Wortprotokoll - Abgeordnetenhaus von Berlin

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Wortprotokoll
Punkt 1 der Tagesordnung
Siehe Inhaltsprotokoll.
Punkt 2 der Tagesordnung
Entfällt.
Punkt 3 der Tagesordnung
Siehe Inhaltsprotokoll.
Vorsitzende Christa Müller: Wir kommen zu
Punkt 4 der Tagesordnung
Ich begrüße die Anzuhörenden. Herr Prof. Hurrelmann, der Sorge hatte, pünktlich zu erscheinen, hat es doch
geschafft, pünktlich zu uns zu kommen. Dann begrüße ich Herrn Mark Medebach. Er ist der Vorsitzende des
Landesjugendringes und Vertreter des Netzwerkes „Wahlalter 16“ sowie Herrn Wolfgang Gründinger. Er ist
Vorstandsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. Herr Gründinger hat gebeten, dass
eine Assistentin Videoaufzeichnungen von dieser Anhörung macht. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist
nicht der Fall. Dann dürfen Videoaufzeichnungen gemacht werden. Im Vorfeld haben sich die Fraktionen
verständigt, dass bei diesem bekannten Thema keine Begründung erforderlich ist, sodass wir gleich in die
Anhörung einsteigen können. Wer möchte von Ihnen beginnen? – Bitte!
Clara Herrmann (Grüne): Ich nehme an, wir machen wie immer ein Wortprotokoll.
Vorsitzende Christa Müller: Entschuldigung! Das habe ich wie immer vergessen. Das ist mir bei rot angemarkert. Selbstverständlich gibt es ein Wortprotokoll. Schönen Dank, Frau Herrmann!
Wolfgang Gründinger (Vorstandsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen): Guten
Tag! Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen. Ich beschäftige mich seit Jahren mit den
demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Implikationen des Wahlrechts. Das ist mir ein Herzensthema, und deswegen freue ich mich, hier sprechen zu können. Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen spricht sich für eine konsequente Stärkung des Wahlrechts ab 16 und darunter aus. Wenn den jungen Generationen allein aufgrund des Kriteriums Lebensalter das Wahlrecht entzogen wird, dann ist das für
uns ein Verstoß gegen die Prinzipien der Volkssouveränität, des gleichen allgemeinen Wahlrechts und auch
der Generationengerechtigkeit.
Was wären die Folgen, wenn das Wahlrecht auf 16 Jahre gesenkt werden würde? – Wir glauben, Themen
wie Klimaschutz,
Schulund Ausbildung,
Internetpolitik,
Familiemöchte.
und Erziehung
würden
ein
Nun
gibt es mehrere
Einwände,
mit denenStadtplanung,
ich mich kurz
auseinandersetzen
Ein Einwand
lautet
stärkeres
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und
würden
auch
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nicht
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Laut
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z. B.
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und
Jugendlichen,
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werden.
Bei
Jugendlichen
angesehene
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wie
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Mensch
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bei
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Einwand
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dassnur,
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und andere
Parteien
das
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z.
Umweltschutzorganisationen
würden
auch
mehr
politisches
Gewicht
erhalten.
Erwachsene
würden
69
Prozent,
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Hartz-IV-Haushalten
bei
64
Prozent
undmanipulierbar.
bei
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Prozent,
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noch
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als bei
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macht,
es
noch
kein
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dieses
Recht
zu entziehen
und
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gar
nicht
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sich
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zu profitieren.
Man
muss
das
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völlig
unabhängig
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solchen
Noch
ein
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Einwand:
Jugendliche
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Es
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dieser
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oder
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das
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ernster
zu nehmen
ihnen
eine
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den
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Jungwählern.
Niemand
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SPD
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dass
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B.
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leichter
zu
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oder
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als
18-Jährige.
Auch
Vorsitzende
Christa
Müller:
Vielen
Dank!
– Bevor
dem
nächsten
Anzuhörenden
das
Wort
gebe,
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und
Pflichten
und
von
Präferenzen.
Politik
würde
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der
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der
füllen.
Mit
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könnte
man
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auch
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und
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oder
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das
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zu
entziehen.
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würde
sich
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an den
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fassen.
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hatte
bei
den
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von
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bei
der
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noch
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wird
nicht
nach
der
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gefragt,
und
was
bei
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Fall
ist,
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noch
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die
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des
Ausschusses
fürzum
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Rechtsangelegenheiten
sowie
Schule,
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Freundeskreis,
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damit
würden
sich
die
jungen
Menschen
auch
viel
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ihrer
Rechte,
ihrer
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eigentlich
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das
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nur
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weil
eine
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vorliegt,
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was
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der
Wahl
im
Jahr
2009
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ich
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16-Jährigen
erst
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nicht
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Fall
sein.
Studien
zeigen
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dass
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des
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sehe,
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Verantwortung
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von
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Recht
Gebrauch
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ich
glaube,
wir
wollen
kratischen
Grundsätzen
widerspricht.
–16Die
Absenkung
des
Wahlrechts
hat
den
Vorteil,
dass
ehrlich
weiß,
ob
das
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ab
der
SPD
jetzt
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wird
nicht,
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die
Senkung
des
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Ablösung
vom
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beginnt
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der
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das
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und
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demokratischer
Auseinandersetzung
konfrontiert
sind,
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von
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an
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die
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dass
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Partizipationswille
beiWahlen
diesem
Recht
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zum
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mit
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würden.
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diese
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13-Jährigen
gleichaltrigen
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als
die anscheinend
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ergreifen?
– ersten
Bitte
schön,
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nur
drei
bis
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vorhanden
ist,
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wird,
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mit
einbezogen
werden.
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der
schon
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während
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diskutieren,
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nicht.
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Beispiel
ein ziemlich
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der
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würde
sagen:
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du
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SPD nützt
oder
die
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imbietet
Zweifelsfalle
die
Abgeordnetenhaus von Berlin
16. Wahlperiode
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Mark Medebach (Netzwerk „Wahlalter 16“): Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Name ist Mark Medebach. Ich bin Vorsitzender des Landesjugendrings Berlin. Ich musste gerade feststellen, dass mein Vorredner
mir schon einige Argumente abgenommen hat. Dementsprechend wird mein Vortrag vielleicht etwas kürzer
ausfallen als gedacht. – Das Netzwerk „Wahlalter 16“, für das ich heute spreche, setzt sich aus
13 Jugendorganisationen und Dachverbänden zusammen. Dazu gehören Jugendverbände, Parteijugendorganisationen, Jugendbeteiligungsprojekte und NGOs. Das Netzwerk ist überparteilich und setzt sich für die
Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre auf Landesebene in Berlin ein. Unser Ziel ist eine dahingehende Änderung der Landesverfassung noch vor der nächsten Abgeordnetenhauswahl. Auf Bezirksebene
gibt es seit der letzten Wahl in Berlin das Wahlalter 16. Bei der Wahl der Bezirksverordnetenversammlung
vor fünf Jahren lag die Wahlbeteiligung der 16- und 17-Jährigen bei 45,6 Prozent. Damit kann man sagen,
dass die Wahlbeteiligung bei den 16- und 17-Jährigen sich nicht besonders von der Wahlbeteiligung der 18bis 25-Jährigen unterscheidet. Die Erfahrung mit der Absenkung des Wahlalters für die Wahlen auf kommunaler Ebene in Berlin spricht also für eine Absenkung des Wahlalters auch auf Landesebene auf 16 Jahre.
Zudem gehen wir davon aus, dass das Interesse an Wahlen durch das Recht, wählen zu dürfen, eher steigen
als sinken würde. Zu den Wahlergebnissen bei den 16- und 17-Jährigen gibt es durch den Landeswahlleiter
keine Auswertung. Nach Auffassung des Netzwerks „Wahlalter 16“ kann es aber auch kein Entscheidungskriterium sein, welche Parteien 16- und 17-Jährige wählen würden. Wie mein Vorredner schon gesagt hat, ist
die Befürchtung, dass Jugendliche eher rechtsextreme Parteien wählen würden, unbegründet, wie unser Projekt beim Landesjugendring U-18 deutlich gezeigt hat.
Wir setzen uns vor allem für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ein, weil wir der festen Überzeugung sind, dass Jugendliche, die massiv von politischen Entscheidungen betroffen sind, auch die
Möglichkeit haben müssen, diese mit beeinflussen zu können. Der Landeswahlleiter kommt in seiner Auswertung zur letzten Wahl des Abgeordnetenhauses zu der Erkenntnis – Zitat:
Ältere Menschen haben einen stärkeren Einfluss auf das Wahlergebnis als die jüngeren. Nicht nur ihre
Beteiligung an der Wahl ist höher, sondern als Folge der demografischen Entwicklung auch ihr Anteil
an den Wahlberechtigten.
– Durch eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre sollte diese Entwicklung zumindest ein kleines bisschen korrigiert werden, denn junge Menschen sind von politischen Entscheidungen genauso betroffen wie
Erwachsene, langfristig gesehen sogar mehr. Wir halten den verfassungsmäßigen Grundsatz, dass in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt wird, für maßgeblich und denken, dass
eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre auf Landesebene ein Schritt zur weiteren Umsetzung dieses
Verfassungsgrundsatzes ist. – Vor diesem Hintergrund muss eigentlich nicht begründet werden, warum 16und 17-Jährige wählen dürfen, sondern die Gegner einer Absenkung müssen begründen, warum sie denn den
jungen Staatsbürgern ein so elementares Grundrecht vorenthalten wollen.
Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht ist es im Übrigen sehr wohl möglich, Volljährigkeit und Wahlalter
voneinander zu trennen. Das war bereits von 1970 bis 1975 so, als das aktive Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt
wurde, junge Menschen aber erst mit 21 Jahren volljährig waren. Die Altersgrenzen im zivilen Strafrecht
stellen einen Schutz junger Menschen dar. Wahlen sind aber sicher nichts, wovor junge Menschen geschützt
werden müssen. Zudem unterscheidet sich das Wahlrecht vom Deliktrecht grundsätzlich darin, dass im Deliktrecht auch bei Erwachsenen die Einsichtsfähigkeit ein generelles Kriterium, das die Schuld vermindern
kann, darstellt. So kann eine unter Alkohol begangene Straftat anders bewertet werden als dieselbe Tat, die
im nüchternen Zustand begangen wird. Bei Wahlen ist das anders. Eine unter Alkoholeinfluss abgegebene
Stimme bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus zählt nicht weniger als eine nüchterne Stimme. Die Altersgrenzen im Deliktrecht gibt es einzig und allein aus Gründen der Praktikabilität, um bei Jugendlichen nicht
wie bei Erwachsenen in jedem Einzelfall die Einsichtsfähigkeit prüfen zu müssen. Einsichtsfähigkeit kann
also kein Kriterium für die Zu- oder Aberkennung des Wahlrechts sein. Wie mein Vorredner schon gesagt
hat, dürfen 14-Jährige über Religion entscheiden, einer Partei beitreten, 16-Jährige dürfen heiraten usw. Ich
würde sagen, diese ganzen Entscheidungen, die schon früher getroffen werden können, sind meines Erachtens Entscheidungen, die eine hohe Einsichtsfähigkeit voraussetzen. – [Sascha Steuer (CDU): Immer für
sich!] –
Ein letzter Punkt: Wir setzen uns im Zusammenhang mit der Frage des Wahlalters auch für den Ausbau politischer Jugendbildung ein. Das kann aber im Umkehrschluss nicht heißen, dass die Absenkung des Wahlal-
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Wahlalters von der politischen Kompetenz abhängig gemacht wird. Dies wird bei Erwachsenen auch nicht
gemacht. Daher ist das Argument, Jugendliche seien womöglich politisch schlecht informiert oder besonders
leicht zu beeinflussen, in keinster Weise stichhaltig. Das betrifft Erwachsene ganz genauso. – Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit!
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Herr Medebach! – Jetzt hat Prof. Hurrelmann das Wort. – Bitte, Herr
Professor!
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance): Dank sehr für die Einladung! – Ich beschäftige mich seit vielen Jahrzehnten mit dem politischen Interesse von jungen Leuten. Das Thema müssen
wir in der wissenschaftlichen, aber Sie auch in der politischen Praxis sehr ernst nehmen, denn wir leben
davon, dass die nächsten Generationen Demokratiebefürworter sind und auch die Spielregeln des demokratischen und parlamentarischen, durch Parteien gestützten Systems nachvollziehen können. Es ist schon
beunruhigend, wenn wir sehen, dass alle Studien, auch die Shell-Jugendstudien, an denen ich beteiligt bin,
ein Absinken des politischen Interesses der jungen Leute zeigen. Das haben wir in den Neunziger Jahren
noch auf einem Niveau gehabt, auch um die Vereinigungszeit herum, von fast 60 Prozent. Das ist eine sehr
bewährte Frage, die in allen Bevölkerungs- und Altersgruppen gestellt wird: Wie stark interessierst du dich,
interessieren Sie sich für Politik? Das wird mit verschiedenen Instrumenten abgemessen. Wie gesagt: Wir
hatten in den Neunziger Jahren fast 60 Prozent, und dann ist das abgestürzt von 2002 auf 2006 auf bis zu
34 Prozent – ein absoluter Tiefpunkt, seitdem es diese Untersuchungen gibt. Das ist beunruhigend, weil das
zeigt, dass diese junge Generation – in den Shell-Jugendstudien sind es die 12- bis 25-Jährigen – keine Beziehung zu der organisierten Politik, auch nicht zu den Parteien und Parlamenten hat. Die Studien zeigen
weiter, wenn es ihnen wirtschaftlich schlecht geht, dann stellen sie sogar die Demokratie infrage. Ich möchte
das als Hintergrund hier zu Protokoll geben. Wir haben es hier mit einem sehr wichtigen Faktor zu tun, nämlich: Wie können wir das interpretieren, dass die jungen Leute eine so gering gewordene Neigung, Zuwendung zu dem organisierten politischen Betrieb, von dem wir leben, der sich historisch so entwickelt hat,
haben?
