Quasi-Strafrecht, Strafrecht im engeren und weiteren Sinne und

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Aus: Marc Amstutz/Inge Hochreutener/Walter Stoffel (Hrsg.: Die Praxis
des Kartellgesetzes im Spannungsfeld von Recht und Ökonomie, Zürich:
Schulthess 2011
Quasi-Strafrecht, Strafrecht im engeren und
weiteren Sinne und „Sozialethisches Unwerturteil“
M. A. Niggli/Chr. Riedo
Inhalt
I.
Nochmals: Zur Definition von Strafe
II.
Strafrecht und Nicht-Strafrecht
III.
Strafrecht im weiteren und Strafrecht im engeren Sinn?
A.
Die Suche nach Kriterien
IV.
B. Am Beispiel des schweizerischen Verwaltungsstrafrechts
Das „sozialethische Unwerturteil“ im Besonderen
V.
Weitere Kriterien (Strafregister, reformatio in peius, Vorwerfbarkeit)
A.
Strafregister
B.
Reformatio in peius
VI.
C. Vorwerfbarkeit/Schuldprinzip
Schlussfolgerung
I.
Nochmals: Zur Definition von Strafe
Wir haben an anderer Stelle verschiedentlich schon auf die Bedeutung der Tatsache hingewiesen, dass es sich nicht nur bei den kartellrechtlichen „Strafsanktionen“1, sondern auch bei seinen “Verwaltungssanktionen“2 um Strafen im eigentlichen Sinne handelt,3 also nicht etwa um etwas Strafähnliches oder Analoges zur
Strafe. Das ergibt sich alleine schon daraus, dass gar nicht klar ist (oder geklärt
werden kann), was eine strafähnliche Reaktion sein könnte. Eine derartige be1
2
3
Art. 54 ff. KG.
Art. 49a ff. KG.
Vgl. M. A. NIGGLI/CHRISTOF RIEDO, vor Art. 49a ff. N 1 ff., in: M. Amstutz/M. Reinert (Hrsg): Kartellgesetz, Basler Kommentar, Basel. 2010; CHRISTOF RIEDO/M. A. NIGGLI, Verwaltungsstrafrecht,
Teil 1: Ein Märchen, eine Lösung, ein Problem und ein Beispiel, in: I. Häner/B. Waldmann (Hrsg.):
Verwaltungsstrafrecht und sanktionierendes Verwaltungsrecht, Zürich 2010, 41-50; M. A. NIGGLI/CHRISTOF RIEDO, Verwaltungsstrafrecht, Teil 2: Eine Lösung, viele Probleme, einige Beispiele
und kein Märchen, in: I. Häner/B. Waldmann (Hrsg.): Verwaltungsstrafrecht und sanktionierendes
Verwaltungsrecht, Zürich 2010, 51-74.
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griffliche Konzeption setzt nämlich voraus, dass der Begriff „Strafe“ ein gradueller sei, was jedenfalls nach unserer Auffassung nicht zutrifft. Um ein graduelles
Konzept des Begriffs bzw. des bezeichneten Sachverhaltes „Strafe“ verwenden
zu können, muss nämlich ausser Streit stehen, was den „Kern“ dieses Begriffs
bzw. Sachverhaltes ausmacht. Anders ausgedrückt: Wenigstens idealtypisch
muss klar sein, was Strafe meint, weil ansonsten alles irgendwie Strafe sein kann
oder nicht, und entsprechend die Diskussion gleich unterbleiben kann.
Dasselbe gilt bezüglich des Begriffs „Quasi-Strafrecht“, der in der schweizerischen Lehre vereinzelt verwendet wird.4 Auch hier ist gänzlich unklar, was denn
Quasi-Strafrecht meinen sollte, es sei denn, man identifiziert es mit dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht.5 Wesentlich erscheint bereits hier, dass die
Geburt eines solchen Begriffes im europäischen Kontext nicht etwa dogmatische
Gründe hatte, sondern schlicht darauf zurückzuführen war, dass der EU die
Strafkompetenz fehlt, sodass Geldbussen, die sie ausfällt, aus diesem Grunde
keine Strafen sein können.6 Dass die deutschen Ordnungswidrigkeiten den
schweizerischen Verwaltungsstrafen bzw. den repressiven Verwaltungssanktionen funktionsäquivalent seien,7 wird nachfolgend zu widerlegen sein.
Als Ansatzpunkt kann uns die Diskussion zum europäischen Strafrecht dienen.
So unterscheidet beispielsweise SATZGER8 (punitive) Sanktionen von Strafen,
und bezeichnet sie als Strafrecht i.w.S. und Strafrecht i.e.S. (Kriminalstrafrecht).9
Ausgangspunkt der Überlegungen bildet eine Definition, die unter dem Begriff
der Sanktion „jede nachteilige Rechtsfolge versteht, die gegen denjenigen ausgesprochen und durchgesetzt wird, der gegen eine Rechtsvorschrift verstossen
hat“,10 wobei die Notwendigkeit von Sanktionen damit begründet wird, dass
Normen nur gelten könnten, wenn Normverstösse rechtlich geahndet werden
könnten und dies auch tatsächlich geschehe.11
4
5
6
7
8
9
10
11
GÜNTER HEINE, Quasi-Strafrecht und Verantwortlichkeit von Unternehmen im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaften und der Schweiz, ZStrR 2007, 105-132; CHRISTOPH LÜSCHER, Der Ruf
nach einem wirksameren und gerechteren Kartellstrafrecht – Ein irritierender Ruf?, Jusletter 15. März
2010.
So etwa HEINE, ZStrR 2007, 113.
Ganz offen HEINE, ZStrR 2007, 112.
HEINE, ZStrR 2007, 113
HELMUT SATZGER, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, 58 ff.; diesem folgend BERND HECKER,
Europäisches Strafrecht, 2. Auflage, Berlin 2007, 148 ff.
Ebenso schon ANNE HEITZER, Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Schriften
zum gesamten Wirtschaftsrecht, Bd. 25, Heidelberg, 1997, 9 ff.
SATZGER, Europäisierung, 59. Wortwörtliches (allerdings nicht gekennzeichnetes) Zitat aus HEITZER,
Punitive Sanktionen, 6.
SATZGER, Europäisierung, 59.
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Sozialethischer Unwert
Angesichts dieser Definition muss vorweg fragwürdig erscheinen, wie ein Begriffsmonstrum wie „punitive Sanktion“ überhaupt ent- bzw. bestehen kann, erscheint es doch als Pleonasmus, denn was anderes als eine nachteilige Rechtsfolge wäre eine Strafe?12 HEITZERs Begründung für diese Begrifflichkeit erscheint
denn auch interessant. „Punitive“ Sanktionen müssten von „anderen“ Sanktionen
unterschieden werden aus folgenden Gründen:
1.
2.
3.
Zweifelhaft sei, ob die Europäische Gemeinschaft überhaupt zuständig
sei für Strafen bzw. Strafrecht. Punitive Sanktionen aber seien in den
Mitgliedstaaten als „Strafrecht“ bezeichnet.
Fraglich sei sodann, welchen Anforderungen „punitive Sanktionen“
unterlägen, sei doch allgemein anerkannt, dass hier besondere Garantien gälten.
Fraglich sei drittens, ob zur Auferlegung der Busse Strafprozessrecht
oder Verwaltungsverfahrensrecht gelte.13
Bereits in dieser kurzen Begründung wird die eigentliche Motivation hinter der
Begriffskonstruktion deutlich: Weil zweifelhaft ist, ob die EU Strafrechtskompetenz aufweist, muss für mögliche Sanktionen ein anderer Name gefunden werden.14 Damit wird, was für das Strafrecht seit PAUL JOHANN ANSELM VON FEUERBACH15 als unverrückbare Errungenschaft galt, plötzlich diskutabel, namentlich die Frage nach den bestehenden Garantien bzw. die nach dem anwendbaren
Verfahrensrecht. Dass sich diese Fragen nicht nach dem Namen beantworten lassen, die der Strafe gegeben wird, ist zumindest für an FEUERBACH geschulte Juristen, ebenso wie für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner
Rechtsprechung zu Art. 5 und 6 EMRK zweifelsfrei. Aus schweizerischer Sicht
ist sodann zu bemerken, dass die Frage Nr. 3 (nach dem Verfahrensrecht) das
Verwaltungsstrafrecht nicht erwähnt, das aus schweizerischer Perspektive wohl
den engsten Bezug aufweisen würde.
Lässt man sich nun auf diese Dreiteilung von Strafrecht im engeren Sinn (Kriminalstrafrecht), Strafrecht im weiteren Sinn (punitive Sanktionen) und nichtstrafrechtliche Sanktionen ein,16 so sind zwei Unterscheidungen zu treffen, 1. eine
einfachere, nämlich diejenige von Nichtstrafrecht vom Strafrecht (in irgendeinem
Sinn, sei er nun weiter oder enger), und 2. eine ausserordentlich heikle, nämlich
die von Strafrecht im engeren von Strafrecht im weiteren Sinn. Zuerst zum Ein-
12
13
14
15
16
Was HEITZER, Punitive Sanktionen, 9, denn auch zugibt.
Vgl. HEITZER, Punitive Sanktionen, 9.
Vgl. sehr deutlich SATZGER, Europäisierung, 73.
P. J. A. VON FEUERBACH (1775-1833).
Von HECKER, Europäisches Strafrecht, 149 wird behauptet, sie habe sich durchgesetzt.
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fachen, nämlich der Unterscheidung von Strafrecht und Nicht-Strafrecht (bzw.
in dieser Nomenklatur: strafrechtlichen und nicht-strafrechtlichen Sanktionen).
