Krebsbakterien - mit dem Auslegerboot in die Südsee

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Krebsbakterien - mit dem Auslegerboot in die Südsee
Das Bakterium Helicobacter pylori verursacht Magengeschwüre und Magenkrebs. Anhand
genetischer Vergleiche verschiedener Helicobacter-Stämme lassen sich die großen
prähistorischen Migrationen der Menschheit, darunter auch die Expansion der
austronesischen Völker in die Weiten des Pazifischen und Indischen Ozeans, präzise
rekonstruieren.
Helicobacter pylori © WHO
In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigten der Pathologe Dr. J. Robin Warren
und der Gastroenterologe Dr. Barry Marshall vom Royal Perth Hospital in Westaustralien, dass
Verursacher der aktiven, chronischen Gastritis (Magenschleimhautentzündung, die
Magengeschwüre - Ulcera - hervorruft) ein Bakterium ist, das die ungewöhnliche Eigenschaft
besitzt, in dem extrem sauren Milieu des Magensaftes zu gedeihen. Sie identifizierten dieses
Bakterium als Campylobacter pylori (später umbenannt in Helicobacter pylori) und führten den
Nachweis, dass es tatsächlich die Krankheit auslöst, durch strikte Erfüllung der von Robert
Koch aufgestellten Postulate, indem sie: erstens den Erreger regelmäßig in Gastritis-Patienten
nachwiesen; zweitens den Erreger (nach 34 Fehlschlägen) in reiner Form in Zellkultur
züchteten; und drittens mit dem reingezüchteten Erreger die pathogenen Eigenschaften
hervorrufen konnten. Zur Prüfung des dritten Postulats unternahmen Warren und nach ihm
Arthur Morris, ein junger Neuseeländer, Selbstversuche, durch die sie an aktiver und
chronischer Gastritis erkrankten und erst durch massiven Einsatz von Antibiotika geheilt
wurden.
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Prof. Dr. Hermann Brenner, Leiter der Abteilung Klinische Epidemiologie und Alternsforschung am DKFZ © DKFZ
Seit langem ist bekannt, dass Ulcer auslösende chronische Gastritis („peptic ulcer disease") das
Risiko, an Magenkrebs zu erkranken, stark erhöht. Nach der Entdeckung von Warren und
Marshall wurde sehr rasch auch gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen einer H.pylori-Infektion und der Entstehung von Magenkrebs, der weltweit zweithäufigsten
Krebstodesursache, gibt. In Ländern, in denen Magenkrebs extrem verbreitet ist, wie Peru,
Kolumbien, Mexiko und Teile von Ost-und Südostasien, ist fast die gesamte Bevölkerung mit H.
pylori infiziert. Aber auch in der industrialisierten Welt, in der die Erkrankung an diesem Krebs
in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, zeigte sich, dass Magenkrebs praktisch immer
mit einer H.-pylori-Infektion assoziiert war. Für Deutschland wurde dieser Zusammenhang
durch eine von dem Team des Heidelberger Epidemiologen Hermann Brenner (heute
Deutsches Krebsforschungszentrum) durchgeführte Studie nachgewiesen (Brenner H, Arndt V,
Stegmaier C, Ziegler H, Rothenbacher D: Is Helicobacter pylori infection a necessary condition
for noncardia gastric cancer?, Am J Epidemiol 2004, 159, 252-258.).
Helicobacter, ein Klasse-I-Karzinogen
Bereits 1988 hatte der kolumbianische Pathologe Pelayo Correa an der Louisiana State
University, New Orleans, USA, ein Mehrstufenmodell für die von H. pylori ausgelöste gastrale
Karzinogenese postuliert, das als „Correa-Kaskade“ bekannt und weitgehend akzeptiert ist: Sie
führt vom Normalzustand über die „chronische nicht atrophische Gastritis“ zur „atrophischen
Gastritis“ und weiter über die „Metaplasie“ und „Dysplasie“ zum Karzinom. Für die ersten
beiden Schritte scheint die bakterielle Infektion obligatorisch zu sein – abgesehen von der
seltenen familiären (genetisch bedingten) Krebsform. An der Transformation zur Metaplasie
und Dysplasie und zum Karzinom sind Nitrosamine und freie Sauerstoffradikale beteiligt;
möglicherweise spielt H. pylori aber auch beim Übergang zur Metaplasie eine aktive Rolle,
indem es mit der Nahrung aufgenommenes Nitrat in Nitrosamine und andere mutagene
Nitroso-Verbindungen umwandelt. Ascorbinsäure und β-Karotin blockieren die Correa-Kaskade
und schützen vor Magenkrebs.