Wir haben Hoffnungsschimmer. Die letzten Studien zeigen eine Bewegung. Es ist bei den jungen Leuten,
den 12- bis 16-Jährigen von 2002 bis heute ein Ansteigen des politischen Interesses zu beobachten. Wonach
das geht, ist unheimlich schwer zu sagen. Ob das einfache Zyklen sind, ob das mit Themen oder Lebenserfahrungen zusammenhängt, können wir in der Forschung nicht genau erkennen. Was wir erkennen können,
ist, dass die jungen Leute, die bis 18-Jährigen, die noch nicht das Wahlrecht nach heutiger Konstitution haben, eine seismografische Wahrnehmung von Politik haben. Sie gehen sehr intuitiv, sehr ganzheitlich an
politische Fragen heran. Es erscheint uns Älteren manchmal zu emotional und geladen mit eigenen Gefühlen,
aber sie geben damit gewissermaßen Trends vor, die über kurz oder lang auch in anderen Gruppen der Bevölkerung durchschlagen. Das war so bei ihrem geringen Politikinteresse. Das hat sich in anderen Bevölkerungsgruppen fortgesetzt. Das war so bei Themen. Sie haben ganz bestimmte Themen immer ganz
vorne gehabt, Umweltthemen, Klima, Lebenssituation sichern. Auch die haben anschließend gewonnen. Das
war so bei Parteipräferenzen. Ich kann an das anknüpfen, was meine Vorredner gesagt haben. Die Parteipräferenzen von jungen Leuten kann man erfassen. Die liegen ganz anders, als bei Erwachsenen ab 25, verteilen sich viel breiter auf alle Parteien. Aber wehe, wer glaubt, er könnte hier erkennen, dass da Links- oder
Rechtsströmungen drin sind. Das ist nicht der Fall, sondern es ist eine breite Verteilung in verschiedene
Richtungen zu erkennen. Wer wissen will, wohin die Entwicklung in der ganzen Republik geht, ist eigentlich
gut beraten, diese intuitiv politischen Wertungen der jungen Leute zu befragen.
Wir haben eine Veränderung auch beim freiwilligen politischen Engagement, denn das politische Interesse
an dieser organisierten Politik ist gesunken, so wie ich es dargestellt habe, es ist aber ganz und gar nicht gesunken bei diesen punktuellen spontanen Aktivitäten. Da ist es ist sogar mehr geworden, und das ist auch
politisches Aktivsein. Also, Vorsicht mit einer ganz frühen Bewertung. Das musste ich mir auch immer wieder sagen, weil ich erst so enttäuscht war von diesen Ergebnissen. Also, Unterschriftenlisten, Schreiben zu
politischen Themen, mal einen Boykott machen, weil man mit der politischen Entscheidung, die dahinter
steht, nicht einverstanden ist, von Waren, Protestversammlungen, Bürgerinitiativen, sich im Internet politisch
äußern, sehr lebendig, sehr aktiv und schließlich auch im allgemeinen sozialen Engagement. Das möchte ich
vorweg einmal sagen, um Ihnen zu zeigen, dass da Leben ist. Da ist Bewegung drin. Es zeigt sich, dass die
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jungen Leute sehr sensibel auf alle Tendenzen in unserem politischen Leben eingehen, ohne in der Weise
politisch zu sein, wie wir Älteren das erst mal so gelernt haben und wie wir das kennen. Es lohnt sich. Deswegen ist es nur fair ihnen gegenüber, sehr genau hinzuschauen und die ganze Breite des Engagements zu
sehen.
Darin spiegelt sich – jetzt komme ich zu Ihrem eigentlichen Thema Wahlrecht – eine Veränderung auch im
historischen Blick, denn diese jungen Leute sind heute durch die Verfügbarkeit von Nachrichten, durch die
sehr beweglichen Zugänge zu Informationen sehr viel besser informiert als eh und je. Dahinter steht noch
eine ganz tief verankerte Entwicklung, eine Beschleunigung der Gesamtentwicklung. Wir haben seit 1900
eine Vorverlagerung der Pubertät in allen westlichen Gesellschaften. Das liegt wahrscheinlich an der gesamten Anregung, auch an der Anregung durch Ernährung. Es wird der Hormonhaushalt beschleunigt, und es
kommt früher zu einer Entwicklung zum jungen Mann und zur jungen Frau. Das ist eine körperliche Entwicklung, es ist aber auch eine kognitive, eine intellektuelle, eine soziale, eine emotionale damit verbunden.
Man muss sagen, heute wird man schneller reif, gemessen an den traditionellen Maßstäben. Das durchschnittliche Alter hat sich von 1900 etwa von 14,5, 15 Jahren auf 12,5 bei den Mädchen, 13,5 bei den Jungen
verschoben. Man wird heute früher junger Erwachsener, als das jemals zuvor der Fall war. Das ist für mich
als Entwicklungsforscher ein ganz wichtiges Datum und erklärt auch die Verschiebungen im politischen
Interesse.
Bei der Frage: Wem geben wir ein Wahlrecht? – ziehen wir heute – das haben meine beiden Vorredner gesagt – eine Grenze und klammern bestimmte Bevölkerungsgruppen aus. Wir sprechen hier von einem Ausklammern nach einer biologischen Altersmarke, heute sind es 18 Jahre, und die muss sehr gut gerechtfertigt
sein.
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Das Wahlrecht halte ich für ein unheimlich hohes Gut. Das ist ja das Elixier für so eine demokratische Gesellschaft, wie wir sie zum Glück seit über 60 Jahren sind. Wir müssen also gute Gründe dafür haben, dass
wir sagen: Wir setzen ein biologisches Alter fest, ein nominelles Alter, ab dem erst wird dieses prominente
Wahlrecht zugesprochen. Sie können aus meiner Argumentation schließen, dass es gute Gründe dafür gibt,
auch wenn man sich über Einzelargumente streitet, zu überlegen, ob man von 18 runtergehen kann, weil die
Pubertät sich nach vorne verlagert hat – das ist ganz klar messbar an verschiedensten Größen –, weil sich
dadurch auch die Fähigkeit, über einzelne persönliche lebenswichtige Dinge zu entscheiden, verschoben hat.
Die ist naturgemäß stärker geworden mit einer solchen Entwicklung. Die Urteilsfähigkeit einzuschätzen, was
das bedeutet, dass ich bei einem Wahlakt einer Partei oder einem Kandidaten oder einer Kandidatin meine
Stimme gebe, ist auch früher da, als es vorher der Fall war. Jedes Mindestwahlalter kann immer nur eine
Annäherung sein und einen Durchschnitt fassen. Das ist mir völlig klar. Ich bin aber der persönlichen Auffassung, auf der Basis dessen, was ich in der Forschung über junge Leute sehe, dass wir ohne Weiteres
riskieren können, von 18 auf 16 herunterzugehen. Viele andere Länder haben das schon angefangen. Das
entscheidende Argument darf nicht sein, das kann ich alles nur bestätigen, das geht demokratietheoretisch
und auch rechtlich meiner Ansicht nach nicht: Wie hoch ist die Beteiligung? Wie ist das Interesse? Was
würde passieren, wenn? Das ist nicht das Argument, sondern das ist eine Verfassungsfrage, eine Menschenrechtsfrage. Welchen Menschen räumen wir dieses hohe Gut ein, die demokratischen Entscheidungsgremien
zu bestimmen? – Da würde ich klar sagen: Wir dürfen – ich plädiere auch dafür schon seit fast 20 Jahren –
heruntergehen mit dem Mindestwahlalter, weil wir eine deutliche Veränderung in der ganzen Art und Weise
beobachten können, wie junge Leute mit ihrer Welt umgehen. Die Urteilsfähigkeit, die Entscheidungsfähigkeit, das zu entscheiden, was bei einer Wahl passiert, ist gegeben. Sie liegt weit vor 16, wenn man es ganz
eng sieht. In den Studien ist sie schon einige Jahre zuvor bei den Allermeisten gegeben, sodass eine Alterspanne von 16 heute schon in einer sicheren Zone liegt.
Alles andere, was gesagt wurde, kann ich bestätigen. Wir wissen, was passiert, wenn wir den jüngeren
Leuten eine Stimme geben. Wir können erkennen, welche Akzentsetzungen damit verbunden sind, aber alles
das darf nicht zählen. Wir dürfen nicht vom Ende her denken, sondern müssen vom Anfang her denken.
Welches Recht haben wir, über eine Setzung eines Alters bestimmte Gruppen auszuschließen, und wie ist
das begründet? Wir haben dieses Recht. Ich bin gegen ein Wahlrecht von Null an, wie es auch manchmal in
der Verfassungsdiskussion früher diskutiert wurde, sondern ich glaube, dass es klug ist, zu überlegen: Wann
ist die Urteilsfähigkeit in der normalen menschlichen Entwicklung gegeben? Wir sind aber auf der sicheren
Seite, wenn wir uns entscheiden, auch in Deutschland und Sie hier in Berlin für das Landesparlament von 18
auf 16 Jahre herunterzugehen, aus den Gründen, die ich Ihnen nannte.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Prof. Hurrelmann! – Ich eröffne die Aussprache nach Fraktionsstärke. Wer beginnt für die SPD? – Frau Scheeres, bitte!
Sandra Scheeres (SPD): Ich habe auch einige Nachfragen. Bei mir in der Partei ist es so, dass wir einen
Parteitagsbeschluss zu diesem Thema haben. Wir haben beschlossen, das Wahlalter auf 16 zu senken. Hier
im Abgeordnetenhaus in unserer Fraktion sind wir noch im Diskussionsprozess. Das muss ich ganz klar
sagen. Das ist jetzt in den einzelnen Facharbeitskreisen, und deswegen finde ich es gut, dass wir hier eine
Anhörung machen. Ich sage auch ganz ehrlich, dass es in meiner Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu
diesem Thema gibt, dass da noch Fragen offen sind. Viele Punkte sind angesprochen worden. Das Thema
Reife – ich fand es gut, dass Sie das sehr intensiv ausgeführt haben. Es gibt Leute in meiner Fraktion, die
sagen: Junge Menschen in dem Alter sind noch nicht reif. – Immer wieder ist Mündigkeit bei uns ein Thema,
nach dem Motto: Wenn wir das Wahlalter senken, dann müssen wir auch das Mündigkeitsalter senken, die
Strafmündigkeit usw. – Dazu hätte ich gerne noch mal etwas von Herrn Hurrelmann gehört. Im Grunde hatte
er schon etwas dazu gesagt. Also, nach dem Motto: Wenn man das Wahlalter auf Landesebene senkt und wir
auch weitreichende Beschlüsse hier fassen. Wir beschließen Gesetze, die weitreichende Auswirkungen haben. Das ist noch einmal ein bisschen anders, als auf der BVV-Ebene, wird dann begründet. Die BVV ist
lebensnah, und es sind andere Beschlüsse, die man dort fasst. Wie sehen Sie das? Das fände ich noch mal
ganz gut.
Gut fand ich auch noch den Punkt mit den Medien, der angesprochen worden ist. Ich finde es schade, dass es
noch mal medial aufgegriffen wird, nach dem Motto: Die Parteien wollen das nur, damit sie Stimmen fan-
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fangen. – Ich glaube, das ist den jungen Menschen gegenüber nicht gerecht, denn es muss eigentlich um die
Sache gehen, und auch uns muss es um die Sache gehen. Deswegen fand ich es auch noch mal ganz schön zu
hören, dass – was ich persönlich doof finde bei den Jugendlichen – wir da stimmenmäßig abgenommen haben, aber bei dem Thema ist es egal, sondern es geht wirklich um die Sache, ob man das Wahlalter haben
möchte. In dem Zusammenhang finde ich das Thema Partizipation im Allgemeinen wichtig. Es geht nicht
nur um das Wahlalter, sondern: Was bieten wir den jungen Menschen an Beteiligung noch nebenher an,
damit sie sich informieren können und in unserer Gesellschaft auch anderweitig beteiligen können, wie
Jugendverbände oder Projekte? Das finde ich begleitend total wichtig, auch die Information und Aufklärung
in der Schule, wo ich z. B. auch festgestellt habe, dass, wenn junge Menschen diese Möglichkeit haben, sie
sich viel mehr über die Parteiprogramme informieren als manch anderer Erwachsener. Das finde ich beachtlich. – Das waren die Punkte. Die rechtliche Einordnung finde ich noch mal ganz interessant zu wissen. –
Danke!
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Frau Scheeres! – Wer spricht für die CDU? – Frau DemirbükenWegner, bitte!
Emine Demirbüken-Wegner (CDU): Vielen Dank! – Ich danke auch den Experten, die dazu gesprochen
haben. Ich würde gerne an Sie drei zunächst einmal grundsätzlich eine Frage stellen wollen. Wo liegt für Sie
die Grenze des Wahlalters? Das würde mich erst mal interessieren. – Herr Prof. Hurrelmann! Ihre Ausführungen fand ich sehr interessant, insbesondere im Hinblick auf das jugendliche, selbstverständlich andere
Agieren, viel intuitiver an das Thema herangehen und somit teilweise auch Trends angeben. Sie haben einen
Satz gesagt: Ohne politisch zu sein, agieren sie, aber sie sollen doch politische Entscheidungen treffen. Wie
lässt sich diese Aussage mit politischen Entscheidungen für das Gemeinwesen verbinden? Da bin ich ein
bisschen ins Schleudern gekommen. Ich kann keine Brücke dazwischen sehen, denn nur mit Trends kann
man meines Erachtens für das Gemeinwesen keine verantwortungs- und zukunftsorientierte Politik machen,
aber klären Sie mich bitte als Wissenschaftler da auf.
Des Weiteren würde ich gerne wissen, weil Sie auch in die Psyche der jungen Menschen hineingestiegen
sind: Sie haben gesagt, wie wichtig das für die jungen Menschen ist. Was verlieren junge Menschen an ihrer
Intuitivität, wenn sie nach zwei Jahren, sprich mit 18 Jahren, zur Wahlurne gehen? Was passiert in den zwei
Jahren mit dem jungen Menschen, weil er nicht wählen darf? Entsteht Politikverdrossenheit? Entstehen Depressionen? Entsteht Frust? Ich würde es gerne wissen, denn wir reden hier über eine Zeitspanne von zwei
Jahren. Ich möchte mich einfach aufklären lassen, und wenn wir schon einen Wissenschaftler hier haben,
dann sollten wir das auch nutzen. Ich würde gerne wissen, was diese zwei Jahre im Leben eines jungen Menschen ausmachen, wenn sie diese intuitive Emotion nicht loswerden können.
Sie haben von einem Risiko gesprochen. Man sollte es riskieren. Sollte man es wirklich riskieren, politische
Entscheidungen zu treffen, nur auf Emotionen basierend? Da bitte ich auch um eine Antwort. – Ich bin Ihnen
dankbar, dass Sie die jungen Menschen so differenziert dargestellt haben. Ich war doch ein bisschen erschrocken über die Aussage von Herrn Gründinger, der gesagt hat: Es ist unerheblich, ob sie wählen wollen
oder nicht. – Das fand ich schon sehr erschreckend, aber: Wie beurteilen Sie denn Umfragen unter Jugendlichen, unter wissenschaftlichem Aspekt, die auch Skepsis gegenüber der Senkung des Wahlalters aussprechen? Auch solche repräsentativen Umfragen gibt es. Die kann man nicht abtun im Sinne von: Die sind
unerheblich, nur weil sie nicht in unseren Kontext hineinpassen. Das finde ich ein bisschen zu schief und zu
gewagt in der These. Wie geht man mit diesen jungen Menschen um, die auch diese Skepsis anmelden?