II. Strafrecht und Nicht-Strafrecht
Eine formale Abgrenzung von Strafrecht und Nicht-Strafrecht wird mangels Kriterien und Praktikabilität verworfen.17 Abgestellt wird – analog der Praxis zur
EMRK – auf materiale Kriterien.18 Massgeblich sind danach primär der mit der
Sanktion verfolgte Zweck sowie ihre Wirkung.19 Dabei werden klassischerweise
restitutive, präventive und repressive Sanktionen unterschieden. Für eine Zuordnung zu den punitiven Sanktionen (bzw. dem Strafrecht i.w.S.) reicht danach aus,
dass zumindest auch ein repressiver (vergeltender) Zweck verfolgt wird, was der
Sanktion einen punitiven Charakter verleiht.20 Es erscheine eine Sanktion indes
auch dann als repressiv, wenn sie zwar ausschliesslich präventiv orientiert sei,
die tatsächliche Wirkung der Sanktion nach Art und Schwere der Rechtsfolge
aber punitiv bzw. repressiv sei.21 Das sei schwierig festzustellen, heranzuziehen
sei aber das Leitbild der Kriminalstrafe, wobei auf Freiheits- und Geldstrafe zu
verweisen sei.22 So habe ein Freiheitsentzug tendenziell repressiven d.h. Strafcharakter. Auch finanzielle Sanktionen seien jedenfalls dann Strafen, wenn sie
schwere Eingriffe in das Vermögen des Täters darstellten, seine wirtschaftliche
Bewegungsfreiheit erheblich beeinträchtigten oder die Grenzen der Wiedergutmachung eines Schadens deutlich überschritten.23
Soweit die Unterscheidung von Strafrecht und Nicht-Strafrecht, der man so wird
zustimmen können. Problematischer und zugleich schwieriger erscheint nun die
Vorstellung eines Strafrechts im weiteren Sinn und seiner Abgrenzung von einem Strafrecht im engeren Sinn.
17
18
19
20
21
22
23
HEITZER, Punitive Sanktionen, 34 f.; SATZGER, Europäisierung, 64 ff.; HECKER, Europäisches Strafrecht, 148 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 35 ff.; SATZGER, Europäisierung, 68 ff.; HECKER, Europäisches Strafrecht, 149 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 38 ff. prüft darüber hinaus (35 ff.) die Ähnlichkeit mit anerkannten
Leitbildern der nationalen Rechtsordnungen, die Tatbestandsvoraussetzungen insbesondere die Voraussetzung schuldhaften Verhaltens, sowie die Wirkung; SATZGER, Europäisierung, 68 f., 70 f.; HECKER, Europäisches Strafrecht, 149 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 38 f.; SATZGER, Europäisierung, 70; HECKER, Europäisches Strafrecht,
149 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 41 ff.; SATZGER, Europäisierung, 71; HECKER, Europäisches Strafrecht, 149 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 41 f.; SATZGER, Europäisierung, 71; HECKER, Europäisches Strafrecht,
149 f.
SATZGER, Europäisierung, 72.
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Sozialethischer Unwert
III. Strafrecht im weiteren und Strafrecht im engeren Sinn?
A.
Die Suche nach Kriterien
Für Strafrechtler, die mit dieser merkwürdigen Dichotomie wohl wenig anfangen
können, ist vielleicht der Hinweis sinnvoll, dass die Unterscheidung von Strafrecht im weiteren und im engeren Sinn essentiell die Unterscheidung von Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht meint.24 Die europarechtliche Lehre versucht
auch hier eine formale Abgrenzung, findet dafür aber nur die zu verhängenden
Sanktionen.25 Das Pferd wird also, jedenfalls aus einer FEUERBACHschen Perspektive, vom Schwanze her aufgezäumt. Es wird nicht der Begriff des Kriminalrechts nach seinen notwendigen Kriterien gebildet, sondern vielmehr phänomenologisch nach Gemeinsamkeiten in den nationalstaatlich als Strafrecht bezeichneten Rechtsbereichen gesucht, woraus der Typus des „Strafrechts im engeren
Sinn“ bzw. das Kriminalstrafrechts gebildet wird. Dem wird dann das „Strafrecht
im weiteren Sinn“ bzw. das Verwaltungsstrafrecht als ein aliud gegenübergestellt.26
Alleine dieses phänomenologische Vorgehen zeigt bereits die ganze Problematik.
Zum einen erscheint damit der Begriff des Strafrechts bzw. des Kriminalstrafrechts als durch und durch amorph. Ändern die Nationalstaaten ihre jeweiligen
als Strafrecht bezeichneten Rechtsbereiche bzw. deren Sanktionen, so ändert sich
damit zwingend der Begriff des europarechtlichen Kriminalstrafrechts. Wesentlicher aber noch: Die Frage danach beispielsweise, ob der Bestimmtheitsgrundsatz
und das Schuldprinzip auch im Bereich des „Strafrechts im weiteren Sinn“ Geltung beanspruchen, lässt sich phänomenologisch gar nicht beantworten. Wählt
man nämlich einen phänomenologischen Ansatz und erachtet Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip korrekt als wesentliche Prinzipien des Kriminalstrafrechts, so ergibt sich alleine aus der Existenz von Strafe, die diese Prinzipien
nicht berücksichtigt, nicht etwa deren Unzulässigkeit, sondern deren Definition
als Nicht-Kriminalstrafe. Der typologisch-phänomenologische Ansatz produziert
mithin immer (egal wie die Strafe ausgestaltet ist), ein Feld von „NichtKriminalstrafrecht“ bzw. „Strafrecht im weiteren Sinne“, das sich – wenn durch
nichts anderes, so doch immer dadurch auszeichnet, dass es strafrechtliche Kerngarantien nicht gewährt. Doch wir greifen vor.
24
25
26
Vgl. HEITZER, Punitive Sanktionen, 10 ff.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 9 f.; SATZGER, Europäisierung, 72 ff.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 10 ff.; SATZGER, Europäisierung, 75 ff.
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Der Versuch, Kriminalstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht materiell zu unterscheiden, ist sehr alt und geht auf GOLDSCHMIDT,27 MAYER,28 WOLF29 und
SCHMIDT30 zurück.31 Ein Verstoss gegen das Kriminalstrafrecht bedeute eine
Auflehnung gegen die Rechtsordnung, betroffen seien Individualrechtsgüter oder
materielle Lebensinteressen des Staates als Gesamtheit, während das Verwaltungsstrafrecht nur die Anliegen der Verwaltung schütze, ein Verstoss stelle hier
bloss Ungehorsam des Bürgers gegen den Staat dar. Kriminalstrafrecht habe
„den Schutz ethisch begründeter Kulturnormen zum Gegenstand“, während Verwaltungsstrafrecht „den Schutz von Sozialnormen“ anstrebe, welche die Wohlfahrt förderten. Verwaltungsstrafrecht schütze „keine sozialen Rechtsgüter, sondern den Gehorsamsanspruch des verwaltenden Staates durch die ethisch indifferente Ordnungsstrafe.“32 Ganz so, als ob die Verwaltungsnormen (also z.B. die
Steuergesetzgebung), ohne Bezug zu ethisch begründeten Kulturnormen stünden,
und so, als ob es überhaupt sozial massgebliche Regeln geben könnte, die keinen
solchen Bezug aufwiesen.33
Ganz ähnlich die Argumentation der deutschen Lehre zur Unterscheidung von
Kriminalstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht. Ordnungswidrigkeitenrecht
soll das Sozialleben entkriminalisieren. Kriminalstrafrecht soll auf die „wirklich
strafwürdigen Fälle beschränkt bleiben“.34 Der Kernbereich des Strafrechts
schütze „die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens“35 (Rechtsgüterschutz).
In den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts fielen dagegen „Zuwiderhandlungen, bei denen der Schuldvorwurf die Sphäre des Ethischen nicht erreicht und
der Bereich der sittlichen Persönlichkeit des Menschen überhaupt nicht berührt
wird.“36 Solche Verhaltensweisen seien nicht kriminell strafwürdig, „weil sie
ethisch nicht vorwerfbar sind und den Makel einer Kriminalstrafe nicht erfordern“ Dem Schuldvorwurf liege „ein sozialethischer Gehalt, wie er nur der Kriminalstrafe als einzig echter Strafe anhaftet“ nicht bei, „weil der Gesinnung des
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
JAMES GOLDSCHMIDT, Das Verwaltungsstrafrecht, Berlin 1902.
OTTO MAYER, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Auflage, München 1924, 257 ff.
ERIK WOLF, Die Stellung der Verwaltungsdelikte im Strafrechtssystem, in: Festgabe für Reinhardt
von Frank, Bd. 2, Tübingen 1920, 516 ff.
EBERHARD SCHMIDT, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht (Beil. 11 zu DRZ 1950), Tübingen
1950, 27.
Vgl. HEITZER, Punitive Sanktionen, 11 f.; JÖRG DEUTSCHER, Die Kompetenzen der Europäischen
Gemeinschaften zur originären Strafgesetzgebung, Diss. Potsdam, Frankfurt u.a. 2000, 152 f.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 152, hier und im Folgenden jeweils mit Belegen zur deutschen Lehre und
Praxis des deutschen Verfassungsgerichtes.
Was immerhin zugegeben wird: DEUTSCHER, Kompetenzen, 161.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 155.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 158.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 159.
96
Sozialethischer Unwert
Täters der hohe Grad der Verwerflichkeit“ fehle, „der das schwere sozialethische Unwerturteil der Kriminalstrafe rechtfertigt.“37 „Der Bussgeldsanktion haftet das mit der Kriminalstrafe notwendig verbundene Unwerturteil und daher der
Ernst der staatlichen Strafe nicht an“.38 Dennoch anerkennt auch die deutsche
Lehre, dass auch Ordnungswidrigkeiten Strafen sind39 und gibt sogar zu, dass eine materielle Unterscheidung nicht wirklich möglich ist, sondern letztlich nur eine Wertung des Gesetzgebers widerspiegeln soll, was sich in der Sanktion ausdrücke.40 Auf die Kategorie wird also aus der Sanktion geschlossen. Das erscheint zumindest klar, wenn auch damit die ganze Argumentation zum behaupteten Unterschied dahinfällt.
