Das Projekt elektronische FallAkte

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AFH ALLIANCE _ 04 CONNECTING COMPETENCE FOR eHEALTH SERVICES
Das Projekt
elektronische FallAkte
Etablierung eines Standards zum sicheren,
intersektoralen Austausch medizinischer Daten
Claudia Reuter
Problemstellung und Hintergrund des Projektes
Effiziente und effektive Kommunikation und Kooperation über
Einrichtungsgrenzen hinweg erlangen im Gesundheitssektor zunehmend an Bedeutung. Im April 2009 wurden am Deutschen
Krankenhausinstitut bereits ca. 3000 Verträge zur Integrierten
Versorgung registriert, darüber hinaus wurden über 18.000 Disease
Management Programme (DMP) und 429 Medizinische Ver­sor­
gungs­zentren (MVZ) gezählt. Chronische und komplexe Krank­
heits­bilder, Konzentration auf Kernkompetenzen, Stärkung des
am­bulanten Sektors sowie Konsile und Verlegungen beschleuni-
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gen diesen Trend zur einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit
noch mehr. Die Ausdünnung der ärztlichen Versorgung gerade in
ländlichen Gebieten verstärkt die Notwendigkeit zum effizienten
medizinischen Datentransfer. Angesichts dieser Realitäten führt
an Werkzeugen, die den elektronischen Informationsaustausch im
Gesundheitswesen unterstützen, kein Weg vorbei. Die elektroni­
sche FallAkte (eFA) stellt solche Werkzeuge zur Verfügung.
Das Projekt »elektronische FallAkte« beruht auf einer Initiative
des stationären Sektors, der sich entschlossen hat, die Probleme
bei der intersektoralen Kommunikation grundlegend anzugehen;
entstanden ist eine Lösung, die
• den teuren Technikwettstreit zwischen den Krankenhäusern
durch die Bereitstellung eines herstellerunabhängigen und frei
verfügbaren Standards unnötig macht.
• keine komplexen, zentralen Datenstrukturen benötigt, die unter
Datenschutz- und Datensicherheitsaspekten extrem problematisch
sind.
• die in den Häusern bereits existierenden Systeme und internationale Standards berücksichtigt, um den Aufwand und die Kosten
für die Einführung möglichst gering zu halten.
• sich an den fachlichen Abläufen bei den Leistungserbringern
orientiert, so dass die Vorteile der neuen Technologie die Nachteile
der Einarbeitung bei den Anwendern klar überwiegen und kurzfristig eine Effizienzsteigerung erzielt werden kann.
Projektergebnisse und Besonderheiten der Lösung
Die Ergebnisse des Projektes unterteilen sich in zwei Bereiche.
Zum einen wurde in enger Kooperation mit den Auftraggebern eine Detaillierung der politischen und technischen Ziele erarbeitet,
um davon ausgehend die konkreten Anforderungen zu erheben
und fachliche Umsetzungskonzepte zu entwickeln, die mit dem
abgeglichen wurden, was aus technischer Sicht möglich ist. Zum
anderen wurde eine service-orientierte Gesamtarchitektur kreiert,
die sowohl den fachlichen Anforderungen entspricht, als auch heterogene Systemlandschaften und existierende Standards berücksichtigt. Als wichtigstes Ergebnis ist aus den Arbeiten eine Spezi­
fi­kation hervorgegangen, die nicht nur die Basis für die Entwicklung
von mittlerweile über zehn Pilotprojekten durch die Industrie geworden ist, sondern auch den Ausgangspunkt für Anpassungen
an den Konzepten der gematik und internationaler Standar­di­sie­
rungs­g remien repräsentiert. Die Spezifikation enthält eine Fülle
von technischen Einzellösungen, die zusammen die Kooperation
autonomer Akteure über eine föderierte Sicherheitsarchitektur ermöglichen.
Bei der elektronischen FallAkte handelt es sich also nicht um
eine neue Variante der internen elektronischen Akte, sondern sie
geht weit darüber hinaus, indem sie sektorübergreifende Be­hand­
lungen durch die sofortige Verfügbarkeit der wichtigen Infor­ma­
tionen effizienter macht. FallAkten sind grundsätzlich an eine p
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Abbildung 1
Prinzip der föderierten Datenhaltung bei der
elektronischen FallAkte
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Diagnose oder ein konkretes Krankheitsbild gebunden und repräsentieren keine unspezifischen Datensammlungen auf Vorrat. Sie
richten ihr Augenmerk vor allem auf chronisch erkrankte Patien­
tinnen und Patienten, deren medizinische Ver­sor­g ung von vielen
unterschiedlichen Leistungserbringern aus dem stationären und
ambulanten Sektor koordiniert werden muss. Was die FallAkte
auszeichnet ist, dass sie den Menschen, egal ob Leis­t ungserbringer
oder Patient, in den Mittelpunkt rückt. Ärzte und Ärztinnen benötigen verlässliche und schnell verfügbare Informa­t ionen, auf deren
Basis sie ihre Behandlungsentscheidungen treffen können. In der
FallAkte bestimmen daher die Behandler eines Patienten, welche
Daten in die eFA eingestellt werden sollen – so wie sich die Kol­
legen auch sonst aufeinander verlassen, weil sie ein gemeinsames
Interesse verfolgen. Ärzte müssen nicht befürchten, dass sie von
übervorsichtigen Patienten mit Informationen zugeschüttet werden und werden selbst auch keine irrelevanten Daten bereitstellen.