Dann würde mich insbesondere von Herrn Gründinger und Herr Medebach interessieren: Ich war auch an
sehr vielen Schulen, wo die politische Aufklärung im Rahmen des Rahmenprogramms Unterrichtseinheit
viel zu wenig behandelt wird, insbesondere auch die U-18, wo Schulen teilweise nicht mal eine Vorbereitungs- oder Nachbereitungszeit, geschweige eine Ausarbeitungszeit diesbezüglich haben. Wie läuft die politische Aufklärung an den Schulen? Was sind ihre Defizite aus Ihrer Sicht? Was sind die Erfolge aus Ihrer
Sicht? Haben sie jetzt diesen Stand erreicht, wo Sie sagen: Wir haben die Jugendlichen so fit, dass sie im
politischen Prozess auch mit 16 wissen, wo es für sie langgeht und nicht nur emotional reagieren, sondern
auch sachbezogen auf Themen agieren können. – Das würde mich insbesondere von Ihnen beiden interessieren. – Danke!
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Vorsitzende Christa Müller: Danke, Frau Demirbüken-Wegner! – Frau Herrmann, bitte!
Clara Herrmann (Grüne): Vielen Dank, Frau Vorsitzende! – Vielen Dank auch an die Anzuhörenden! Ich
denke, es ist deutlich geworden, dass die Wahlaltersenkung längst überfällig ist und dass das in diesem Hause auch alle Kritikerinnen und Kritiker erreichen sollte, in den Reihen der anderen Fraktionen. Dass meine
Fraktion schon sehr lange für die Wahlaltersenkung auf 16 ist, ist allgemein bekannt. Wir haben einen dementsprechenden Antrag bereits letztes Jahr in dieses Haus eingebracht. Es ist für uns nicht verständlich, dass
16- und 17-Jährige in Berlin bei den Kommunalwahlen, also die Bezirksverordnetenversammlungen, wählen
dürfen, da spricht man es ihnen also zu, ein Urteil bilden zu können, aber bei den Abgeordnetenhauswahlen
wird ihnen dieses Recht verwehrt. Wenn ich die Debatte hier etwas nachempfinde, auch gerade vonseiten der
CDU, dann hat man eher das Gefühl: Worüber reden wir hier eigentlich? Reden wir über ein Wahlrecht? Ihre
Argumentation führt aus meiner Sicht eher zu einer Wahlpflichtdebatte, dass man alle Menschen dazu zwingen sollte, zur Wahl zu gehen. Ich finde, genauso wie ich einen 61-Jährigen nicht zwingen kann, zur Wahl zu
gehen, darf ich es auch einem 16-Jährigen, der die Urteilsfähigkeit hat, nicht verwehren, zur Wahl zu gehen.
Ich finde, das ist die viel entscheidendere Frage.
Es ist schon angesprochen worden, und ich bin Ihnen sehr dankbar, Prof. Hurrelmann, dass Sie noch mal
gesagt haben: Die junge Generation ist nicht eine medienkonsumierende, im Internet lebende, saufende EgoShooter-Generation, sondern sie interessiert sich sehr wohl für das Gemeinwohl und engagiert sich überdurchschnittlich in Jugendverbänden, ist aber allgemein, was das Politikinteresse bzw. die parteipolitische
Seite angeht, dem skeptisch gegenübergestellt. Wenn man aber Politik mehr aufgreift, als es das reine Parteipolitische ist, dann ist sie sogar überdurchschnittlich engagiert und setzt sich für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ein. Das ist das Entscheidende. Man muss an dieser Stelle auch sehen, zumindest ich erlebe
das, wenn ich mit Jugendlichen spreche: Sie haben ernst zu nehmende Anliegen. Sie interessieren sich für
die Zukunft. Sie interessieren sich für Klimapolitik, aber unter anderem auch für die Bildungspolitik. Sie
sitzen in diesen Schulen, über die wir hier entscheiden und „ertragen“ die Bildungspolitik, werden aber kaum
gehört, wenn es um diese Probleme geht. Sie interessieren sich auch, wenn es darum geht: Wer muss das
eigentlich alles bezahlen, was heutzutage beschlossen wird und wenn Schuldenberge aufgehäuft werden? –
Aber sie fühlen sich nicht ernstgenommen, weil sie merken: Am Ende zählt das Wahlergebnis, und darauf
haben 16- und 17-Jährige keinen Einfluss. Ich weiß nicht, inwieweit man das erkennen kann, dass vielleicht
auch diese Art dazu führt, dass neben der allgemein parteipolitischen Skepsis, die in der Gesellschaft über
diese Altersgrenze hinweg zu beobachten ist, auch der Aspekt, dass man sich nicht ernstgenommen fühlt,
dazu führt, dass man sich vielleicht ein bisschen distanzierter verhält gegenüber den Parteien.
Dann möchte ich noch mal das betonen, was Frau Scheeres auch angesprochen hat, die Debatte: Wem nützt
das hier? Wer profitiert davon politisch? – Ich denke, es ist deutlich geworden, alle Akteure nehmen das
Thema sehr ernst. Es geht hier um demokratische Grundrechte und nicht darum, wer profitiert oder wer nicht
profitiert. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das gesagt haben. – Um es auch noch mal deutlich zu sagen: In
Berlin macht diese Altersgruppe zwei Prozent der Wahlberechtigten aus. Ich würde jetzt nicht davon ausgehen, und davon gehen auch die Wahlanalytiker aus, sie haben keinen entscheidenden Einfluss auf ein
Wahlergebnis. Es geht hier um Grundrechte, die man Menschen zugesteht oder nicht.
Einige Fragen möchte ich noch mal wiederholen: Wir erleben immer wieder in den Diskussionen die politische Unreife. Dass Sie vielleicht dazu noch mal zwei Sätze sagen. Vielleicht können Sie das auch noch ein
bisschen evaluieren. Das Wahlrecht ist in den letzten Jahrhunderten durchaus erweitert worden, wenn wir
z. B. an das Frauenwahlrecht denken. Diese Wahlrechtserweiterungen waren nicht immer unumstritten. Man
kann von Glück sprechen, dass heute niemand mehr Frauen aberkennt, ob sie wählen gehen können oder
nicht. Es war immer auch eine Debatte um die politische Reife, die dahinter stand. Es wurde immer das
Wahlrecht errungen gegen die Argumentation, man sei politikunreif. Vielleicht könnten Sie darauf noch
eingehen, ob Sie das ähnlich empfinden bei den Debatten, die wir hier erleben, und auf diese unterschiedlichen Altersgrenzen, die im Gesetz verankert sind, seien es die Strafmündigkeit, die Religionsmündigkeit
mit 14 oder andere Alterstufen und auch noch mal die Frage Volljährigkeit und Wahlrecht. – Danke!
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Frau Herrmann! – Frau Weiß, bitte!
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Mari Weiß (Linksfraktion): Erst einmal von meiner Fraktion herzlichen Dank für die Ausführungen. – Ich
will auch auf drei Punkte eingehen. Ich glaube, die Spreizung, die am schwierigsten zu begründen ist, ist,
wieso dieses Parlament in der Lage war, die Kommunalwahlen ab 16 einzuführen und es trotzdem im Moment noch nicht schafft, das auf Landesebene anders zu machen, ob dafür irgendjemand – es kann ja sein,
dass es mir abhanden gekommen ist – eine sinnvolle Begründung liefern kann, angesichts dessen, dass wir
Bezirke haben, die größer sind als die meisten ostdeutschen Großstädte. Das heißt, die Bürgernähe kann sicher kein Argument sein. Da müsste man vielleicht auch noch mal gucken, wie man das begründen kann,
auch vor dem Hintergrund, dass Berlin ein Stadtstaat ist und folglich eine Landeswahl damit auch eigentlich
die städtische Kommunalwahl wäre.
Dann will ich noch mal auf diesen verfassungsrechtlichen Aspekt eingehen. – Angesichts dessen, wir haben
auch die Stellungnahme des Deutschen Kinderhilfswerks vorliegen, ist es immer wieder eine Frage, ob diese
Mindestwahlalterdebatte nicht auch dem Grundsatz der allgemeinen Wahl widerspricht. Angesichts dessen,
was Sie hier ausführen, ist es meines Erachtens nicht eine Frage, dass man das Bundesland Berlin überzeugen müsste, sondern wo man ernsthaft die Frage stellen müsste, ob denn das jetzige Ausschließen einer
Bevölkerungsgruppe vom Wahlrecht verfassungsrechtlich überhaupt noch über längere Zeit zu halten ist. Ich
finde es im Moment noch sehr schwierig, dass wir immer argumentieren müssen, wieso wir das in Berlin
einführen möchten und dann auf Bremen verweisen und Österreich usw. Ich finde angesichts dessen, was Sie
ausgemacht haben, dass wir mittlerweile auch bei der Reifedebatte weit unter 16 angekommen sind, ob es
überhaupt noch in irgendeiner Weise haltbar ist, diese Debatte in dieser Richtung zu führen oder ob man sich
da nicht als Demokrat in leicht undemokratisch bis verfassungswidrige Gebiete begibt, wenn man quasi ein
Grundrecht grundsätzlich auch für Leute ausschließt. Wir haben nun mal die Situation, dass wir eine Bundesrepublik sind mit 16 Einzelstaaten und damit natürlich auch als Berlin eine Staatsverfassung haben. Dieser
möchte ich natürlich auch Genüge tun.
Dann habe ich noch eine Frage zu den Jugendverbänden, insbesondere zu den Parteijugendverbänden. Da ist
zumindest mein Gefühl, dass das Aktionsalter in den Jugendverbänden auch massiv nach unten gerutscht ist.
Wenn ich mir meinen Jugendverband angucke, dann ist es bei weitem nicht mehr so, dass die aktive Gruppe
die über 18-Jährigen sind, sondern es ist gerade diese Gruppe von 16- bis 18-Jährigen – dazu kann vielleicht
der Landesjugendring noch mal etwas sagen –, die auch in den Parteijugendverbänden besonders aktiv sind.
Es scheint so zu sein, dass sich die Jugendlichen bewusst in diesem Alter Parteien suchen, und wenn es eben
die Parteijugendverbände sind. Das ist etwas, was mir persönlich aufgefallen ist. Ob sich das auch so im
Landesjugendring bestätigen lässt, dass man sagt: Es sind nicht mehr die über 18-Jährigen, die so aktiv sind,
sondern man sieht es auch an der Verbandsorganisation, dass es sich nach unten begibt.
Die letzte Sache an Herrn Hurrelmann: Ich versuche immer, ein bisschen nachzuvollziehen, wie man zu dieser Debatte kommt, dass man Jugendlichen eine gewisse Reife abspricht. Sie hatten gesagt, dass Sie in Ihren
Studien festgestellt haben, dass das natürlich ein ganz anderes, ein viel emotionaleres Politikverständnis ist.
Daher meine Frage: Jetzt ist es demokratietheoretisch so, dass gerade in den letzten 20 Jahren diese hochgelobte Rationalität der Politik und der Demokratie eine leitende Theorieströmung geworden ist. Es ist durchaus so, dass in vielen Jahrhunderten zuvor man der Politik die Irrationalität, die sie auch hat, und die Emotionalität nicht abgesprochen hat, wie man es jetzt tut. Ob Sie darauf noch einmal eingehen können, inwiefern
es vielleicht auch angesichts solcher Debatten wieder eine Möglichkeit gibt, dieses – meines Erachtens –
völlig überholte rationale Demokratieverständnis dann auch mal anzugreifen und zu sagen: Jede persönliche
und politische Entscheidung muss eine emotionale Entscheidung sein. Man kann jetzt nicht an Rationalitätsgrundsätzen plötzlich anfangen, Grundrechte zu messen.
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Frau Weiß! – Frau Senftleben, bitte!
Mieke Senftleben (FDP): Vielen Dank! – Frau Weiß! Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie eigentlich: Das Wahlalter spielt keine Rolle. – Die Frage ist: Warum 18, warum 16? Ich glaube, das sieht Herr
Prof. Hurrelmann nicht so. – Aber auch an Sie, Herr Prof. Hurrelmann: Fühlen sich junge Menschen diskriminiert, ausgeschlossen, nicht ernstgenommen, wenn Sie nicht wählen dürfen, zwei Jahre lang, also bis 18?
Das ist für mich wirklich eine ernsthafte Frage, denn wir in der FDP haben auch zwei Auffassungen. Die
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Jungen Liberalen sagen ganz klar: Wahlalter auf 16 runtersetzen. Die FDP Berlin sagt: Wahlalter nicht runtersetzen, auf 18 lassen. Ich persönlich bin da so ein bisschen zwischen Baum und Borke. Ich gestehe das frei
heraus, auch aus positiven persönlichen Erfahrungen, sehe aber auf der anderen Seite sehr deutlich die Kombination oder das Problem mit der Volljährigkeit. Mir leuchtet es nicht ein, dass wir auf der einen Seite sagen: Du darfst wählen, Sie dürfen wählen, auf der anderen Seite aber sagen: Du bist nicht verantwortlich für
irgendetwas. – Ich sage das mal ganz deutlich. Das ist auch ein Problem, das ich habe, denn die Menschen
wollen wählen und auch wählbar sein. Das gehört für mich auch dazu – passives und aktives Wahlrecht.
Spätestens dann, bei dem passiven Wahlrecht, muss doch auch die Frage geklärt sein: Kann der- oder diejenige auch Verantwortung bis zum letzten Groschen übernehmen? So will ich es mal etwas flapsig ausdrücken. Das ist für mich eine wichtige Frage.
Für mich spielt es überhaupt keine Rolle, ob Parteien davon profitieren. Das finde ich im Grunde genommen
eine beschämende Frage. Ich weiß sehr wohl, dass es bei vielen eine Rolle spielt. Das ist mir durchaus völlig
klar, dass auch hier Klientelpolitik betrieben wird, aber für mich persönlich ist es so, und das finde ich auch
einen wichtigen Hinweis von allen Dreien, dass dieses keine Rolle spielen darf. Da versuche ich auch mal
ein bisschen idealistisch und optimistisch zu denken, wenn ich auch weiß, dass es so nicht richtig ist. – Noch
mal zu Ihnen, Herr Prof. Hurrelmann: Sie sagen, die Politikbegeisterung hat in den Jahren von 1992 bis 2006
von 62 oder 60 oder 65 auf 32 oder 34 Prozent abgenommen. Auf der anderen Seite ist die Partizipation ja
größer geworden. Ich muss ehrlich sagen, ich finde diesen Weg, den die Jugend da geht, dass sie sich intensiver engagiert, nicht gleich in Parteien, sondern dass sie sucht, gerade in den Jahren von 16 bis 18, nach
Bindungen außerhalb, über Projekte, manche auch über Jugendorganisationen in den Parteien, positiv, raus
aus dieser Politikverdrossenheit, hin zu Wegen: Wie kann ich mich andererseits engagieren?