Die Unterscheidung ist denn auch nicht nur dogmatisch äusserst zweifelhaft41,
sondern gerade im europäischen Kontext wesentlich durch die Rechtsprechung
des EGMR42 überholt, was zumindest HEITZER43 zugibt. Eine Unterscheidung
von Kriminalstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht (bzw. Strafrecht i.e.S. und
Strafrecht i.w.S.) trete einzig noch in drei Punkten zutage:
1.
2.
3.
Verwaltungsstrafen dürfen von Verwaltungsbehörden verhängt werden
(während für Kriminalstrafen ein Richtervorbehalt gelte),
Freiheitsstrafe ist als Verwaltungsstrafe nicht zulässig,
Kriminalstrafen enthalten ein sozialethisches Unwerturteil, was auf Verwaltungsstrafen nicht zutreffe.44
Eine materielle Unterscheidung von Strafen des Kriminalstrafrechts und Bussen
des Verwaltungsstrafrechts hält HEITZER deshalb zurecht für überholt.45
Anders demgegenüber wesentliche Teile der späteren Lehre (die zwar erheblich
auf HEITZER abstellt, deren Resultaten aber nicht folgt).46 Auf die Sanktionen abstellend wird hier mit HEITZER davon ausgegangen, dass es einen anerkannten
Kernbereich des Kriminalrechts gebe, der über die Sanktionen definiert sei, wo-
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
DEUTSCHER, Kompetenzen, 159 f.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 160.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 161 f.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 162 f.
Vgl. NIGGLI/ RIEDO, vor Art. 49a ff., N 36 ff.; MARCEL ALEXANDER NIGGLI, Art. 10, N 12 ff. in: M.
A. Niggli/H. Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht I, JStG/Art. 1-110 StGB, 2. Aufl., Basel u.a. 2007, beide
m.w.H.
Vgl. NIGGLI/ RIEDO, vor Art. 49a ff., N 193 ff. m.N.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 17.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 17 f., zurecht skeptisch und tendenziell ablehnend allerdings diesem
dritten „unscharfen“ Kriterium gegenüber: 18 sowie 38 mit Fn. 191.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 18.
So insbesondere SATZGER, Europäisierung, 75 ff.; HECKER, Europäisches Strafrecht, 150 f.
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bei dies namentlich Freiheits- und Geldstrafe seien.47 Bei diesen Sanktionen liege
regelmässig Kriminalrecht vor. Bei der Geldstrafe allerdings nur bedingt. Nicht
jede finanzielle Belastung des Rechtsbrechers gehöre zum Kriminalrecht. Gerade
das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht, dessen Geldbusse als finanzielles Übel
qualifiziert würde, das nicht dem Kriminalstrafrecht zugehöre, zeige, dass eine
Geldbusse nicht zwingend Kriminalrecht darstelle. Wie erwähnt geht das zumindest an der EGMR-Rechtsprechung vorbei. Wesentlicher aber: Das Argument ist
keines, sondern stellt eine petitio principii dar. Die Qualifikation als NichtKriminalrecht nämlich wird schlicht unterstellt, nicht begründet. Entsprechend
offen bleibt, warum die Geldbusse des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts
keine Kriminalstrafe darstellen sollte (ausser eben formaliter). Damit ist man
wiederum zurückgeworfen auf die drei von HEITZER bereits angeführten Kriterien. Die implizite Qualifikation der deutschen Geldbusse nämlich dürfte wesentlich auf deren erstes Kriterium verweisen (keine Kriminalstrafe durch eine Verwaltungsbehörde), während ihr zweites Kriterium von SATZGER ausdrücklich
übernommen wird (keine Kriminalstrafe, wenn die Geldstrafe nicht ersatzweise
in Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann).48 Leicht erkennbar ist, dass bereits
dieses zweite Kriterium die Qualifikation von Sanktionen gegenüber Unternehmen als Kriminalstrafrecht ausschliesst, können sie doch nicht in den Freiheitsentzug gewiesen werden.
Ganz ähnlich auch die Argumentation von DEUTSCHER,49 der nach der Darstellung der deutschen Lehre vom Unterschied von Verwaltungs- und Kriminalstrafen,50 und der historischen Entwicklung des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts, aus der Funktion der europäischen Geldbusse und ihrem repressiven
Zweck korrekt die Qualifikation als Strafe ableitet.51 Dennoch verwirft er diese
Qualifikation. Zum einen, weil die europäische Geldbusse eine Gewinnabschöpfungsfunktion habe, was im deutschen Strafrecht anders sei (Verfall und Einziehung). Das dürfte ein schwaches Argument sein, hat doch die Strafe selbst immer
auch eine Gewinnabschöpfungsfunktion. Im schweizerischen Straf- und Strafprozessrecht ist das z.B. daran erkennbar, dass der Täter von Strafe befreit werden kann, wenn er u.a. den verursachten Schaden gedeckt hat (Art. 53 StGB).
Auch können die eingezogenen Gegenstände und Vermögenswerte zu Gunsten
der geschädigten Person verwendet werden (Art. 378 StPO). Bei einem Diebstahl
etwa (dem weitaus häufigsten Delikt nach Kernstrafrecht) passiert dies am ein47
48
49
50
51
SATZGER, Europäisierung, 76.
SATZGER, Europäisierung, 75 f., 79; HEITZER, Punitive Sanktionen, 9 f. ist offener und gibt zu, dass
international die Tendenz zur Typenerweiterung bestehe.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 174 ff.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 152 f.
DEUTSCHER, Kompetenzen, 174 ff.
98
Sozialethischer Unwert
fachsten mit der Rückgabe der Sache. Soweit im Übrigen eine staatliche Reaktion aufgrund ihrer repressiven Zwecksetzung als Strafe qualifiziert wird, muss sie
notwendig über die blosse Gewinnabschöpfung hinausgehen (die ja einer blossen
Restitution bzw. der Wiederherstellung des status quo ante entspricht).52 D.h.,
dass die staatliche Reaktion auch eine Gewinnabschöpfung bewirkt/bezweckt,
vermag an ihrer Qualifikation nichts zu ändern, solange sie nicht nur darin besteht.
B.
Am Beispiel des schweizerischen Verwaltungsstrafrechts
Wie erwähnt unterscheidet HEITZER53 Kriminal- und Verwaltungsstrafen mittels
dreier Kriterien:54
1.
2.
3.
Verwaltungsstrafen werden von Verwaltungsbehörden verhängt.
Freiheitsstrafe ist als Verwaltungsstrafe nicht zulässig.
Kriminalstrafen enthalten ein sozialethisches Unwerturteil.55
Versuchen wir nun, diese drei Kriterien auf das schweizerische Recht anzuwenden.
Das erste Kriterium (keine Kriminalstrafe durch Verwaltungsbehörden) entspricht mehr oder minder dem schweizerischen Recht, das in Art. 1 VStrR bestimmt, dass Verwaltungsstrafrecht anwendbar sei, wenn die Verfolgung und
Beurteilung einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen sei. Die Differenzierung, die das schweizerische Verwaltungsstrafrecht trifft, ist mithin eine rein
formelle. Die Anwendung des Verwaltungsstrafrechts ist auch keineswegs auf
Verwaltungsbehörden beschränkt, sondern gilt – hinsichtlich der richterlichen
Überprüfung – selbstverständlich auch für Verwaltungsgerichte.
Zu beachten gilt es auch, dass – soweit es sich um eine Strafe im Sinne der
EMRK handelt – im Verlaufe des Instanzenzugs jedenfalls einmal eine Überprüfung durch eine unabhängige richterliche Behörde möglich sein muss (sei sie nun
Kriminal- oder Verwaltungsgerichtsbehörde). Dasselbe gilt selbstverständlich
nach der Engel-Praxis des EGMR56 auch für andere nationale, europäische Ver52
53
54
55
56
Vgl. M. A. NIGGLI, Ultima ratio? Über Rechtsgüter und das Verhältnis von Straf- und Zivilrecht bezüglich der sogenannt "subsidiären oder sekundären Natur" des Strafrechts, Schweizerische Zeitschrift
für Strafrecht, 111, 236-263.
Vgl. vorn S. 7.
Analog wohl auch HEINE, ZStrR 2007, 112 f.
HEITZER, Punitive Sanktionen, 17 f. Zurecht skeptisch und tendenziell ablehnend allerdings diesem
dritten „unscharfen“ Kriterium gegenüber: 18 sowie 38 mit Fn. 191.
EGMR, Urteil i.S. Engel c. Niederlande vom 8.6.1976, Serie A Nr. 22, Ziff. 80 ff. Vgl. weiter z.B.
EGMR, Urteil i.S. Öztürk c. Deutschland vom 21.2.1984, Serie A Nr. 73, Ziff. 50 ff.; EGMR, Urteil
i.S. Campbell und Fell c. Grossbritannien vom 28.6.1984, Serie A, Nr. 80, Ziff. 71; EGMR, Urteil i.S.
Weber c. Schweiz vom 22.5.1990, Nr. 11034/84, Ziff. 30 ff.; EGMR, Urteil i.S. Demicoli c. Malta
99
M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
waltungsstrafverfahren. Insofern stellt auch das Kriterium „keine Kriminalstrafe
ohne Richter“ eine Leerformel dar. Denn was genau eine Kriminalstrafe sei, ist
eben nicht definiert, ausser dass die Strafe über das Strafgesetzbuch definiert
wird. Umgekehrt gelten aber für alle Sanktionen, denen Strafcharakter zukommt
(sei sie nun nach Kern- oder Nebenstrafrecht verhängt, handle es sich mithin
nach nationalem Verständnis um Kriminal- oder Verwaltungsstrafe), die Garantien der EMRK, insbesondere deren Art. 6.
