APARTKONDU oder warum ich Howard Roark hasse

Werbung
Yegenoglu.qxd
19.10.2009
18:31 Uhr
Seite 66
Grün: die Farbe des Geldes
APARTKONDU
oder warum ich Howard Roark
hasse und den Müteahhit liebe
1
Hüsnü Yegenoglu
Der „Müteahhit“ ist einer der
wichtigsten und zugleich fragwürdigsten Akteure in
der heutigen Istanbuler Baupraxis. Er finanziert und
wickelt jede Art von Bauvorhaben für seine Kunden
ab, kennt sich aus im unkontrollierbaren Bau-Dschungel und weiß, wie man die geltenden Baugesetze und
bürokratischen Hindernisse umgeht. Er trifft schnelle
und eigenständige Entscheidungen – nicht unbedingt
im Sinne guter Architektur, aber stets auf sein finanzielles Wohlergehen bedacht.
Die Skizzen meines Vaters.
66
Istanbul 1987. Beim Aufräumen der Wohnung meines verstorbenen Vaters
finde ich in einer der Schubladen seines Schreibtisches mehrere Skizzen, die
er irgendwann auf dem dünnen Briefpapier eines „Rotary“-Hotels in Genf
gezeichnet haben muss. Ich sehe den Grundriss eines Grundstücks mit einer
eigenartigen Kontur, den Schnitt eines Appartementgebäudes und Entwürfe
für verschiedene Wohnungstypen.
Unter den Skizzen liegt eine Eigentumsurkunde, aus der deutlich wird,
dass er 1958 ein 2.522 Quadratmeter großes Grundstück in Fulya Mahallesi
im Stadtteil Sisli zusammen mit einem Freund erworben hat. Links oben auf
der Urkunde klebt ein kleines Schwarzweißfoto von ihm – ich sehe in das
Gesicht eines optimistischen jungen Mannes. Mit dem eleganten Sakko, den
mit Pomade nach hinten gekämmten Haaren und seinem festen Blick erinnert er mich augenblicklich an den idealistischen Architekten Howard Roark,
gespielt von Gary Cooper, in dem Film The Fountainhead (USA 1949). Die
Vorstellung, ein Grundstück in Istanbul geerbt zu haben, erregt mich. In Gedanken sehe ich mich schon auf der Dachterrasse eines von mir entworfenen
Gebäudes stehen und die großartige Istanbuler Stadtlandschaft genießen.
Die tanzenden Autos
1988. Bei meinem ersten Besuch in Fulya kommt die Ernüchterung schnell.
Das Gebiet in Hanglage ist unübersichtlich und zerklüftet, ich kann beim
besten Willen nicht erkennen, wo das Grundstück genau liegt. Der obere
Bereich des abschüssigen Terrains ist mit Erde aufgefüllt und dient als Parkplatz. Neben der Einfahrt steht auf einem verrosteten Schild in großen Buchstaben „GÜVEN-OTOPARK“. Hier übergeben Besitzer ihre Autos an junge
Männer, die sie mit äußerster Präzision, rasend schnell und so kompakt wie
möglich nebeneinander parken. Das zeitgleiche Manövrieren mit mehreren
Autos auf engstem Raum sieht aus wie ein Ballett, aber mit tanzenden Autos.
Ich bilde mir ein, einige Ähnlichkeit zwischen den Konturen des Parkplatzes
und denen des Grundstücks zu erkennen, frage einen der Fahrer nach dem
Betreiber und werde zu einer schäbigen Bude geführt, wo hinter einem
Schreibtisch ein kahler Fettsack mit einem Schnurrbart so groß wie eine
Schuhbürste sitzt. Ohne Umschweife behaupte ich, dass sein Parkplatz sich auf
meinem Grundstück befände und er es auf absehbare Zeit räumen müsste,
außer wenn er mir nachweisen könnte, dass das Grundstück doch ihm gehört.
Erst hinterher habe ich begriffen, dass meine Herangehensweise absurd,
ja gefährlich war. In den stark verdichteten Stadtteilen des Istanbuler Zentrums sind Parkplätze absolute Mangelware und daher big business und außerordentlich attraktiv. In Istanbul gibt es eine sehr aktive und gut organisierte
Parkplatzmafia, die leerstehende Grundstücke mietet oder besetzt, um sie
als Parkplätze zu betreiben, meistens mit Wissen der Stadtverwaltung und
der Polizei. Diese Leute sind nicht zimperlich und warten sicher nicht auf einen Architekten, der sie mit abenteuerlichen Behauptungen konfrontiert.
