Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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Ralph Weimann
Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft
78274 Weimann.indd 1
09.06.15 12:05
Politik- und Kommunikationswissenschaftliche
Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft
Herausgegeben von
Hans Maier, Heinrich Oberreuter, Otto B. Roegele (†) und Manfred Spieker
In Verbindung mit Gottfried Arnold (Düsseldorf),
Günther Gillessen (Freiburg/Br.),
Helmut Herles (Bonn),
Rupert Hofmann (Regensburg),
Wolfgang Mantl (Graz)
Band 33
78274 Weimann.indd 2
09.06.15 12:05
Ralph Weimann
Bioethik in einer
säkularisierten
Gesellschaft
Ethische Probleme der PID
2015
Ferdinand Schöningh
78274 Weimann.indd 3
09.06.15 12:05
In Dankbarkeit meinen Geschwistern
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Umschlagabbildung: Künstliche Befruchtung. Alex Mit / shutterstock.com
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78274-8
78274 Weimann.indd 4
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INHALTSVERZEICHNIS
Geleitwort ..................................................................................................
7
Vorwort ......................................................................................................
11
Einleitung...................................................................................................
13
ERSTES KAPITEL:
DISKUSSION ZUR EINFÜHRUNG DER PID IN DEUTSCHLAND ..........
23
1. Drei Entwürfe zur Auswahl ...................................................................
1.1 Parlamentarier ohne Fraktionszwang ..............................................
1.2 Dissens zwischen den Kirchen ........................................................
1.3 Medizin und Wissenschaft...............................................................
1.4 Deutscher Behindertenrat – Bundesvereinigung Lebenshilfe .........
26
33
39
43
47
2. Die aktuelle Gesetzeslage ......................................................................
50
3. Grenzen für demokratische Entscheidungen? ........................................
55
ZWEITES KAPITEL:
PID AUS BIOMEDIZINISCHER PERSPEKTIVE ...................................
63
1. Humangenetische Grundlagen der PID .................................................
1.1 Extrakorporale Fertilisation, IVF und ICSI .....................................
1.2 Techniken zur Zellgewinnung bei der PID ......................................
1.3 Indikationen und Analysemöglichkeiten .........................................
64
66
70
73
2. Der Status des Embryos .........................................................................
78
3. Probleme mit der PID ............................................................................
86
4. Ziel der PID ...........................................................................................
95
5. Unter dem Einfluss wirtschaftlicher Interessen .....................................
98
DRITTES Kapitel:
Eine spezifisch katholische Bewertung der PID? ........................ 103
1. Der Gottesbezug .................................................................................... 106
2. Ontologische Fundierung .......................................................................
113
3. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Zellen ................................ 116
4. Die Herausforderung des Personbegriffs ............................................... 123
6
INHALTSVERZEICHNIS
4.1 Geschichtliche Entwicklung des Personbegriffs .............................
4.2 Grundlegende Charakteristika des Personseins ...............................
4.3 Menschen- und Personenwürde.......................................................
125
130
134
5. Kultur des Lebens ..................................................................................
5.1 Unantastbarkeit – Heiligkeit des Lebens .........................................
5.2 Naturrechtliche Grundlage ..............................................................
140
143
149
6. Christliches Menschenbild und die PID ................................................
156
VIERTES KAPITEL:
DIE PID UND DAS MENSCHENBILD ..............................................
161
1. Verschiedene Religionen und ihre Haltung zur PID..............................
164
2. Materialistisches Menschenbild.............................................................
169
3. Funktional-utilitaristisches Menschenbild .............................................
172
4. Eine Kultur des Todes ...........................................................................
178
5. Die PID, eine Gewissensentscheidung?.................................................
185
6. Nicht verhandelbare Werte ....................................................................
189
ABSCHLIEßENDE BEWERTUNG DER PID UND DER
BUNDESTAGSDEBATTE ...............................................................................
195
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .......................................................................
205
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................
I. Kirchenamtliche Dokumente .............................................................
II. Literatur zur Legislative ...................................................................
III. Literatur ...........................................................................................
IV. Weitere Materialien .........................................................................
V. Antwortschreiben .............................................................................
209
209
210
211
224
229
Geleitwort
„Im Übrigen gestattet nur die Begegnung mit Gott, nicht ‚im anderen
immer nur den anderen zu sehen‘, sondern in ihm das göttliche Bild zu erkennen und so dahin zu gelangen, wirklich den anderen zu entdecken und eine Liebe reifen zu lassen, die ‚Sorge um den anderen und für den anderen‘ wird.“ 1 Markant unterstreicht Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Caritas in veritate den Zusammenhang von Theologie und Ethik: Nur
wenn in und hinter der menschlichen Person das Urbild des absoluten Gottes entdeckt und gesehen wird, bleibt diese menschliche Person der Relativierung durch andere Personen entzogen, bleibt die andere Person genauso gültiger Ausdruck Gottes wie die eigene Person und wird so die Andersheit des Mitmenschen nicht nur erträglich, sondern bereichernd und erfüllend – das Gegenbild dazu ist das tödlich endende Konkurrenzverhältnis
von Kain und Abel! Der theologische Begriff der Gottebenbildlichkeit wird
ethisch und juristisch mit dem Begriff der Würde übersetzt. Daher widmen
sich die Überlegungen von Ralph Weimann diesem Begriff von Person,
Menschenbild und Menschenwürde – als unveräußerliche Würde der
Person – aus theologisch-ethischer Sicht mit besonderem Blick auf die
Problematik der Präimplantationsdiagnostik. Dahinter steht der von Michael
Quante prägnant formulierte Anspruch: „In einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft, die sich zum Pluralismus bekennt, muss auch die Menschenwürde auf eine Art und Weise interpretiert werden, die mit dem
Selbstverständnis einer solchen Gesellschaft vereinbar ist.“2 Vernunft und
Glaube widersprechen sich nicht – dann aber ist auch der absolute Anspruch
der Gottebenbildlichkeit adäquat übersetzbar in säkulare Vernunftbegriffe,
deren höchster jener der Menschenwürde ist. Dies spiegelt sich in der
deutschen Verfassungswirklichkeit als Grundlage einer säkularen Rechtsordnung wider: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit einem
schlichten und dennoch äußerst präzise formulierten Rechtssatz legt der
Art. 1. des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) die ethische
Grundnorm aller ihm folgenden Artikel fest. Er gibt dem politischen Handeln einen Rahmen und verpflichtet zugleich alle staatliche Gewalt zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde. Gerade weil jene formulierte
Garantie der Unantastbarkeit menschlicher Würde die gesamte Verfassung
zusammenhält und gleichsam ihr „Höchstwert“3 ist, an dem sich das Verfassungsprofil zu messen hat, genießt sie zurecht den in Art. 79 Abs. 3
-
1
2
3
CV 11, mit Verweis auf die Enzyklika Deus caritas est.