Bereits das zweite Kriterium (keine Freiheitsstrafe nach Verwaltungsstrafrecht)
bietet demgegenüber nach schweizerischem Verwaltungsstrafrecht Probleme.
Zwar droht das Verwaltungsstrafrecht als Sanktion Busse an, doch bestimmt Art.
10 VStrR, dass die Busse vom Richter in Haft umgewandelt werden kann. Eine
solche Umwandlung ist nach Art. 10 Abs. 1 VStrR nur ausgeschlossen bei Ordnungswidrigkeiten, d.h. gemäss Art. 3 VStrR bei Übertretungen, die vom einzelnen Verwaltungsgesetz als Ordnungswidrigkeit bezeichnet sind. Das tut das
schweizerische Recht indes selten, so namentlich im Bereich des Zollrechts
(Zollgesetz,57 Zollverordnung,58 Verordnung über die Kontrolle des grenzüberschreitenden Barmittelverkehrs59), des Steuerrechts (Verrechnungssteuergesetz,60
Stempelabgaben,61 Biersteuer,62 Automobilsteuer,63 Mineralölsteuer,64 Tabaksteuer65 und Zinsbesteuerung mit der EG66), des Sozialversicherungsrechts
57
58
59
60
61
62
63
64
65
vom 27.8.1991, Nr. 13057/87, Ziff. 30 ff.; EGMR, Urteil i.S. Bendenoun c. Frankreich vom
24.2.1994, Nr. 12547/86, Ziff. 44 ff.; EGMR, Urteil i.S. Escoubet c. Belgien vom 28.10.1999, Nr.
26780/95, Ziff. 35 ff.; EGMR, Urteil i.S. Ezeh und Connors c. Grossbritannien vom 9.10.2003, Nr.
39665/98 und Nr. 40086/98, Ziff. 90 ff.; EGMR, Urteil i.S. Ziliberberg c. Moldavien vom 1.5.2005,
Nr. 61821/00, Ziff. 29 ff.; EGMR, Urteil i.S. Jussila c. Finnland vom 23.11.2006, Nr. 73053/01, Ziff.
30 ff.; EGMR, Urteil i.S. Galstyan c. Armenien vom 15.11.2007, Nr. 26986/03, Ziff. 55 ff.; EGMR,
Urteil i.S. Balsyt- Lideikien c. Litauen vom 4.11.2008, Nr. 72596/01, Ziff. 53 ff.
Art. 127 ZG vom 18. März 2005, SR 631.0: Widerhandlungen, die keine Zollwiderhandlung darstellen.
Art. 236 ZV vom 1. November 2006, SR 631.01: Verbot, das Zollpersonal zu fotografieren oder zu
filmen.
Art. 5 der VO vom 11. Februar 2009, SR 631.052: Verweigerung der oder falsche Auskunft nach Art.
3 des Erlasses.
Art. 64 VStG vom 13. Oktober 1965, SR 642.21: Übertretungen, die keine anderen Widerhandlungen
darstellen.
Art. 47 StG vom 27. Juni 1973, SR 641.10: Nichteinhalten von Bedingungen von Bewilligungen sowie Übertretungen, die keine anderen Widerhandlungen darstellen.
Art. 41 BStG vom 6. Oktober 2006, SR 641.411: Übertretungen, die keine anderen Steuerwiderhandlungen darstellen.
Art. 30 AStG vom 21. Juni 1996, SR 641.51: Übertretungen, die keine anderen Steuerwiderhandlungen darstellen.
Art. 41 MinöStG vom 21. Juni 1996, SR 641.61: Übertretungen, die keine anderen Steuerwiderhandlungen darstellen.
Art. 39 TStG vom 21. März 1969, SR 641.31: Verletzen der Meldepflicht sowie Übertretungen, die
keine anderen Steuerwiderhandlungen darstellen.
100
Sozialethischer Unwert
(Berufliche Vorsorge,67 Krankenversicherung68), sowie einer Reihe weiterer Erlasse (Fernmeldegesetz,69 Wehrpflichtersatz,70 Edelmetallkontrolle,71 Pfandbrief,72 Güterkontrolle,73 Geoinformationen.74 Schliesslich findet sich der Begriff
auch im Dienstreglement der schweizerischen Armee,75 ohne dass er allerdings
präzisiert würde.
Das schweizerische Recht kennt also die Verwaltungsstrafe (eine Busse, die in
Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann) und die Ordnungswidrigkeit (eine als
Ordnungswidrigkeit bezeichnete Übertretung, bei der die Umwandlung ausgeschlossen ist).
Bis Ende 2006 wären in der Schweiz gemäss dem Kriterium der Unzulässigkeit
von Freiheitsstrafen im Verwaltungsstrafrecht nur die vom Verwaltungserlass als
Ordnungswidrigkeit bezeichneten Übertretungen als Verwaltungsunrecht zu qualifizieren gewesen, während alle übrigen Sanktionen des Verwaltungsstrafrechtes
Kriminalstrafen dargestellt hätten. Dies allerdings auch nur dann, wenn sie natürliche Personen betrafen, weil nur dann Art. 10 VStrR zur Anwendung hätte gelangen können, nicht aber bei Unternehmungen. Umgekehrt hätte sich dies –
immer nach dem eigenartigen zweiten Kriterium der Freiheitsstrafe – seit Beginn
2007 aufgrund der Revision des Allgemeinen Teiles des Strafgesetzbuches geändert. Nach Art. 333 Abs. 5 StGB nämlich ist bei Verbrechen oder Vergehen,
für die ein Verwaltungserlass Busse androht, Art. 34 StGB anwendbar, mithin
die Geldstrafe. Geldstrafe nun kann nach Art. 36 StGB in Ersatzfreiheitsstrafe
umgewandelt werden, unter der Voraussetzung, dass der Verurteilte die Geldstrafe nicht bezahlt und sie auf dem Betreibungsweg nicht eingebracht werden kann.
66
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74
75
Art. 14 ZBstG vom 17. Dezember 2004, SR 641.91: Übertretungen, die keine anderen Steuerwiderhandlungen darstellen.
Art. 79 BVG vom 25. Juni 1982, SR 831.40: Widerhandlung gegen Verfügungen.
Art. 93a KVG vom 18. März 1994, SR 832.10: Erschwerung der Versicherungspflicht, Zuwiderhandlungen gegen Weisungen etc.
Vom 30. April 1997, SR 784.10: Verstoss gegen andere Bestimmungen des Fernmelderechts, der
Staatsverträge oder internationaler Vereinbarungen über das Fernmeldewesen oder eine entsprechende
Verfügung.
Art. 43 WPEG vom 12. Juni 1959, SR 661: Übertretungen, die keine anderen Widerhandlungen darstellen.
Art. 55 EMKG vom 20. Juni 1933, SR 941.31: Übertretungen, die keine anderen Widerhandlungen
darstellen.
Art. 46 PfG vom 25. Juni 1930, SR 211.423.4: Pfandbriefe in unzulässiger Höhe, Pfandregister, Aufbewahrung, Erschwerung der Buchprüfung oder Kontrollen.
Art. 15a GKG vom 13. Dezember 1996, SR 946.202: Übertretungen, die keine anderen Widerhandlungen darstellen.
Art. 51 GeoIV vom 21. Mai 2008, SR 510.620: Alle Übertretungen des Erlasses.
9. Kapitel Dienstreglement der Schweizerischen Armee vom 22. Juni 1994 (DR 04; SR 510.107.0).
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M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
D.h. die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe besteht v.a. bei mittellosen und
wirtschaftlich schwachen Verurteilten.76
Nach dem 2. Kriterium wäre mithin jedes Delikt eines Unternehmens grundsätzlich als Verwaltungsunrecht zu qualifizieren, obwohl die entsprechende Regelung sich in der Schweiz im Strafgesetzbuch findet, denn natürlich kommt für die
Busse bei Strafbarkeit der Unternehmung nach Art. 102 StGB keine Ersatzfreiheitsstrafe in Frage. Umgekehrt wären alle Übertretungen des Kriminal- und
Verwaltungsstrafrechts als Kriminalunrecht zu qualifizieren, denn sie sind nach
Art. 106 Abs. 2 StGB bei schuldhafter Nichtbezahlung in Ersatzfreiheitsstrafe
umwandelbar. Anderes gilt nach Art. 10 Abs. 1 VStrR nur für die als Ordnungswidrigkeiten bezeichneten Übertretungen. Sie wären als Verwaltungsunrecht zu
qualifizieren.
Entsprechend ergibt sich: Eine auch nur halbwegs einsichtige Unterscheidung
von Kriminal- und Verwaltungsstrafe nach dem Kriterium der Freiheitsstrafe
bzw. ihrer Absenz im Verwaltungsstrafrecht erscheint, zumindest für das
schweizerische Recht, nicht möglich. Alles deutet darauf hin, dass das andernorts
ähnlich ist.
Bliebe schliesslich das dritte und letzte Kriterium, das sog. sozialethische Unwerturteil, das der Kriminalstrafe, anders als der Verwaltungsstrafe, innewohnen
soll.
IV. Das „sozialethische Unwerturteil“ im Besonderen
Als letztes Kriterium der Abgrenzung von Kriminal- und Verwaltungsstrafe oder
eben von Strafrecht im engeren und weiteren Sinn bleibt ein Dogma, das die
deutschsprachige Europarechts-Lehre (weitestgehend unbesehen) aus der deutschen Verfassungslehre übernimmt, nämlich dass jede Kriminalstrafe ein sozialethisches Unwerturteil enthalte.77
Bemerkenswert daran ist nicht, dass ein solches Unwerturteil für die Kriminalstrafe postuliert wird, sondern vielmehr dass die Absenz eines derartigen Unwerturteils für andere Strafen behauptet wird, so dass das Unwerturteil Abgrenzungskriterium gegenüber Nicht-Kriminalstrafen darstellen soll. NichtKriminalstrafen (dem vorgenannten Strafrecht im weiteren Sinn bzw. das Ver76
77
So völlig zutreffend ANNETTE DOLGE, Art. 36 N 5, in: M. A. Niggli/H. Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht I, Basler Kommentar, 2. Auflage, Basel 2007.
