mit dem ich mehrere wertvolle Gespräche über das Wesen des Handwerks führen durfte. Die Besitzer der analysierten Gebäude ermöglichten unkompliziert den Zugang und standen für Gespräche zur Verfügung, besonders Beat Mader (Büttenhardt), Christoph Zimmer (Tamedia) und das Buddhistische Studienzentrum im Johanneshof (Hotzenhaus). Die Unterstützung der Hochschule Luzern – Technik & Architektur, besonders durch Andrea Weber und Johannes Käferstein, und die Finanzierung des Projektes durch den Schweizerischen Nationalfonds SNF haben dieses Projekt erst möglich gemacht. Ich danke meiner Familie für ihre stetige Ermutigung. Ganz besonders danke ich meiner Frau Nicole Kirsch für alles, nicht zuletzt für ihre Fähigkeit als echte Handwerkerin, mich zuweilen aus der Theorie wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. 245