M. Quante, Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der
Lebenswissenschaften, Hamburg 2010, 36.
M. Herdegen, in: T. Maunz, G. Dürig, u.a. (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung, München (Stand: Oktober 2010), Art. 1 Abs. 1, RZ 4.
8
GELEITWORT
GG festgelegten Schutz der so genannten Ewigkeitsklausel und entzieht
sie so dem demokratischem Verfahrensprinzip. Oder anders, und nochmals mit den Worten von Michael Quante: „Es sollte offensichtlich sein,
dass die offizielle Auffassung von Menschenwürde im deutschen Grundgesetz der absoluten Lesart entspricht.“4 Damit aber ist auch die grundsätzliche Berechtigung erwiesen, irdisches Recht und damit die Menschenrechte auf eine absolute Menschenwürde rückführen zu können und sie an
religiöse Voraussetzungen zu binden. 5
Es wäre auf diesem explizit metaphysischen Hintergrund sicher zu einfach,
die Erlaubtheit der PID, wie zuletzt in einer „Ad-hoc“-Stellungnahme der
Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gefordert, mit dem
Recht eines jeden Menschen auf Fortpflanzung zu begründen, dem zugleich ein Recht der Eltern auf ein gesundes Kind zu folgen habe. Natürlich
bleibt ein tiefes Verständnis für alle Eltern, die sich ein gesundes Kind wünschen sowie für Eltern, die nach mehreren Fehlgeburten die Erfüllung ihres
Kinderwunsches herbeisehnen. Und für jedes Kind bleibt zu hoffen, dass
es das großartige Geschenk des Lebens ohne geistige oder körperliche Behinderung entgegen nehmen darf. Doch in der Sache geht es um weit mehr, als
um die größtmögliche Sicherheit, ein gesundes Kind zu bekommen. Genau
hier kommt das Proprium der Moraltheologie, ja der Religion im wert-pluralen
Staat überhaupt,6 ins Spiel: Es geht um die größere Hoffnung angesichts der
Grenzen irdischer Glückserwartungen, gedacht ist an Gottes unverbrüchliche
Zusage einer nicht immer nach außen sichtbaren Lebensqualität. „Glücksentwürfe dienen zwar als Modelle, eine Glücksgarantie aber gibt es nicht. Der
christliche Glaube bietet hier weniger theoretische Erklärungen als vielmehr
eine Hoffnungsperspektive, die dazu beitragen kann, mit der Spannung zwischen der Hoffnung auf Glück und der Annahme von Begrenztheiten zu leben.“7 Nicht menschliche Maßstäbe, sondern die unbedingte Achtung vor
jedem menschlichen Leben und der diesem Leben immanenten, unantastbaren Würde müssen das Kriterium sein, das dem menschlichen Handeln eine nicht überschreitbare Grenze setzt. Sobald die Gefahr besteht, dass
wissenschaftliche oder politische Akteure diese verfassungsrechtlich geschützte Grundnorm ausblenden, ist jeder einzelnen Christ gefordert, der
Würde des Menschen Gehör zu verschaffen um Gottes und der Menschen
Willen. Oder noch einmal mit den Worten der Enzyklika Caritas in
veritate: „Zur verbreiteten tragischen Plage der Abtreibung könnte in Zukunft – aber insgeheim bereits jetzt schon in nuce vorhanden – eine systema4
5
6
7
M. Quante, Menschenwürde und Autonomie, a.a.O., 39.
Vgl. umfassend: T. Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M. 2007.
Vgl. zum Hintergrund: F. Voigt (Hg.), Religion in bioethischen Diskursen, Berlin/New York
2010.
M. Zimmermann-Acklin, Bioethik in theologischer Perspektive. Grundlagen, Methoden, Bereiche, Fribourg 2010, 157.
9
GELEITWORT
tische eugenische Geburtenplanung hinzukommen. Auf der entgegengesetzten Seite wird einer mens euthanasica der Weg bereitet, einem nicht
weniger missbräuchlichen Ausdruck der Herrschaft über das Leben, das
unter bestimmten Bedingungen als nicht mehr lebenswert betrachtet wird.
Hinter diesen Szenarien stehen kulturelle Auffassungen, welche die menschliche Würde leugnen.“8 Die Untersuchung von Ralph Weimann widerstreitet
einer nur scheinbar menschlichen Herrschaft über den Menschen, gerade auch
des ungeborenen Menschen, des Embryos, und dessen absoluter Würde.
Paderborn, im Juni 2015
Peter Schallenberg
Professor für Moraltheologie an der
theologischen Fakultät in Paderborn
8
CV 75.
Vorwort
Der medizinisch-technische Fortschritt geht unaufhaltsam voran und lässt bioethische Fragen zu besonderen Herausforderungen werden. Wenn schon Experten Schwierigkeiten haben, mit den sich ständig verändernden Standards
und Ansprüchen standzuhalten, wie viel mehr dann Politiker, die 2011 über
ein genuin bioethisches Thema eine wichtige Entscheidung getroffen haben,
als sie sich für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID)
entschieden. Die Frage auf welcher Grundlage es gelingen kann, Entscheidungen, die die Würde des Menschen betreffen, zu fällen, ist akut. Ausgehend von
dieser Fragestellung wurde die Debatte um die PID analysiert.
