Psychotherapie bei HIV und Aids Sinnvolles

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Psychotherapie bei HIV und Aids
Sinnvolles Zusatzangebot
Psychotherapie kann die Begleiterscheinungen
von HIV/Aids erträglicher machen und trägt zur
Therapiecompliance bei.
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ie Aids-Gefahr ist nicht gebannt.
Nach Angaben des Robert KochInstituts,Berlin,sterben in Deutschland jährlich 600 Menschen an der
Immunschwächekrankheit. 38 000 Menschen sind aktuell mit dem HI-Virus infiziert, 5 000 sind an Aids erkrankt,
2 000 infizieren sich jährlich neu. 50
Prozent der Neuinfektionen kommen
durch homosexuelle Kontakte, 18 Prozent durch heterosexuelle Kontakte
und neun Prozent durch Drogenkonsum mit verseuchten Spritzen zustande. Diese Zahlen waren in den letzten Jahren relativ konstant. Das
könnte sich aber schon bald ändern.
Denn einerseits haben Problembewusstsein und Präventionsverhalten in
der Bevölkerung deutlich nachgelassen, zum anderen wird das Virus immer
häufiger durch Flüchtlinge, Asylbewerber und Prostituierte aus Hochprävalenzländern, vor allem aus afrikanischen und osteuropäischen Staaten,
aber auch durch „Sextouristen“ eingeschleppt. Die Zahl derer, die sich auf
diesem Wege infiziert haben, stieg im
letzten Jahr um zwei Prozentpunkte auf
23 Prozent an.
Zunehmend als chronische
Erkrankung gehandhabt
In den nächsten Jahren ist in Deutschland mit einer Zunahme der HIV-Infektionen zu rechnen. Das Gesundheitswesen wird sich aber nicht nur darauf, sondern auch auf eine längere Behandlungsdauer bei HIV-Infizierten
und Aids-Patienten einstellen müssen.
Lag die Überlebenszeit zu Beginn der
Epidemie bei etwa zwei Jahren, so
bricht heute nur bei der Hälfte der
HIV-Infizierten ohne antiretroviral medikamentöse Behandlung innerhalb
280
von zehn Jahren Aids aus. Es gibt auch
Betroffene, die 20 Jahre mit dem Virus
leben. Sie werden als Langzeitüberlebende (long time survivors) bezeichnet. Die erhöhte Lebenserwartung
bewirkt, dass HIV/Aids vom Gesundheitssystem zunehmend als chronische
Krankheit gehandhabt und damit auf
eine Stufe mit Krebs oder Rheuma
gestellt wird.
Behandlungsformen werden vielfältiger. Während man sich vor einigen
Jahren noch fast ausschließlich darauf
konzentrierte, Folgekrankheiten und
Schmerzen zu bekämpfen, geht es heute
auch darum, den Ausbruch der Krankheit hinauszuzögern und eine hohe
Lebensqualität zu erhalten. Dafür
werden hauptsächlich Medikamente
eingesetzt und kombiniert, die die
Vermehrung des HIV verhindern. Wie
bei anderen chronischen Krankheiten,
so spielen auch bei HIV/Aids psychosoziale Faktoren eine wesentliche Rolle
für den Verlauf.
HIV/Aids belastet die Betroffenen
nicht nur körperlich, sondern auch psychisch sehr stark. Die Diagnose „HIVinfiziert“ oder „Aids-erkrankt“ löst
meistens Schockzustände oder Unwirklichkeitserleben aus. Danach stellen
sich Depressionen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, Wut und Selbstmordabsichten ein. Die Betroffenen
sind verunsichert und fühlen sich
isoliert. Sie grübeln viel, hadern mit
dem Schicksal, neigen zur Hypochondrie und ängstigen sich vor Erkrankung, Schmerzen und Tod. Ganz besonders fürchten die Betroffenen, diskriminiert und ausgestoßen zu werden. Darüber hinaus stellen sich oft
psychosomatische Begleiterscheinungen ein wie Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen. Solche Reaktionen werden
von den Charakteristika der Erkran-
kung ausgelöst und verstärkt. Denn
HIV/Aids stellt eine massive Bedrohung dar. Die Symptome und auch die
Kriterien, wann Aids ausbricht, sind zudem nicht eindeutig. Die Betroffenen
erleben dadurch einen starken Kontrollverlust.
