Psychische Störungen bei Flüchtlingen

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Interview
Verhaltenstherapie 2016;26:291–294
Psychische Störungen bei Flüchtlingen
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Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Ärztlicher Direktor/Chefarzt
Schön Klinik Roseneck
Am Roseneck 6
83209 Prien am Chiemsee, Deutschland
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Christine
Knaevelsrud
«Wir schaffen das!» – kaum eine andere Aussage eines Politikers hat zu
mehr Kontoversen und teilweise aggressiver Polemik geführt als diese von
Angela Merkel aus dem Sommer 2015 angesichts der rasch steigenden
Flüchtlingszahlen. Die Einschätzung der Bundeskanzlerin entfaltet ihre Wirkung dadurch, dass sie ebenso nachdrücklich wie unbestimmt formuliert ist.
Tatsächlich meint das, was es da zu schaffen gilt, ganz Unterschiedliches,
und zwar in Abhängigkeit davon, welche Instanzen (z.B. Polizei, Behörden
usw.) und Personengruppen konkret angesprochen werden. Gerade der Bereich der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung sieht sich
in Anbetracht von mehr als 900 000 Flüchtlingen, die nach den neusten Angaben 2015 nach Deutschland gekommen sind, vor enorme Herausforderungen gestellt. Die meisten Menschen, die zu uns kommen, befinden sich in
existenzieller Not und flüchten aus ihrer Heimat, weil dort ihr Leib und Leben
in Gefahr sind. Viele der Flüchtlinge kommen aus Ländern, in denen bereits
seit Jahren «gewaltintensive Konflikte herrschen (Syrien, Irak, Afghanistan;
siehe unten)», die sich auch in absehbarer Zeit kaum lösen lassen dürften.
Auch die Flucht selbst, die in vielen Fällen Monate, manchmal sogar Jahre
dauern kann, stellt die Betroffenen vor extreme Belastungen, die nicht selten
eine traumatische Qualität annehmen. Man kann deshalb davon ausgehen,
dass rund 30% aller Flüchtlinge an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und depressiven Erkrankungen leiden (siehe unten). Charakteristisch sind hierbei multiple Gewalterfahrungen mit einer «drastischen Zunahme sexualisierter Gewalt» über einen längeren Zeitraum hinweg (siehe
unten). Nach den Strapazen der Flucht finden die Flüchtlinge zwar Schutz,
Versorgung und eine Bleibe, jedoch werden sie mit neuen Schwierigkeiten
konfrontiert: die Unterbringung in teilweise überfüllten Aufnahmeeinrichtungen, unklare Bleibeperspektiven verbunden mit der Angst vor einer Abschiebung sowie erlebte Ablehnung in Form von Fremdenfeindlichkeit und rechtsradikaler Gewalt, um nur einige Punkte zu nennen. Dabei dürfte das Vorliegen einer psychischen Erkrankung die Bewältigung von «Postmigrationsstressoren» (siehe unten) und damit eine erfolgreiche Integration deutlich
erschweren. Die Diagnostik und Therapie von Flüchtlingen ist insofern nicht
nur aufgrund des Leidens der Betroffenen das Gebot der Stunde, sondern
dürfte auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu einer erfolgreichen Integration der Betroffenen leisten. Zugleich stellt die Therapie von Flüchtlingen
eine große Herausforderung dar, auf die die Profession bisher nur unzureichend vorbereitet ist. Zunächst einmal setzt eine erfolgreiche Therapie, insbesondere wenn es sich um die Bewältigung von Traumata handelt, stabile
Lebensverhältnisse und existenzielle Sicherheit voraus. Des Weiteren erfordert das therapeutische Vorgehen den Einsatz von Dolmetschern, die wiederum geschult werden müssen und durch die wiederholte Übersetzung traumatischer Erfahrungen selbst Gefahr laufen, eine Sekundärtraumatisierung
zu entwickeln oder auszubrennen. Auch benötigen die Ärzte und Therapeu-
ten fundierte Kenntnisse über den kulturellen Hintergrund und die Art und
Weise, wie sich dieser auf die Therapie der von ihnen behandelten Patienten
auswirkt. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern psychische Erkrankungen
noch stärker als in Deutschland mit einer Stigmatisierung einhergehen oder
ausschließlich somatisch eingeordnet werden (siehe unten). Allerdings liegen inzwischen gut evaluierte Behandlungsmanuale vor, wie beispielsweise
die Narrative Expositionstherapie, die sich unter anderem bei der Therapie
multipler Traumatisierungen bewährt hat. Auch liegt ein internetbasiertes
kognitiv-verhaltenstherapeutisches Therapieprogramm in arabischer Sprache vor, das sich ebenfalls als effektiv erwiesen hat (siehe unten). Gerade
internetbasierte Therapieprogramme bieten die Möglichkeit, sprachliche
und kulturelle Barrieren zu überwinden, und stellen zugleich ein niederschwelliges Behandlungsangebot dar. Frau Prof. Dr. Christine Knaevelsrud
beschäftigt sich bereits seit vielen Jahren mit der Entwicklung und dem Einsatz internetgestützter Therapien für Menschen aus Krisengebieten, die
unter einer PTBS aufgrund multipler Traumatisierungen durch Krieg, Folter,
Flucht und/oder sexualisierte Gewalt leiden.
