Vom Winde verweht

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FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
FREITAG, 8. OKTOBER 2010
Leben
WEEKEND
29
Vom Winde verweht
Seit zwei Jahren erfüllt Rosaly Lopes den letzten Wunsch ihres gestorbenen Verlobten:
Sie verstreut seine Asche – auf der ganzen Welt
Angelika Dehmel, Berlin
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erste Station seiner posthumen Weltreise war die Werft im irischen Belfast,
in der die „Titanic“ gebaut wurde. Zu
dem Schiff hatte er eine ganz besondere Beziehung: White arbeitete als
Kameramann für National Geographic. Als ein Forscherteam 1985
die „Titanic“ auf dem Grund des
Ozeans entdeckte, machte er die
ersten Aufnahmen des Ozeankreuzers nach ihrem Untergang. Er
war auch im Team von Regisseur
James Cameron, als der seinen Kassenschlager drehte. 35-mal tauchte
White während der Dreharbeiten in einem kleinen U-Boot hinunter zum
Wrack. „Ich war öfter auf der ,Titanic‘
als Kapitän Smith“, scherzte er oft. Und
irgendwann, das ist der Plan, soll ein
Teil von ihm auch dort zurückkehren.
Seine Reise nach dem Tod ist nicht
überall legal. „Wir versuchen deshalb
immer, wenig Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt Lopes. In der Sixtinischen
Kapelle etwa habe ein Freund so getan,
als binde er sich den Schuh – um gleichzeitig ein wenig Asche in einem Riss im
Fußboden verschwinden zu lassen.
Sie wartet, bis eine Gruppe australische Touristen weiterzieht, und geht
hinter die falsche Barrikade beim
Checkpoint. Sie dreht die Tüte auf den
Kopf, schüttet den Inhalt vorsichtig aus
und packt die Tüte schnell zurück in
ihre Handtasche. Niemand hat es gemerkt, keiner schreit laut auf. Nun ruht
White auch in Berlin.
Lopes wird das später in ihre Liste
schreiben. Auf inzwischen sieben Sei-
Wagemutig
Suchen Ralph White war
Mitglied des „Adventurers’
Club“, der sich selbst als
Versammlungsort für jene
sieht, die „ausgetretene
Wege verlassen auf der
Suche nach Abenteuern“.
Finden Als Kameramann
tauchte er oft zum Wrack
der „Titanic“ hinunter.
ten steht, wer White wann wohingebracht hat.
Das erste Mal persönlich hat sie
seine Asche in Wien verstreut. Im Riesenrad am Prater, als die Gondel oben
eine Pause machte. Nicht immer läuft
es alles glatt: In Indien wurde der
Rucksack geklaut, in dem die Asche
war. „Ralph wurde also gekidnappt“, sagt Lopes und
lacht. Das hätte ihm auch gefallen.
Eigentlich hatte sie sich gar
nicht in den 15 Jahre älteren Mann verlieben wollen, „aber wenn jemand so
bedingungslos verehrt wird, passiert
es eben doch“, sagt sie. White war ein
Charmeur und Gentleman, und er war
stolz auf seine deutschen Wurzeln: Er
war mit dem Seeoffizier Felix Graf von
Luckner verwandt, der im Ersten Weltkrieg kämpfte. Eine Biografie mit
Luckners Unterschrift war sein kostbarster Schatz: „Mein Held“ hatte er
ins Buch geschrieben. „Vielleicht wäre
sein Grab auch ein guter Ort für Ralph“,
überlegt Lopes.
Luckner ist auf dem Ohlsdorfer
Friedhof in Hamburg begraben. Die
Zeit ist zu knapp, um noch auf dieser
Reise White dorthin zu bringen: Diesmal will Lopes noch etwas von Berlin
sehen. Die Museumsinsel, den Pergamonaltar, das Spreepanorama. Ihr neuer Freund wird sie begleiten, ebenfalls
ein Abenteurer. „Ralph wollte, dass andere Menschen auf Abenteuersuche
gehen“, ist Lopes überzeugt. Mit seiner
Asche hat er dieses Ziel erreicht.