Insofern sehe ich das schon so ein bisschen skeptisch, wenn wir den Jugendlichen jetzt sagen: Das Einzige,
was dich zu einem vollwertigen Menschen macht, ist, dass du mit 16 Jahren zukünftig zur Wahl gehen
darfst. Damit habe ich Schwierigkeiten. Das sage ich hier ganz deutlich. Das würde ich gerne noch ein wenig
ausführlicher diskutiert wissen, denn ich finde es richtig oder ausgesprochen positiv, dass, was Frau Weiß
auch eben sagte, die Entwicklung dahingeht: 16- bis 18-Jährige engagieren sich außerhalb. Das ist für mich
eine völlig normale Entwicklung. Ich glaube, jeder, der zuhause Kinder hat und weiß, die Entwicklung ist da,
dass man gerade in dem Alter, wo man noch keinen Schulabschluss macht, noch nicht darauf hinarbeitet,
sondern im Grunde genommen auf dem suchenden Weg ist, dass man dann Engagement für andere Dinge
zeigt, für Parteien, Politik, Soziales, Umwelt, Wirtschaft, wie auch immer. Das halte ich für einen normalen
Weg, und der ist – glaube ich – früher genauso gewesen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich das
genauso gemacht habe. Für mich ist es das Hauptsächliche. Frage: Fühlen sich die Jugendlichen wirklich erst
ernstgenommen, wenn sie mit 16 wählen dürfen? – Das bestreite ich. Der Zusammenhang mit der Volljährigkeit ist auch für mich durchaus vorhanden.
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Frau Senftleben! – Auf meiner Redeliste stehen noch Frau Harant und
Herr Kohlmeier. Danach würde ich dann den Anzuhörenden noch mal das Wort geben. – Frau Harant, bitte!
Renate Harant (SPD): Danke, Frau Vorsitzende! – Ich bedanke mich für die gemachten Ausführungen, bin
aber ein bisschen enttäuscht, dass wir praktisch dreimal dieselbe Meinung gehört haben und hätte es eigentlich spannender gefunden, wenn hier auch ein Vertreter einer anderen Meinung gesessen hätte. Das nur als
Bemerkung nebenbei. – Ich habe ein paar Fragen. Meine erste Frage wurde schon gestellt, aber ich möchte
es noch einmal nachholen, damit es auch wirklich beantwortet wird. Ich frage alle Drei: Wo liegt für Sie die
Grenze nach unten? Wie weit würden Sie runtergehen mit einer Wahlberechtigungsgrenze? – Zweite Frage:
Würden Sie diese Grenze auch für die Bundestagswahlen für richtig halten? Bitte nicht nur auf Landtagswahlen begrenzen, sondern wenn schon, denn schon. – Dritte Frage: Die Mündigkeit wurde schon paar Mal
angesprochen. Da muss ich auch sagen: Klare Linie. Entweder ist die Reife da, über Dinge zu entscheiden,
die doch einen gewissen Anspruch haben, die für unsere Zukunft wichtig sind. Es gibt ganz viele Themen,
die im Wahlkampf dann auch besprochen werden. Wenn jemand diese Reife hat, warum darf er dann kein
Auto führen? Warum darf er dann nicht entscheiden, wen er heiratet? Was ist mit der Strafmündigkeit? Was
ist mit der Geschäftsfähigkeit? Er darf also bestimmte Geschäfte nicht tätigen, darf aber wählen. Für mich ist
das ein Widerspruch. – Letzte Frage: Es wird gelegentlich behauptet, Jugendliche würden eher zu extremistischen Parteien neigen. Gibt es hierfür aus Ihren Untersuchungen Bestätigung?
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Vorsitzende Christa Müller: Herr Kohlmeier, bitte!
Sven Kohlmeier (SPD): Es wäre mir von der Performance her lieber gewesen, wir hätten erst die Anzuhörenden gehört, und dann hätte ich meine Fragen entsprechend stellen können. – [Vorsitzende Christa
Müller: Sie können auch zurückziehen!] – Nein, machen wir gleich hinterher. Frau Scheeres hat ja öffentlich
vermittelt, im Protokoll nachlesbar, wie die Meinung in unserer Fraktion ist. – Erstens finde ich es ebenfalls
schade, wie Frau Harant sagte, dass ich es mir durchaus gewünscht hätte, auch für die eigene Urteilsfähigkeit
dieses Ausschusses, dass ein Vertreter eines Anzuhörenden vorne sitzt, der möglicherweise eine etwas
kritischere Meinung hat als das, was wir bisher gehört haben, obwohl es natürlich an uns selber liegt, die
Anzuhörenden zu benennen, sodass sich der Vorwurf auch ein Stück weit uns selbst richtet. Persönlich habe
ich mit den drei Anzuhörenden gar kein Problem und der Meinung, die sie entsprechend kundgetan haben. –
Dann doch die Nachfragen: Glauben die Anzuhörenden, dass es möglich sein könnte, wenn man Jugendlichen das Wahlalter 16 zuerkennt – – Das ist anders, als hier versucht wird, deutlich zu machen. Sie bekommen etwas, was sie bisher noch nicht haben. Der Eindruck, dass man ihnen bisher etwas weggenommen
hat, ist falsch. Sie würden ein zusätzliches Recht bekommen, das sie bisher noch nicht haben. Glauben Sie,
dass es sinnvoll sein könnte, zusätzlich Pflichten gegenüber den Jugendlichen neu zu diskutieren oder einen
neuen Pflichtenkatalog gegenüber Jugendlichen ab 16 zu diskutieren? Ich habe keine Meinung. Ich bin kein
Verfechter, der sagt: Sofort muss die Strafmündigkeit gesenkt werden, aber ein Jugendlicher, der nicht zur
Schule geht, wo bisher die Eltern das entsprechende Bußgeld oder eine Ordnungswidrigkeitsandrohung des
Bezirksamtes bekommen, wäre eine Geschichte, wo ich durchaus sage: Ist dann der Jugendliche dafür verantwortlich, wenn er z. B. nicht zur Schule geht? Glauben Sie, dass man mit der Senkung des Wahlalters
einhergehend auch eine Überprüfung der Pflichten gegenüber Jugendlichen machen muss?
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Zweite Frage: Ab wann könnte es aus Ihrer Expertensicht sinnvoll sein, wenn sich der Gesetzgeber zu einer
solchen Gesetzesänderung durchringt oder die Mehrheiten dafür absehbar sind? Ab wann sollte eine solche
Gesetzesänderung sein? Glauben Sie, dass es sinnvoll ist, dies schon zu den nächsten Wahlen im Jahr 2011
zu machen, oder glauben Sie, dass es sinnvoll ist, dies erst zu den Wahlen nach 2011 zur übernächsten Legislatur zu machen, möglicherweise auch mit dem Hintergrund, dass man sagt: Man sollte vielleicht mal
auswerten, wie denn eigentlich die fünf Jahre – wir haben dann fünf Jahre Wahlalter 16 zur Bezirksverordnetenversammlung –, dass man da gegebenenfalls eine Evaluierung oder Auswertung macht und das
Wahlalter 16 nicht sofort einführt? Da interessiert mich Ihre Meinung. Was halten Sie da für sinnvoll? – mit
einhergehend zu sagen, dass der Vergleich zwischen Wahlalter 16 BVV und Wahlalter Abgeordnetenhaus
für mich ein Stück weit natürlich hinkt. Die BVV ist kein Parlament. Die BVV ist eine nachgeordnete Verwaltungseinheit. Ich sehe da durchaus einen Unterschied zwischen der Wahl eines Parlaments und der Wahl
einer Bezirksverordnetenversammlung. Man könnte ja sagen: 14-Jährige können ein Jugendparlament
wählen, deshalb kann man das Wahlalter auf 14 senken. Da halte ich den Vergleich nicht ganz so für zutreffend.
Letzte Frage, die immer wieder in dem Zusammenhang diskutiert wird: Glauben Sie, mit einer Absenkung
des Wahlalters auf 16, dass man Kindern – die sind rechtlich Kinder – die Kindheit klaut, indem man ihnen
zumutet, sich früher mit Angelegenheiten zu befassen, mit denen sie sich bisher nicht befassen mussten?
Dabei natürlich bedenkend, dass das Wahlalter 16 nicht bedeutet, dass jeder 16-Jährige wählen kann, sondern Wahlalter 16 heißt, je nachdem, wann die Wahl ist, derjenige ist dann entweder zwischen 16 und 20, in
Abhängigkeit davon, wann er entsprechend Geburtstag hat. Nicht jeder 16-Jährige hat ja sofort vor dem
eigentlichen Wahltermin Geburtstag. Deshalb meine letzte Frage: Was sagen Sie zu der Meinung von Kritikern von Wahlalter16, dass die Kindheit geklaut wird, wenn man mit 16 wählt?
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Herr Kohlmeier! – Jetzt haben unsere Anzuhörenden wieder das Wort.
Wir haben es bisher immer so gehandhabt, in umgekehrter Reihenfolge. Damit ist dann jetzt Herr
Prof. Hurrelmann an der Reihe.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance): Ist das fest geregelt? Wir hatten sonst gerade
gesagt, es wäre vom Aufbau her fast klüger, in der gleichen Reihenfolge zu antworten.
Vorsitzende Christa Müller: Von der Sache her sehe ich das natürlich ganz leidenschaftslos. Wenn Sie sich
so verständigt haben, dann bitte!
Wolfgang Gründinger (Vorstandsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen): Ich bedanke mich für die vielen Fragen und möchte versuchen, zur Aufklärung beizutragen. Zum Ersten, wo sich
grundsätzlich die Wahlaltersgrenze nach unten – – Ich möchte mich da gar nicht auf eine finale Grenze festlegen. Man kann erst mal sehr behutsam beginnen und es sukzessive angehen, zunächst auf 16 Jahre. Da bin
ich übrigens dafür, es baldmöglichst umzusetzen, weil ich keine Gründe sehe, die dagegen sprechen würden,
und dann vielleicht 14 perspektivisch, und dann kann man ja prüfen, ob weitere Optionen der Inkludierung
bestehen. Das muss man dann zu gegebener Zeit neu diskutieren und die Erfahrungen auswerten und gucken,
wie man ein solches Demokratieverständnis damit begründen kann.
Zum Zweiten, zu den Altersgrenzen Volljährigkeit, Strafmündigkeit und Wahlrecht usw. und ob man Bezirks- und Landesebene trennen sollte: Das Wahlrecht ist ja schon in den Siebziger Jahren von 21 auf
18 Jahre gesenkt worden, während die Volljährigkeitsgrenze damals fünf Jahre lang noch weiter bei
21 Jahren bestand. Was in den Siebziger Jahren möglich war, sollte heute auch rechtlich durchaus möglich
sein. – Die Strafmündigkeit liegt heute bei Jugendlichen bis 18 Jahre, bei Heranwachsenden bis 21 Jahre als
Altersgrenze. Ich persönlich hätte kein Problem damit, diese auch nach unten anzugleichen, weil natürlich
Jugendliche heute reifer sind als früher. Das muss aber auch unabhängig davon diskutiert werden. Das sind
Schutzrechte, die Jugendliche, die vielleicht noch nicht reif genug sind, unter Schutz stellen. Ich glaube aber
nicht, dass Demokratie und das Wahlrecht ein Gut ist, vor dem Jugendliche zu schützen seien. Ich glaube,
man muss das anders diskutieren und aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
Abgeordnetenhaus von Berlin
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Was passiert denn im Alter von 16 bis 18, wenn die Jugendlichen noch nicht wählen dürfen? Gibt es da so
etwas wie eine Entstehung von Politikverdrossenheit? – Die ist vielleicht vorher sogar schon da, zumindest
zur klassischen Parteipolitik, wenn man Politik nur unter dem begreift, was traditionell im politischen Institutionengefüge abläuft. Diese Politikverdrossenheit, Distanz möchte ich eher sagen, zu den politischen
Institutionen, Systemen, Parteien und den darin agierenden Personen, verfestigt sich noch. Ich habe das
damals – – Bei mir ist es jetzt auch schon ein paar Jahre her, aber ich kann mich noch gut an meine Schulzeit
erinnern. Man hat sich einfach nicht wirklich ernstgenommen gefühlt. Man hat schon gewusst: Die entscheiden über uns, und das, was wir in der Schule machen müssen, aber wir haben überhaupt nichts mitzureden. – Deswegen bin ich auch dafür, das nicht nur auf Bezirksebene einzuführen, sondern tatsächlich auch
auf Landesebene – auf Bezirksebene gibt es das schon –, weil auch die Themen hier durchaus greifbar sind,
unter anderem die Schulpolitik oder beispielsweise, was bei den Volksentscheiden diskutiert worden ist, der
getrennte Religionsunterricht oder der Volksentscheid zu Tempelhof. Das sind Fragen, die durchaus sehr
greifbar und sehr lebensnah bei den Jugendlichen da sind. Da möchte ich schon dafür plädieren, ihnen das
Mitspracherecht zu geben bei Entscheidungen, die sie interessieren und auch betreffen und mit denen sie
noch am längsten von uns zu leben haben.
Der Partizipationswille: Ich bin, glaube ich, da möchte ich um Verzeihung bitten, missverstanden worden,
als ich meinte, es sei unerheblich, ob Jugendliche wählen wollen oder nicht, ob man ihnen das Wahlrecht
gewährt. Dieser Partizipationswille ist natürlich da, und das Märchen von einer politikverdrossenen Jugend
gehört schon längst in die Mottenkiste und das Reich der Legenden und Mythen entsorgt. Aber trotzdem
muss man schon noch dazu argumentieren: Wenn z. B. in der Altersgruppe zwischen 80 bis 100 die alten
Menschen nur zu 20 Prozent wählen gehen würden, würde man denen dann das Wahlrecht entziehen? – Ich
glaube nicht, und zwar aus guten Gründen nicht. Die gleiche Argumentationslogik kann doch auch nicht für
die Jungen greifen. Was für die Alten nicht greifen kann, kann auch für die Jungen nicht greifen. Das ist eine
demokratietheoretische Implikation, die sollte man durchaus beachten. Man kann nicht einer Altersgruppe
pauschal das Recht absprechen, nur aufgrund des Arguments, dass nur ein niedriger Prozentsatz dieser Menschen, dieser Altersgruppe wählen gehen möchte.