Die Qualität der Gecekondus
Das steile Gelände direkt unterhalb des Parkplatzes besteht aus einer verwilderten Landschaft mit dichten Sträuchern, hohen Pappeln und stinkendem Hausmüll, durchzogen von schmalen Trampelpfaden, die zu kleinen einstöckigen Häusern, so genannten Gecekondus, im unteren Teil des Geländes
führen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat deren Bewohner nach
Istanbul gebracht, wie mir Engin, einer von ihnen, der mich zum Tee einlädt,
erklärt. Engin führt mich durch sein Haus, das aus zwei kleinen Zimmern
besteht. Das eine Zimmer wird tagsüber als Wohnküche benutzt, abends wird
hier für die Kinder die Couch ausgeklappt und zum Schlafen werden
Matratzen auf den Boden gelegt. In dem zweiten Zimmer stehen dicht nebeneinander drei Einzelbetten, einige Kleiderschränke und Koffer in allen Größen, als wäre ein Umzug nur eine Sache von Minuten. Strom wird direkt von
der städtischen Elektrizitätsleitung abgezapft, was die vielen in der Luft hängenden Kabel, die die Häuser mit den entlang der Straße stehenden Strommasten verbinden, verraten. Obwohl auf dem Grundstück eines anderen gebaut und daher illegal, sind die Häuser inzwischen durch die Stadtverwaltung
Yegenoglu.qxd
19.10.2009
18:31 Uhr
Seite 67
Die Tiefgarage. Rechts: Eines der letzten
Gecekondus, das lebensgefährlich neben der
Baugrube „schwebt“.
Das blaue Gebäude im Hintergrund ist das
Bürogebäude Kömüryapi auf dem Grundstück,
das früher als Parkplatz benutzt wurde.
an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Das Ganze erinnert mich eher
an eine primitiven Eigenbau-Version der suburbanen Gartenstadt als an
Wohnen unter menschenunwürdigen Umständen, wie man es mit diesen
sogenannten Slum-Vierteln oft assoziiert.
Informalität ohne Chaos
Was mich am meisten fasziniert ist die Tatsache, dass das Fehlen „professioneller Planung“ hier mit Sicherheit nicht zu chaotischen Zuständen geführt
hat. Obwohl die Häuser nicht nach einem vorab entwickelten Bebauungsplan
angeordnet, gebaut und erschlossen wurden, lassen sich an dem Entstandenen
durchaus die Eigenschaften einer „natürlichen“ Raumorganisation ablesen.
Gleichzeitig wird mir aber deutlich, dass ich, wenn diese Häuser wirklich
auf dem Grundstück stehen, das ich suche, mit großen Problemen rechnen
kann, wenn ich hier bauen wollte. Der Eigentümer eines Grundstücks zu
sein, auf dem die Mafia eine Goldgrube von einem Parkplatz betreibt, erscheint mir aber genauso wenig verlockend. In einer solchen Situation liegt
es nahe, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Nur ist ein Prozess um ein Grundstück in Istanbul eine äußerst schwierige, wenn nicht völlig aussichtslose
Sache. Neben der Tatsache, dass ein Gerichtsverfahren mindestens einige
Jahre dauert, bedeutet ein positives Urteil noch lange nicht, dass es auch umgesetzt werden kann. Im Prinzip will niemand sich die Finger an den Gecekondus oder an der Grundstücksmafia verbrennen.
Der Komisyoncu
1990. Ich mache die Bekanntschaft von Guy Bavends, einem der letzten
Istanbuler Kosmopoliten alter Schule. Der gepflegte Herr ist von französischer Abstammung und bei unserem ersten Treffen sicher schon fünfund-
Engins Haus mit Garten.
Die Straßenfassade im ersten Entwurf.
siebzig Jahre jung. Ein Mann, der die Damen mit Handkuss begrüßt, ein
immer perfekt gekleideter sympathischer Opportunist und der charmanteste
Lügner, den ich je kennen gelernt habe.