Rosaly Lopes; www.marco-urban.de/Marco Urban; FTD/Maxim Sergienko; Bresadola/drama-berlin.de
Die Alliierten sind schon lange weg.
Die Soldaten am Checkpoint Charlie
sind bloß noch Berliner Jungs, die sich
gegen Bares mit Touristen fotografieren lassen. Rosaly Lopes schaut die
Uniformierten neugierig an, dann berührt sie vorsichtig die Barrikade aus
Sandsäcken vor dem Wachhaus und
stellt überrascht fest: „Die sind ja auch
nicht echt, sondern aus Beton!“ Sie
lacht laut auf. „Ralph hätte das geliebt!“, sagt sie und lächelt wehmütig.
Ralph, das ist Ralph White, Rosaly
Lopes’ Verlobter. Am 4. Februar 2008
starb er mit 66 Jahren. Seine Beerdigung aber dauert bis heute an, und das
ist der Grund, warum die Kalifornierin
an diesem Tag in Berlin ist. Zusammen
mit Freunden und Familie erfüllt die
53-Jährige den letzten Willen ihres
Partners: seine Asche auf der ganzen
Welt zu verstreuen. In Notre-Dame in
Paris am Fuße eines Wasserspeiers, auf
dem Gipfel des Ayers Rock in Australien, auf dem Grab seiner toten Katze
Sassy: Ralph ist überall – so, wie er es
sich gewünscht hat.
Heute also Berlin. Lopes kramt in
ihrer Handtasche herum und holt einen
kleinen, verschließbaren Klarsichtbeutel hervor. Unten in der linken Ecke
hat sich etwas grau-weiße Asche gesammelt, vielleicht knapp ein halber
Fingerhut voll. Wäre es mehr, Whites
Beerdigung wäre zu schnell vorbei.
„Noch aber reicht es für Dutzende Rei-
sen“, schätzt die Vulkanologin, der ihres Berufs wegen Asche nicht gänzlich
fremd ist. Es passt, dass sie die Hüterin
von Ralphs sterblichen Überresten ist
und nicht seine Kinder.
Lopes ist zierlich, versinkt beinahe
in ihrem beigen Cordmantel. Wenn sie
vom Tod ihres Freundes spricht, klingt
sie so verletzlich, wie sie aussieht. Mit
einem Aortadurchbruch war Ralph
White ins Krankenhaus eingeliefert
worden, Lopes blieb mit engen Freunden im Wartezimmer. Wenig später erfuhren sie, dass er es nicht geschafft
hatte. „Und mir wurde auf einmal klar:
Ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun
oder organisieren musste“, sagt Lopes
und hält die Tüte mit der Asche ein bisschen fester, bis sie leicht verknüllt ist.
Damals fiel ihr eine Mail ein, die
White ihr Monate zuvor weitergeleitet
hatte. Ein Freund hatte ihn gefragt, was
auf seinem Grabstein stehen soll.
„Ralph ist nicht hier. Er ist auf der ganzen Welt verstreut“, war seine Antwort.
„Da habe ich gewusst, was ich tun
muss“, sagt Lopes. Die traurige Stimmung im Krankenhaus sei umgeschlagen in fieberhaftes Nachdenken – auf
einmal hatten sich alle gefragt: Wo
könnten wir ihn hinbringen?
„Checkpoint Charlie ist genau der
richtige Platz“, sagt Lopes und blickt
hoch zu dem Bild eines sowjetischen
Soldaten, das an einem Pfosten angebracht ist. Ein Platz der Weltgeschichte, ein Platz des Abenteuers,
ein Platz, der wichtig ist. Ein guter
Platz, um hier beerdigt zu sein. Die
Ruhe sanft: Rosaly Lopes am Checkpoint Charlie in Berlin kurz vor der Bestattung. In der Hand hält sie die Tüte mit den Überresten ihres Verlobten, Ralph White
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CULTURE CLUB OSTERMEIERS WEISSER OTHELLO
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Willy Theobald
Was soll das
Theater, wo spielt
die Musik? Unser
Experte weist den
Weg durch den
Kulturbetrieb der
nächsten Woche
Wie, ins Theater gehen Sie sowieso nicht? Das ist
ein kapitaler Fehler. Dabei können Sie viel Geld sparen. Jeder Besuch eines Opern- oder Schauspielhauses in Deutschland wird mit 110 Euro gesponsert.