In dem folgenden Interview geht sie auf eine Reihe wichtiger Fragen ein, die
sich im Zusammenhang mit der Therapie von psychischen Störungen bei
Flüchtlingen ergeben.
Die Erkrankungswahrscheinlichkeiten sind mit spezifischen
Erfahrungen einzelner Flüchtlingspopulationen verbunden und
unterscheiden sich gravierend nach Krisen-, Kriegs- und Fluchtkontext. Die größten Gruppen der derzeit nach Deutschland
flüchtenden Menschen kommen aus Ländern, in denen bereits
seit mehreren Jahren gewaltintensive Konflikte herrschen (Syrien,
Irak, Afghanistan). Für den Großteil dieser Menschen sind die erlebten Traumatisierungen und die akute Angst um Leib und
Leben der unmittelbare Grund, ihre Heimat zu verlassen. Studien, die sich spezifisch mit Flüchtlingen aus aktuellen Kriegs- und
Konfliktgebieten befassen, zeigen den verheerenden Einfluss von
Kriegstraumatisierungen auf die psychische Gesundheit dieser
Menschen. Zu den häufigsten psychischen Traumafolgestörungen gehören die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und
die Depression. Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es keine repräsentativen Zahlen zur Prävalenz psychischer Störungen unter Flüchtlingen in Deutschland, sodass wir auf Schätzungen zu vergleichbaren Populationen angewiesen sind. In bisherigen internationalen Meta-Analysen in Bezug auf Opfer von Folter und Vertreibung werden Prävalenzraten von jeweils etwa 30% für die PTBS
und depressive Erkrankungen berichtet. Dabei ist zu betonen,
dass die Prävalenzraten der Einzelstudien sehr stark variieren.
Nichtrepräsentative Studien aus Deutschland, die Flüchtlinge aus
aktuellen Kriegs- und Konfliktgebieten untersuchen, finden etwa
vergleichbare Prävalenzen. Im Vergleich zu Prävalenzraten in
Deutschland ist die Auftretenswahrscheinlichkeit bei Flüchtlin-
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gen 10- bis 15-fach erhöht. Aufgrund der bis dato unzureichenden Datenlage können über die Häufigkeit traumaassoziierter
Störungsbilder bei Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland keine verlässlichen Prognosen gestellt werden. Zu erwarten
sind komplexe Formen der PTBS, die komplizierte Trauerstörung
(beides Diagnosen, die aller Voraussicht nach im kommenden
ICD-11 vertreten sein werden), somatoforme Störungen (unter
anderem chronische Schmerzstörungen), dissoziative Störungen
und Suchterkrankungen.
Können Sie aus Ihrer persönlichen Erfahrung berichten, welche
Arten von Traumata hier eine besondere Rolle spielen bzw. am häufigsten beobachtet wurden?
Am häufigsten wird über kriegsassoziierte, also in der Regel interpersonelle und multiple Gewalterfahrungen berichtet. Dazu gehören Kriegserlebnisse, wie Waffengewalt, Bombenangriffe, systematisch verübte sexualisierte Gewalt, der Verlust von Angehörigen, z.B. durch Entführungen oder gewaltsames Verschwindenlassen, und Folter. Durch den Wegfall rechtsstaatlicher Strukturen
nimmt häufig auch die Kriminalität zu; Raubüberfälle, Entführungen mit Lösegelderpressung sowie die drastische Zunahme sexualisierter Gewalt gehören zum Alltag. In der Regel wird über multiple
traumatische Ereignisse berichtet. Auch die Flucht selbst ist häufig
mit traumatischen Erfahrungen assoziiert, wie lebensgefährlichen
Fluchtrouten, Misshandlung durch Schlepper und Sicherheitspersonal an den Außengrenzen der EU oder im Erstaufnahmeland,
und auch hier besteht wieder eine deutlich erhöhte Gefährdung
von Frauen und Kinder durch sexuelle Übergriffe. Diese sequenzi-
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Mit welchen psychischen Erkrankungen ist bei Asylsuchenden
und Flüchtlingen zu rechnen, und wie hoch ist deren Prävalenz?