Das Gleiche ist auch beim Demonstrationsrecht der Fall. Nur 2 bis 4 Prozent der Deutschen – möchte ich
mal behaupten – gehen überhaupt demonstrieren. Das ist ein Grundrecht, das ab null Jahren existiert und das
auch den deutschen Bundesbürgern nicht aberkannt wird, nur weil 96 Prozent oder mehr davon gar keinen
Gebrauch machen.
Dann noch zur allgemeinen Wahl, Artikel 38 und Artikel 20 Grundgesetz, ob das überhaupt demokratietheoretisch vereinbar ist. – Das ist ein bisschen kompliziert. Ich bin kein Verfassungsrechtler, kenne mich
aber damit, da ich mich in diversen Kontexten damit wissenschaftlich beschäftigt habe, durchaus etwas aus.
Artikel 20 ist die sogenannte Ewigkeitsnorm. Artikel 20 a, Absatz 1 sagt, dass alle Staatsgewalt vom Volk
ausgeht und diese auch – Absatz 2 – durch Wahlen ausgeübt wird. Nun müsste eigentlich stehen: vom erwachsenen Volk, weil Artikel 38 Absatz 1 sagt, dass die Wahl allgemein ist, aber Absatz 2 hinterherschiebt,
dass die Altersgrenze auf 18 Jahre begrenzt wird. Die klassische Rechtslehre sagt: Das ist so okay und vereinbar, und es gibt wichtige Wahlrechtskommentare, die das auch so sehen und am Begriff der Strafmündigkeit festmachen. Allerdings sagen die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, dass dieser
Terminus nirgendwo in der Wissenschaft auch nur ansatzweise definiert ist. Also, für den Terminus der
Wahlrechtsmündigkeit gibt es keine Definition, und das ist leider heute immer noch so.
Vielleicht noch eine Anekdote über die politische Aufklärung an Schulen. Ich war vor Kurzem in meiner
bayerischen Heimatstadt – ich kenne mich mit der Wiener Situation nicht so aus, aber durchaus in Bayern –,
wo es eine Stunde Sozialkunde an Gymnasien in der 11. Klasse gibt und sonst gar nichts. Man kann sich des
Eindrucks nicht verwehren, dass die bayerische Staatsregierung ihre Jugend still und klein halten will. Ich
habe dann einen Vortrag vor 300 Schülern im Alter von 16, 17 und 18 Jahren gehalten und meinte dann so:
Ihr müsst doch wissen, wie ihr euch politisch engagieren könnt, ihr habt doch Sozialkunde. – Diese Aussage
ist mit Gelächter und Hohn quittiert worden. Mir ist dann doch deutlich erklärt worden: Sozialkunde haben
wir hier de facto nicht. Wir interessieren uns schon für Politik, aber wir werden durch die Schulordnung
nicht wirklich ernstgenommen und fühlen uns von den Politikern weder verstanden noch repräsentiert. – Ich
glaube, dass ein Wahlrecht ab 16 durchaus eine Maßnahme ist, die diesem Gefühl der Ohnmacht doch ein
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bisschen entgegengesetzt werden könnte, also eine Korrektur für das Ohnmachtsgefühl und Desinteresse, das
um sich greift. – Danke!
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank! – Herr Medebach, bitte!
Mark Medebach (Netzwerk „Wahlalter 16“): Zuerst an Frau Demirbüken-Wegner – Sie hatte gefragt: Wo
sollte die Wahlgrenze sein? – Das Netzwerk „Wahlalter 16“ beantwortet die Frage schon in seinem Namen.
Die sollte erst mal 16 sein. Meiner Ansicht nach sollte das ein erster Schritt sein. Die Beschlusslage des Landesjugendrings ist Wahlalter 14. Das sage ich jetzt einfach mal so als zusätzliche Information. Wir gehen
davon aus, dass Jugendliche sich schon sehr früh für Politik interessieren. Diese Erfahrung machen wir sehr
oft. Ich denke, es ist aber vielleicht ein bisschen schwierig, gerade das durchzusetzen oder überzeugend zu
wirken mit dem Wahlalter 14. Deswegen haben wir uns diesem Netzwerk angeschlossen, Wahlalter 16, um
erst mal Erfahrungen damit zu sammeln, und wenn sich dann zeigt, dass das gut läuft, wäre eine weitere
Absenkung vielleicht eine Möglichkeit, die ich persönlich und auch der Landesjugendring begrüßen würden.
Zur Frage, ob das bei der Bundestagswahl so sein sollte, möchte ich mich nicht äußern, weil es erst mal hier
um die Abgeordnetenhauswahl geht. – Dann hatten Sie gefragt, wie es mit der politischen Aufklärung an den
Schulen aussieht. Ich denke, die könnte tatsächlich besser sein. Hoffentlich wird sie noch besser durch die
integrierte Sekundarschule. Aber ich finde, Einsichtsfähigkeit oder politische Kompetenz sollten kein Kriterium für die Zuerkennung des Wahlrechts sein. Bei Erwachsenen wird das auch nicht gemacht. Auch viele
Erwachsene haben nur den schulischen Politikunterricht genossen, haben sich danach vielleicht nie wieder
für Politik interessiert, und trotzdem dürfen sie wählen. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass es auch neben der Schule diverse Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten gibt, wo Demokratie eingeübt werden
kann. Ich denke natürlich in erster Linie an die Jugendverbände, aber es gibt auch diverse andere Möglichkeiten.
Frau Weiß hat gefragt, ob wir im Landesjugendring die Erfahrung gemacht haben, ob das Alter der Aktiven
sinkt. – Ich würde sagen, aus meiner Erfahrung, ich komme von der sozialistischen Jugend Deutschlands
„Die Falken“, dass schon ein Trend dahin geht, dass immer jüngere Leute in die Vorstände gehen und Verantwortung übernehmen. Beim Landesvorstand der „Berliner Falken“ sind einige Minderjährige mit dabei.
Diese Jugendlichen entscheiden über Personal und Finanzen und nehmen sehr verantwortliche Aufgaben
wahr. Ich finde, das ist auch ein Punkt, der dafür spricht, ihnen auch das Wahlrecht zu geben. Sie haben das
schon geübt, und es sind sehr viele Jugendliche in Jugendverbänden in Berlin organisiert und machen da
auch erste politische Erfahrungen.
Zu der Frage von Frau Senftleben, ob zum Wahlrecht auch Pflichten gehören. – Uns geht es um das Wahlrecht ab 16 in Berlin, und ich sehe keine Veranlassung, dass Pflichten dahingehend im Zusammenhang formuliert oder festgelegt werden müssten.
Ab wann die Gesetzesänderung gelten soll? – Ich hatte vorhing gesagt, unsere Position ist: Zur nächsten
Abgeordnetenhauswahl hätten wir gerne die Senkung, weil aus unserer Sicht kein ernsthafter Grund besteht,
der dagegen spricht. Es wäre einfach schade für die Jugendlichen, die jetzt minderjährig, die 16 und 17 sind,
dass sie bei der nächsten Wahl nicht wählen dürfen. Die nächste Abgeordnetenhauswahl darauf ist in fünf
Jahren. Das wäre sozusagen eine Generation, die noch nicht wählen darf. Ich finde, es gibt gute Gründe
dafür, und warum dann nicht jetzt? Warum das auf die lange Bank schieben und noch mal prüfen und überlegen? Ich finde, das ist eine mutige Entscheidung jetzt zu sagen: zur nächsten Abgeordnetenhauswahl.
Zu der Frage: Klaut man ihnen die Kindheit mit der Absenkung des Wahlalters? – Natürlich nicht! Es ist
keine Wahlpflicht, sondern ein Wahlrecht. Ich finde, zur Kindheit, wenn man jetzt 16-Jährige Kinder nennen
möchte, was nicht unbedingt nötig wäre, kann durchaus auch gehören, sich mit Politik zu beschäftigen. Das
ist nichts Schlimmes, nichts Verbotenes. Man klaut ihnen damit nicht die Kindheit, man bereichert sie durch
Partizipation. – Vielen Dank!
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Medebach! – Herr Prof. Hurrelmann!
Abgeordnetenhaus von Berlin
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Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance): Ich möchte erst einmal sagen, dass es mich
sehr beeindruckt, dass Sie das Thema sehr sachlich, differenziert, ernsthaft und abwägend diskutieren. Ich
fühle mich da auf Ihrer Seite. Ich sehe das auch so. Das ist ein Abwägungsprozess, und man muss sich am
Schluss zu einer klaren Meinung bewegen. Aber die Entscheidung hat viele Facetten. – Ich möchte einige
Punkte ansprechen: Erstens haben Sie völlig zu Recht darauf hingewiesen, die Jugendlichen selbst, die wir in
allen Untersuchungen immer danach befragen, sind skeptisch. Eine knappe Mehrheit lehnt eine Absenkung
des Wahlalters von 18 auf 16 ab. Das hat sich in den letzten Jahren auch nicht bewegt. Aus Zusatzuntersuchungen wissen wir, woran das liegt. Das liegt daran, dass man bei dieser Frage als Jugendlicher selbst
sich ernsthaft prüft: Kennst du die Programme der Parteien? Hast du genaue Kenntnisse von den Funktionsfähigkeiten der verschiedenen parlamentarischen Gremien? Weißt du, wie die zusammenarbeiten? Weißt du,
wie Gesetze entstehen? – Nein, das weiß ich nicht, zumal der politische Unterricht, selbst wenn er sich unheimlich darum bemüht, nicht immer an die Stelle herankommt, dass man ein lebendiges Gefühl dafür bekommt. – Dann bekommen die jungen Leute Manschetten, weil sie diese Entscheidung „Wahlakt“ so stark
mit inhaltlichen Fragen laden, die eigentlich gar nicht dahin gehören. Also, da stimme ich Ihnen völlig zu, es
muss auch gegenüber den Jugendlichen selbst noch eine Information und eine Aufklärung laufen, die ihnen
deutlich macht: Was ist eigentlich ein Wahlakt? Was bedeutet er? – Es ist eine Option, die du hast. Es ist
keine Verpflichtung. Du wirst jetzt nicht in die Verpflichtung genommen für die Weiterentwicklung deines
Landes, sondern du hast die Möglichkeit, das mitzugestalten. Ich glaube, das können wir schaffen, weil die
Bereitschaft dafür auch da ist. Jugendliche selbst sind nicht die absoluten Befürworter. Die würden dafür
auch nicht auf die Straße gehen.
Das ist so ähnlich wie beim Frauenwahlrecht. Bis da die Diskussion so weit war – das ist eine spannende
historische Parallele, die vorhin jemand gezogen hat –, dass man nicht mehr danach ging: Können Frauen die
Parteiprogramme auswendig? Wissen sie, wie die Parlamente funktionieren? – und man merkte: Nein, das ist
eine Grundsatzfrage. Das ist eine ganz grundsätzlich menschenrechtlich untermauerte Frage: Wollen wir,
dass diese Gruppe der Bevölkerung mit entscheiden kann und das Potenzial dafür hat, oder wollen wir das
nicht? Genauso sehe ich das hier. Deswegen vorsichtig mit allen Fragen. Ich muss mich das selbst auch
immer wieder fragen. Ich habe auch drei Kinder. Man muss ganz vorsichtig sein mit der Frage: Sind die politisch reif? Das ist eine gefährliche Zugangsweise. Drehen Sie mal die Frage um. Sind wir denn alle politisch
reif? Könnten wir auf dieser sehr anspruchsvollen Ebene entscheiden, welche Partei wir wählen? – Nein, das
könnten wir gar nicht. Das tun wir auch nicht, weil wir alle wissen, es handelt sich um einen Entscheidungsakt, in dem, und das haben auch viele von Ihnen angesprochen, einige sachliche, rationale
Elemente, aber doch, wenn wir uns ganz ehrlich gegenüber sind, sehr viele persönliche Wertorientierungen,
biografische Entscheidungen, Bezugnahmen eingehen. Das ist kein durch und durch rationaler Vorgang.
Junge Leute – um eine andere Frage aufzugreifen – sind da unverstellter als wir. Sie stehen sich nicht selbst
im Weg, sondern sie sehen das so, wie es tatsächlich ist, und politische Entscheidungen sind ziemlich ganzheitliche – um mal das Wort gefühlsmäßig zu vermeiden – Sachen, wo ich wirklich große Strömungen für
mich entscheide. Will ich die Richtung, will ich in jene Richtung? Dadurch kommt heute bei jungen Leuten
eine sehr unverstellte, ehrliche und unkomplizierte politische Position zustande. Sie wissen das aus den verschiedenen Untersuchungen. Das teilt sich ziemlich gleichmäßig von links nach rechts, wenig Extremismus.
Extremismus nach rechts oder nach links kommt immer nur zustande, wenn man mit seiner eigenen Lebenssituation verzweifelt ist. Es hat immer eine Wurzel in der Lebenssituation.
Wir können sagen, es handelt sich hier um ein Potenzialrecht. Das dürfen wir nicht gegen die Schutzrechte
ausspielen. Die Schutzrechte zu korrigieren, darüber können wir nachdenken – Strafalter, das absolute
Rechtsalter. Vielleicht lässt sich auch eines Tages darüber reden, ob man da von 18 auf 16 heruntergeht.
Aber ich würde es nicht überfrachten. Es handelt sich hier um ein Grundrecht, wo wir von der Begründung
her sagen müssen, warum wir das an ein bestimmtes Alter knüpfen. Da tun wir uns mit der Begründung
schwer, 18, so würde ich es auf jeden Fall schon mal sagen. Ebenso schwer ist die Begründung nach unten
zu führen. Das gebe ich ganz frei zu. Das ist völlig klar. Das ist unheimlich schwierig. Wenn ich nur von der
fachlichen Frage ausgehe, das haben meine Vorredner schon angedeutet, komme ich heute zu dem Schluss,
in der Regel ab 12, 13 Jahren – man sieht das auch an allen Umfragen – ist das politische Interesse da. Das
bleibt dann ziemlich stabil, wächst ein bisschen an bis 18, aber es sind keine dramatischen Veränderungen.