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Dissertation, die im Wintersemester 2013 an der Fakultät für Bioethik an der päpstlichen Hochschule Regina Apostolorum angenommen wurde und nun in überarbeiteter Form im
Druck erscheint. Da ein derartiges Vorhaben nur mit vielfältiger Unterstützung gelingen kann, möchte ich zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. George Woodall für die umsichtige Betreuung der Arbeit danken. Zu Dank verpflichtet bin ich in besonderer Weise auch Prof. Dr. Manfred Spieker und den
anderen Herausgebern der Reihe „Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft“. Für das Korrekturlesen
danke ich allen Beteiligten.
In besonderer Weise gilt mein Dank all denen, die das Studium ermöglicht
haben, meinen Eltern, meinen Geschwistern, Freunden und Wohltätern.
Schließlich danke ich für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuss, sowie für die gute Zusammenarbeit mit dem Schöningh-Verlag.
Vatikanstadt, Juni 2015
Ralph Weimann
Einleitung
Für Schlagzeilen sorgte eine Bekanntmachung vom Januar 2012, in der die
Universitätsklinik Lübeck über die Geburt des ersten mittels der Präimplantationsdiagnostik (PID) erzeugten Babys in Deutschland berichtete. Mit Nachdruck wurde betont, dass das Kind ohne Genfehler zur Welt kam.1 Die Mutter
des Kindes hatte sich für die PID entschieden, da sie, wie auch der Vater des
Kindes, die Erbanlage für eine Skelett-Anomalie haben. Die Frau hatte schon
drei fehlgeschlagene Schwangerschaften hinter sich.2 Nun war es geglückt und
ein gesundes Kind konnte entbunden werden. Die Geburt dieses „ersten“ PIDBabys in Deutschland erregte deswegen so viel Aufmerksamkeit, 3 weil sich
die Gesetzeslage 2011 zugunsten einer begrenzten Zulassung der PID verändert hatte, wobei die vom Bundestag verlangte Ausführungsverordnung des
Gesundheitsministeriums noch gar nicht erlassen war.
Im Anschluss an eine emotional geführte Bundestagsdebatte wurde beschlossen, auch in Deutschland die PID in begrenztem Umfang zuzulassen.4
Mit der Unterschrift des Bundespräsidenten Christian Wulf trat das Gesetz zur
Regelung der Präimplantationsdiagnostik am 8. Dezember 2011 in Kraft. Zuvor wurde nicht nur im Bundestag über den Umgang mit der PID diskutiert,
sondern auch Kirchen, Verbände, Organisationen und viele andere Gruppierungen und Interessensverbände meldeten sich zu Wort. Dabei zeigte sich,
dass die Bioethik eine große Mobilisierungskraft auf weite Teile der Bevölkerung ausübt, zumal Wesentliches auf dem Spiel steht. Beginn und Ende des
menschlichen Lebens, Behinderung, Behandlungs-, Diagnose- und Heilungsmöglichkeiten betreffen jeden. Die Frage nach dem Leben, dessen Wert und
Bewertung im Hinblick auf neue Technologien, stellt für das gesellschaftliche
1
2
3
4
Präimplantationsdiagnostik. Erstes PID-Baby ohne tödlichen Genfehler geboren, Freitag
27.1.2012, in: http://www.focus.de/gesundheit/baby/praeimplantations-diagnostik-erstes-pidbaby-ohne-toedlichen-genfehler-geboren_aid_707730.html [17.4.2012]. Alle Texte, auch die
angeführten Zitate, sind nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung vereinheitlicht.
Oliver Tolmein hat dargestellt, dass in allen drei Schwangerschaften nach vorheriger Anwendung der PID und Herbeiführung einer Schwangerschaft das Desbuquois-Syndrom mittels
Pränataldiagnostik (PND) festgestellt wurde. Daraufhin entschlossen sich die Eltern zur Abtreibung, weil sie davon ausgingen, dass das Kind die Geburt nicht überleben würde. Vgl. O.
Tolmein, Nach drei Abtreibungen kam das Glück mit der PID – Lübeck sieht sich vorn, in:
http://faz-community.faz.net/blogs/biopolitik/archive/2012/01/31/nach-drei-abtreibungenund-das-glueck-mit-pid-luebeck-sieht-sich-vorn.aspx [3.6.2012].
De facto wurde in Lübeck nicht das „erste PID-Baby“ Deutschlands geboren. Der Berliner
Gynäkologe Matthias Bloechle hat beispielsweise schon 2005 einer Frau mittels der PID zu
einem gesunden Kind verholfen. Dazu vgl. N. Wolf, Der PID-Pionier und die Grenzen des
Gesetzes, in: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/praeimplantationsdiagnostik-der-pidpionier-und-die-grenzen-des-gesetzes-1581462.html [23.4.2012].
In vielen anderen europäischen und nichteuropäischen Staaten wird eine (begrenzte) Zulassung seit bereits knapp 20 Jahren praktiziert.
14
EINLEITUNG
Zusammenleben, wie die Debatte um die PID gezeigt hat, eine bedeutende
Herausforderung dar.5 Auch wenn sich das Interesse an bioethischen Themen
großer Aktualität erfreut, so scheint es doch immer schwieriger zu werden, in
dem Durcheinander der sich widersprechenden Meinungen objektive Werte
und Normen zu finden, die als gemeinsame Grundlage für die Diskussionen
dienen können. Geht eine Gesellschaft zu weit, wenn sie sich für die PID entscheidet? Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, wer vermag sie
wieder zu schließen? Oder umgekehrt gefragt, sollte der Fortschritt der Wissenschaft und Technik durch skrupulös anmutende Einwände aufgehalten oder
gar verhindert werden? Steht bei einer zu restriktiven Gesetzgebung der Forschungsstandort Deutschland auf dem Spiel? Die Diskussion um die PID
macht deutlich, wie sehr es notwendig ist, von Grundprämissen auszugehen,
die überhaupt erst eine Urteilsfindung möglich machen. Die Besinnung auf
das, was der Mensch ist, wann das Menschsein beginnt und worin die Würde
des Menschen besteht, gehören unweigerlich zu diesen Grundprämissen, sie
sind für eine Bewertung des sittlichen Sollens und Könnens konstitutiv.6 Dazu
trägt Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung,
die – wie der damalige Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede
am 18. Mai 2001 betonte – keine deutsche Sondermoral darstellt, sondern vielmehr dem entspricht, was immer und überall gegolten habe.