Gibt es kulturelle oder geschlechtsspezifische Unterschiede in der
Art und Weise, wie die PTBS sich darstellt und wie die Betroffenen
diese zu bewältigen versuchen?
terview (CFI) zu empfehlen, das individuelle Erklärungs- und Bewältigungsansätze sowie kulturspezifische Interpretationen des
Krankheitserlebens berücksichtigt.
Welches therapeutische Vorgehen ist für die Therapie der PTBS
bei Flüchtlingen besonders geeignet?
Zur ersten Einordnung ist der Refugee Health Screener zu empfehlen. Darüber hinaus werden in der Regel die übersetzten, allerdings häufig nicht ausreichend validierten Versionen der üblichen
Screening-Fragebögen eingesetzt (unter anderem für PTBS: The
Harvard Trauma Questionnaire (HTQ), Posttraumatic Diagnostic
Scale (PDS), Posttraumatic Checklist 5 (PCL 5); für Depression
und Angst: Hopkins Symptom Checklist (HSCL 25)). Zur breiteren Einordnung der Symptomatik ist das Cultural Formulation In-
Im ersten Schritt bedarf es psychoedukativer Angebote, um über
psychische Belastungsreaktionen und -störungen aufzuklären. Häufig schafft die Information über typische Symptome von Traumafolgestörungen eine erste Erleichterung und hilft, das Belastungserleben einzuordnen. Gleichzeitig besteht ein erheblicher Bedarf, über
psychotherapeutische Angebote aufzuklären. In vielen Ländern gelten psychische Erkrankungen als stigmatisierend oder werden eher
somatisch eingeordnet. Die wenigen psychotherapeutischen und
psychiatrischen Angebote sind eher einkommensstarken Milieus
vorbehalten. Psychopathologisch ist zu berücksichtigen, dass ein inhärentes Charakteristikum der PTBS die Vermeidungssymptomatik
ausmacht, sodass es seitens des Versorgungssystems einer proaktiven und aufsuchenden Haltung bedürfte, um Chronifizierungen
und die damit verbundenen Folgen zu verhindern.
Die aktuelle S3-Leitlinie zeigt eine klare Evidenz für traumafokussierte kognitiv-behaviorale Ansätze. Die Wirksamkeit traumafokussierter Ansätze in Populationen von Asylsuchenden und
traumatisierten Geflüchteten konnte meta-analytisch und in einzelnen Reviews zur psychotherapeutischen Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen belegt werden. In Ergänzung
zu allgemeinen traumafokussierten Verfahren stehen auch einige
traumafokussierte, populationsspezifische Therapieansätze zur
Verfügung. Zu nennen ist hier zum einen die Narrative Expositionstherapie (NET), die unter anderem für die Behandlung von
PTBS-Symptomen nach multiplen Traumatisierungen im Rahmen
gewaltsamer Konflikte entwickelt und eingesetzt wurde. Diese
Kurzzeittherapie fokussiert sowohl auf die Erarbeitung einer kohärenten Lebensgeschichte als auch auf die Bearbeitung des Traumas
durch imaginative Konfrontation. Die Wirksamkeit der NET
wurde in einer Reihe randomisiert-kontrollierter Studien in unterschiedlichen Populationen systematisch untersucht und belegt.
Eine ebenfalls bereits validierte und weltweit zugängliche Kurzzeitpsychotherapie zur Behandlung von Depressionen und PTBS bei
arabischsprachigen Kriegs- und Folteropfern ist die internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie «Ilajnafsy». Das Behandlungskonzept basiert auf dem niederländischen Interapy-Konzept und beinhaltet Exposition, kognitive Restrukturierung und Perspektiventwicklung. Durch das bestehende, niedrigschwellige Behandlungsangebot kann jeder Betroffene, der über einen Internetanschluss
verfügt, unmittelbar und unabhängig von seinem derzeitigen Aufenthaltsort psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen.
Kritisch anzumerken ist allerdings, dass eine ausschließlich psychotherapeutische Intervention für die besonderen Bedürfnisse
und Belange von geflüchteten Kriegs- und Folteropfern oftmals
unzureichend ist. Die Versorgung dieser Population erfordert häufig ein multimodales Behandlungskonzept, das neben psychotherapeutischen Interventionen ebenso sozialarbeiterische Tätigkeiten,
Weiterbildung in der Psychotherapie
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Die PTBS ist in ihrem Kern eine – auch interkulturell – stabile
und valide pathogene Entität, die als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis auftreten kann. Allerdings sind ihre Präsentation
und ihr Erklärungs- und damit auch Bewältigungskonzept kulturell durchaus divers. Die Ausprägung von Vermeidung/Numbing
scheint interkulturell am stärksten zu variieren. In nichtwestlichen
Populationen scheint die Vermeidung weniger ausgeprägt und
prominent zu sein. Eine mögliche Erklärung könnte die stärkere
biologische Determination von Übererregung und Wiedererleben/
Intrusionen sein.