Wechselwirkung von Nerven,
Hormon- und Immunsystem
Psychotherapeutische Angebote, die
helfen, Ängste zu bewältigen und Kontrolle zu erlangen, scheinen daher angebracht. Auf die Frage, ob Psychotherapie bei Viruserkrankungen etwas bewirken kann, gibt das neue Forschungsgebiet der „Psychoneuroimmunologie“
eine klare Antwort: Nerven-, Hormonund Immunsystem stehen in enger
Wechselwirkung. Zum Beispiel aktivieren oder hemmen emotionale Stressfaktoren, wie Einsamkeit oder Verlusterlebnisse, die Produktivität bestimmter Neurotransmitter und Hormone.
„Sie schwächen die Immunreaktionen
und lösen eine Überreaktion der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden-Achse aus“, erklärt der Psychotherapeut Dr. Armin Bader aus Bochum.
Solche Prozesse führen zu körperlichen
Krankheiten und spiegeln sich in psychischen Befindlichkeiten wie Depressionen wider. Das Wissen um das komplexe Zusammenspiel von physischen,
psychischen und sozialen Faktoren ermöglicht es, mental auf das Immunsystem einzuwirken.
Psychotherapie kann dazu beitragen,
dass die Begleiterscheinungen erträglich und die Gesundheit der Betroffenen stabilisiert werden. Dabei haben
sich vor allem kognitiv-behaviorale
Verfahren bewährt, aber auch Hypnotherapie und humanistische Therapien.
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 Juni 2004
Deutsches Ärzteblatt
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Wie wirksam tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse sind, ist nicht bekannt, da diese Verfahren äußerst selten bei HIV/Aids eingesetzt werden. Für diese Erkrankung
gibt es keine Standardpsychotherapie.
Sie erfordert von Psychotherapeuten
ein flexibles, interdisziplinäres, schulenübergreifendes, oft auch unkonventionelles Vorgehen. Welche Methoden
dabei angewendet werden, hängt immer vom Einzelfall ab, zumindest aber
vom Krankheitsfortschritt, körperlichen
Zustand, Lebensumständen und von
der geistigen und seelischen Verfassung
des Patienten.Therapeuten müssen sich
darauf einstellen, dass in der Arbeit mit
dieser Patientengruppe die Grenzen
zwischen Therapie, Seelsorge und Sterbebegleitung verschwimmen. Oft bleibt
keine Zeit, um Konflikte zu bearbeiten.
Manchmal müssen – noch dringender –
die Angehörigen beraten werden. Der
Therapeut muss bereit sein, sein gewohntes Setting zu verlassen und den
Patienten zu Hause oder im Krankenhaus aufzusuchen. Zudem hat er sich
mit der Homosexualität, Drogensucht
oder Promiskuität seiner Patienten auseinander zu setzen. Er muss auch wissen, dass die Belastung durch HIV/Aids
vorhandene psychische Störungen verstärkt und dass mit Aids hirnorganische
Veränderungen einhergehen.
Konfrontation mit Schmerzen,
Verfall und Tod
Besonders belastend für Therapeuten
ist die Konfrontation mit Schmerzen,
Verfall und Tod der Patienten. Unvorbereitet laufen sie Gefahr, psychische und
professionelle Probleme zu bekommen.
Dazu zählen beispielsweise Überidentifizierung, rigide Abgrenzung, Sinnlosigkeitsgefühle, Verlustängste, Empathieprobleme, Angst vor Ansteckung
und negative Gegenübertragungen.
Der unstete, unvorhersehbare Verlauf der Erkrankung macht es nötig,
Therapieziele und -formen immer wieder kurzfristig zu ändern. Unmittelbar
nach der Diagnose ist meistens eine
Krisenintervention angezeigt, um psychisch zu stabilisieren und Ängste zu reduzieren. Mittelfristig kann daran gearbeitet werden, das Bewältigungsverhal PP
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ten zu verbessern, neue Lebensziele zu
finden und sich soziale Unterstützung
zu suchen. Langfristig kann angestrebt
werden, dass sich ein Patient mit seinem
Schicksal versöhnt. Er wird dadurch
Kontrollüberzeugungen zurückgewinnen und ein sinnhaftes Leben führen
können. „Wichtig ist auch, durch Psychoedukation die Therapiecompliance
der Patienten zu erhöhen“, erklärt der
Psychologe Prof. Dr. Neil Schneiderman, University of Miami. Denn die
medikamentöse Behandlung ist nur erfolgreich, wenn Arzttermine und Medikationszeitpläne strikt eingehalten werden. Besonders wichtig ist auch die
Stressbewältigung, weil sich Stress unmittelbar auf die Immunparameter auswirkt. Entspannungsverfahren, Imaginationsübungen sowie kognitive Restrukturierung können Betroffene in
die Lage versetzen, konstruktiv mit
Stress umzugehen. Sie können selbst
dazu beitragen, das Immunsystem zu
stabilisieren und damit die Lebenserwartung zu erhöhen.