Mit 12,5 bis 13 sind eigentlich alle wichtigen Lebenskompetenzen da, die man braucht, um sein Leben selbst
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zu gestalten, und in unserer heutigen Gesellschaft, wenn man das auch nur eine Generation zurückblendet,
sind so viele Möglichkeiten, aber auch so viele Verpflichtungen schon mit diesem Alter verbunden. Die
Schulverantwortung liegt ganz auf mir, muss ich ganz individuell tragen. Da bin ich mein eigener Boss, auch
wenn meine Eltern vielleicht noch was unterschreiben müssen, aber das ist meine persönliche Verantwortung. Meine Beziehung, meine Wertorientierung, also das Selbstmanagement in jungen Jahren ist sehr
hoch, und das machen die mehrheitlich auf eine ganz phantastische Weise. Da kann man nur sagen: Hut ab
in dieser Unsicherheit, in der die Lebensphase Jugend sich heute gestaltet.
Ich bin deswegen der Auffassung, dass es an der Zeit ist, dieses Signal an die jungen Leute zu geben. Ja, wir
haben das beobachtet. Wir sehen das auch als Politik. Wir als Wissenschaftler sehen das. Es hat sich etwas
verändert. Wir senken demonstrativ das Mindestwahlalter. Ich stimme zu, ich würde nicht auf 12 oder 14
gehen. Es ist auch in der Gesamtbevölkerung nicht nachvollziehbar. Selbst bei den Jugendlichen – ich habe
es gesagt – ist es so nicht nachvollziehbar. 16 ist nachvollziehbar, ist ein fairer, sachlicher Kompromiss.
Deswegen wäre das eine gute Sache.
Ich will es nicht nach Ebenen trennen. Es ist unheimlich schwer zu sagen, warum man bei kommunal so,
beim Land so, bei Bund so, bei Europa so entscheiden will. Das geht nicht, sondern wir sprechen hier von
einem Grundrecht, und die Fähigkeit, wenn ich es noch mal ans Alter binde, an das mit dem Alter immer
verbundene Entwicklungspotenzial, zu entscheiden, was bei einer Wahl geschieht, die unterscheidet sich
nicht nach der Ebene. Die großen Themen, die die jungen Leute interessieren, wenn man es schon von daher
betrachtet, sind auch nicht so sehr die kommunalen, sondern es sind die ganz großen. Es sind Umwelt, Politik und Wirtschaft. Insofern fühlen sie sich vielleicht auch nicht richtig angesprochen, wenn wir es nur auf
der regionalen Ebene machen. Dann kommt das Signal und die Botschaft nicht so stark rüber, wie ich sie mir
sonst wünschen würde.
Dass man ihnen die Kindheit stiehlt, die Sorge hätte auch ich nicht. Die Kindheit ist unheimlich geschrumpft.
Die hört heute mit 12 Jahren auf. Das ist pädagogisch gesehen ein Thema für sich, wie wir damit umgehen.
Danach ist man junger Mann und junge Frau. Deswegen kreisen, wie Sie merken, meine Überlegungen immer wieder um dieses Ereignis Pubertät, Geschlechtsreife. Da entscheidet sich viel. Das war schon immer so
in unserer menschlichen Entwicklung. Von da an bin ich kein Kind mehr. Deswegen kann mir von da an
leider – wir mögen das bedauern – die Kindheit auch nicht mehr gestohlen werden, denn ich bin raus aus
dieser Phase Kindheit. Man ist heute als junger Mann, als junge Frau in vielen Bereichen unheimlich auf sich
selbst gestellt. Die meisten genießen das. Wir wissen aus den Studien, eine kleine Gruppe kommt damit nicht
zurecht, hat riesige Schwierigkeiten, aber die Allermeisten genießen das, kommen mit dieser Gesellschaft
blendend zurecht, stehen zu ihr, wollen in die Gesellschaft rein, unheimlich konstruktive, sehr pragmatische
Grundhaltung. Man möchte mitmachen, man möchte dabei sein, man möchte sich auf seine Weise auch politisch beteiligen. Und ein Signal, dass das Mindestwahlalter abgesenkt würde, würde den jungen Leuten gut
tun, würde der ganzen Gesellschaft einen Hinweis geben: Oh, es hat sich etwas verändert an der Art und
Weise, wie man heute zum Erwachsenen wird. Das setzt doch früher ein, als es vorher der Fall war, auch
wenn es uns nicht immer gefällt, wie die sich verhalten und wir manchmal denken: Was sind die noch grün
hinter den Ohren. – Das hat mit dieser Thematik hier nichts zu tun, ob wir ihnen ein Grundrecht einräumen
können, ja oder nein.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Prof. Hurrelmann! – Wir setzen die Aussprache fort. –
Frau Dr. Barth hat jetzt das Wort!
Dr. Margrit Barth (Linksfraktion): Ich möchte mich auch noch mal ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Fast
der letzte Satz war es von Herr Prof. Hurrelmann, den nehme ich gleich mal als Anlass. Sie sagten: Absenkung des Wahlalters tut der Gesellschaft gut. – Das ist erst einmal eine Aussage, die steht. Ich persönlich
teile Ihre Auffassung, aber ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass wir unser Ziel nicht so richtig erreichen werden. Wir brauchen, wenn wir politisch wirksam werden, eine Zweidrittelmehrheit, um unsere
Verfassung zu ändern. Was macht man denn nun? – Trotz aller guten Gründe, die dargestellt worden sind
von Ihnen, wird es sicherlich auch noch Gründe geben bei den Kolleginnen und Kollegen, die diesem
politischen Weg nicht zustimmen werden. Ich denke, man muss es auch ernst nehmen. Aber was würden Sie
denn der Koalition raten oder sagen wir mal, nicht nur der Koalition, sondern denjenigen, die auf dem Weg
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sind, das Wahlalter senken zu wollen? Das ist ja die Schwierigkeit. Ich kann mir auch vorstellen – – Herr
Medebach hat gesagt, Sie würden sich freuen, wenn wir das bis zur nächsten Abgeordnetenhauswahl hinbekommen. Ja, aber wie gesagt, wir bekommen es nur hin, wenn wir mindestens zwei Drittel der Politiker
mit auf diesen Weg nehmen. Deswegen – glaube ich – ist die Debatte so besonders wichtig und auch für
mich sehr wertvoll. Ich habe eine solche Anhörung zur Senkung des Wahlalters in meiner parlamentarischen
Arbeit mindestens schon das zweite Mal hier erlebt, und ich kann sagen, dass im Laufe der Jahre schon ein
riesengroßer Unterschied auch in den Argumenten gekommen ist. Heute lagen die Argumente von Ihnen
Dreien erfreulicherweise alle dicht beieinander. Vielleicht hätten sich einige hier im Raum gewünscht, dass
Sie die Konfliktpunkte noch mehr angesprochen hätten. Ich glaube, die muss man auch noch ansprechen.
Andererseits hat die Opposition auch die Möglichkeit gehabt, ihre Anzuhörenden für heute zu benennen.
Man hätte natürlich auch jemanden mit in die Debatte einbringen können, der vielleicht stärker Ihre Argumente beantwortet hätte. Ich will noch mal sagen, für mich hat sich die Entwicklung insofern seit einiger Zeit
ziemlich deutlich gezeigt. Ich habe noch einen Artikel vom „Tagesspiegel“, und zwar aus dem Jahr 2009. Da
hat der Verfassungsrichter Voßkuhle als Verfassungsrichter seine Meinung geäußert. Er hat sich in einem
Artikel positioniert und hält das Wahlalter ab 16 für denkbar. Da war ich auch schon überrascht, dass dieser
Mann sich so öffentlich positioniert hat. Insofern waren Ihre Beiträge für mich noch mal wohltuend. Ich habe
nichts anderes erwartet, aber trotzdem stelle ich die Frage. Vielleicht haben Sie ja noch einen Tipp.
Vielleicht können Sie noch eine Idee mit einbringen, wie wir politisch in diesem Haus im Interesse der Jugend weiterarbeiten. Ich finde es auch sehr schade, wenn wir dieses Ziel nicht erreichen.
Vorsitzende Christa Müller: Herr Lux, bitte!
Benedikt Lux (Grüne): Danke schön, Frau Vorsitzende! – Vielen Dank an den Ausschuss, dass ich die Gelegenheit habe, hier als Innenpolitiker auch meine Fragen zu stellen und kurz Stellung zu nehmen. Mittlerweile wird ja vieles von Ihnen gefordert. Sie sollen nicht nur die Lebenslage der Jugendlichen hier wiedergeben, sondern auch politische Strategieberatung für eine Koalition machen, die zwar inhaltlich sagt: Ja, wir
wollen das irgendwie und deren Parteien das sagen, die aber so recht nicht von Mut ergriffen ist, hier noch
einmal zu versuchen, das durchzusetzen.
Ich möchte inhaltlich nur auf eine Frage eingehen, die hier auch nicht ganz richtig dargestellt worden ist.
Was für Erwartungen hat die Gesellschaft eigentlich an die Einsichtsfähigkeit junger Menschen? Da fand ich
es noch mal wiederholenswert, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass man mit 14 seine Religion wechseln
kann, eine Frage, die deutlich schwieriger zu beantworten ist für jeden Menschen als die Frage: Wem gebe
ich vorrübergehend für fünf Jahre meine Stimme? – denn anders als bei Parteien ist es keine Option, sondern
da sind die Pflichten, die durch die Religionswahl erwachsen und die Folgen durchaus schwieriger aufzuarbeiten.
Testament und Ehe wurden genannt. Ich möchte aber auch noch mal auf die Strafmündigkeit abstellen, denn
die beginnt in der Bundesrepublik nach § 1 Absatz 2 Jugendgerichtsgesetz mit 14 Jahren. Mit 14 sollen sie
also als junger Mensch die Einsicht haben, was vielleicht eine Anstiftung zur mittelbaren Begehung eines
Beleidigungsdeliktes oder einer Urkundenfälschung, vielleicht einer Sachbeschädigung ist. Das alles sollen
sie reflektieren und auch die Einsicht und die Folge sehen können, dass es bis zu zehn Jahren – – Wenn es
nach der Union ginge, Frau Demirbüken-Wegner, dann sollten das die jungen Menschen schon mit 12 Jahren
haben, und möglicherweise nicht nur mit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung versehen werden,
wenn ganz schlimme Delikte im Raum stehen, sondern bereits mit einer, die auch nachträglich angeordnet
worden ist. Ich korrigiere mich zu einer anfänglichen Sicherungsverwahrung, die gibt es ja bereits. Ich finde,
die Argumente Einsichtsfähigkeit, wenn man die ernst nehmen würde, dann müsste man erst recht zu der
Folge kommen, dass man das Wahlalter abzusenken hätte. Ich kann mich Herrn Prof. Hurrelmann nur anschließen. Mit 16 ist man da im sicheren Bereich. Wenn man sich jetzt noch mal anschaut, was für zahlungskräftige Konsumentinnen und Konsumenten unter den jungen Leuten entdeckt werden, dann müsste man ja
noch viel früher ansetzen. Da werden Erwartungen in junge Menschen gesetzt, da sind wir mit dem Wahlalter so weit hinterher, da muss man sich hier auch nichts vormachen.
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Insofern kann man das als Bestätigung nehmen für all diejenigen, die schon seit längerem für eine Wahlaltersenkung plädieren.
Ich bin Ihnen, Frau Kollegin Dr. Barth und Herr Kollege Kohlmeier, sehr dankbar, dass Sie noch mal etwas
zum Verfahren und zu dem Ausblick gesagt haben. Wir haben von den Experten gehört: Es gibt keinen
Grund, das jetzt nicht schon für die nächste Wahl zu machen, sondern lieber jetzt als nach der nächsten
Wahl, um dieses Zeichen zu setzen. Sie können sich vorstellen, dass meine Fraktion das genauso sieht, aber
wir sollten es hier durchaus noch mal offen besprechen, wie man zu einer Zweidrittelmehrheit kommen
kann. Ich denke, dazu gehört als Erstes ein klares Bekenntnis, vor allen Dingen der SPD-Fraktion: Will sie
das machen oder nicht? Sie wissen genauso wie ich, je länger Sie das hinauszögern, desto größer wird der
Vorwurf von anderen politischen Kräften sein: Das machen die jetzt nur, um vor der Wahl ein paar Stimmen
abzugreifen. – Deswegen kann man Ihnen nur sagen: Bitte, machen Sie da eine schnelle Klärung. Das tut
dem Anliegen insgesamt gut. Sagen Sie schnell ja oder nein, aber sagen Sie irgendetwas dazu als: Wir klären
noch, wir klären noch, denn das sagen Sie seit einem Jahr. Ich finde auch, hier haben die politisch Verantwortlichen – – Da ist Ihr Koalitionspartner, das sind wir auch als Leute, die das bringen, und darunter sind
auch die Leute, die möglicherweise gegen ihre eigene Fraktion stimmen werden, von den beiden anderen
Parteien, wo es vielleicht eine oder zwei Personen, die mutig sind für dieses Anliegen, geben könnte, die
sagen: Wir ändern die Verfassung auch gegen die Mehrheitsmeinung unserer Fraktion. Sie wissen, was das
für Parlamentarier bedeutet. Auch denen müssen Sie eine mögliche Klarheit geben, und das ist auch Ihre
Verantwortung, die Sie dort tragen. Deswegen sollten wir das Verfahren nicht nur offen besprechen, sondern
auch baldmöglichst zu einem Zwischenstand kommen. Uns wäre es natürlich recht, dass die SPD-Fraktion
dort ja sagt und auch mit Fraktionszwang ja sagt, damit wir das Projekt noch in dieser Legislatur umsetzen
können. Alles andere wäre verschenkte Zeit. Sie wissen, dass Sie noch ein Jahr regieren, aber so wie die
Stimmung hier auch in anderen Debatten aufkommt, sollten Sie das wirklich auch noch mal beachten, dass
Sie da noch ein Jahr Zeit haben, in der Sie Verantwortung für diese Stadt tragen, und nicht so tun, als wären
das alles schon irgendwelche Projekte der Grünen und alles wäre auf deren Mist gewachsen, was hier irgendwie schief läuft oder nicht läuft usw. Gehen Sie da bitte noch mal in sich und machen Sie eine baldige
Klärung. Das haben alle politischen Partner, alle Kolleginnen und Kollegen hier verdient, dass sie eine klare
Ansage bekommen.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank! – Frau Weiß hat jetzt das Wort!
Mari Weiß (Linksfraktion): Ich glaube, Herr Lux hat damit eindeutig das Projekt beerdigt. Wenn die SPD
nicht mehr regiert, dann ist ja wohl klar, dass dann die nächste Koalition das mit der Wahlrechtsänderung
dann auch nicht hinbekommt. Das kann man ja mal ausrechnen. – [Zuruf: Das verstehe ich nicht! Wie meinen Sie das?] –
Vorsitzende Christa Müller: Frau Weiß hat jetzt das Wort. Ich bitte um Konzentration und Aufmerksamkeit. Wir möchten doch bei der vorher erwähnten Sachlichkeit bleiben. – Bitte, Frau Weiß!