„In fundamentalen ethischen Fragen gibt es keine Geographie des Erlaubten oder
des Unerlaubten. […] Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden,
der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt. Die Erinnerung daran ist ein
immerwährender Appell: Nichts darf über die Würde des einzelnen Menschen
gestellt werden.“7
Die Instrumentalisierung menschlichen Lebens wird in der heutigen Gesellschaft zumeist auf subtile Weise vorangetrieben, unter dem Deckmantel damit
etwas Gutes zu tun. Je mehr Möglichkeiten des technischen Eingriffes der
Wissenschaft zur Verfügung stehen, umso schwieriger wird es, den Überblick
5
6
7
Neben verschiedenen Artikeln und der Bundestagsdebatte selbst haben folgende Schriften
maßgeblich Berücksichtigung gefunden: P. Schallenberg und R. Beckmann (Hg.), Abschied
vom Embryonenschutz? Der Streit um die PID in Deutschland, Köln 2011. M. Spieker u.a.,
Die Würde des Embryos. Ethische und rechtliche Probleme der Präimplantationsdiagnostik
und der embryonalen Stammzellforschung, Paderborn 2012. DRZE (Hg.), Präimplantationsdiagnostik, Bd. 10, München 2009. G. Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein
Lehrbuch, Stuttgart 2012. M. Klekamp, Lücken im Lebensschutz. Humane Vorkernstadien
und Präimplantationsdiagnostik aus der Sicht der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn
2008. E. Sgreccia, Manuale di bioetica. Fondamenti ed etica biomedica, Bd. I, Mailand
4
2007. Pontificia Academia Pro Vita (Hg.), L’embrione umano nella fase del preimpianto.
Aspetti scientifici e considerazioni bioetiche, Vatikanstadt 2007. M. Spieker (Hg.), Biopolitik.
Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie, Paderborn 2009.
Vgl. J. Pieper, Die Wirklichkeit und das Gute, München 1963, 7.
J. Rau, Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Berliner Rede des
Bundespräsidenten am 18. Mai 2001 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin,
Frankfurt a. M. 2001, 31-33.
EINLEITUNG
15
zu behalten und den Anfängen zu wehren. Romano Guardini schrieb 1934,
kurz nach der Machtergreifung Hitlers, dass die Machttendenz dahin ziele, das
Leben nicht mehr als etwas Gegebenes anzunehmen, sondern es unter die Bestimmungsgewalt des planenden Willens zu bringen. „Die Persönlichkeit soll
nicht mehr entrückt sein. Der Mensch soll in Existenz und Würde nicht mehr
unantastbar bleiben.“8 Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens gehört
zu jenen unaufgebbaren Grundvoraussetzungen, deren strikte Einhaltung ein
Abgleiten in destruktive und letztlich menschen-verachtende Barbarei verhindert. Der Parlamentarische Rat der Bundesrepublik Deutschland hatte 1949
seine Konsequenzen aus der desaströsen Diktatur der NS-Ideologie gezogen
und im ersten Artikel des Grundgesetzes (GG) festgeschrieben: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“9
Im Laufe der letzten Jahrzehnte kam es zu einem bis dahin ungekannten
technischen Fortschritt, dem allerdings das moralische Verständnis und die
damit einhergehende Verantwortung nicht standzuhalten vermochten. Somit
entstand ein gefährliches Ungleichgewicht, das einen verantwortbaren Umgang mit den Möglichkeiten technischen Fortschritts erschwert und zu ungekannten Risiken führt. Laufs fasst diese Problematik wie folgt zusammen:
„Die sensationellen Fortschritte der Biomedizin und die Schwierigkeit, sie moralisch und rechtlich zu fassen und zu begrenzen, scheinen die philosophische
Skepsis zu bestätigen: Absolute Maßstäbe für Gerechtigkeit, eine Metaphysik
des Rechts gebe es nicht. […] Die Willkür der Politik gewinne durch Mehrheit
Gestalt […]. Die Ohnmacht des Staates gegenüber den explosiven Vorgängen im
Gefolge durchdringender Technik zeige sich längst. Der Mensch meistere die
von ihm selbst in Gang gebrachte mechanische Gesetzlichkeit nicht mehr, sondern diese Gesetzlichkeit meistere ihn“.10
Müssen dem Fortschritt Grenzen gesetzt werden? Wie weit kann und darf ein
Staat gehen, vor allem im Umgang mit menschlichem Leben? Johannes Rau
knüpfte in der bereits erwähnten Berliner Rede an diese Problematik an und
fragte selbstkritisch, ob wir nicht zu Zauberlehrlingen werden? Er fragte, was
Fortschritt eigentlich bedeute, wo die Grenzen zu ziehen und was ethisch zu
8
9
10
R. Guardini, Die religiöse Offenheit der Gegenwart. Gedanken zum geistigen und religiösen
Zeitgeschehen (1934), Paderborn 2008, 52.
GG, Art. 1, Abs. 1. Einen guten Überblick zu diesem Thema bietet der Sammelband: V. Bock
(Hg.), Die Würde des Menschen unantastbar? 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Berlin 2010. Sowie auch: E. H. M. Lange, Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz, Heidelberg 1993.
A. Laufs, Stammzellen und Embryonenschutz. Herausforderungen des Rechtsstaates, in:
KuG(K) 365 (2009) 3. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat festgestellt, dass unsere Gesellschaft die Sinnfrage suspendiert habe und nur noch im Endlichen verweile, die Folgen im
Hinblick auf Beginn und Ende des menschlichen Lebens seien gravierend. Vgl. H.-B. GerlFalkovitz, Eros, Glück, Tod und andere Versuche im christlichen Denken, Dießen 2001, 176.
Es fehlt heute ein gültiges Kriterium, um den absoluten Wert der menschlichen Person zu
rechtfertigen. Vgl. S. Belardinelli, Bioetica tra natura e cultura, Siena 2007, 60.
