1 Sybille Haußmann MdL BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag

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Sybille Haußmann MdL
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW
Diskussionspapier
Für die Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht
10. – 12.12.2004 in Berlin
Dialog ist möglich
„Einwanderung ist eine produktive Kraft.
Unser Land, früher jahrhunderte lang ein Auswanderungsland,
ist faktisch längst zum Einwanderungsland geworden. Einwanderung erfordert auch gleichberechtigte politische, soziale und
kulturelle Teilhabe von Migrantinnen und Migranten. Der Umgang
mit Neuankömmlingen und Fremden ist ein Gradmesser
für die Offenheit unserer Gesellschaft. Unser Leitbild ist das
gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher
Herkunft bei Anerkennung ihrer kulturellen Vielfalt. Dafür
setzt unsere Verfassung den politischen Rahmen.“
Zitat aus: Bündnis90/Die Grünen, Grundsatzprogramm Präambel, S.19
Ausgehend von diesen in unserem Grundsatzprogramm festgelegten Grundsätzen müssen wir eine
Debatte führen, wie wir die kulturelle Vielfalt in unserem Land in Bezug auf Religionen, insbesondere
zum Islam als der drittgrößten Religionsgemeinschaft, organisieren wollen.
Die Religionen zugewanderter Menschen rücken mehr und mehr in den Mittelpunkt der
migrationspolitischen Debatten und der wissenschaftlichen Fachdiskussion. Mehr denn je scheint zu
gelten, dass die mitgebrachte Religion einen Hort der Sicherheit und des inneren Halts in einer neuen
aber fremden Heimat bietet. Es ist aber durchaus auch eine Hinwendung der zweiten und dritten
Einwanderergeneration zur im Herkunftsland der Eltern dominanten Religion zu beobachten.
Hier helfen eindimensionale Erklärungen nicht, die Analyse für diese Trends muss genauer
durchgeführt werden. Stichworte wie das Gefühl des ausgegrenzt Seins, durchaus aber auch der
aktiven und selbstbewussten Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft im Sinne eines "ich bin
anders, damit müsst ihr leben und umgehen", spielen hier eine Rolle. Ebenso sind weltpolitische
Ereignisse, die den vermeintlichen Anschein eines Überlegenheitsanspruchs christlichabendländischer Staaten erwecken, von Bedeutung sein. Letztlich können auch die in Deutschland
geführten Debatten um die innere Sicherheit, die Ausweisungstatbestände "religiös" motivierter
Straftäter bis hin zur Kopftuchdiskussion einen Entsolidarisierungseffekt gegenüber der
Aufnahmegesellschaft bewirken.
Viele Muslime sehen diese Debatten mangels persönlicher Betroffenheit als absurd an:
selbstverständlich hält man sich an die Gesetze, trägt kein Kopftuch und begrüßt eine harte Gangart
gegen Extremisten. Doch spätestens, wenn bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels neuerdings nach
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der Glaubenszugehörigkeit oder der Mitgliedschaft in einem Moscheeverein gefragt wird - wie dies in
einigen Bundesländern inzwischen der Fall ist -, entstehen Zweifel daran, ob die Mehrheitsgesellschaft
zur differenzierten Wahrnehmung von Muslimen in der Lage ist. Zweifel an der Akzeptanz ist der
erste Schritt auf dem Weg zur Entsolidarisierung.
Beispielhaft für die politischen Debatten bis zum Jahr 2001 im Umgang mit Muslimen sei hier der
Landtag Nordrhein-Westfalen genannt, eine Zusammenführung der verschiedenen Themen in einen
gemeinsamen Kontext wurde nicht vorgenommen. Im Gegenteil, die Debatten blieben lediglich additiv
nebeneinander stehen:
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Einführung eines islamischen Religionsunterrichts bzw. eines islamkundlichen Ersatzangebots.
Die Debatte endete vorläufig mit der Einführung der "Islamischen Unterweisung" im Rahmen
des muttersprachlichen Unterrichts.