Die in der westlichen Kultur übliche Trennung von Leib und
Seele ist vielen nichtwestlichen Kulturen eher fremd. Ein höheres
Maß an assoziierter Somatisierung wird in vielen Kulturen beobachtet, ist allerdings kein integraler Bestandteil der PTBS-Diagnose. Irrationale Überzeugungen in Bezug auf Schuld und Scham
spielen bei der PTBS eine wichtige Rolle, werden aber noch prominenter, wenn die Annahme besteht, dass die Erkrankung eine
Sanktion für vorangegangenes Fehlverhalten darstellt. Auch werden im Rahmen systematischer Kriegsführung häufig spezifische
Formen der Gewalt ausgeübt, die für die Betroffenen mit besonderer Stigmatisierung einhergehen. Das Erleben sexualisierter Gewalt
ist in vielen Kulturen noch stärker tabuisiert und zieht in manchen
Gesellschaften aufgrund der «Entehrung», die dem Opfer angelastet wird, tatsächlich gravierende soziale Folgen nach sich (z.B. Ausschluss aus der Gemeinschaft). Einschränkend sollte berücksichtigt
werden, dass die PTBS zwar eine universell beobachtbare Reaktion
auf lebensbedrohliche Erfahrungen darstellt, psychopathologisch
allerdings nur EINE von unterschiedlichen Traumafolgestörungen
repräsentiert. Darüber hinaus dürfen die umfangreichen psychosozialen Folgen von langanhaltenden Traumatisierungen und dem
Verlust von Sicherheit, Heimat und Zugehörigkeit nicht durch
einen zu engen Fokus auf PTBS übersehen werden.
Welche Möglichkeiten der einfachen Diagnostik würden Sie empfehlen? Gibt es auch fremdsprachliche Screening-Instrumente, die
zur Diagnostik herangezogen werden können?
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elle Form der Traumatisierung findet, wenngleich nicht in dieser
hochfrequenten Form, teilweise auch in Deutschland ihre Fortführung durch Fremdenfeindlichkeit, rechtsradikale Gewalt und sexuelle Übergriffe in Aufnahmeeinrichtungen.
Die Diagnostik und Therapie muss ja größtenteils mithilfe von
Dolmetschern durchgeführt werden. Gibt es da besondere Probleme?
Müssen Dolmetscher besonders geschult werden? Gibt es neben
sprachlichen auch kulturspezifische Schwierigkeiten?
In den meisten Fällen muss der therapeutische Prozess von
Sprachmittlern unterstützt werden. In der Regel sind dies keine
staatlich anerkannten bzw. formal ausgebildeten Dolmetscher.
Daher ist es dringend anzuraten, dass alle Sprachmittler eine Einführung bzw. Schulung zum Vorgehen erhalten (inhaltlich unter
anderem zum therapeutischen Vorgehen, zu Grundkonzepten der
Intervention; strukturell unter anderem zur Sitzordnung, zu
Sprach- und Übersetzungsregeln, zur Schweigepflicht und interaktionell unter anderem zum Neutralitätsprinzip, zur Prozessverantwortung seitens des Therapeuten). Eine klar definierte und transparent kommunizierte Aufgabenverteilung – auch gegenüber dem
Patienten – ist die Grundvoraussetzung für einen gut funktionierenden triadischen Kommunikationsprozess. Dazu gehört auch
der offene Umgang mit der religiösen, ethnischen und politischen
Zugehörigkeit des Dolmetschers. Neben der rein sprachbezogenen
Übersetzung übernehmen Sprachmittler auch die Funktionen der
Kulturvermittlung. Die kulturelle Einordnung der Symptompräsentation und die kulturbedingte Interpretation des nonverbalen
mimisch-gestischen Ausdrucks sind häufig grundlegende Bedingungen für eine adäquate Diagnosestellung und ein Verständnis
des zugrunde liegenden impliziten Krankheitskonzepts. Dazu ist
ein Informationsaustausch im Rahmen eines regulär eingeplanten
Nachgesprächs essenziell. Auch wenn die dolmetschergestützte
Therapie neue Kompetenzen seitens der Psychotherapeuten fordert, zeigt sich meta-analytisch, dass die Wirksamkeit durch den
Einsatz von Dolmetschern nicht beeinträchtig wird. Einschränkend muss allerdings angemerkt werden, dass die Finanzierung
von Dolmetscherleistungen und die Übernahme des assoziierten
Mehraufwands insbesondere für niedergelassene Psychotherapeuten unzureichend bzw. noch nicht geklärt sind.