Bavend ist einer der typischen Akteure des Istanbuler Bautheaters. In der
Schweiz als Architekt ausgebildet, aber de facto jemand, der gute Beziehungen hat, ein Komisyoncu (Vermittler), der weiß wo, wann und in welchem
Ton man „wichtige“ und „einflussreiche“ Personen anspricht und sich hierfür gut bezahlen lässt. Ohne den geringsten Zweifel behauptet er, für mich
den passenden Bauunternehmer finden zu können. Im Laufe der Zeit wird
mir zunehmend deutlich, dass Bavend ein sehr galanter Parasit ist, der vom
Schweiß und Geld anderer lebt, aber einem trotzdem immer das Gefühl
vermittelt, unentbehrlich zu sein, was ich von Architekten, jedenfalls in Istanbul, nicht behaupten kann.
Inzwischen wurde das Gelände durch Beamte vom Katasteramt eingemessen und zur Erleichterung aller Beteiligten befindet sich mein Grundstück ziemlich genau zwischen dem Mafiaparkplatz und den Gecekondus.
Ich selbst bin auch nicht untätig und entwerfe entsprechend dem geltenden Bebauungsplan für Fulya ein fünfgeschossiges Appartementgebäude
mit einer kleinen Garage für elf Autos. Mein architektonisches Ego treibt
mich, hier ein interessantes Gebäude zu bauen. Ein Juwel in einer halbrunden Form, die wie eine Hand den großen gemeinschaftlichen Garten mit
den hochgewachsenen Pappeln einrahmen soll. Während ich mir so meine
kleine Utopie ausdenke, fühle ich Roarks strengen, skeptischen Blick in
meinem Nacken brennen.
Der erste Müteahhit
1994. Bavend kommt mit einer frohen Botschaft. Ein „Müteahhit“2 (Projektentwickler, Bauunternehmer) zeigt Interesse. Bei unserem ersten Treffen lerne
ich gleich die ganze Familie Tetikçi kennen. Der ältere Bruder ist der
Geschäftsführer der Firma, die eigentlich mit thermischen Maschinen und
Straßenbau handelt. „Wir investieren auch in Häuser, Tourismus, Leder- und
Teppichhandel, wir sind sehr flexibel“, antwortet der ältere Tetikçi auf meine
Frage nach der baulichen Kompetenz der Firma. Die Tetikçis sind ein prima
Beispiel für diese wichtigste Komponente im Istanbuler Baugeschäft. Eigentlich lässt sich Müteahhit nicht übersetzen, da ein solcher viel mehr ist als ein
einfacher Bauunternehmer. Er hat ein intuitives Gespür für Geschäft und
Handel, unterhält ein kafkaesk labyrinthisches Netzwerk mit Beamten vom
Stadtplanungsamt, Politikern im Stadtparlament und Polizeibeamten und er
67
Yegenoglu.qxd
19.10.2009
18:31 Uhr
Seite 68
Grün: die Farbe des Geldes
Prügelknabe geworden für alles, was im Istanbuler Baugeschäft faul und korrupt ist. Dies ist äußerst scheinheilig, denn er konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil sehr viele bei „seiner“ Plünderung mitgewirkt und mitprofitiert
haben: Grundstücksbesitzer, Politiker, Beamte, Handwerker, die Bauarbeiter und die gesamte Bauindustrie. Roark würde ihn mit Sicherheit verachten,
aber der Müteahhit verkörpert durchaus den wahren „Geist“ von Istanbul.
Die Baugenehmigung
1996. Für einen sich selbst respektierenden Müteahhit gibt eine Baugenehmigung nicht an, was die Behörde zulässt, sondern die untere Grenze dessen, was auf einem Grundstück möglicherweise gebaut werden könnte. Ihm
geht es hauptsächlich darum, diese Grenzen soweit wie möglich zu überschreiten, um so den Gewinn zu maximieren. Das Gebäude erweitern, ein
oder zwei Stockwerke hinzufügen und die Abstandsnormen nicht einhalten
sind nur einige Beispiele dafür, wie man die Baugenehmigung ausdehnen und
aufblasen kann.Weil im Prinzip alle Beteiligten die Bauregeln missbrauchen,
kann dieser Vorgang als durchaus demokratisch bezeichnet werden. Sogar
die städtischen Beamten profitieren von diesem System, da sowohl der Erhalt
der Baugenehmigung als auch alle Änderungen, die im Nachhinein erfolgen,
abgekauft werden müssen. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint das
Bauen eines Appartementgebäudes, das von der ursprünglichen Genehmigung abweicht, für alle Beteiligten finanziell notwendig, vernünftig und sinnvoll. Eigentlicher und wirklicher Verlierer in diesem Spiel ist die städtische
Ökologie, die in der persönlichen Wahrnehmung aller Beteiligten aber absolut keinen Wert darstellt. Wer aber denkt dann überhaupt noch an die
Stadt als Ganzes, würde Roark zu Recht fragen.