Die Landesregierung ließ Studien zum Thema "Türkische Muslime in NRW" vom Zentrum für
Türkeistudien der Universität Essen erstellen
Lokale Debatten um den lautsprecherverstärkten Muezzinruf erreichten Mitte bis Ende der
neunziger Jahre ebenso den Landtag wie eine erste Debatte um islamischen Extremismus. Die
Studie "Türkische Jugendliche und islamischer Extremismus" von Profossor Wilhelm
Heitmeyer (Bielefeld 1996) lieferte einen ersten Hinweis auf die Abwendung von türkischen
Jugendlichen von der Mehrheitsgesellschaft.
Der bisherige Höhepunkt fremdenfeindlicher Attentate - davon eines gegen die jüdische
Synagoge in Düsseldorf und eines auf eine Gruppe jüdischer Migranten am S-Bahnhof
Werhahn - im Jahr 2001 mobilisierte die Politik in Nordrhein- Westfalen in erheblichem
Maße. Einer Finanzierung von kommunalen Programmen zur Bekämpfung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit folgte die Bildung eines "Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage", in
das auch Muslime einbezogen wurden.
2001 erreichte außerdem die Debatte um die Teilnahme an Klassenfahrten und bestimmten
Unterrichtsfächern von Kindern mennonitischen Glaubens den Landtag.
Mit den Anschlägen des 11. September 2001 und den Debatten um das Zuwanderungsgesetz wurde
zuletzt das Verhältnis zum Islam sehr stark unter Sicherheitsaspekten geführt. Gleichzeitig erreichten
jedoch - teils durch die Hintertür, teils mit Pauken und Trompeten - eine große Zahl weiterer
Islamthemen in den Landtag:
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Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum betäubungslosen Schächten und dem Tragen
des Kopftuchs muslimischer Lehrerinnen an öffentlichen Schulen
Das Friedhofs- und Bestattungsgesetz
Große Anfrage der FDP, noch unter Möllemann, zu "Muslime in NRW"
Urteile zu Klagen muslimischer Verbände zur Einführung eines islamischen
Religionsunterrichts
Eine Anhörung des Migrationsausschusses des Landtags zum Thema "Benachteiligung von
Menschen muslimischen Glaubens am Arbeitsplatz"
Ein Fernsehbericht über eine extremistische Ausrichtung der saudi- arabischen Auslandsschule
"König- Fahd- Akademie" in Bonn
Internatsgründungen eines der muslimischen Verbände
Getrennte Gutachten der Professoren Spuler- Stegemann und Muckel über die Möglichkeit der
Erlangung des Rechtsstatus "Körperschaft öffentlichen Rechts" für muslimische Verbände –
die diese Frage nur für Aleviten positiv beantworten
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sog. Parallelgesellschaften nach dem
Zuletzt die Debatte um die Gefahr durch
Anschlag auf Theo van Gogh in den Niederlanden
Jedwedem auftauchenden Thema folgten die üblichen politischen Rituale in Form von
Verbotsanträgen, zumindest aber der Verschärfung von Kontrolle, seitens der CDU, denen sich die
FDP in der Regel anschloss. Die Regierungsfraktionen wählten in der Regel den moderateren Weg.
Heute hat die Debatte über das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischer
Minderheit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Eine Leitlinie, die für GRÜNE Politik die
Grundlage im Verhältnis zum Islam als eine der drei größten Religionen in Deutschland sein könnte,
wurde bisher nicht entwickelt. Deshalb ist es notwendig, sich als GRÜNE damit auseinander zu setzen,
nach welchen Grundsätzen wir unsere Politik gegenüber dem Islam ausrichten wollen.