Aber Theater und Theater – das sollten Sie auch als
Bühnenhasser wissen – ist ein Riesenunterschied.
So gibt es zum Beispiel Regisseure, die in fast
jeder Inszenierung nackte Frauen über die Bühne
jagen. Wieder andere beschallen das Publikum mit
krachiger Rockmusik. „Highway to Hell“ von AC/DC
gehört anscheinend zu den Favoriten vieler Theaterschaffender. Noch andere lassen Manager, Päpste
oder Invaliden in Strapsen über die Bühne hopsen.
Es gab auch schon Opernregisseure, die Leichenteile
von Soldaten aus dem Orchestergraben geworfen
haben. Was Sie also spätestens jetzt gemerkt haben
sollten: Man weiß zwar meistens nicht, wieso – aber
im Theater ist immer was los!
Im Hamburger Schauspielhaus wurden in einer
Inszenierung sogar fast nur Witze erzählt. Kostprobe? Zwei Blondinen starren gebannt auf ein
Schachbrett. Etwa 20 Minuten lang passiert über-
haupt nichts: Dann fragt die eine: „Hast du die Regel im Kopf?“ Die andere schreckt auf und antwortet erstaunt: „Wieso – blute ich aus der Nase?“
Thomas Ostermeier verzichtet in Berlin auf solchen Klamauk. Der Chef der Schaubühne am Lehniner Platz gehört zu den besten deutschen Regisseuren. Er bringt am Samstag Shakespeares „Othello“
auf die Bühne – eine überarbeitete Fassung seines
gefeierten Festivalbeitrags im Amphitheater von
Epidauros. Dass sein Othello nicht schwarz, sondern weiß ist – das werden Sie überleben. Immerhin ist der Titelheld keine Frau und weder schwul
noch lesbisch. Auch muss er seine Mutter nicht zu
AC/DC-Klängen schänden.
Ostermeier überzeugte schon vor zwölf Jahren
mit der Inszenierung des englischen Skandalstücks
„Shoppen und Ficken“ (so ein Titel zieht immer!) an
einer kleinen Berliner Experimentierbühne. An der
Schaubühne, die er seit elf Jahren leitet, entwickelte
er dann eine eigene, ganz individuelle Regiesprache, die regelmäßig für Premierenhighlights sorgt.
Ein großer Coup gelang ihm 2003 mit Ibsens
„Nora“. Die verließ in Ostermeiers Inszenierung
nicht nur ihre Familie – vorher erschoss sie noch
schnell ihren Ehemann. Das war sogar mehr als ein
Jahrhundert nach der Uraufführung eine überaus
originelle Idee.
Theater – diese Erkenntnis haben viele von uns
noch aus ihrer Schulzeit abgespeichert – ist entweder Weihnachtsmärchen oder langweilig. Manche
glauben sogar an ein hartnäckig dem Ballett unterstelltes Vorurteil: Da rennen erwachsene Männer in
Strumpfhosen durch die Gegend. Doch auch das
stimmt schon lange nicht mehr: Im modernen
Tanztheater sehen Sie immer häufiger ganz normal
angezogene Menschen, die mühsam einstudierte
Bewegungsabläufe vorführen, die Sie auch in jeder
Disco um die Ecke sehen können. Aber – das sollten
Sie bedenken: Disco ist heutzutage viel teurer als
Oper. Oder hat Ihnen schon mal jemand einen Discobesuch mit 110 Euro gesponsert?
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„Othello“, Premiere am 9.10. um 20 Uhr, Schaubühne
am Lehniner Platz, Berlin; www.schaubühne.de
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