Für die Patientinnen und Patienten erschließt sich der Sinn und
Zweck der FallAkte sofort, weil sie den Behand­lungs­prozess wieder greifbarer macht.
Häufig fühlen sich die Kranken der »Maschinerie« des Gesund­
heitswesens eher hilflos ausgeliefert, die sie von Ort zu Ort schickt,
wo immer wieder etwas »Neues« versucht wird. Im Krankenhaus
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existieren ein oder mehrere Abrechnungsfälle, beim Hausarzt beginnt jedes Quartal von vorne. Die FallAkte jedoch befasst sich aus
Sicht der Patienten konstant mit einem medizinischen Fall. Hat ein
Patient dem Anlegen und der Nutzung einer eFA zugestimmt,
kön­nen alle Leistungserbringer, die vom Patienten die entsprechende Berechtigung erhalten, auf die Akte zugreifen und auf diese Weise aktuell und zuverlässig den Krankheitsverlauf und die
durchgeführten Untersuchungen und Therapien nachvollziehen.
Ist die Behandlung der Erkrankung ausgestanden, wissen die Pa­
tienten, dass ein weiterer Datenzugriff nicht mehr notwendig ist
und die FallAkte geschlossen wird. Darüber hinaus können Pa­
tienten jederzeit ihre Einwilligung zur Nutzung der eFA widerrufen, ohne dass ihnen Nachteile entstehen – abgesehen von der
Tatsache, dass die Daten wieder längere Zeit brauchen, um von
Arzt zu Arzt zu gelangen.
Patientinnen und Patienten in Deutschland haben das Recht
der freien Arztwahl; bei vielen technischen Lösungen zum medizinischen Datenaustausch wird dieses Recht eingeschränkt oder
komplett unterlaufen. Die FallAkte jedoch integriert eine Lösung,
bei der Patienten in Ruhe entscheiden können, zu welchen Ärzten
sie gehen möchten und trotzdem kann der Zugriff auf die Daten in
der FallAkte ermöglicht werden. Zu diesem Zweck existiert ein so
genanntes »Offline Token«, über das der Patient einem von ihm
frei gewählten Arzt das Recht zur Einsichtnahme in die eFA gewähren kann.
Ein Standard basierend auf Standards
Innovation ist nie Selbstzweck, sondern eine neue Lösung sollte
immer der effizienten Verbesserung existierender Lösungen dienen. Gerade im Bereich der Informationstechnik bedeutet
Innovation daher stets auch die Integration bestehender Systeme
bzw. die Nutzung bestehender Verfahren und Methoden. In diesem Sinne repräsentiert die elektronische FallAkte zwar selbst einen Standard, sie setzt allerdings auf anderen Standards auf.
So wurden bei der Konzeption der Sicherheitstechnik der Fall­
Akte internationale Standards berücksichtigt, was es ermöglicht
hat, die Referenzimplementierung der FallAkte komplett basierend auf frei verfügbarer Software zu realisieren. Den Forderungen
der Industrie entsprechend, besteht außerdem eine starke Nähe zu
IHE (Integrating the Healthcare Enterprise). Die Zugriffsoperationen
der eFA wurden auf die im IHE-XDS Profil vorgegebenen Ope­ra­
tionen abgebildet; konzeptionelle Einschränkungen, die sich im
Hinblick auf IHE-XDS ergeben, wurden durch Anpassungen des
eFA-Metamodells aufgefangen. Da IHE-XDS nur eine Ordnungs­
ebene für Dokumente zulässt und eine Schachtelung der Ord­ner­
strukturen nicht vorgesehen ist, ist es nicht möglich, Dokumente
semantisch miteinander zu vernetzen oder darauf hinzuweisen,
dass Dokumente in unterschiedlichen Zusammenhängen von
Bedeutung sind. Da dieser Ansatz für viele medizinische Infor­ p
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mationen inadäquat ist, erlaubt das Metamodell der eFA die fachlich korrekte Vernetzung von Dokumenten, so dass oberhalb von
IHE-XDS unterschiedliche Referenzen und Ordnungskriterien angegeben werden können. Für die Industrie ist die Nutzung des
IHE Profils eine enorme Erleichterung in Bezug auf Aufwand und
Kosten, da so Techniken und Komponenten genutzt werden können, die bereits in anderen Projekten und Ländern zum Einsatz
kommen.
Das Datenmodell wurde in Anlehnung an den HL7 Standard
entwickelt. Auf diese Weise können Komponenten genutzt werden, die für HL7-Anwendungen entwickelt wurden. Metadaten
zur Charakterisierung von Dokumenten in der FallAkte können
ohne Konvertierung aus HL7 Nachrichten entnommen werden.