Psychotherapie ist ein sinnvolles Zusatzangebot zur medizinischen Behandlung, jedoch nicht das einzige: Auch
Sport, Selbsthilfegruppen, gesunde Ernährung und Körperpflege tragen zu einem positiven Lebensgefühl bei und
fördern die Gesundheit. Die Effekte
von nichtmedikamentösen Maßnahmen sind schon mehrfach wissenschaftlich nachgewiesen worden. Dennoch
sollten die Erwartungen nicht zu hoch
gesteckt werden. Nicht immer bewirkt
psychisches Wohlbefinden eine dauerhafte Immunstabilisierung und medizinische Gesundheit. Inwieweit Psychotherapie künftig ergänzend zur medizinischen Behandlung eingesetzt wird, hängt
weitgehend von der Bereitschaft der
Ärzte ab, Betroffene auf das bestehende
Angebot aufmerksam zu machen. Ein
intensiver Austausch zwischen Ärzten,
Patienten und Psychotherapeuten steht
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
noch aus.
Literatur
Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (Hrsg.): Psychotherapie bei Aids.
Berlin/Wiesbaden: Ullstein Mosby 1996.
Bock J et al.: Eurovihta-Projekt – zielgruppenspezifisches
Interventionsprogramm für Betroffene bei der Verarbeitung von HIV als chronische Erkrankung. Psychother
Psych Med 2003; 53: 310–318.
Schneiderman N,Antoni MH, Ironson G:Verhaltensmedizin
bei HIV-Infektion. Psychotherapeut 2003; 48: 342–347.
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Referiert
Psychische Erkrankungen
Kulturelle Unterschiede
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ehrere Repräsentativerhebungen
aus den Neunzigerjahren in westlichen Ländern zeigten, dass die Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen von den Wissensbeständen der Psychiatrie teilweise erheblich abweichen. Ob es sich dabei um ein
kulturspezifisches Phänomen handelt,
wollten Forscher von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universität
Leipzig wissen. Sie präsentierten 745
Einwohnern der Stadt Nowosibirsk (Sibirien) Symptome von Schizophrenie
und Depressionen anhand von Fallvignetten. Die russischen Befragten identifizierten schizophrene Symptome
häufiger als Ausdruck einer psychischen Erkrankung als depressive Symptome. Die schizophrene Störung wurde vorwiegend als Folge von psychosozialem Stress und biologischen Einflüssen gesehen, während für depressive
Störungen hauptsächlich psychosozialer Stress als Ursache ausgemacht wurde. „Zur Behandlung wurde am häufigsten Psychotherapie empfohlen“, sagen
die Forscher. Für den Fall, dass keine
Behandlung erfolgt, wurde die Prognose beider psychischer Störungen ungünstig eingeschätzt, mit Behandlung hingegen günstig. Die Forscher verglichen
die Daten aus Russland mit aktuellen
Daten aus Deutschland und entdeckten viele Gemeinsamkeiten, aber auch
Unterschiede. Anders als in der deutschen besteht beispielsweise in der russischen Bevölkerung eine starke Tendenz, psychische Störungen als selbstverschuldet zu betrachten, hervorgerufen etwa durch einen Mangel an
Willensstärke oder durch einen unmoms
ralischen Lebenswandel.
Angermeyer M, Kenzine D, Korolenko T, Beck M, Matschinger H: Vorstellungen der Bewohner der Stadt Nowosibirsk über psychische Erkrankungen. Psychiat Prax
2004; 31: 90–95.
Prof. Dr. Matthias Angermeyer, Klinik und Poliklinik für
Psychiatrie, Universität Leipzig, Johannisallee 20, 04317
Leipzig, E-Mail: [email protected]
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