Gibt es Internetprogramme ohne Therapeutenbegleitung, die in
die jeweiligen Sprachen der Flüchtlinge und Asylsuchenden übersetzt
und von diesen in einfacher Form anwendbar sind?
Therapeutisch unbegleitete Interventionsprogramme sind bisher nicht ins Arabische (bzw. Farsi, Urdu usw.) übersetzt bzw. es
existieren keine empirisch überprüften Evaluationen. Allerdings
gibt es einzelne Informationsportale und digital verfügbare Informationsmaterialien zur Psychoedukation und Aufklärung über
psychologische Unterstützungsmöglichkeiten. Darüber hinaus
werden bereits seit 2007 therapeutengestützte internetbasierte Interventionen (Ilajnafsy) in arabischer Sprache angeboten (Schwerpunkt PTBS, Depression und komplizierte Trauer). Patienten können sich unter www.ilajnafsy.bzfo.de/portal anmelden. Die primär
schreibtherapeutische Intervention wird von geschulten mutter-
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sprachlichen Psychologen und Beratern übernommen. Eine gute
Akzeptanz dieser internetbasierten Unterstützungsalternativen
zeigte sich auch in weiteren empirischen Befragungen. Unter syrischen Flüchtlingen, die psychiatrische Dienste beanspruchten,
gaben knapp 50% der Befragten an, dass sie auch bereit wären, online-therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Macht es überhaupt Sinn, zu einem so frühen Zeitpunkt der Integration zu therapieren, oder sollten zuerst die existenziellen Angelegenheiten wie Wohnort und Wohnraum, Versorgung, Bleibeperspektive bzw. eine mögliche Abschiebung geregelt sein?
Wünschenswert wäre selbstverständlich eine primäre Klärung
aller existenziellen Angelegenheiten. Zu einem gewissen Grad ist
auch zu beobachten, dass sich die aktuellen Behandlungsanfragen
bis dato nicht so exponentiell erhöht haben, wie es die Prävalenzzahlen nahelegen würden, was möglicherweise ebendiese Priorisierung widerspiegelt. Gleichzeitig sind Asylverfahren von sehr unterschiedlicher Dauer und ziehen sich in manchen Fällen über Jahre
hin. In der Regel wird auch dann nur ein befristeter Aufenthalt gewährt. Es bleibt also häufig über viele Jahre eine existentielle Unsicherheit bestehen. PTBS-Symptome oder andere Traumafolgestörungen wirken sich unmittelbar auf die Bewältigungsfähigkeit von
nichttraumatischen Stressoren wie z.B. Postmigrationsstressoren
aus. Langfristig beeinträchtigt eine schlechte psychische Gesundheit die individuelle Integrationskapazität maßgeblich. Empfehlenswert ist ein gestuftes Modell, das eine frühzeitig aufsuchende,
proaktive Informationsvermittlung und Psychoedukation beinhaltet und intensivere psychotherapeutische Prozesse im Anschluss
bedarfsorientiert anbietet.
Kommt es vor, dass psychische Störungen auch vorgetäuscht werden, um einer Abschiebung zu entgehen? Andererseits: Werden psychische Störungen auch hinreichend berücksichtigt, um eine Abschiebung zu verhindern?
Zweifellos gibt es Fälle, in denen die psychische Erkrankung simuliert wird, um einer Abschiebung zu entgehen. Eine ausreichende Qualifikation als Therapeut und Gutachter mit kultur- und
konfliktspezifischen Kenntnissen (z.B. Gutachtercurriculum zur
Beurteilung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren der Psychotherapeuten- und Ärztekammer) hilft,
solche Fälle zu identifizieren.
Es häufen sich Gesetzesinitiativen, die das Vorliegen einer PTBS
als nicht hinreichendes Abschiebehindernis definieren und Psychotherapeuten und Ärzte in ihrer diagnostischen Begutachtungsmöglichkeit stark beschneiden. Dies hätte gravierende Konsequenzen für die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen
und muss aus klinischer und grundlegend humanitärer Sicht strikt
abgelehnt werden.
Herzlichen Dank.
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medizinische Versorgung sowie aufenthaltsrechtliche Beratung
umfasst.
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