Die elektronische FallAkte international
Bei der Berücksichtigung internationaler Standards hat sich gezeigt, dass die Standardisierungsgremien stark amerikanisch geprägt sind, was dazu führt, dass Standards zum Teil nicht den
deut­schen und europäischen Anforderungen entsprechen; dies
gilt insbesondere für föderale Länderstrukturen und Daten­schutz­
aspekte. Bei der Entwicklung der elektronischen FallAkte spielten
gerade diese Bereiche jedoch eine herausragende Rolle: Das Föde­
rationskonzept garantiert die Unabhängigkeit und Autonomie der
Leistungserbringer im Hinblick auf die Verwaltung medizini­scher
Daten. Die Anforderungen aus dem Datenschutz wurden bei der
Spezifikation der eFA konsequent beachtet; laut Tätigkeits­bericht
des Datenschutzes für die Jahre 2007 und 2008 führt die Anlage
einer elektronischen FallAkte »nicht zu der aus datenschutzrechtlicher Sicht bedenklichen unbefristeten Speicherung sensibelster
Gesundheitsdaten«.
Durch das Projekt »elektronische FallAkte« konnten die Kräfte
und der Einfluss der Leistungserbringer und IT-Anbieter in
Deutsch­land gebündelt werden, so dass auf der letzten IHE-Sit­
zung drei europäische Vorschläge – alle im Umfeld der eFA – auf
die priorisierten ersten Plätze gesetzt wurden. Es steht zu erwarten, dass sich die Konzentration auf gemeinsame Interessen im
eFA-Bereich auch weiterhin erfolgreich nutzen lässt, um Erwei­te­
rungen und Anpassungen in die Standardisierungsgremien einzubringen.
Auch das EU-Projekt »European Patients Smart Open Services«
(epSOS), in dem ein europaweiter Zugriff auf Patienteninformationen
erforscht wird, steht erheblich unter dem Einfluss der Spezifikation
der elektronischen FallAkte. Wie bereits erwähnt wurde, hat die
eFA zudem Auswirkungen auf die Arbeiten der gematik. Die Fall­
Akte stellt keine Konkurrenz zu den gesetzlich vorgeschriebenen
Anwendungen des §291a SGB V dar; im Bereich »Mehrwertdienste«
sind jedoch eFA-Konzepte von der gematik aufgenommen worden, so dass die Umsetzung der FallAkte als Mehrwertdienst der
Telematikinfrastruktur frühzeitig erfolgen kann.
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Die elektronische FallAkte als
Turbolader für die Gesundheitsreform
Bereits im Nachgang der Eröffnung der CeBIT-Sonderveranstaltung
2006 wurde die elektronische FallAkte als »Turbolader für die gesamte Gesundheitsreform« (heise.de) bezeichnet. Daran wird deut­
lich, dass mit dem Projekt etwas geschaffen wurde, was anderen
Bemühungen im Bereich Gesundheitswesen bislang verwehrt geblieben ist: Die kurzfristige Produktion einer Lösung für den sicheren einrichtungsübergreifenden Informationsaustausch im
Gesundheitswesen, deren Nachhaltigkeit und Praxistauglichkeit
im Rahmen flächendeckender Pilotprojekte erprobt und nachgewiesen wird. Konsequenterweise mündeten die Projektarbeiten in
der Gründung des eFA-Vereins, der die Pflege und Weiter­ent­
wicklung des Standards betreiben wird. Aktuelle Mitglieder des
Vereins sind private Klinikketten, Universitätskliniken, kommunale Häuser und Ärztenetze, die Kassenärztliche Bundesvereinigung
und die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Damit repräsentieren
die Vereinsmitglieder schon jetzt jedes vierte Krankenhausbett in
Deutschland – Tendenz steigend. Mit der Anbindung von MVZ
und niedergelassenen Ärzten in mehreren Pilotszenarien findet
die FallAkte eine immer breitere Basis auch im ambulanten Sektor.
Der Schritt der Vereinsgründung offenbart das Vertrauen der
Kran­kenhäuser in die FallAkte als einen Standard, der deutschlandweit und darüber hinaus einen wesentlichen Anteil der behandlungsbezogenen Kommunikation realisiert. In den letzten
Jahren gab es kaum eine Medizin-IT-Veranstaltung, auf der die
elektronische FallAkte kein Thema war.
Auch auf der conHIT 2010 ist die FallAkte präsent: Die
Asklepios-Kliniken demonstrieren gemeinsamen mit dem Fraun­
hofer ISST, wie die Datenübertragung bei Verlegungen zwischen
Krankenhäusern und unter Beachtung des Rechts auf freie Arzt­
wahl mit Hilfe der elektronischen FallAkte und des Offline-Tokens
schon heute effektiv unterstützt werden kann.
Claudia Reuter
arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik
ISST. Sie ist seit Beginn des Projektes »elektronische
FallAkte« in die Entwick­lung der Spezifikationen
involviert. Den Schwerpunkt ihrer Arbeiten bildet die
Anforderungsanalyse sowie die Erstellung fachlicher
Umsetzungskonzepte und der Abgleich mit existierenden Standards.
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