1994 stufte die zur World Health Organization (WHO) gehörige “International Agency for
Research on Cancer” H. pylori als Klasse-I-Karzinogen ein. Damit war es sozusagen amtlich als
Krebsbakterium des Menschen anerkannt. Elf Jahre später erhielten Warren und Marshall den
Medizin-Nobelpreis „für die Entdeckung des Magenbakteriums Helicobacter pylori und dessen
Bedeutung bei Gastritis und Magengeschwüren".
Die Migrationsgeschichte des Magenbakteriums
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Die spektakuläre „Karriere“ von H. pylori als Wissenschaftsobjekt ist damit nicht beendet. Im
Folgenden wird geschildert, wie das Bakterium überraschend eine neue weniger triste
Berühmtheit, als für die Krebsentstehung beim Menschen, in ganz anderen Disziplinen erlangt
hat.
Genomanalysen von H.-pylori-Stämmen, die von verschiedenen Patienten isoliert worden
waren, ergaben eine bemerkenswerte genetische Variabilität und Unterschiedlichkeiten
innerhalb der Spezies. Diese „allelische Diversität“ ist das Ergebnis einer Kombination aus
einer hohen Mutationsrate, einer hohen Rekombinationshäufigkeit zwischen verschiedenen
Bakterienstämmen bei der Infektion des gleichen Wirtes und schließlich aus der Fähigkeit des
Bakteriums, kleine Bruchstücke fremder DNA in sein Chromosom zu integrieren.
Professor Mark Achtman © University College, Cork
1998 begann Prof. Mark Achtman, damals am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik und
anschließend Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin, die
genetische Variabilität der Helicobacter-Stämme zur Analyse von Wanderungsbewegungen
menschlicher Populationen zu verwenden. Die Idee ist die gleiche wie bei molekulargenetischen
Evolutionsstudien: Je länger zwei Populationen getrennt sind, umso größer sollten die
genetischen Unterschiede sein - jedenfalls dann, wenn nicht andere Faktoren wie die natürliche
Selektion die Unterschiedlichkeiten verändern oder unterdrücken. Da die Mutations - und
Rekombinationsrate des Bakteriums viel größer ist als die seines Wirtes, könnten sich präzisere
Aussagen über die Aufspaltung und Wanderungen von Völkern machen lassen, die zu kurze
Zeit zurückliegen, als dass sie eindeutige Spuren im menschlichen Erbgut hinterlassen hätten.
Achtman und seine Kollegen stellten zunächst fest, dass sich die H.-pylori-Stämme von
Europäern und Chinesen deutlich unterschieden. Später zeigten sie, dass afrikanische
Bakterienstämme offenbar mit dem Sklavenhandel nach Nordamerika gebracht worden waren
und dass Buddhisten und Muslime in Nordindien mit verschiedenen Bakterien infiziert sind. In
einer 2007 veröffentlichten Arbeit konnten die Wissenschaftler schließlich eine Weltkarte
präsentieren, die die Expansion des Homo sapiens über den ganzen Globus anhand von
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genetischen Vergleichen der Helicobacter-Stämme in den verschiedenen Erdteilen
rekonstruierte (Linz B, Balloux F, Moodley Y, ... , Suerbaum S, Achtman M: An African origin for
the intimate association between Humans and Helicobacter pylori. Nature 445, 915-918,
2007).
Die Ausbreitung von Helicobacter mit dem Menschen über die Erdteile; mit Zeitangaben. © M.Achtman (modifiziert)
Die genetische Distanz zwischen verschiedenen H.-pylori-Stämmen konnte durch Eichung an
anderweitig gemessenen, bekannten prähistorischen Ereignissen in eine Zeitskala verwandelt
werden. Das Ergebnis entspricht weitgehend dem in jahrzehntelanger Arbeit von
Anthropologen, Ethnologen, Humangenetikern, Archäologen, Linguisten etc.
zusammengefügten Bild von der Ausbreitung des modernen Menschen über die Erde:
Ausgehend von einem Zentrum in Ostafrika vor etwa 100.000 Jahren wanderte H. sapiens mit
seinem Magenbakterium vor ca. 60.000 Jahren nach Vorderasien und erreichte 20-30.000
Jahre später Australien und Neuguinea. Vor 25-40.000 Jahren (der genauere Zeitpunkt ist noch
unklar) besiedelte das Bakterium (Süd-)Europa; später Zentral- und Nordasien, von wo es vor
10-12.000 Jahren über die Beringstraße nach Nordamerika übersetzte. (Für eine - heftig
diskutierte - frühere Besiedlung Amerikas fanden Achtman und Mitarbeiter bisher keine
bakteriellen Belege.) Vor 8-10.000 Jahren wurde Südamerika besiedelt. Die Ausbreitung in die
Inselwelt des Pazifik erfolgte vor 1.000 bis 5.000 Jahren. Vor etwa 500 Jahren schließlich
gelangten europäische und afrikanische Helicobacter-Stämme mit der kolonialen Expansion
und dem Sklavenhandel nach Amerika.