Mari Weiß (Linksfraktion): Ich wollte noch mal darauf eingehen, weil das von Herrn Hurrelmann zwar eindeutig beantwortet, von den anderen beiden aber eher umgangen wurde. Bei meiner Partei bin ich mir ganz
sicher, dass natürlich das Wahlalter für die Bundestagswahl genauso sein muss wie für Landtagswahlen. Ich
möchte das an dieser Stelle auch noch mal gesagt haben. Alle Einschränkungen dieses Wahlrechts auf
irgendeine Ebene führen die Diskussion ad absurdum. Entweder wir definieren das als Wahlrecht und als
demokratisches Grundrecht, dann kann es dafür keine Ebenenbeschränkung geben, oder wir lassen es. Und
deshalb die ganz klare Ansage, dass wir das natürlich für alle Ebenen so sehen.
Schwierig finde ich, und das kam am heutigen Tag total häufig, diese Vergleiche mit dem Zivilrecht. Wir
haben noch mal ganz lustig gesammelt, Altersgrenzen im Zivilrecht, und es ist mitnichten so, dass es im
Zivilrecht die starre Rechtsfähigkeit ab 18 gibt. Es ist eben so. Wir reden hier von der Geschäftsfähigkeit.
Wir reden nicht vom Deliktbereich. Im zivilrechtlichen Deliktrecht wird grundsätzlich von der Einsichtsfähigkeit ausgegangen und nicht mehr von der Altersgrenze. Es gibt Urteile, wo zivilrechtlich 6-Jährige zum
Schadensersatz verpflichtet wurden, weil sie Häuser angezündet haben. Wenn man einem 6-Jährigen zu-
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mutet, dass er versteht, wenn er ein Feuerzeug in ein Haus wirft und sich das entzündet, dass er dafür Geld
bezahlen muss, dann ist wohl sämtliche Alterseinsichtsdebatte an dieser Stelle ad absurdum geführt.
Dann haben wir noch mal geguckt im Zivilrecht, im Arbeitsrecht. Es gibt die JAV-Wahlen. Niemand in diesem Raum würde in irgendeiner Weise auf die dumme Idee kommen zu sagen: Auszubildende dürfen erst ab
18 wählen, obwohl sie mit 16 ihre Ausbildung anfangen. Selbst da besteht die Möglichkeit. Um das noch
mal auf die Spitze zu treiben: Es ist natürlich gesetzlich verankert, dass die JAV-Vertreter einen Platz im
Betriebsrat haben. Damit kann natürlich auch ein Minderjähriger, um diese Debatte um die Volljährigkeit
mal aufzugreifen, in diesem Sinne auch Unternehmensentscheidungen mitbestimmen. Deshalb ist diese
Koppelung an die Volljährigkeit und auch an die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit völlig willkürlich, denn
in Entscheidungsgremien, wo es wirklich um das Erwerbseinkommen, man spricht da vom Lebensunterhalt,
um solche Entscheidungen geht, sind selbstverständlich 16-Jährige und auch unter 16-Jährige bereits fähig,
Entscheidungen zu treffen und diese auch eigenverantwortlich zu verantworten. Wir haben auch genauso gut,
besonders in der IT-Branche, Unternehmensgründer, die weit unter 18 sind, und selbst die wird es geben. An
dieser Stelle würde ich noch mal darauf hinweisen, an alle Gegner des Wahlalters 16: Versuchen Sie dann
wenigstens die Altersgrenzen, die es gibt, richtig zu benennen, denn es gibt für alle diese Altersgrenzen
weitgehende Ausnahmen. Und wenn 6-Jährige Häuser anzünden können und dafür bezahlen müssen, dann
erläutert sich mir gar nicht, wieso ein 16-Jähriger nicht wählen darf.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Frau Weiß! – Auf der Redeliste stehen noch Herr Steuer, Frau
Herrmann und Herr Kohlmeier. Ich möchte danach die Redeliste schließen, um den Anzuhörenden noch mal
Gelegenheit zu geben, sich zu dem eben Gesagten zu positionieren. – Herr Steuer, bitte!
Sascha Steuer (CDU): Vielen Dank! – Ich wollte zunächst die Ausführungen von Frau Barth komplettieren.
Es dürfte vielleicht nicht allen im Raum bekannt sein, dass die CDU nicht die Sperrminorität hat, sondern es
dazu auch noch anderer Parteien oder Abgeordneter bedarf. An uns liegt es also nicht, wenn Sie alle das
Wahlalter senken wollen. – Ich gebe auch Frau Weiß recht. Ich finde auch, dass man nicht Parlamente unterscheiden kann, sondern wenn man das verändert, dann muss man das auf allen Ebenen verändern, also in den
Ländern und auf Bundesebene. Deshalb sind wir auch konsequent dafür, es sowohl auf der Länder- als auch
auf der Bundesebene bei 18 zu belassen. Ich nehme den Grünen übrigens ab, im Gegensatz zu anderen Fraktionen, dass es ihnen tatsächlich nicht darum geht, mehr Stimmen bei der nächsten Wahl zu bekommen. Sie
finden das tatsächlich richtig, weil bei ihnen grundsätzlich Individualität und individuelle Entfaltung über
dem Gemeinwesen steht, als Prinzip sozusagen. Wir sind der Auffassung, dass man versuchen muss, beides
miteinander in Einklang zu bringen.
Herr Prof. Hurrelmann! Sie haben vorhin das Beispiel des Frauenwahlrechts angeführt und gesagt, wie absurd das aus heutiger Sicht wirkt, wenn man sich daran erinnert und dass es doch die gleichen Argumente
gewesen sind. Ich glaube, den Unterschied haben Sie auch selber mit benannt. Da widersprechen Sie sich,
wenn Sie sagen: Eine Grenze muss es schon geben. Die liegt nach Ihrer Meinung eher bei 14, vielleicht bei
Einzelnen auch bei 12, aber Sie würden sagen, bei 14 läge man sozusagen auf der sicheren Seite. Ja, gut,
wenn es aber eine Grenze gibt, dann widerspricht das dem Beispiel des Frauenwahlrechts fundamental, denn
natürlich gilt das Frauenwahlrecht für alle Frauen. Darüber besteht meiner Meinung nach hier weitgehend
Einigkeit. Es muss eine Grenze geben, die müssen wir definieren. Es gibt einige exotische andere Meinungen, die von Herrn Gründinger beispielsweise, aber das ist im Grunde genommen exotisch. Weitgehend
Einigkeit besteht darüber: Es muss eine Grenze geben. Das widerspricht dieser ganzen lichtvollen
Ausführung von demokratietheoretischen Modellen und Volkssouveränität usw. Nein, es gibt eine Grenze,
und darüber sind sich auch 90 Prozent der Leute einig. Jetzt muss man nur definieren, wo man sie legt.
Damit haben sich diese ganzen demokratietheoretischen Modelle im Grunde genommen erledigt. Ich bin der
Auffassung, Sie sollte bei 18 liegen. Natürlich gibt es Einzelbeispiele, wo 14-, 15-, und 16-Jährige
wahnsinnig politisch aktiv sind. Aber aus meiner Sicht gibt es einen riesigen Bruch an einer Stelle, und der
ist auch nicht bei jedem in dem gleichen Alter zu finden. Der findet da statt, wo ich die Schule verlasse und
zum ersten Mal einen Monat lang arbeiten gegangen bin oder eine Ausbildung aufgenommen habe und am
Ende dieses Monats den ersten Gehaltszettel meines Lebens in der Hand halte. Diese Erfahrung, die Schule
zu verlassen, die etwas völlig anderes ist als das Leben danach, wo ich für mich selber Verantwortung übernehme, die, finde ich, sollte jeder im Prinzip gemacht haben, bevor er – jetzt kommt ein weiterer Unterschied
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– Entscheidungen für andere trifft. Das unterscheidet auch dieses Thema von den ganzen anderen Debatten
über Rechte und Pflichten und Strafmündigkeit usw. Denn da treffe ich nur Entscheidungen für mich selber,
und auch nur ich selber bin von der Strafe bedroht, die danach eventuell zum Tragen kommt. Nur beim
Wahlrecht treffe ich Entscheidungen für andere. Ich wäre ja mit Ihrer Argumentation einverstanden, wenn
auch alle anderen Rechte und Pflichten, die Sie aufgeführt haben und die angeblich als Begründung dafür
ausreichen, das Wahlalter abzusenken, auch für andere gelten. Aber die gelten nicht für andere, sondern nur
für mich. Deshalb bin ich nicht bereit dazu, das als Beispiel gelten zu lassen. Wenn sozusagen die Wahl, die
ich treffe, auch danach nur für mich gilt, also wenn auch nur ich von der Regierung regiert werde, die danach
das ganze Land regiert, dann ist es in Ordnung, aber so ist es eben nicht. Das Argument haben Sie überhaupt
noch nicht entkräftet, dass das natürlich Auswirkungen hat.
Ich finde auch nicht, dass hier das Argument zieht, dass die Kinder immer früher geschlechtsreif werden.
Was soll das eigentlich aussagen? Ja, die werden immer früher geschlechtsreif. Ich kenne diese Untersuchungen auch, vor allen Dingen wegen der guten Ernährung usw. Die haben also früher Sex. Gut, und
warum dürfen die deshalb wählen und meine Regierung mitbestimmen, weil die früher Sex haben? Entschuldigung! Ich verstehe überhaupt nicht, was das für ein Argument sein soll. Das sind interessante wissenschaftliche Untersuchungen. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Steuer! – Frau Herrmann, bitte!
Clara Herrmann (Grüne): Ich bin der CDU dankbar, dass sie mal inhaltlich argumentiert, aber trotzdem
finde ich, dass wir nicht auf diesem Niveau weiterreden sollten. Wenn man sich die Untersuchungen z. B.
der Shell Studie anguckt, dann haben Jugendliche heutzutage wieder später das erste Mal Sex und nicht früher, obwohl sie früher geschlechtsreif werden. Also wenn, dann muss man schon richtig argumentieren. Aber
wir sind uns ja in einem einig: Egal, wo man eine Altersgrenze zieht, es gibt immer Fälle, da ist es ungerecht.
Es wird immer Fälle geben, ob die jetzt bei 16, 20 oder 65 liegen sollte; egal, wo, und das haben übrigens
alle Altersgrenzen an sich, auch das Renteneintrittsalter hat eine gewisse Ungerechtigkeit in sich. Da wird
man auch nicht drum herum kommen. Es ist deutlich geworden in dieser Anhörung, dass die Gründe, die für
eine Altersgrenze 18 sprechen, heutzutage nicht tragen, und dass es höchste Zeit ist, die Altersgrenze mindestens auf 16 herabzustufen, weil Jugendliche die Fähigkeiten haben, sich entscheiden zu können, wen man
wählen möchte, und auch partizipieren wollen und das auch können und sich vielleicht sogar die Skepsis
darin äußert, dass sie sich sehr ernsthafte Gedanken darum machen, was eigentlich eine Stimme bewirkt, was
vielleicht nicht jeder Wähler oder nicht jede Wählerin mit 61 oder 35 heutzutage tut. Von daher finde ich,
dass es deutlich geworden ist, dass die Wahlaltersenkung überfällig ist.
Ich finde es im Übrigen auch ungerecht, wenn in anderen Ländern 16- und 17-Jährige wählen dürfen und sie
das in bestimmten anderen Ländern nicht können. Das ist auch eine Ungerechtigkeit. Wenn ich ein Österreicher bin, dann darf ich das. Wenn ich in Berlin geboren bin oder lebe, darf ich das nicht. In Bremen darf
ich das, und da ist es übrigens mit einer rot-grünen Mehrheit und mit den Linken zusammen eingeführt
worden, und auch in NRW im rot-grünen Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zum Wahlalter 16. Ehrlich
gesagt habe ich ein bisschen Angst, dass wir in Berlin wieder dahin steuern, wo wir schon mal mit dem
Wahlrecht zum Preußischen Landtag waren. Da hatten wir nämlich ein Dreiklassenwahlrecht. Da waren nur
die Männer eingeteilt, und es war damals schon eines der rückständigsten Wahlrechte, das wir hier hatten.
Ich finde, das kann Berlin ja dieses Mal anders machen und zu den Ersten gehören, die die Zeichen der Zeit
erkennen und das Wahlalter auf 16 absenken und nicht warten, bis alle anderen es machen. Ich muss hier
nicht betonen, dass die Grünen selbstverständlich nicht nur das Wahlalter 16 im Berliner Parlament, sondern
auch für die Bundesebene wollen und das auch schon länger. – Dann habe ich noch die Frage, was der Senat
eigentlich dazu sagt.
Vorsitzende Christa Müller: Meine Herren und Damen! Ich bitte für den Rest unserer Ausschusssitzung
um Konzentration. Es ist sehr anstrengend, bei dieser Unruhe den Ausführungen zu folgen. – Herr Kohlmeier hat jetzt das Wort!
Sven Kohlmeier (SPD): Nur ganz kurz mehrere Repliken: Erstens, geschätzte Kollegin Herrmann, der Vergleich mit anderen Bundesländern oder anderen Ländern in dieser Welt reicht – glaube ich – nicht, die-
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jenigen zu überzeugen, die gegen das Wahlalter 16 sind, dies auch in Berlin einzuführen. Ich sage mal ganz
vorsichtig: Konservative Vertreter der SPD könnten ja auch auf die Idee kommen und sagen: Die Einreisebestimmungen der USA sind hervorragend, die könnte man in Deutschland auch übernehmen. – Deshalb finde
ich es immer ein bisschen schwierig, sich aus jedem anderen Land das Positive herauszunehmen und darauf
zu verweisen, das müsse man nicht in der Bundesrepublik, sondern in einem Bundesland machen. Ich glaube, das hilft nicht weiter. – Ich glaube, es hilft erst recht nicht weiter, lieber Kollege Lux, und ich schätze Sie
wirklich, der Koalition oder der SPD vorzuwerfen, dass sie eine Meinung noch nicht gefasst hat. Wir haben
das offen und deutlich kommuniziert, dass das so der Sachstand ist. Das ist in der Partei nun mal so, das ist
bei Ihnen mittlerweile ja anders, dass sie einer Meinung mit geschlossenen Augen folgen. Das nimmt man
nun auch zur Kenntnis, auch in der Presseberichterstattung. Das ist ja auch in Ordnung so. Mittlerweile ist
das bei uns immer noch ein bisschen anders. Da findet noch eine gewisse Meinungsbildung auch bei uns
innerhalb der Fraktion statt, und die führt dazu, dass an einer solchen Frage eine Diskussion entbrennt, die
bis heute nicht entschieden ist. Das ist so, und da hilft es nicht, gerade wenn man zusammen eine Zweidrittelmehrheit braucht, und die klassischen Befürworter sind nun mal SPD, Linkspartei und Grüne. Ich habe
von der CDU noch kein Bekenntnis gehört, dass sie den drei Parteien zur Zweidrittelmehrheit verhelfen
wird. Da hilft es nicht, lieber Kollege Lux, uns zu beschimpfen und zu sagen, wir müssten endlich mal aus
dem Mustopf kommen. Das ist der völlig falsche Weg, auch gerade für diejenigen, die Schwierigkeiten mit
der Absenkung des Wahlalters haben.