SATZGER, Europäisierung, 77; HECKER, Europäisches Strafrecht, 151; zurecht skeptisch bereits HEITZER, Punitive Sanktionen, 18 f. und 38 f.
102
Sozialethischer Unwert
waltungsstrafrecht) soll – wie eben schon gesehen – kein moralisch-ethisches Urteil enthalten. „Bei Kriminalstrafen geht es daher um ‚symbolisch missbilligende
Zurückweisung’, wohingegen die Strafen im nur weiteren Sinn als nicht ehrenrührig eingestuft werden und eher einen Ungehorsam gegen technische Ordnungsnormen in mehr oder minder nachdrücklicher Form zum Ausdruck bringen.“78
Ganz ähnlich HEINE: „Für diese Strafrechtssysteme im weiteren Sinne ist kennzeichnend, dass es (im Vergleich zum Kriminalstrafrecht) nicht einfach um weniger sozialschädliche Verstösse79, wohl aber um ethisch vorwurfsfreiere, stärker
zweckhafte Konflikterledigung geht, weshalb eine im Vergleich zum Kernstrafrecht modifizierte Verantwortungslogik in Frage steht, die auch verwaltungsund zivilrechtliche Haftungselemente mitberücksichtigt und massgeblich durch
das Verhältnismässigkeitsprinzip austariert wird.“ 80
Das Dogma vom sozialethischen Unwerturteil, das die Kriminalstrafe notwendig
enthalte, setzt verschiedene problematische Annahmen voraus:
1. Zum einen ist diesem Dogma zufolge das Verhältnis von Strafrecht und
Ethik (bzw. Sozialethik als deren Teil) dergestalt ausgeformt, dass Kriminalstrafrecht zwingend ethisch konstituiert ist.
2. Zum anderen setzt das Dogma voraus, dass es Strafrecht (sei es nun Verwaltungsstrafrecht oder Polizeirecht) geben könne, das überhaupt keinen ethischen Gehalt/Bezug hat.
3. Schliesslich ist, wenn die 2. Annahme zutrifft, danach zu fragen, ob in diesem
Bereich des ethisch Freien das Schuldprinzip überhaupt greifen kann/soll
und ggf. warum.81
Vorliegend ist nicht der Ort, die erste Frage in extenso zu diskutieren. Immerhin
bemerkt sei aber, dass nicht wirklich einsichtig ist, warum nur Strafrecht diesen
ethischen (oder sozialethischen) Gehalt aufweisen sollte, während er dem übrigen Recht fehlen sollte. Wenn Recht Ordnungs- und Befriedungsfunktion für das
Zusammenleben von Menschen hat, so hat es dies sicherlich in all seinen Verästelungen. Und wenn Sozialethik nach den Bedingungen eines guten Lebens
fragt, wenn der Mensch erst als Glied des organisch gegliederten Ganzen […] ein
78
79
80
81
SATZGER, Europäisierung, 77.
Anderer Meinung offenbar ROLF WEBER, SALIM RIZVI, Compliance – Trojanisches Pferd vor den
Toren der Wettbewerbsbehörden? Zur Berücksichtigung von Compliance-Programmen in kartellrechtlichen Sanktionsverfahren, SJZ 2010, 501-509, 508, vgl. nachfolgend VI. Schlussfolgerungen.
HEINE, ZStrR 2007, 113.
Vgl. dazu etwa § 1 Abs. 2 des deutschen Ordnungswidrigkeitengesetzes: “Eine mit Geldbusse bedrohte Handlung ist eine rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes im Sinne des Absatzes 1 verwirklicht, auch wenn sie nicht vorwerfbar begangen ist.”
103
M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
sittliches Wesen wird, und die Pflicht zur Erhaltung und Stärkung der Gesellschaft als sozialethisches Grundgebot erscheint,82 so kann das sicherlich nicht nur
im Bereich des Strafrechts gelten.
Was nun den Bezug von Strafrecht und Sozialethik grundsätzlich betrifft, so ist
darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine Denkfigur fast ausschliesslich der
deutschen Strafrechtsdogmatik handelt. Zwar wird in der deutschen Dogmatik
verschiedentlich darauf hingewiesen, auch andere Rechtsordnungen kennten die
Argumentationsfigur,83 doch trifft das nur in äusserst beschränktem Masse zu.
Tatsächlich nämlich finden sich ohne weiteres Bezüge zur Ethik, aber eben kaum
zu Sozialethik. Einzig in Österreich (im Lehrbuch von KIENAPFEL/HÖPFEL und
dem schon älteren Lehrbuch von TRIFFTERER)84 finden sich entsprechende
Stimmen, wobei die h.L. aber eine Einschränkung des Notwehrrechtes aus „sozialethischen“ Motiven ablehnt.85 Auch wird Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht
fast überall unterschieden,86 aber eben nicht mittels eines ethischen Bezugs.
Typischerweise stützt denn auch keine der beiden französischen Quellen, die
SATZGER zum Belege der These, dass auch andere Rechtsordnungen mittels des
sozialethischen Unwerturteils Kriminal- von Verwaltungsstrafrecht unterschieden, anführt,87 diese These. Ganz im Gegenteil. PRADEL analysiert im Wesentlichen, warum das französische StGB den Begriff „Strafe“ und nicht denjenigen
der „Sanktion“ verwende.88 Das könnte immerhin mit Phantasie als Beleg gelesen werden, spricht doch PRADEL davon, dass „Strafe“ einen stärkeren Bezug
habe zur Moral als „Sanktion“. JEANDIDIER dagegen führt zum genauen Gegenteil dessen, was er belegen soll, aus, jede Strafe, nicht nur Kriminalstrafen seien
ehrenrührig (infamante).89
Interessant ist denn auch die Entstehung des Begriffs der „Sozialethik“. Der Begriff nämlich entsteht in der protestantischen Theologie der zweiten Hälfte des
82
83
84
85
86
87
88
89
Vgl. dazu das Stichwort “Sozialethik” in: J. RITTER et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995.
Für die “sozialethische Begrenzung” der Notwehr etwa: KRISTIAN KÜHL, “Sozialethische” Argumente
im Strafrecht, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 11, 2003, 219-243, 225 ff.; SATZGER, Europäisierung, 77 Fn. 416.
DIETHELM KIENAPFEL/FRANK HÖPFEL, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl., Wien 2003, 49; OTTO
TRIFFTERER, Österreichisches Strafrecht, 2. Aufl., Wien 1994, 219 f.; vgl. weiter PETER LEWISCH, § 3
N 107 ff. m.N., in: F. Höpfel/E. Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl.,
Wien 2003.
LEWISCH, § 3 N 113 ff. m.N.
Vgl. JEAN PRADEL, Droit penal comparé, Paris 1995, Nr. 109.
SATZGER, Europäisierung, 77 Fn. 416.
JEAN PRADEL, Le Nouveau Code Pénal, Paris 1993, 127 f.
WILFRIED JEANDIDIER, Droit penal général, Paris 1988, N. 373.
104
Sozialethischer Unwert
19. Jahrhunderts90 (die katholische Theorie verwendet analog den Terminus „Soziallehre“). Das erste Auftreten des Begriffs bei VON OETTINGENS zeigt im Untertitel „Moralstatistik“ seine Ausrichtung an. Es geht um eine Empirie der Ethik
bzw. der „sittlichen Bewegungsgesetze“. Die Sozialethik begreift den Menschen
dabei als sittliches Wesen erst in seinem Bezug auf die Gemeinschaft. Er wird
dergestalt auf das Grundgesetz der Solidarität konzipiert. Das Verständnis von
Sozialethik ist tendenziell konservativ orientiert und richtet sich gegen Individualismus und Vertragstheorie. Begründet werden soll insbesondere die christliche
Pflicht, die Gemeinschaft zu stärken.91
Die Bedeutung der Sozialethik für das Recht, insbesondere das Strafrecht dürfte
auf GEORG JELLINEK zurückgehen,92 obwohl JELLINEK (trotz seines ansonsten
berühmten Namens) im strafrechtlichen Diskurs des „sozialethischen Unwerturteils“ keinerlei Erwähnung findet. Interessant sein dürfte nun, dass JELLINEK
selbst auch blosses Verwaltungsunrecht für sittlich bzw. ethisch bedeutsam hält.
Der relevante Passus lautet:
„Eine dritte unentwickelte Form des Unrechts hat dann statt, wenn das Delikt
nicht in der Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsgutes, sondern nur in der
Übertretung einer die Verhinderung der Möglichkeit einer Rechtsgutsgefährdung
zum Zwecke habende Anordnung oder überhaupt in dem Zuwiderhandeln gegen
ein vom Staate erlassenes Gebot, dessen Befolgung dieser zum Behufe der Ausführung seiner notwendigen Zwecke zu verlangen berechtigt ist, besteht, wo also
nur das in jeder Schuld enthaltene Ungehorsamsmoment, die Missachtung des
Rechtsgebotes, den Charakter des Deliktes konstituiert. Hier sind die Wirkungen
des rechtswidrigen Handelns hauptsächlich verminderte Achtung vor dem Gesetze und Anreiz zu neuen Übertretungen, die Strafe demnach auf Repression dieser
beiden Äusserungen des Unrechts gerichtet. Während also die durch Zivilrecht
und Antragsverbrechen hervorgerufenen Störungen nur in den auf ein Individuum beschränkten psychologischen Wirkungen zur Existenz kommt, führt das
sogenannte Polizeiunrecht und der Ungehorsam eine, wenn auch geringe, so
doch über den Kreis einer einzigen Individualität hinausgreifende Erschütterung
herbei, welche jedoch nur einen Teil der möglichen Folgen des Unrechts enthält.