16
EINLEITUNG
vertreten sei, ob die Wissenschaft das letzte Wort habe und ob es gar ein Recht
auf ein gesundes Kind gäbe?11 Diese weitreichenden Fragen, die gestellt werden müssen, will man leichtfertige und oberflächliche Urteile verhindern, geben den großen Rahmen der vorliegenden Untersuchung vor.
Neben einem Ungleichgewicht von technischem Fortschritt und moralischer Verantwortung ist eine weitere Grundschwierigkeit zu nennen, die bei
der Debatte um die PID eine wichtige Rolle gespielt hat: das Verständnis von
Gesundheit hat sich grundlegend gewandelt. Angefangen bei den Griechen bis
hin zur Gründung des modernen Klinikwesens wurde Gesundheit ausgehend
von den verschiedenen Dimensionen des Menschseins und anhand von objektiv festgelegten Kriterien definiert. Der Hippokratische Eid und die durch das
Christentum propagierte Sorge um Kranke, Schwache und Ausgestoßene unterstreichen dies eindrücklich. In der Neuzeit fand diesbezüglich ein Paradigmenwechsel statt: Gesundheit wurde zunehmend aus einer technisch-positivistischen Perspektive bewertet, daraus entstanden verschiedenen Formen von
Reduktionismen. In der Postmoderne trat das subjektive Element in den Vordergrund, das Subjekt wurde zum einzigen Kriterium für das, was als „gesund“ galt; nicht selten verbanden sich damit utopische Vorstellungen. Aufgrund von diesen zunehmend rein subjektiven Parametern erhöhte sich der gesellschaftliche Druck, nur „gesundes Leben“ zuzulassen, denn nur so habe das
Leben einen Wert und sei lebenswert.12 Am 22. Juni 1946 verabschiedeten
Vertreter von 61 Staaten folgende Definition von Gesundheit, die seit dem 7.
April 1948 Geltung hat: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von
Krankheiten und Gebrechen.“13 Diese von der Weltgesundheitsorganisation erstellte Definition entbehrt nicht einer gewissen Utopie und Ortlosigkeit, zumal
sie nur ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, als weite
Teile Europas noch in Schutt und Asche lagen. Und dennoch entfalteten diese
neuen „Standards“ eine nicht zu unterschätzende Wirkung und drückten im
Laufe der folgenden Jahrzehnte der Gesellschaft das Siegel auf. Der Umgang
mit Krankheit und Gesundheit ändert sich grundlegend, wie Ulrich Eibach
darstellt:
„In der Gesellschaft herrscht bereits die Meinung vor, dass es unverantwortlich
sei, wissentlich die Geburt kranken Menschenlebens in Kauf zu nehmen, die
Möglichkeiten genetischer Testung und vorgeburtlicher Diagnostik abzulehnen,
unverantwortlich, weil die Gesellschaft die Folgelasten mitzutragen habe. Damit
wird der Lebenswert und das Lebensrecht nach dem Nutzen bzw. Schaden für
11
12
13
Vgl. J. Rau, Wird alles gut?, a.a.O., 8-37.
Vgl. E. Sgreccia, Manuale di bioetica I, a.a.O., 162-165.
World Health Organization, Definition of health, in: http://www.who.int/about/definition/en/
print.html [3.5.2012]. Johannes Reiter hebt die Grundschwierigkeit hervor, eine Definition
von „Gesundheit“ zu erstellen, denn diese sei vom medizinischen Forschungsstand, von wandelbaren gesellschaftlichen Auffassungen sowie von regionalen Gegebenheiten abhängig.
Vgl. J. Reiter, Prädiktive Medizin – Genomanalyse – Gentherapie, in: IKaZ 19 (1990) 121.
EINLEITUNG
17
die Gesellschaft bemessen, verliert menschliches Leben das Recht auf Leben in
dem Maße, wie aus Nutzen Schaden für die Gesellschaft wird.“14
Durch den Fortschritt im Bereich von Medizin und Genetik erfuhr die „Gesundheitsdefinition“ eine ungeahnte Ausweitung. Der Krankheitsbegriff verlagerte sich mehr und mehr von der körperlich-organischen auf die genetische
Ebene, so dass selbst ein gesunder Mensch als krank deklariert werden kann,
wenn er lediglich gewisse genetische Anlagen besitzt.15 Die Konsequenzen
und Gefahren, die eine derartige Sicht mit sich bringt, treten offen zu Tage.
Ein subjektives Wohlbefinden oder aber genetische Veranlagungen können
leicht zum Vorwand für jede Art von Manipulation im Umgang mit menschlichem Leben werden. Der Mensch wird, um es mit den Worten von Romano
Guardini zu sagen, dem planenden Willen einer Bestimmungsgewalt untergeordnet und damit wird sein Leben verfügbar. Ob diese „Bestimmungsmacht“
staatlich verordnet ist, den eigenen Nützlichkeitserwägungen oder anderen
Gründen entspringt, ist sekundär. Es kommt nicht darauf an, in welches Gewand sie sich kleidet, bedenklich und gefährlich wird es, wenn es sie gibt. Mit
aller Dinglichkeit stellt sich daher die Frage nach einem verbindlichen Ethos,
das die Wissenschaft allerdings nicht selbst hervorzubringen vermag. Dazu
schreibt Robert Spaemann:
„Wissenschaft als Wissenschaft hat kein Ethos. Aber wenn das Ethos, das der
Wissenschaftler hat, selbst zum Gegenstand von Wissenschaft wird, bedeutet das
die radikale Emanzipation vom Medium des Humanen, welches die Bedingung
von so etwas wie Würde ist.“16
Wissenschaft kann Ethik weder ersetzen noch Gesundheit definieren. Umgekehrt vermag die Ethik ein Konzept von Gesundheit zu garantieren, dass dem
Menschen gerecht wird. Das Gesagte lässt sich analog auch auf die Würde des
Menschen übertragen, die nicht vom technischen Fortschritt oder von subjektiven oder konventionellen Empfinden abhängig gemacht werden darf.