Folgende Eckpunkte in der Bestimmung unseres Verhältnisses zum Islam sind wesentlich:
1. Die Länder wie die Bundesrepublik insgesamt müssen ihren eigenen Weg im Umgang mit
ihren muslimischen Bürgerinnen und Bürgern suchen und finden. Hinweise auf andere Staaten
sind zwar von Interesse und evtl. lehrreich, können aber vor dem Hintergrund anderer
kulturhistorischer und poltisch-verfassungsrechtlicher Traditionen nicht automatisch
Vorbildfunktion für den Umgang mit Muslimen erlangen.
2. Ziel GRÜNER Politik muss sein, gleiche Rechte für alle Religionsgemeinschaften in
Deutschland zu erlangen. Wir sehen aber gleichzeitig, dass ein zur Gleichberechtigung
führender Prozess für Muslime und Staat langwierig sein wird. Eine viele Jahrhunderte alte
christliche Tradition kann aber auf Dauer keine Rechtfertigung für Ungleichbehandlung sein.
3. Ein Einstieg in einen geregelten Dialog zwischen Landesregierungen, Bundesregierung und
Muslimen ist überfällig. Nur über Kommunikation kann es zu Kooperation kommen, z.B. in
Fragen der Inhalte eines islamischen Religionsunterrichts, durchaus aber auch bei der
Isolierung oder Identifizierung extremistischer Gruppen oder Einzelpersonen. Darüber hinaus
müssen Fragen zu Seelsorge in Krankenhäusern, im Militär und in Gefängnissen geklärt
werden.
4. Von muslimischen Organisationen erwarten wir ein eindeutiges Bekenntnis zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung. Errungenschaften der Gesellschaft wie die Gleichstellung von
Frauen dürfen nicht aus vermeintlich religiösen Gründen infrage gestellt werden. Gleichzeitig
darf der Islam nicht mit der Benachteiligung von Frauen gleichgesetzt werden, denn oft genug
liegen die Gründe vielmehr in nicht religiös begründeten patriarchalischen Traditionen und
Familienstrukturen.
5. Es ist notwendig, dass sich die großen muslimischen Organisationen in einem demokratischen
Gremium zusammenfinden, das sie in ihren gemeinsamen Interessen vertreten kann. Um diese
Struktur aufzubauen muss der Staat Unterstützung leisten.
6. Die Länder müssen einen islamischen Religionsunterricht anbieten. Dies ist der einzige Weg,
Koranschulen zu begegnen.
7. Wir brauchen in Deutschland mehr Imame, die in den hiesigen kulturhistorisch/sozialen
Zusammenhängen zu Hause sind und die deutsche Sprache beherrschen. Die bisherige
Entsendepraxis aus den Herkunftsländern bzw. die Eigenausbildung durch muslimische
Organisationen muss durch ein von Staat und Muslimen abgestimmtes Hochschulangebot
ersetzt werden, das den bisherigen Mangel an Imamen beseitigt.
8. In der Kopftuchfrage gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz für alle Religionen.
9. Als langfristige Perspektive sind Staatsverträge analog zu den Verträgen mit den Christlichen
Kirchen auch zur Regelung der Rechte und Pflichten zwischen Staat und Muslimen notwendig.
10. Ein umfassendes zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, in das auch die Merkmale
"Religion oder Weltanschauung" aufgenommen werden, ist unverzichtbar, um Menschen beim
Leben ihres Glaubens und in ihrer Glaubensausübung vor Diskriminierungen besser zu
schützen.
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Es kann nicht bei der Reduzierung des Verhältnisses zum Islam auf Sicherheitsaspekte bleiben. Dem
ist sowohl ein anderer gesellschaftlicher Diskurs, als auch ein mutiges und konkretes politisches
Handeln gemeinsam mit all denen, die es wollen, entgegen zu setzen.
Sybille Haußmann, MdL
Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW
Rechts- und migrationspolitische Sprecherin
Platz des Landtags 1
40221 Düsseldorf
Telefon +49-(0)211-884-2030
Telefax +49-(0)211-884-3524
[email protected]
http://www.sybille-haussmann.de
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