90
91
92
Genauer 1867 vom Theologen A. VON OETTINGEN, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre.
Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Bd. 1: Die Moralstatistik. Inductiver Nachweis
der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit, Erlangen 1868; Bd.
2: Die christliche Sittenlehre. Deductive Entwickelung der Gesetze christlichen Heilslebens im Organismus der Menschheit, Erlangen 1873.
VON OETTINGEN, Moralstatistik, Bd. 1, 27; Bd. 2, 3.
GEORG JELLINEK, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Auflage, Berlin
1980.
105
M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
Jene Formen des Unrechts bringen extensiv, diese intensiv unvollkommenen Störungen des sozialpsychologischen Gleichgewichts hervor.“93
Und noch deutlicher die zugehörige Fussnote 23:
„Mit vollem Recht weist v.Bar, a.a.O., S. 22, auf die unsittliche Qualität des polizeilichen Unrechtes hin.“ 94
Der fragliche Passus bei CARL VON BAR lautet:
„Indess Handlungen dieser Art stören oder gefährden das einmal nothwendige
Zusammenleben der Menschen, wenigstens thun sie dies nach der Ansicht des
Gesetzgebers oder des Gemeinwesens, welchem der Einzelne sich unterzuordnen
hat. Und was ist die Sittlichkeit anders als eine Handlungsweise, welche Richtung und harmonisch neben den Interessen des Individuums die Interessen des
Nächsten und der gesammten Menschheit, also auch des Gemeinwesens, dem der
Einzelne angehört, wahrt und befördert? Ist nicht auch eine Rohheit, d.h. Unsittlichkeit die muthwillige oder unbekümmert um den Erfolg vorgenommene Beschädigung öffentlicher Gartenanlage, die Unterlassung selbst des Bestreuens
eines Strassentrottoirs bei Glatteis, wenn Gefahr vorhanden ist, dass Menschen
sich beschädigen?
Wir können also sehr wohl die polizeilichstrafbaren Handlungen, auch insofern
sie die Verletzung bestimmter Rechte nicht enthalten, als unsittliche Bezeichnen,
und insoweit ist der von manchen Schriftstellern angenommene fundamentale
Unterschied zwischen Criminalverbrechen und Polizeivergehen zu verwerfen.
Man hat wohl die ersteren als ‚wirkliches’, die letzteren als ‚mögliches Unrecht’
oder als Rechtsgefährdungen aufgefasst. Dialectisch wäre dagegen einzuwenden,
dass jede Bestrafung ein wirkliches Strafrecht des Staates, also auf der anderen
Seite ein wirkliches Unrecht des Bestraften voraussetzt. Wir legen auf diesen
Einwand aber kein Gewicht und fassen den Kern jener Ansicht dahin auf, dass
der Staat ein Recht habe, auch solche Handlungen zu bestrafen, die nur eine Gefährdung eines Rechts enthalten, und dass letztere im Gegensatze der wirklichen
Rechtsverletzungen die Polizeivergehen bilden.“95
Man sieht, die Argumente für eine qualitative Unterscheidung von Kriminal- und
Verwaltungsrecht sind nicht neu und in den letzten 150 Jahren auch nicht besser
geworden. Wenig überzeugend bleibt denn auch nach wie vor die Behauptung
oder Vorstellung, es könne Strafrecht geben ohne einen ethischen Bezug, oder in
den Worten des deutschen Verfassungsgerichts: Strafe ohne den Ernst staatlichen
93
94
95
JELLINEK, Bedeutung, 130 f.
JELLINEK, Bedeutung, 131 Fn. 23.
CARL VON BAR, Die Grundlagen des Strafrechts. Eine Einleitung in die Theorie des Strafrechts, Leipzig 1869, 22.
106
Sozialethischer Unwert
Strafens. Versteht man den Staat als Gebilde, dessen Legitimation sich vom
Menschen herleitet, so kann es gar keine legitimen staatlichen Strafen geben, die
nicht direkt oder indirekt dem Schutze dieser Menschen (und damit eben der Sittlichkeit oder Ethik) dienen.96 Umgekehrt könnte man natürlich auch für die vollständige Trennung von Recht und Ethik argumentieren. Dann aber müsste das
wohl auch für den Bereich des Kern- bzw. Kriminalstrafrechts gelten. Massgeblich ist hier einzig, dass eine Unterscheidung von Kriminal- und Verwaltungsunrecht mittels eines Bezuges zur Ethik nicht zu leisten ist.
Gerade, dass dem Gesetzgeber ein Ermessen zustehen soll, ob ein Verhalten als
Kriminal- oder Verwaltungsunrecht qualifiziert wird bzw. ob das Verhalten kriminell oder bloss ordnungswidrig sei (was die deutsche Lehre ohne weiteres zugibt),97 zeigt an, dass es mit der Unterscheidung nach ethischem Gehalt nicht
ganz so ernst gemeint sein kann. Ordnungswidrigkeiten bzw. Verwaltungsstrafen
sind zweifelsfrei Strafen. Es kann ihnen aber der Ernst des staatlichen Strafens
nicht fehlen, erscheint doch beispielsweise eine Strafe wegen Steuerhinterziehung nicht als ethisch lässlich oder ethisch neutral. Der Steuerbetrug sollte dies
noch deutlicher werden lassen. Ein ethisch verwerflicher Betrug zum Schaden
eines Einzelnen kann doch nicht ethisch anders zu beurteilen sein (und wenn
schon, dann sicherlich nicht ethisch neutraler oder weniger verwerflich), wenn er
zum Schaden des Gemeinwesens begangen wird.
Nehmen wir aber einmal hypothetisch an, dass es tatsächlich möglich und sinnvoll wäre, den ethischen Gehalt einer Strafbestimmung (oder einer anderen
Rechtsregel) zu eruieren. Wie genau wollte man denn das tun? Dazu müsste es
eine Ethik-Skala geben, die objektiv unter allgemein anerkannten Bedingungen
das zu Messende anzugeben vermöchte. Alternativ müsste es ein für die Ethik
zuständiges Gericht geben, das die Frage über Autorität entschiede. Solch eine
unstrittige Instanz existiert indes nicht. Ein unterschiedlicher ethischer Gehalt
bzw. eine entsprechend unterschiedliche Wertung des Gesetzgebers lässt sich
folglich einzig aus der Tatsache ableiten, dass die Strafbestimmung eben nicht
dem Kriminal-, sondern dem Verwaltungsstrafrecht oder dem Ordnungswidrigkeitenrecht zugeordnet wurde. Damit aber begeht man eine petitio principii.
Denn wenn ich die Behauptung, Verwaltungsunrecht sei ethisch geringer als
Kriminalunrecht und Verwaltungsstrafnormen enthielten kein ethisches Unwerturteil, dadurch belegen will, dass es sich um Verwaltungsunrecht bzw. Verwaltungsstrafnormen handelt, dann stellt das eben keine Begründung dar, sondern
eine Wiederholung der Behauptung. Das mangelnde ethische Unwerturteil ergibt
96
97
Partiell wohl auch DEUTSCHER, Kompetenzen, 161 f.
Vgl. nur DEUTSCHER, Kompetenzen, 162 f.; WOLFGANG MITSCH, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2.
Aufl., Berlin 2006, § 3 N 13, beide m.w.N.; JÜRGEN BAUMANN, ULRICH WEBER, WOLFGANG MITSCH,
Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 11. Auflage 2003, § 4 N 16.
107
M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
sich in dieser Argumentation einzig aus der Tatsache, dass die Regel dem einen
oder dem anderen Rechtsbereich zugeordnet ist. Für den ethischen Gehalt ist damit gar nichts gewonnen, denn Kriminalstrafrecht unterscheidet sich von Verwaltungsstrafrecht eben nicht durch den strittigen Unterschied des ethischen Gehaltes. Offensichtlich ist einzig, dass eine Verwaltungsbehörde die Sanktion ausspricht. Natürlich kann man eine Differenz bezüglich des ethischen Gehaltes unterstellen, doch ist das eben eine Unterstellung oder Behauptung, die nicht belegt
ist.
Völlig unklar erscheint auch, wie der ethische Gehalt denn zu beurteilen wäre,
wenn eine Rechtsordnung nicht zwischen Kriminal- und Verwaltungsunrecht unterscheidet, oder alle von Verwaltungserlassen angedrohten Sanktionen ins Kernbzw. Kriminalstrafrecht und an die Kriminaljustiz verwiesen werden. Verändert
sich damit der ethische Gehalt der Strafdrohung? Dass eine Sanktion ins Verwaltungsrecht versetzt wird oder in ein Ordnungswidrigkeitenrecht (sofern ein solches existiert), statt ins Strafgesetzbuch, vermag an ihrem ethischen Gehalt nichts
zu ändern (es sei denn, man definiere Ethik bloss als Ausfluss und Abhängigkeit
des positiven Rechts).
Die Behauptung, der Kriminalstrafe hafte (im Gegensatz zu anderen Sanktionen
oder Strafen) zwingend ein sozialethisches Unwerturteil an, erweist sich damit
als nichts anderes denn eine nicht weiter belegte Denkfigur des deutschen Rechts
bzw. der deutschen Strafrechts-Dogmatik. Natürlich kann man dieser Behauptung zustimmen oder sie gar ins positive Recht übernehmen, damit ändert sich
aber die ethische Wertung eben gerade nicht. Die Frage nämlich, ob eine Regel
bzw. eine Sanktion einen ethischen Gehalt aufweise und ggf. welchen, lässt sich
eben positivrechtlich nicht fixieren. Entsprechend erscheint auch die Aussage,
eine kartellrechtliche Sanktion weise keinen sozialethischen Unwert bzw. kein
entsprechendes Unwerturteil auf, schlicht als Behauptung. Natürlich kann man
durch Kriminal- oder Verwaltungsstrafnormen ein ethisches Unwerturteil aussprechen wollen, doch lässt sich dieser Wille eben gerade nicht aus der Tatsache
der Zuordnung zum Kriminal- oder Verwaltungsstrafrecht schliessen.