Mein letzter Hinweis: Ich bin dafür, das Wahlalter auf 16 zu senken. Wir haben nur ein Problem in diesem
Ausschuss noch nicht geklärt, woher die Zweidrittelmehrheit kommen soll. Selbst mit den drei von mir genannten Fraktionen kommt die Zweidrittelmehrheit nicht zustande. – [Zuruf: Die FDP macht mit!] – Auch
das habe ich nicht gehört. Soweit ich Frau Senftleben richtig verstanden habe, sind die JuLis dafür und der
FDP-Landesverband ist dagegen. Da auch die JuLis in der FDP-Fraktion zwar altersmäßig da hoch vertreten
sind, aber keine Mehrheit stellen, wird es also nicht dazu kommen.
Letzte Antwort: Ich hatte es vorhin in der Nachfrage gefragt, ob man den Jugendlichen die Kindheit klaut,
die Jugend klaut usw. Sie haben mir das damit beantwortet, Herr Prof. Hurrelmann, dass man den Kindern
nichts klauen könnte, was sie sowieso nicht mehr hätten. Ich sehe das ehrlicherweise ein bisschen anders,
weil ich glaube, dass man bei einer solchen Diskussion aufpassen muss, und das spielt da mit rein, dass sich
eine solche Spirale nicht allzu weit nach unten dreht. Es muss irgendwo auch ein Ende geben. Ich glaube
nicht, dass es sinnvoll ist, hier eine Absenkung des Wahlalters von 16 auf 14 zu machen, als Nächstes diskutieren wir 12 und 10, weil wir sagen, dass sich eine persönliche Entwicklung eines Menschen anders gestaltet als noch vor 100 oder 50 Jahren. Das war meine einzige Anmerkung, ansonsten kann ich mir durchaus
vorstellen, dass wir das Wahlalter 16 in Berlin einführen, und es würde mich freuen, wenn die Anhörung
dazu beigetragen hat, diejenigen davon zu überzeugen, die davon noch nicht ganz überzeugt sind.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Kohlmeier! – Jetzt haben unsere Anzuhörenden noch mal
Gelegenheit, sich zu positionieren. Machen Sie das wieder in der bewährten Reihenfolge?
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance): Nein, jetzt fange ich mal an, damit Abwechslung da hineinkommt. – Das Wahlrecht – was für einen Charakter hat es? Da hat der Herr aus der
CDU-Fraktion argumentiert, das sei als Wahlakt schon ein verantwortlicher Akt. Ich entscheide mich nicht
für mich, sondern schon für das Gemeinwesen. Ich finde das eine sehr interessante These. Ich sehe es nicht
so. Ich glaube, das Wahlrecht lebt davon, dass in dem Moment, wo ich meine Stimme abgebe, ich von
meiner persönlichen Position, meinen Werten ausgehe und sage: Das möchte ich stärken. Ich denke in dem
Moment nicht, und kann es heute zum Teil auch gar nicht, daran: Wie sieht es dann insgesamt mit der Zusammensetzung des Parlaments aus? Das kann ich gar nicht so ohne Weiteres beeinflussen. Ich würde dem
widersprechen. Ich glaube, es ist ein sehr persönliches Grundrecht. Wenn ich gewählt bin, dann allerdings
greifen völlig andere Bedingungen. Das muss man den jungen Leuten auch klarmachen, dass sie ein Wahlrecht mit einer Möglichkeit der Zusammensetzung von Parlamenten, der Präferenzentscheidung für Parteien
haben.
Den Begriff „geschlechtsreif“ haben Sie eben sehr aufgespießt. Ja, der ist von seiner Begrifflichkeit her tatsächlich missverständlich. Man denkt, er habe etwas mit der sexuellen Aktivität zu tun. Der Begriff kommt
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daher, dass mit diesem Alter die Fähigkeit zur biologischen Reproduktion verbunden ist. Deswegen habe ich
vorhin gesagt, dann kann man nicht mehr von Kindheit sprechen, wenn dieses Datum eingetreten ist, denn
ich kann junger Mann, junge Frau werden, ich kann Kinder bekommen. Das hat nichts mit dem tatsächlichen
sexuellen Verhalten zu tun, das ist völlig unabhängig davon und hat sich – das hat eben schon mal jemand
gesagt – in den letzten Jahren weiter ins Alter hochgeschoben. Also eine sehr verantwortliche Form des Umgangs mit der Sexualität ist heute bei der riesigen Mehrheit zu verzeichnen. Deswegen wäre es ganz schön –
wir hatten einen anderen Begriff, wir nehmen manchmal den Begriff Pubertät, um das ein bisschen zu
neutralisieren, und es ist sehr wichtig, dass man da unterscheidet.
Sie sprachen auch das Frauenwahlrecht an und haben gesagt: Da war es eine Grundsatzentscheidung ohne
eine Altersgrenze. Ich weiß, wie Sie es meinen, aber es ist ja nicht richtig. Auch Frauen unter 18 dürfen nicht
wählen. Die Altersgrenze betrifft beide Geschlechter. Insofern würde ich die Parallele nicht ganz mitziehen,
sondern es ist und bleibt die zentrale Frage: Haben wir gute Gründe dafür, in einer Demokratie nach einer
Altersgrenze von unten zu entscheiden, wer wählt? Wenn man sich das einmal gedanklich durchspielt, könnte man auch darüber nachdenken, ob man von oben eine Altersgrenze einführt, weil Begrenzungen der
Entscheidungsfähigkeit bei vielen sehr alten Menschen nicht zu leugnen sind, weil auch sehr intuitive Entscheidungen – – Wir können alle Argumente bringen, die wir gebracht haben, für die Entscheidung. Wo ist
unten die Grenze? Könnte man theoretisch auch für oben? Zum Glück tun wir es nicht. Wir werden es auch
nicht tun. Ich glaube, es ist völlig richtig und sachlich, nur zu überlegen: Wo kann die Grenze unten liegen?
Sie haben gefragt aus der SPD-Fraktion: Wie kommen wir weiter? – Das müssen Sie natürlich selbst entscheiden, aber einen Punkt kann ich untermauern. Es ist nicht klug, die Entscheidung sehr dicht an den
Wahltag heranzutun. Dann bekommt die Entscheidung alle Färbungen, die sie nicht haben darf, die wir hier
alle mit angesprochen haben, die Sie auch mit angesprochen haben, sondern es muss schon deutlich sein:
Das ist ein von dem eigentlichen Wahlvorgang und von der Spekulation, wie es parteipolitisch ausfällt, völlig unabhängiger Vorgang. Das spräche dafür, es nicht sehr dicht an die Wahl heranzuführen, sondern, wie
Sie das immer so machen, irgendwann eine Abstimmung zu machen und zu gucken, ob es reicht oder nicht.
Vorsitzende Christa Müller: Danke, Herr Prof. Hurrelmann! – Wer ergreift als Nächster das Wort? – Herr
Medebach, bitte!
Mark Medebach (Netzwerk „Wahlalter 16“): Ich wollte auch noch mal kurz auf das Argument eingehen,
dass bisher Minderjährige nur Entscheidungen für sich selbst treffen dürfen und nicht für andere. Dem möchte ich begegnen. 17-Jährige dürfen sich zur Bundeswehr verpflichten. Was bitte ist denn eine größere Entscheidung oder Möglichkeit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen oder für das Interesse eines Landes, als
zur Bundeswehr zu gehen und da sozusagen für die Interessen eines ganzen Landes zu kämpfen? Ich finde,
das Argument zieht an dem Punkt einfach nicht.
Was ich den Fraktionen raten kann, ist: Ich bin kein Berufspolitiker, so konkrete Tipps kann ich natürlich
nicht geben. Wahlaltersgrenzen haben immer etwas Willkürliches, und angesichts der Tatsache, dass diese
Wahlaltersenkung das Wahlergebnis nur marginal beeinflussen kann, hat eigentlich keine Partei da wirklich
etwas zu verlieren. Mit dieser Absenkung werden keine Wahlen gewonnen. Da kann man auch mal sagen:
Ja, wir versuchen mal, was für die Demokratie, die Menschenwürde und Jugendliche zu tun. Darum möchte
ich Sie bitten: Setzen Sie sich in Ihren Fraktionen dafür ein, dass es einen Schritt zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen gibt. – Danke!
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank! – Zum Abschluss Herr Gründinger, bitte!
Wolfgang Gründinger (Vorstandsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen): Wie politische Mehrheiten zu organisieren sind, das wissen Sie besser als ich. Ich kann Ihnen nur berichten, was demokratietheoretische Implikationen sind. Die gewählten Entscheidungsträger sind natürlich Sie, und da
möchte ich es mir auch nicht anmaßen, über dieses hinwegzugehen. Ich kann die Skepsis und das natürliche
Unbehagen, das manche bestimmt bei diesem Thema, niedrigeres Wahlalter, haben, sehr gut verstehen und
nachvollziehen. Auch was die Frage angeht, das ist natürlich immer ein sehr schwieriger Prozess: Ist es jetzt
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ein individuelles Recht, das nur mich selbst betrifft, oder ist es ein Recht, das, wenn es ausgeübt wird, die
Gemeinschaft mitbetrifft? Ich finde es gut, wenn Kinder und Jugendliche, zumindest ab 16 Jahren, die sind ja
von den Entscheidungen sehr stark betroffen, auch über die Entscheidungen, die über sie getroffen werden,
mitbestimmen dürfen. Jeder wählt nach seinen eigenen Präferenzen. Es ist nicht so, dass ein Wahlakt so vor
sich gehen würde, dass der Wähler, die Wählerin sich zunächst Gedanken macht, welche Implikationen ein
Wahlakt für die Gemeinschaft hätte, sondern man geht mit eigenen Vorstellungen da heran, die natürlich
sozioökonomisch, vom Bildungsniveau und Geschlecht usw. und von sehr vielen biografischen Merkmalen
bestimmt sind und natürlich auch oft sehr spontan intuitiv gefällt werden, größtenteils erst am Wahltag. Eine
rationale lange Gewissensentscheidung ist damit ja auch nicht verbunden. Eine objektive Definition davon,
was überhaupt eine vernünftige oder angemessene Wahlentscheidung wäre, kann ohnehin nicht vorhanden
sein. Es ist auch gut so, wenn Jugendliche mitbestimmen, was um sie herum passiert. Ein objektives a priori
definiertes Gemeinwohl gibt es nun mal einfach nicht, sondern dieses Gemeinwohl muss immer erst in
einem demokratischen Aushandlungsprozess konfliktreich verhandelt werden. Ich möchte schon dafür
plädieren, dass bei diesem Aushandlungsprozess auch die 16- und 17-Jährigen mit verhandeln dürfen und
mit beteiligt werden.
Auch zur politischen Mündigkeit noch mal etwas und zu den Altersgrenzen: Ab 14 Jahren ist es nicht nur
möglich, seine Religion zu wechseln, sondern auch einer Partei beizutreten, und wer mit 14 Jahren der FDP
beitritt, wird nicht mit 18 Jahren Die Linke wählen oder andersherum. Wer einem Jugendlichen zutraut, mit
14 Jahren einer Partei beizutreten, dem muss man doch auch irgendwie die Mündigkeit zugestehen, ein
Wahlrecht ausüben zu können, abgesehen davon, dass ich diese Mündigkeitsargumentation ohnehin für sehr
schwierig halte, weil ich nicht so genau greifen kann, an welchen Kriterien diese Mündigkeit überhaupt festzumachen ist. Meine Mutter z. B. verwechselt die FDP tatsächlich mit der Linken und glaubt, die FDP will
die Vermögensteuer einführen und dergleichen. Wenn man die Kriterien am Lebensalter festmacht, die mit
Mündigkeit zu tun haben, ist das eine sehr schwierige Diskussion.
Dann noch, auf welchen Ebenen dieses eingeführt werden soll. – Auch auf Bundesebene und auf allen
Ebenen natürlich. – Kindheit klauen: Das sehe ich – wenn Sie es mir gestatten – aus einer völlig anderen
Perspektive, weil ich nicht glaube, dass demokratischer Streit, politischer Streit etwas ist, vor dem man Menschen schützen müsste. Ich glaube vielmehr, dass es doch gerade diese systematische Entpolitisierung der
Gesellschaft ist, dass viele Menschen glauben, dass sie mit der Politik nichts mehr zu tun haben wollen.
Deswegen würde ich im Gegenteil sagen, die Politik, die Demokratie, der Streit, das Wählen muss doch
schon bei den Jugendlichen anfangen, damit diese von Anfang an, von Kindesbeinen an am besten, lernen,
durch jugendgerechte Form der Partizipation, dann auch mit 16 mit dem Wahlrecht, was Demokratie und
Politik bedeutet.
Und zur Frage, wann es eingeführt werden soll, schon zur Abgeordnetenhauswahl 2011 oder erst danach:
Das ist ein schwieriger Abwägungsprozess, der hier zu treffen ist. Ich kann das Argument von Herrn Hurrelmann sehr gut nachvollziehen. Ich sehe das natürlich eher aus der Perspektive eines jüngeren Menschen,
der früher auch gerne gewählt hätte und es nicht gedurft hat, und dann natürlich auch vom Individuum. Das
Grundgesetz stellt zu Recht das Individuum in den Mittelpunkt der Bundesrepublik Deutschland und der
Politik, die hier gemacht wird. Ich möchte schon dafür plädieren, dass das Wahlrecht möglichst früh auf 16
gesenkt wird, damit möglichst viele möglichst bald über Entscheidungen, die sie unmittelbar angehen, mitbestimmen können.
Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Herr Gründinger! – Vielen Dank, meine Herren! Im Namen des
Ausschusses möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie die Zeit gefunden haben und doch
maßgeblich zu unserer Meinungsbildung beigetragen haben. Wie das alles ausgehen wird, denke ich, werden
Sie in nächster Zukunft erfahren. – Wir haben den Tagesordnungspunkt genau in unserer Zeit geschafft.
Punkt 5 der Tagesordnung
U
Verschiedenes
Siehe Beschlussprotokoll.
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