Die Appartements auf der Tiefgarage.
hat zumindest „sehr gute“ Verbindungen zur Mafia, wenn er nicht selbst
dazu gehört. Er kann äußerst schnell und unkonventionell auf Veränderungen des Marktes reagieren und weiß selbstverständlich genau, wie der Kunde
wohnen möchte. Er kann lügen, ohne jemals rot zu werden und tut dies keineswegs, weil er ein geborener Lügner ist, sondern nur, weil das Geschäft und
seine Professionalität es erfordern.
Jemand wird in der Regel nicht Müteahhit, weil er Interesse am Bauen
hat, sondern weil das Bauen im Vergleich zu sonstigen ökonomischen Aktivitäten einen viel höheren Gewinn erbringt. Ist darum der Müteahhit skrupellos, wie behauptet wird?
Ja, weil er eine yap-sat-kaç (bauen-verkaufen-abhauen) Mentalität kultiviert, in welcher der schnelle persönliche Gewinn die alles bestimmende
Triebfeder ist. Ja, weil er zeigt, dass das Recht immer manipulierbar ist und derjenige, der sich trotz alledem noch daran hält, ein Dummkopf. Ja, weil er deutlich macht, dass egozentrisches Plündern städtischer Ressourcen und das Umgehen öffentlicher Regeln und Gesetze sich für ihn persönlich immer lohnt.
Nein, weil ohne ihn Istanbul niemals die Form angenommen hätte, die
es inzwischen hat. Der Müteahhit ist, ohne diesem Ziel jemals bewusst nachgestrebt zu haben, der wahre Stadtplaner, derjenige, der dafür gesorgt hat,
dass in der Stadt für Millionen von Migranten genügend Wohnraum in allen
Preisklassen entstanden ist. Er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass das
Gecekondu-Proletariat zum Nulltarif Besitzer städtischer Appartements geworden ist. Wenn es stimmt, dass der ökonomische Fortschritt Istanbuls in
den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich mit der Wertsteigerung der städtischen Grundstücke und (illegal-informellen) Bauaktivitäten zu tun hat, dann
ist der Müteahhit der unermüdliche Motor dieses Prozesses. Nach dem Erdbeben von 1999 ist der Müteahhit überhaupt der größte Sündenbock und
68
Die Baugrube
1997. Nach einem Jahr voller für mich nicht nachvollziehbarer Verhandlungen
mit der städtischen Behörde liegt die Baugenehmigung auf dem Schreibtisch des Müteahhit. Besonders stolz ist er auf die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, eine zweistöckige Tiefgarage von 3.600 Quadratmetern genehmigt bekommen zu haben, womit die Grundfläche der Tiefgarage inzwischen
größer ist als die aller Appartements zusammen. Nach Mitteilung dieser
frohen Nachricht und dem flotten Ausheben einer enormen Baugrube ohne
Dammwände, die die Nachbarhäuser und die Straße entlang dem Grundstück
vor dem Abrutschen sichern würden, bekommen die Tetikçis unerwartet
finanzielle Probleme und alle Bauaktivitäten werden gestoppt. Die ausgehobene Baugrube wird zu einem mit Schlamm und Regenwasser gefüllten
Krater, in dem Kinder aus der Nachbarschaft lange Zeit ihre Spielzeugboote
fahren lassen und Fliegen gemütlich ihre Eier ausbrüten.
Die Unterwelt der Metropolis.
Die „Chinesische Mauer“.
Yegenoglu.qxd
19.10.2009
18:31 Uhr
Seite 69
Links oben: Ein Schnitt durch ein Modell des ursprünglichen Entwurfs.
Rechts unten: Der Schnitt des realisierten Gebäudes.