Nun haben jedoch die großen Errungenschaften des technischen Fortschritts
eine Mentalität geschaffen, die sich schwer tut, ethische Grenzen anzuerkennen, selbst dann, wenn diese Grenzen konstitutiv zum Menschsein gehören,
wie beispielsweise die Unantastbarkeit der menschlichen Würde.17 Jürgen
Moltmann äußerte sich kritisch gegenüber dieser Mentalität, er charakterisierte
das Ethos der wissenschaftlich-technischen Zivilisation als einseitig progressiv
und aggressiv, er stellt fest: „Wenn die Identifikation mit menschlichem Leben
14
15
16
17
U. Eibach, Gentechnik und Embryonenforschung. Leben als Schöpfung aus Menschenhand. Eine
ethische Orientierung aus christlicher Sicht, Wuppertal 2002, 215.
Vgl. ebd. 216. Krankheit erscheint in dieser Logik als Fehler oder Defekt im genetischen Make-up eines Individuums oder als Folge einer Kombination genetischer Dispositionen mit anderen Risikofaktoren. Vgl. Kollek Regine/Lembke Thomas, Der medizinische Blick in die
Zukunft: Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt a.M. 2008, 119.
R. Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, 120.
Vgl. E. Sgreccia, Manuale di bioetica I, a.a.O., 961.
18
EINLEITUNG
aussetzt, es sei mit geborenem oder ungeborenem, mit eingenistetem oder
noch in vitro befindlichem, beginnt die Inhumanität.“18 Dieser Prozess ist bereits weit vorangeschritten und spielt auch im Hinblick auf die Debatte um die
Einführung der PID eine wesentliche Rolle. Nach Peter Singer, der freilich aus
einer gänzlich anderen Perspektive Bewertungen vornimmt, werde dieser Prozess durch den Zusammenbruch der traditionellen abendländischen Ethik hervorgerufen, mit dem sich Zeiten des Wandels in der Einstellung zur Heiligkeit
des menschlichen Lebens verbinden. „Solche Veränderungen erzeugen Verwirrung und Uneinigkeit.“19 Von dieser Schwierigkeit war auch die Bundestagsdebatte zur PID geprägt, denn es zeigte sich, dass durch eine Abwendung
von der abendländischen Ethik ein großes Vakuum entstanden ist, das irgendwie gefüllt werden muss. Romano Guardini hat in einer weitsichtigen Analyse
bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts auf dieses Vakuum hingewiesen, dass durch eine Entfremdung des Menschen durch die Technik hervorgerufen werde. So wird die Welt immer künstlicher und zugleich weniger
menschlich, weil nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern die
Technik.20 Diese Entwicklung hat sich seitdem verfestigt und zeigt sich auf
dramatische Weise im Umgang mit dem menschlichen Leben. Die Frage nach
ethischen Maßstäben am Anfang und Ende des menschlichen Lebens ist von
grundlegender Bedeutung. Die Debatte um die PID gewährt einen Einblick in
eine Argumentation, die auch für zukünftige Debatten bestimmend sein wird.
Schon an dieser Stelle wird die Hauptschwierigkeit deutlich, die sich mit
der Einführung der PID in Deutschland verbindet. Ein vom Subjektivismus
dominiertes ethisches Grundverständnis, verbunden mit einem Primat der
Technik, führt unweigerlich zu einem ethisch-moralischen Relativismus, der
eine ethische Bewertung in den Bereich des Privaten verbannt. Das hätte aber
gerade auszuschließen sein sollen, zumal die Politiker zu einem Gesetzentwurf
gelangen mussten, der öffentlich verbindlich ist und Auswirkungen für die
ganze Gesellschaft haben wird. Werner Theobald macht den Relativismus für
diese Orientierungslosigkeit verantwortlich und charakterisiert ihn als ein
„schwaches“ oder „voraussetzungsloses Denken“, ein Denken „ohne Wahrheitsanspruch“, da keine „Megakriterien“ mehr existierten.21 Unumstößliche
Richtlinien sind für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig, sie sind
im GG verankert. Umgekehrt lässt sich sagen, dass eine Gesellschaft ohne solche Richtlinien eine gewissenlose Gesellschaft wird, die zu nichts anderem
führt, als zum Untergang des Menschen.22 Objektive Normen als unumstößli18
19
20
21
22
J. Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, 103.
P. Singer, Leben und Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik, übersetzt von H.
Vetter und C. Schorcht, Erlangen 1998, 7.
Vgl. R. Guardini, Die Technik und der Mensch, Mainz 21990, 18-25.
W. Theobald, Ohne Gott? Glaube und Moral, Augsburg 2008, 106. Nach Robert Spaemann ist
der ethische Relativismus gleichbedeutend „mit der Leugnung von so etwas wie einer möglichen
Geltung ethischer Beurteilung überhaupt“. R. Spaemann, Grenzen, a.a.O., 338.
Vgl. DV Einführung, 2.
EINLEITUNG
19
che Grundlagen sind die Bedingung für einen ethisch verantwortbaren Umgang mit den Errungenschaften von Medizin und Technik.23 Das GG lässt eine
relativistische Sicht in Bezug auf die menschlichen Grundrechte nicht zu, denn
es bekennt sich in Art. 1 Abs. 2 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen
Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Wie aber verhält es sich mit den
„Megakriterien“, die das GG festlegt, wenn ein ethisch-moralischer Relativismus in der Gesellschaft zunehmend Akzeptanz findet? Wie lassen sich sichere ethische Bezugspunkte aufzeigen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person nicht mehr absolute Geltung haben?24 Die Debatte um die PID hat
deutlich gemacht, wie um diese grundlegenden Kriterien gerungen wurde, wie
sie (neu-)interpretiert und für die eigenen Positionen vereinnahmt wurden.