Soll mithin z.B. die Frage beantwortet werden, ob Kartellsanktionen ein sozialethisches Unwerturteil enthalten, so lässt sich das gerade nicht aus irgendeiner
Zuordnung schliessen. Was das europäische Kartellrecht betrifft, bestehen hier
eben gerade keine unterschiedlichen Zuordnungen, weil gar keine Kompetenz zu
kriminalrechtlichen Sanktionen besteht.98 Wenn also überhaupt eine Sanktionskompetenz bestehen könnte, so eben nur eine verwaltungsstrafrechtliche. Entsprechend lässt sich aus der „Zuordnung“ der europäischen Kartellbussgelder
hinsichtlich ihres ethischen Gehaltes überhaupt nichts gewinnen.
98
Vgl. nur DEUTSCHER, Kompetenzen, 213 ff.
108
Sozialethischer Unwert
Im nationalen Recht könnte nun zwar (wenigstens dort, wo Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht bestehen bzw. unterschieden werden) eine Differenz behauptet werden bzgl. des ethischen Gehaltes von Kriminal- und Verwaltungsstrafen.
Aber diese Differenz ist eben ihrerseits bloss Reflex einer Zuordnung zum Kriminal- oder Verwaltungsstrafrecht. Es liesse sich der ethische Gehalt einer Strafbestimmung gar nicht anders eruieren, denn durch diese Zuordnung zu unterschiedlichen Bereichen. Die beiden Bereiche unterscheiden sich aber objektiv
primär formal, nämlich dadurch, dass die Bestimmungen durch die Justiz (Gerichte) bzw. die Exekutive (Verwaltungsbehörde) angewandt werden. Warum
überhaupt ein Rekurs auf die Ethik notwendig sein sollte, erscheint völlig unklar,
wenn dieser Rekurs sich seinerseits von der Zuordnung herleitet.
Nur am Rande sei schliesslich vermerkt, dass das eigentliche Ziel, das mit der
Schaffung des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts verfolgt wurde,99 die Entkriminalisierung war. Nun kann man es natürlich als Entkriminalisierung bezeichnen, wenn der Täter nicht von einem Kriminalgericht, sondern von einer
Verwaltungsinstanz bestraft wird, doch wird erlaubt sein, Zweifel anzumelden an
der Bezeichnung dieses Vorgehens als „Entkriminalisierung“.
V. Weitere Kriterien (Strafregister, reformatio in peius,
Vorwerfbarkeit)
SATZGER100 und ihm folgend HECKER101 wollen darüber hinaus noch zwei weitere Kriterien zur Unterscheidung von Verwaltungs- und Kriminalstrafe erkennen,
namentlich dass (1) die Strafe bei Kriminalsanktionen im Strafregister eingetragen wird und dass (2) die reformatio in peius bei Kriminalstrafen unzulässig, bei
Verwaltungsstrafen aber zulässig sei. Hier sei nur ganz kurz auf die beiden Argumente eingegangen, weil sie keine wirklichen Begründungen darstellen.
Beide Argumente zäumen das Pferd beim Schwanze auf. Es lässt sich doch kaum
über die Konsequenzen einer Strafe erkennen, was denn eine Strafe sei. Vielmehr
müsste zuerst danach gefragt werden, was eine Strafe sei bzw. wie sie zu definieren sei und hernach wären die entsprechenden Konsequenzen zu fixieren. Dass
etwas ins Strafregister eingetragen wird, hängt ja an seiner Natur, seinem Charakter und dasselbe gilt hinsichtlich der reformatio in peius, die sich ja als Institut
aus einer bestimmten Funktion im Strafverfahren ergibt.
99
100
101
Vgl. BAUMANN/WEBER/MITSCH, § 4 N 13; DEUTSCHER, Kompetenzen, 154 m.w.N.
SATZGER, Europäisierung, 79.
HECKER, Europäisches Strafrecht, 150 f.
109
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LÜSCHER102 schliesslich will eine Reihe von Gründen erkennen, warum es sich
bei den Kartellstrafen nur um „Quasi-Strafrecht“ handelt. Die Argumente richten
sich dabei ausschliesslich darauf, das Schuldprinzip für Unternehmen zu verneinen.
A.
Strafregister
Ins Strafregister werden in der Schweiz alle Verurteilungen durch zivile und militärische Strafbehörden wegen Verbrechen oder Vergehen eingetragen, unabhängig ob die Widerhandlung das StGB oder ein anderes Bundesgesetz betrifft
(Art. 3 Abs. 1 lit. a VOSTRA103). Dasselbe gilt für Übertretungen, sofern eine
Busse von mehr als 5000 Franken oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 180
Stunden verhängt wird, oder die urteilende Behörde im entsprechenden Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt oder verpflichtet wird, bei einer erneuten Widerhandlung eine Busse mit einer bestimmten Mindestgrenze oder neben einer
Busse eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe auszusprechen (Art. 3 Abs. 1 lit. b
VOSTRA). Wie daraus deutlich wird, lässt sich eine Unterscheidung von Kriminal- und Verwaltungsunrecht über einen Eintrag ins Strafregister nicht bestimmen.
B. Reformatio in peius
Auch das Kriterium der reformatio in peius versagt. Zwar gilt im Kriminalrecht
üblicherweise das Verbot der reformatio in peius, anders als im Verwaltungsrecht. Doch ist dies eben nur üblicherweise so. In den schweizerischen Strafprozessordnungen (die bis Ende 2010 in Kraft standen) galt beispielsweise das Verbot der reformatio in peius nicht überall und war auch keineswegs einheitlich
ausgestaltet.104 Auch aus anderen Gründen verschlägt die Unterscheidung nicht.
Wird nämlich die gerichtliche Beurteilung eines entsprechenden Verwaltungsaktes verlangt, so wird die gesamte Angelegenheit aus dem (reinen) Verwaltungsrecht bzw. dem Verwaltungsstrafrecht ins (reine) Strafrecht überführt: Art. 73
VStrR. Sobald die gerichtlichen Instanzen zuständig sind, gilt wiederum das
Verbot der reformatio in peius: Art. 80 VStrR sowie Art. 391 Abs. 2 der seit
2011 gültigen eidgenössischen Strafprozessordnung. Zwar gilt das Verbot der
reformatio in peius bei der erstinstanzlichen gerichtlichen Beurteilung eines bis
dahin reinen Verwaltungsaktes nicht (so etwa bei der gerichtlichen Beurteilung
von Übertretungen oder bei Strafbefehlen), denn das Gericht war ja mit dem Fall
102
103
104
LÜSCHER, Jusletter 2010, N 79.
Verordnung über das Strafregister vom 29. September 2006, SR 331.
ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 98 N 3 und 5 ff.
110
Sozialethischer Unwert
noch nicht befasst und steht der Sache unabhängig gegenüber.105 Für die folgenden Instanzen allerdings gilt der Grundsatz: Art. 391 Abs. 2 StPO. Nachdem für
alle Sanktionen, die nach der autonomen Auslegung der EMRK „Strafcharakter“
haben, zumindest einmal eine Überprüfung durch eine unabhängige gerichtliche
Instanz möglich sein muss, ergibt sich mithin, dass für alle Fälle, in denen die
EMRK den Strafcharakter bejaht, das Verbot der reformatio in peius im Rahmen
des justiziellen Verfahrens gilt. Die Anwendung des Kriteriums führt also dazu,
dass alle Sanktionen, die nach EMRK als Strafen erscheinen, grundsätzlich auch
nach diesem Kriterium als Kriminalstrafen zu qualifizieren sind. Eine Unterscheidung zur „blossen“ Verwaltungsstrafe ist damit nicht möglich.
C. Vorwerfbarkeit/Schuldprinzip
Bemerkenswert am Aufsatz von LÜSCHER106 ist vorweg, dass sich hier ein Privatrechtler mit dem Strafrecht auseinandersetzt, was wohl selten geschieht. Bemerkenswert ist auch, dass er gegen ein zentrales Prinzip des Strafrechts, nämlich
das Schuldprinzip argumentiert. Anders als andere Autoren gibt LÜSCHER unumwunden zu, worum es sich bei der Behauptung eines „Quasi-Strafrechts“ oder
„Strafrechts im weiteren Sinn“ tatsächlich handelt: Die Abschaffung der Schuld.
Als erstes Argument bringt LÜSCHER vor, die Widerhandlungen nach Art. 5 KG
seien Handlungen im Gegensatz zu denjenigen nach Art. 102 StGB, die Unterlassungen darstellten. Dazu führt er bemerkenswerterweise aus „dass gemeinhin
das Unrecht, das der Täter durch die Vornahme der verbotenen Handlung verwirklicht, bedeutend höher gewichtet wird als das Unrecht, das er durch das Unterlassen der gebotenen Handlung realisiert“.107 Ganz abgesehen davon, dass das
bzgl. Art. 102 StGB nur beschränkt zutrifft, dürfte das Argument Strafjuristen
überraschen, sind doch Handlungen und Unterlassungen nach Art. 11 StGB
gleichwertig (Garantenstellung vorausgesetzt). Der Allgemeine Teil des StGB
seinerseits ist auf das KG aufgrund von Art. 333 Abs. 1 StGB anwendbar, denn
das ebenfalls anwendbare Verwaltungsstrafrecht (Art. 1 VStrR) statuiert hier
keine Abweichungen (Art. 2 VStrR).
Insofern als die Argumente 2 und 3 darauf abstellen, dass die kartellrechtliche
Strafe Unternehmen betreffe und nicht die für sie handelnden natürlichen Personen, ignorieren sie, dass nach Art. 2 Abs. 1bis KG auch natürliche Personen Un-
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106
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HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, Strafprozessrecht, § 88 N 7.