Der nächste Müteahhit
1998. In dieser ausweglosen Situation interveniert Bavend. Der Müteahhit,
der auf dem Nachbargrundstück, das bei meinem ersten Besuch noch Parkplatz war, ein siebenstöckiges Bürogebäude gebaut hat (obwohl der Bebauungsplan nur Gebäude mit fünf Stockwerken und einer Wohnfunktion zulässt), möchte das Projekt übernehmen. Kömüryapi, so heißt der neue Bauunternehmer, ist neben seinen Bauaktivitäten auch im Devisenhandel aktiv.
Nach dem obligatorischen Besuch beim Notar fangen die Bautätigkeiten
zügig an. Als ich nach längerer Abwesenheit die Baustelle wieder aufsuche,
ist die erste Hälfte der Tiefgarage schon gebaut, was mich sehr freut.
Zugleich glaube ich, das Opfer einer optischen Täuschung zu sein, da nach
mehrmaligem Zählen die Garage nicht aus zwei, sondern nunmehr fünf Geschossen besteht und außerdem die gesamte Grundstücksfläche von 2.522
Quadratmetern in Beschlag nimmt. Dies wäre doch viel wirtschaftlicher, ist
die Erklärung von Kömüryapi und die Behörde würde sicher auch damit
einverstanden sein, da in diesem Gebiet ein großer Mangel an Parkplätzen
bestünde. Ich müsse mir wirklich keine Sorgen machen. Meine inzwischen
reichlich strapazierte Architektenwelt stürzt irreparabel zusammen, ich sehe
deutlich, dass mein Entwurf auf die tatsächliche Entwicklung absolut keinen Einfluss hat. Ich bin verzweifelt und spüre, wie sehr Roark mich jetzt
verachtet. Nach langen Gewissenskonflikten beschließe ich, mich auf das
offene Spiel der Kräfte einzulassen.
Das Gebäude
1999. „Überdecktes Parken 24 STUNDEN geöffnet“ steht auf dem großen
Spanntuch direkt über der Einfahrt. Nach der Anzahl der abgestellten Autos
zu beurteilen, gehen die Geschäfte äußerst gut. Meine Befürchtung, der
Müteahhit könnte sich auch schon mit der Garage zufrieden geben und den
Rest einfach nicht mehr bauen, erweisen sich jedoch als unbegründet.
Ein räumliches Problem, für das unter „normalen“ Umständen wochenlange architektonische und statische Umplanung erforderlich wäre, wird mit
einer Skizze auf dem Deckel einer Pizzaschachtel auf der Stelle gelöst. Worum geht es? Auf dem Nachbargrundstück hat Kömüryapi sein Bürogebäude
direkt auf die Grundstücksgrenze gebaut, ohne den offiziell erforderlichen
Abstand einzuhalten. Daher muss der Appartementblock mit seiner ganzen
Achse verschoben werden, will man den Bewohnern auf der Stirnseite des
Gebäudes noch die Möglichkeit geben, ihre Fenster zu öffnen. Die halbrunde
Form des Gebäudes wird mit einigen Strichen in eine S-Form verändert. Die
Schnelligkeit dieser Umplanung ist eindrucksvoll, ja schwindelerregend, aber
zugleich äußerst bedenklich. Auch die abgetreppte, dem Gefälle des Geländes folgende Kontur des Gebäudes steht der Wirtschaftlichkeit im Wege und
wird aufgegeben, so dass es jetzt wegen seiner Monumentalität durch
Anwohner die „Chinesische Mauer“ genannt wird.
Geht der Müteahhit hier nicht zu weit? Durchaus nicht, denn inzwischen
stehen überall Wohngebäude vergleichbarer Größe so dicht nebeneinander,
dass die schmalen und dunklen Zwischenräume unheimlichen Schluchten
gleichen, die mich an die finstere Unterwelt in Fritz Langs Film Metropolis
erinnern.
High Noon
Der zügige Verlauf der Realisierung endet abrupt mit einer blutigen Abrechnung. Der Partner von Kömüryapi und eigentliche Finanzierer des Gebäudes erschießt nur eine Viertelstunde nach einer Besprechung mit mir auf
der Baustelle einen Schuldner, wird festgenommen und verschwindet für
einige Jahre im Gefängnis. Der Geldstrom versiegt und ebenso alle Bauaktivitäten. Das Erdbeben von 1999 und die Wirtschaftkrise von 2000 geben
dem gesamten Istanbuler Wohnungsmarkt den Rest. Während die „Tiefgarage“ weiter lukrativ genutzt wird, entwickelt sich das von außen verputzte
und angestrichene Betonkasko langsam zu einer Ruine. Die zur Anlockung
potentieller Käufer perfekt eingerichtete Musterwohnung, die der Müteahhit
nebenbei als Büro benutzt, macht einen surrealistischen Eindruck inmitten
der dunklen Treppenhäuser, leeren Aufzugsschächte, klemmenden Türen,
kaputten Schalungen und herumliegenden Leitungsrohre.