Die vorliegende Studie folgt der sogenannten „triangulären Methode“, die
auf Elio Sgreccia zurückgeht.25 Diese Methode sieht grundsätzlich drei Schritte vor, die zueinander in enger Verbindung stehen: Zunächst wird eine Analyse des Themas vorgenommen. Dabei kommt besondere Aufmerksamkeit den
biomedizinischen Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu, in diesem
Fall also der PID und den damit in Verbindung stehenden Verfahren. In einem
zweiten Schritt werden die anthropologischen Prämissen herausgearbeitet, die
die Spannung zwischen „Fortschritt“ und „Unverfügbarkeit des Lebens“, zwischen „medizinischen Möglichkeiten“ und „der Würde des Menschen“ besser
verstehen lassen. Die verschiedenen Menschenbilder geben Aufschluss und erlauben, Rückschlüsse auf die ethischen Implikationen zu ziehen. In einem dritten Schritt wird schließlich eine ethische Bewertung vorgenommen, die sich
auf konstituierende Elemente wie „Person“, „Würde“, „Leben“, „Gerechtigkeit“ usw. stützt. Diese Methode unterstreicht zum einen den interdisziplinären Charakter der Bioethik, zum anderen verbindet sie die verschiedenen Perspektiven zu einem Ganzen.
Ausgehend von der Themenstellung und unter Berücksichtigung der triangulären Methode erklärt sich die Gliederung der vorliegenden Studie. Im ersten Kapitel wird die Debatte zur Einführung der PID dargestellt. Zunächst
werden die drei Gesetzesentwürfe zur PID beschrieben und die sich damit
verbindenden Argumentationsstränge aufgezeigt. Parlamentarier haben ohne
Fraktionszwang Stellung bezogen. Eine Erklärung von allen im Jahr 2012 im
Bundestag vertretenen Parteien und ihre jeweilige Position zur PID haben besondere Berücksichtigung gefunden. Die Diskrepanz zwischen dem „Schutz
23
24
25
Vgl. DP 10.
Vgl. VS 97. Selbst über grundlegende Fragen, die den Lebensbeginn oder das Lebensende betreffen, sei nach Zygmunt Zimowski bei einer Infragestellung der Grundrechte kein Konsens
mehr zu erzielen. Vgl. Z. Zimowski, Teologia della vita: il valore della vita umana, tutta e per
tutti, in: Camillianum 27 (2009) 401.
Elio Sgreccia spricht vom „metodo triangolare“, diese Methode charakterisiert die drei Eckpunkte Biologie, Anthropologie und Ethik. Vgl. E. Sgreccia, Manuale di bioetica I, a.a.O.,
73-75.
20
EINLEITUNG
der Frau vor schweren körperlichen und seelischen Belastungen“, die ein behindertes Kind hervorrufen kann und dem „Lebensrecht des Embryos“ andererseits, kennzeichnet Teile der Argumentation. Die Kirchen zeigten sich in
ihrer Beurteilung der PID uneinig. Die unterschiedlichen Positionen werden
erörtert. Dazu werden verschiedene Perspektiven aus dem Bereich von Medizin und Wissenschaft, des Deutschen Behindertenrates und der Bundesvereinigung Lebenshilfe herangezogen. Die aktuelle Gesetzeslage wirft die wichtige Frage nach Grenzen demokratischer Entscheidungen auf, mit der sich das
letzte Unterkapitel beschäftigt.
Im zweiten Kapitel tritt die biomedizinische Perspektive in den Mittelpunkt
der Untersuchung. Es ist das Anliegen aufzuzeigen, worum es bei der PID
geht und welche biomedizinischen Komponenten bei einer Bewertung der PID
zu berücksichtigen sind. Nach einer Darstellung der humangenetischen Grundlagen, werden die mit der PID in Zusammenhang stehenden Fertilisationsmethoden der In-Vitro-Fertilisation (IVF) und der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI), die Techniken zur Zellgewinnung, die Indikationen und
Analysemöglichkeiten beschrieben. Damit verbindet sich die für eine ethische
Bewertung der PID wichtige Frage nach dem Status des Embryos. Mit den
Folgen und Problemen, die sich aus einer Zulassung der PID für die betroffenen Frauen und Kinder ergeben, beschäftigt sich ein weiteres Unterkapitel,
bevor schließlich eine Aussage über die Zielsetzung der PID getroffen und ein
Blick auf die involvierten Interessen gerichtet wird.
Im dritten Kapitel wird eine Grundschwierigkeit beschrieben, die bei der
Debatte um die PID deutlich hervortrat. Auch wenn viele Bundestagsabgeordnete einer christlichen Partei angehören oder sich gar einer Kirche verpflichtet
fühlen, fand das Wort „christlich“ in der Debatte um eine Zulassung der PID
keinen Eingang. So wird der Frage nachgegangen, ob es eine spezifisch christliche Bewertung der PID gibt, die sich vornehmlich an der katholischen Kirche orientieren wird. Dieses Vorhaben ist deswegen lohnenswert, weil es der
Kirche in einem multikulturellen Kontext gelingt, Prinzipien aufzuzeigen, die
als Integrationsklammer für Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen dienen. Der Gottesbezug, der für das christliche Menschenbild konstitutiv
ist, führt zu einem neuen Selbstverständnis des Menschen als Person. Es wird
gezeigt, was sich mit dem Personbegriff, dessen geschichtlicher Entwicklung
und dem Menschenwürde-Gedanken, verbindet, der im GG dargestellt ist und
dem eine besondere Bedeutung zukommt. Einige grundlegende Charakteristika und Konsequenzen, die sich daraus für den Beginn des menschlichen Lebens ergeben, werden dargestellt. Des Weiteren wird auf Zusammenhänge
zwischen der Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der Heiligkeit des
Lebens hingewiesen und die Bedeutung dieses Konzepts für den Embryo aufgezeigt. Daran schließen sich Ausführungen über die Natur des Menschen an,
mit denen sich die Frage verbindet, ob das Naturrecht als Brücke für einen
kulturübergreifenden Konsens in bioethischen Fragen dienen kann. Abschließend wird eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage gegeben.