LÜSCHER, Jusletter 2010.
LÜSCHER, Jusletter 2010, N 17. Unsere Hervorhebung.
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M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
ternehmen im Sinne von Art. 2 KG sein können.108 Diese Argumente können wir
deshalb hier ignorieren.
Argumente 4-6 adressieren ein eventuelles Organisationsverschulden, das dem
Unternehmen zum Vorwurf gemacht werden könnte. LÜSCHER verneint dies mit
drei Gründen. 4. Damit, dass ohnehin Leitungspersonen aktiv würden, weshalb
ein Compliance Programm nutzlos bliebe. 5. Das Unternehmen könne nicht
gleichzeitig gegen das Kartellverbot verstossen und gleichzeitig „das Gebotene
vorgekehrt haben, um den Verstoss zu verhindern“. Und 6. Nach der deutschen
Doktrin könne ein Unternehmen a priori nicht schuldhaft handeln, weshalb es
sich auch nicht anders hätte organisieren können. Das fünfte Argument können
wir ignorieren, weil hier offensichtlich vom Resultat her argumentiert wird, also
erfolgsstrafrechtlich: Hat ein Kartellverstoss stattgefunden, dann muss ein Fehler
vorgelegen haben. Dasselbe gilt für das 6. Argument: Es wird grundsätzlich verneint, dass ein Unternehmen überhaupt je anders handeln kann, als es gehandelt
hat. Der deutschen Lehre (und ihrer Ausrichtung auf die sittliche Schuld) folgend, wird behauptet, das Unternehmen könne überhaupt nicht entscheiden
(„nicht schuldfähig sein kann“109), weshalb es nicht schuldfähig sei. Ein wie auch
immer geartetes „Organisationsverschulden“ existiere nicht.110 Nun kann man
solches behaupten, nur ist es eben kein Argument, sondern eine Behauptung.
Trotz der STRATENWERTHschen Philippika gegen das Konzept des Organisationsverschuldens führt genaue Betrachtung wohl zur Feststellung, dass de lege
lata die Strafbestimmung von Art. 102 StGB genau das erfasst: Der Vorwurf, der
dem Unternehmen gemacht wird, betrifft gerade nicht die konkrete Deliktsbegehung. Strafbarkeit des Unternehmens setzt erst und wegen mangelnder Organisation ein, entweder weil sie die Aufklärung des Deliktes verhindert (Abs. 1) oder
weil sie die Deliktsbegehung überhaupt möglich macht (Abs. 2).111 Nun kann
man das Konzept des Organisationsverschulden (de lege ferenda) zwar ablehnen,
seine Existenz (de lege lata) einfach zu verneinen, erscheint aber unzulässig.
Das 7. Argument spricht den Zweck der Kartellstrafe an. Die Strafe solle danach
die soziale Erwartung in die Marktwirtschaft schützen. Widerhandlung gegen
Kartellvorschriften müssten deshalb essentiell über die Schwere des Verstosses
beurteilt werden. Schuldminderungs- oder –ausschlussgründe könnten die Wiederherstellung dieser Erwartung behindern. Straftheoretisch wird hier nichts an108
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JENS LEHNE, Art. 2 N 13, in: M. Amstutz/M. Reinert (Hrsg): Kartellgesetz, Basler Kommentar, Basel
2010.
LÜSCHER, Jusletter 2010, N 16.
Darin GÜNTER STRATENWERTH, Voraussetzungen einer Unternehmenshaftung des lege ferenda,
ZStrR 2008, 1-16, 16, folgend.
Vgl. M. A. NIGGLI/DIEGO GELLER, Art. 102 N 18 ff., in: M. A. Niggli/H. Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht I, JStG/Art. 1-110 StGB, 2. Aufl., Basel u.a. 2007.
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Sozialethischer Unwert
deres gesagt, als dass das Schuldprinzip hinter die Ziele von negativer oder positiver Generalprävention zurücktreten müsse, ganz so, als schlössen sie sich aus.
Auch dies kann man natürlich vertreten, doch bleibt dann die Frage, weshalb im
Kernstrafrecht das Schuldprinzip (vorläufig zumindest) Bestand habe.
Als letztes Argument schliesslich (Nr. 8) wird die praktische Schwierigkeit ins
Feld geführt, ein Organisationsverschulden zu eruieren bzw. ComplianceProgramme zu evaluieren. Der „Wettbewerb um die beste Compliance“112 würde
behindert, wenn ein Compliance-Programm schuldmindernd berücksichtigt werde, das versagt habe. Strafrechtlich formuliert: Wenn wir Bemühungen zur Deliktsverhinderung auch dann schuldmindernd berücksichtigen, wenn sie nicht
oder nicht völlig erfolgreich waren, werden sich zukünftig potentielle Täter nicht
mehr gleich anstrengen, straffrei zu bleiben. Zum einen ein rein ökonomisches
Argument, zum anderen eines, das keinerlei Belege kennt, zum dritten wohl bemerkenswert: Wenn wir die Täter hart strafen, auch wenn sie sich bemüht haben,
werden sie sich noch mehr bemühen, straffrei zu bleiben.
VI. Schlussfolgerung
Damit ergibt sich, dass Kriminal- und Verwaltungsstrafen bzw. Kriminal- und
Verwaltungsunrecht durch keines der vorgebrachten Kriterien schlüssig und konsistent zu unterscheiden sind. Vielmehr lassen sich eben nur Strafen, die durch
Verwaltungsbehörden ausgefällt werden, von Strafen unterscheiden, die von
Strafverfolgungsbehörden ausgefällt werden. Eine formale Unterscheidung also,
die sich mit Art. 1 des Verwaltungsstrafrechtes deckt.
Fraglich bleibt damit, was die Unterscheidung von Strafrecht im engeren und
Strafrecht im weiteren Sinn denn überhaupt ansprechen bzw. welche Funktion
dieser Unterscheidung zukommen könnte. Und auf diese Frage gibt die schweizerische Kartellrechtsdiskussion wohl eine recht eindeutige Antwort: Strafrecht
im weiteren Sinn bzw. Quasi-Strafrecht soll die klassischen strafrechtlichen Garantien vermeiden, insbesondere den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 1 StGB) und
das Schuldprinzip.113 Symptomatisch erscheint etwa, dass die Bedeutung von
Compliance-Programmen für die Strafzumessung diskutiert wird.114 Da wird
wörtlich ausgeführt: „Unter der Prämisse, dass das Bewusstsein über die sozialethische Verwerflichkeit [!] und die Sozialschädlichkeit von Kartellabsprachen
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LÜSCHER, Jusletter 2010, N 79 in fine.
Vgl. etwa GÜNTER HEINE/ROBERT ROTH, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen/Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision (Stand 13. Oktober 2010), im Auftrag
des Staatssekretariats für Wirtschaft, 14 f.; vgl. schon HEINE, ZStrR 2007, 117 (Schuldprinzip wird
symptomatischerweise in Anführungszeichen gesetzt).
Vgl. etwa WEBER/RIZVI, SJZ 2010; SALIM RIZVI, Compliance-Programme im Kartellrecht, Jusletter
31. Mai 2010.
113
M. A. NIGGLI / CHR. RIEDO
einer Stärkung bedürfen, ist eine vollständige Exkulpation bei Vorliegen eines
Compliance-Programms von vorneherein nicht sachgerecht.“115 Das heisst im
Kern nichts anderes als: Weil das Bewusstsein sozialethischer Verwerflichkeit
und sozialer Schädlichkeit gestärkt werden müsse, soll das Schuldprinzip nicht
oder nur beschränkt gelten. Sapperlot! Das Prinzip stört uns bei der erwünschten
Bewusstseins-Stärkung, also weg damit.116
Solche Positionen dürften sich bald auch in Gesetzen wiederfinden. Die Evaluationsgruppe KG117 etwa macht in ihrem Bericht118 ganz ähnliche Empfehlungen
bzgl. des strafprozessualen Berufsgeheimnisses von Unternehmensjuristen119 und
der Strafzumessung bei Compliance-Programmen.120
All dies macht deutlich: Die These vom Strafrecht im weiteren und im engeren
Sinn bzw. vom sog. Quasi-Strafrecht121 meint letztlich nichts anderes, als eine
bewusste Zersplitterung des Strafrechtes.122 Und diese Zersplitterung zielt im
Wesentlichen auf die Elimination strafrechtlicher Kerngarantien, die als hinderlich oder praktisch nicht umsetzbar gewertet werden. Auf den Punkt gebracht: Es
geht darum, das Strafrecht von FEUERBACHs Errungenschaften zu lösen und in
einen vormodernen Zustand zurückzuversetzen.
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WEBER/RIZVI, SJZ 2010, 508.
Ganz ähnlich LÜSCHER, Jusletter 2010, N 61 f.: „Anders gewendet können sich die Funktionen der
Kartellbusse nicht in der Spezial- und negativen Generalprävention und – wenn das Vorgehende mit
dem Nachfolgenden überhaupt verträglich ist – in einem Schuldausgleich erschöpfen. In diesem Lichte betrachtet erweist sich die verschuldensüberschreitende Haftung des an einer Kartellabrede beteiligten Unternehmens als Fehlvorstellung.“
Symptomatischerweise war, obwohl es sich um eminent strafrechtliche Fragen handelt, kein einziger
Strafrechtler Mitglied der Gruppe.
Evaluationsgruppe KG, SYNTHESEBERICHT, Bern 2008.
SYNTHESEBERICHT, XIX, Empfehlung Nr. 7; 86 ff.
SYNTHESEBERICHT, Empfehlung Nr. 7; 89 ff.
Vgl. HEINE, ZStrR 2007, HEINE/ ROTH, Rechtsgutachten, 16; LÜSCHER, Jusletter 2010.
Vgl. THOMAS ROTSCH, Criminal Compliance, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2010,
614-617, 617.
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