Sogar Bavend hat sich davongemacht und kann „uns“ in dieser Situation
nicht mehr helfen, er ist völlig unerwartet verstorben. Aufgrund des immensen Überangebots an Wohnungen in Istanbul, die doch keiner bezahlen kann,
sieht sich der Müteahhit keineswegs aufgefordert, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Seine Einschätzung kann ich zwar nachvollziehen,
aber noch nicht akzeptieren. Ich befürchte, dass das Projekt, nachdem es sich
erst zu einem architektonischen Desaster entwickelt hat, jetzt auch zur finanziellen Katastrophe wird und der Gedanke, Mitbesitzer einer immensen
Bauruine zu sein, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Roarks unerbittlicher
Griff um meinen Hals wird unerträglich.
Ein Gespräch mit einem Rechtsanwalt macht mir deutlich, dass ich eine
Lösung zusammen „mit“ dem Müteahhit suchen muss, da ein Rechtsstreit
extrem teuer und sein Ergebnis unsicher sein würde. Ein Prozess würde
unseren „gemeinsamen“ finanziellen Interessen nur schaden, weil dabei der
Unterschied zwischen der Baugenehmigung und dem tatsächlich Gebauten
offenbar werden würde und alleine das Bereinigen dieses Problems ein Vermögen kosten würde. Er schlägt vor, vorläufig abzuwarten bis der Istanbuler Wohnungsmarkt sich erholt hat.
Inzwischen hebt sich das leere Appartementgebäude wie ein Geisterschiff ab gegen den Hintergrund des Panoramas von Fulya. Völlig verlassen
ist es jedoch keineswegs. Der Müteahhit hat seinem langjährigen Fahrer ein
Appartement überschrieben, das dieser ausgebaut hat und mit seiner Familie bewohnt. Die Wohnung wird mit einem Ofen geheizt, dessen Kaminrohr
trotzig aus einem verbretterten Element in der vor sich hin erodierenden
Fassade herausragt. Mit dem Anschluss an die öffentliche Stromversorgung
und Kanalisation hat sich in meinen Augen der Übergang vom GecekonduZeitalter in die Apartkondu-Phase endgültig vollzogen. Roark, als Ikone für
Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und architektonische Reinheit hat in Istanbul
versagt, die neuen Helden sind die korrupten, bauernschlauen Müteahhit.
Sie bauen Istanbul.
Verdienen sie nicht endlich ein Denkmal?
Gewidmet Monsieur Guy Bavend, dem charmantesten Meisterlügner,
dem ich je begegnet bin.
Die Namen der Bauunternehmer sind geändert.
1) Zuerst erschienen in: Self Service City:
Istanbul, hrsg. von Orhan Esen und Stephan
Lanz, Berlin 2005. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Autors.
2) Das vom arabischen „taahhüt“ („das Versprechen“) stammende Wort „Müteahhit“
(„derjenige, der etwas verspricht“, in diesem
Falle: die vertragsgerechte Vollendung eines
Bauauftrags) wurde durch die Istanbuler
Praxis des Bauens in Zeiten der Migration
durch eine volkstümliche neutürkische Wortschöpfung, „yapsatçi“ („derjenige, der baut
und verkauft“) ersetzt. Die Änderung der
Bezeichnung verweist unter anderem auf die
Änderung der Rolle. In den 2000er Jahren
jedoch zeichnen sich langsam die Konturen
einer endgültigen semantischen Trennung
beider Begriffe ab: Nunmehr bezeichnet das
Wort Müteahhit einen Agenten aus den
Reihen des größeren Kapitals, der wieder
im klassischen Sinne für (zahlungskräftige)
Kunden, gewöhnlich auch für Gemeinden
oder staatliche Bauherren (Groß-)Bauprojekte durchführt, während der lediglich im
Wohnungsbaubereich eigenständig tätige,
aggressivere Kleinkapitalist als „yapsatçi“
bezeichnet wird.
69
Herunterladen