EINLEITUNG
21
Im vierten Kapitel wird die Wurzel des Problems für nahezu alle ethischen
Entscheidungen dargestellt: der Streit um das Menschenbild. Auch für eine
Bewertung der PID ist das zugrunde liegende Menschenbild von entscheidender Bedeutung. Dies wird zum einen im ersten Unterkapitel deutlich, in dem
verschiedene Religionen und ihre Positionen zur PID dargestellt werden, die
in einem Zusammenhang mit dem Menschenbild stehen. Zum anderen zeigt
sich dies im zunehmenden Einfluss einer materialistischen bzw. funktionalutilitaristischen Sicht des Menschen, die in zwei weiteren Kapiteln im Kontext
der PID Erwähnung finden. Eine Orientierungslosigkeit in ethischen Fragen
und ein übergroßes Vertrauen in den technischen Fortschritt, haben zum Entstehen einer „Kultur des Todes“ geführt. Daran schließt sich die Frage an, wohin eine Gesellschaft führt, in der der absolute Wert des menschlichen Lebens
nicht vorbehaltlos anerkannt wird? Zugleich verknüpft sich damit die Frage,
wie wieder neu Orientierung gefunden werden kann? Viele Parlamentarier haben sich auf ihr Gewissen berufen, das für sie zum entscheidenden Kriterium
im Entscheidungsfindungsprozess wurde. Doch auch ein Gewissensurteil
muss begründet werden und braucht eine objektive Grundlage. Daher setzt
sich das letzte Unterkapitel mit dieser Grundlage auseinander, die die unverhandelbaren Werte gewährleisten können, wie sie im GG festgeschrieben sind.
Die dargelegten Ausführungen erlauben eine abschließende Bewertung der
veränderten Gesetzeslage in Deutschland, die in der Präimplantationsdiagnostikverordnung (PIDV) ihren Ausdruck gefunden hat und am 1. Februar
2014 in Kraft getreten ist.
Der Beitrag der vorliegenden Studie zur Debatte um die Einführung der
PID in Deutschland beschränkt sich vornehmlich auf drei Bereiche: erstens
werden die durch die Einführung der PID aufgeworfenen Probleme herausgearbeitet, die für den zukünftigen Umgang mit menschlichem Leben in
Deutschland maßgeblich sein werden. Zweitens werden die verschiedenen Positionen und die ihnen zugrunde liegenden Menschenbilder analysiert, die für
die Urteilsfindung und die Entscheidung zugunsten einer begrenzten Zulassung der PID von Bedeutung sind. Drittens werden die Tendenzen zur Eugenik und die Optimierungswünsche vor dem Hintergrund der „Wertedebatte“
und des im Grundgesetz verankerten christlichen Menschenbildes analysiert.
Erstes Kapitel:
Diskussion zur Einführung der PID in Deutschland
Den Stein ins Rollen brachte der Berliner Gynäkologe Matthias Bloechle, der
aufgrund der unklaren Gesetzeslage des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) bereits in drei Fällen die PID durchgeführt hatte und daraufhin Selbstanzeige erstattete.1 Eine juristische Entscheidung wurde vom Bundesgerichtshof (BGH)
am 6. Juli 2010 getroffen, in der folgendes Grundsatzurteil gefällt wurde:
„Die nach extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte Präimplantationsdiagnostik
mittels Blastozystenbiopsie und anschließender Untersuchung der entnommenen
pluripotenten Trophoblastzellen auf schwere genetische Schäden hin begründet
keine Strafbarkeit nach §1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG. Deren Durchführung ist keine
nach §2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung menschlicher Embryonen.“2
Damit war der Angeklagte vom Vorwurf der missbräuchlichen Anwendung der
Fortpflanzungstechniken freigesprochen. In der Urteilsbegründung wurde der
Freispruch damit begründet, dass es sich um genetisch auffällige Schwangerschaften mit Gefahr zur Trisomie 13 oder 14 handelte, wonach die Schwangerschaft in der Regel mit dem Abort, einer Totgeburt oder dem Tod des Neugeborenen kurze Zeit nach der Geburt endet. Die von Bloechle durchgeführte PID
habe dem Zweck gedient, nur Embryonen ohne genetische Anomalien zu übertragen. Die Urteilsbegründung hebt das Faktum der zugrunde liegenden Selektion positiv wertend hervor; demnach haben die Untersuchungen an den Embryonen einen mit Trisomie 16, einen mit Monosomie 13 und einen weiteren
Embryo mit negativem Krankheitsbefund ausfindig machen können. Nach Mitteilung des Untersuchungsergebnisses habe sich die Patientin entschieden, nur
letzteren Embryo in die Gebärmutter zu überführen. Nach demselben Verfahren
1
2
Vgl. §1 des ESchG. Im ESchG gab es schon vor seiner Änderung gewisse Lücken, die gemäß
einer weiten Auslegung und Interpretation die Möglichkeit einer begrenzten Zulassung der PID
hätten ermöglichen können. Darauf hat sich Matthias Bloechle bei seiner Selbstanzeige berufen
und darauf wird auch das Urteil des BGH in seiner Urteilsbegründung Bezug nehmen. Mareike
Klekamp hat bereits 2008 auf Lücken im ESchG hingewiesen. Vgl. M. Klekamp, Lücken im
Lebensschutz, a.a.O. Nach Manfred Spieker bedeuten diese Lücken allerdings keine Öffnung
für die PID. Spieker beruft sich auf §1 Abs. 1 Nr. 2 des ESchG, in dem das Gesetz verbietet
„eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der
Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt“. Spieker stellt im weiteren Verlauf seiner Argumentation überzeugend dar, dass dies einem Verbot der PID gleichkam. Andernfalls wäre
das Ergebnis der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des 14. Deutschen Bundestages nicht zu verstehen, die die PID nach geltendem Recht als für verboten erklärte, sowie ein weiterer Vorstoß der DGGG zugunsten einer Zulassung der PID. Spieker resümiert: „Die PID war von den gesetzlichen Regelungen der Gendiagnostik ausgespart worden,
weil die Ansicht vorherrschte, ihr Verbot sei durch das ESchG bereits hinreichend geregelt.“
M. Spieker, Präimplantationsselektion und Demokratie. Die blinden Flecken der PIDDiskussion, in: P. Schallenberg und R. Beckmann (Hg.), Abschied vom Embryonenschutz? Der
Streit um die PID in Deutschland, Köln 2011, 68.
BGH 5 StR 386/09.
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