Mit dem Doppelauslegerkanu um die halbe Welt
Damit nicht genug. In einer neuen Arbeit (Moodley Y, Linz B, Yamaoka H, … , Marshall BJ,
Achtman M: The peopling of the Pacific from a bacterial perspective. Science, 23 Jan 2009)
konnte ein internationales Forscherteam um Mark Achtman, der inzwischen in seine Heimat an
das University College, Cork, Irland, zurückgekehrt ist, auf sensationelle Weise präzise die
Studien der Archäologen, Humangenetiker und besonders der Sprachwissenschaftler ergänzen
und bestätigen. Für die Studie stellte unter anderem der Nobelpreisträger Barry Marshall
Helicobacter-Proben von australischen Aborigines zur Verfügung; der japanische
Wissenschaftler Yoshio Yamaoka lieferte Proben aus Taiwan.
Die erste Ausbreitungswelle in den pazifischen Raum erfolgte während der letzten Eiszeit vor
31-37.000 Jahren nach Australien und Neuguinea, die über den damals trockenen Sockel des
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Die zwei Expansionen von Helicobacter nach Ozeanien © M. Achtman
Sahul-Schelfs verbunden waren. Die Nachfahren dieser ersten Einwanderer, die Papua im
Hochland von Neuguinea und die australischen Aborigines, tragen den Helicobacter-Typ
hpSahul, der sonst nirgends vorkommt. Die zweite Ausbreitungswelle, die sogenannte
austronesische Expansion, die durch den Helicobacter-Typ hpMaori charakterisiert ist, begann
vor etwa 5.000 Jahren von der Insel Taiwan aus. Der hpMaori-Typ stammt von einem in China
verbreiteten Helicobacter-Typ (hpOstasien) ab, und archäologische Funde belegen, dass die
Austronesier Taiwan von Südchina aus besiedelt hatten, obwohl dort heute nirgends mehr eine
austronesische Sprache gesprochen wird. Drei der vier Unterfamilien der austronesischen
Sprachfamilie finden sich nur unter der Urbevölkerung Taiwans (die heute nur noch ein Prozent
der Bevölkerung der Insel ausmacht). Alle übrigen 945 Sprachen der austronesischen
Sprachfamilie gehören zu der malaiopolynesischen Unterfamilie, die sich in wenigen tausend
Jahren von Taiwan aus über die Philippinen und Indonesien zu den melanesischen
Inselgruppen im Westpazifik ausbreitete und mit beschleunigter Geschwindigkeit nach Osten
zu schließlich alle bewohnbaren Inseln des Pazifischen Ozeans und gen Westen über den
Indischen Ozean die Insel Madagaskar vor der ostafrikanischen Küste erreichten.
Doppelauslegerkanu von den Fidschi-Inseln © J. Dumont d’Urville,“ Voyage de la corvette d’Astrolabe, 1826-1829“.
Von Madagaskar bis zur fernsten Insel im Pazifik, der Osterinsel, sind es 23.000 Kilometer
Luftlinie. Das ist mehr als der halbe Erdumfang. Vor den kolonialen Eroberungen der Europäer
ab dem 16. Jahrhundert war die malaiopolynesische Sprachgruppe die am weitesten
verbreitete in der Welt. Für die faszinierenden Details dieser Expansion sei auf das wunderbare
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Buch „Arm und Reich" (englisch: „Guns, Germs and Steel") von Jared Diamond verwiesen, das
schon Mark Achtman inspiriert hatte. Dort sind auch die vielfältigen archäologischen und
linguistischen Beweise für diese Migration dargelegt. Hinzu kommen jetzt die an Helicobacter
durchgeführten molekulargenetischen Belege. Alle untersuchten Proben von Menschen
austronesischer Sprachen waren vom Typ hpMaori; in keiner einzigen gab es hpSahul und
hpMaori nebeneinander.
Wie lässt sich die austronesische Migration erklären? Jared Diamond gibt eine einleuchtende
Begründung, die zwar für die frühe Phase dieser Expansion spekulativ ist, sich aber auf
sprachliche und archäologische Indizien stützen kann und von den meisten Fachleuten geteilt
wird. Es war die Erfindung des Doppelausleger-Segelkanus, die es den Austronesiern
ermöglichte, über Neuguinea hinaus die ungeheuren Weiten des Ozeans zu überwinden.
Unerkannt führten sie in ihren Mägen ein Bakterium mit sich, das heute noch Zeugnis für diese
in der Menschheitsgeschichte beispiellose Völkerwanderung ablegt.
Fachbeitrag
30.08.2010
EJ
BioRN
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
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