human Ausgabe 1/2010

www.gesundesooe.at
Stress durch Geräusche
Menschen, die überempfindlich gegen Lärm sind,
suchen die Stille. Sie leiden
an Geräuschen, die andere
Menschen oft nicht einmal
bewusst wahrnehmen.
Menschen mit Hyperakusis leiden unter
Alltagsgeräuschen. Die Ausformungsgrade sind unterschiedlich: Manche
Patienten fühlen sich von sämtlichen
Geräuschen beeinträchtigt, ja oft gequält.
Nicht nur der Lärm eines Fahrzeuges, laute Musik oder der Presslufthammer einer
Baustelle verursacht Probleme, sondern
auch an sich leise Geräusche können
unangenehm werden und Leiden verursachen - etwa Essenslaute bei Tisch, das
Brummen des Mikrowellenherdes, das
kaum noch hörbare Bellen eines Hundes
in weiter Entfernung, ja selbst das leise
Atmen des Partners im Schlaf. „Manche
Betroffene sagen mir, sie hören sogar
den Strom surren“, sagt HNO-Facharzt
Dr. Claus Despineux. „Geschätzte 20 bis
30 Prozent der Tinnitus-Patienten leiden
auch an Hyperakusis“, so der Gallneukirchener Facharzt. Bei 800.000 TinnitusPatienten in Österreich wären damit
rund 200.000 auch von Lärmüberempfindlichkeit betroffen. Gesicherte Zahlen
Viele Hyperakusis-Patienten würden sich am liebsten den ganzen Tag die Ohren zuhalten. Auch Alltagsgeräusche können für sie unerträglich werden.
dazu gibt es keine. Lange Zeit war Hyperakusis als solche unbekannt. Sowohl
Mediziner als auch Patienten dachten an
kein eigenständiges Krankheitsbild. „Das
Hyperakusis
medizinische Wissen ist immer noch sehr
eingeschränkt. Es besteht ein Informationsdefizit“, so Despineux. Noch heute
Unter Hyperakusis versteht man die Über-
Patienten mit Tinnitus nehmen im Ohr
wird Hyperakusis meist erst im Zuge
empfindlichkeit gegenüber Höreindrücken.
Geräusche und Töne wahr (z.B. Rau-
einer Tinnitus-Behandlung erkannt. Denn
Phonophobie ist eine besondere Form der
schen, Klingeln, Pfeifen), die nicht von
Patienten scheuen sich, Lärmüberemp-
Hyperakusis. Sie bezeichnet die Angst vor
einer äußeren Schallquelle ausgehen. Die
findlichkeit von sich aus zur Sprache zu
bestimmten Geräuschen, die für den Betrof-
Töne und Geräusche können dauerhaft
bringen. „Sie leiden zwar darunter, haben
fenen eine soziale Bedeutung haben – etwa
oder periodisch auftreten und in ihrer
aber Angst, ins psychische Eck gestellt
die Stimme einer unsympathischen Person.
Lautstärke variieren.
Lesen Sie weiter auf Seite 14
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ist möglich, dass etwa eine Angststörung
War nsignal.
Die Verarbeitung dieses
Tinnitus und Hyperakusis auslösen kann.
„Reiz-Feuerwerks“ kann das mensch-
Leichtere Formen der Hyperakusis entste-
liche Gehir n überforder n. Dabei wird
hen direkt im Gehirn. Ursachen können
die zentrale Filterung an Geräuschen im
Stress und Depressionen sein“, erläutert
Gehirn geschwächt. Der Patient erlebt
Despineux.
Geräusche als zu laut, als bedrohlich.
Symptome sind ein Dröhnen im Kopf,
Sozialer Rückzug als Folge
Schmerzen in den Ohren oder auch an
E i n e Ü b e re m p f i n d l i c h k e i t g e g e n ü b e r
anderen empfindlichen Stellen, Herz-
Geräuschen kann auch Ausdruck ei-
rasen, Verstärkung eines bestehenden
ner Erschöpfung der körperlichen und
T innitus, Druckgefühle in Ohren und
nervlichen Reserven sein. Ebenso ist
Kopf.
eine allgemein erhöhte Reizbarkeit ein
Grund: Manche Menschen können mit
Eine ausgeprägte Überempfindlichkeit
der Flut an Reizen und Informationen,
mündet sehr oft in sozialem Rückzug
die über sie hereinbricht, nicht mehr
und im Vermeiden jeglicher Geräusche.
umgehen. Eine Hyperakusis ist hier ein
Man kapselt sich von seiner Umwelt ab.
Vorsicht mit Ohrenstöpseln! Sie machen
noch geräuschempfindlicher.
Sich den Geräuschen stellen!
zu werden“, meint Despineux. Das sei
mit ein Grund dafür, dass Hyperakusis
oft erst nach Jahren des Leidens oder
Tipps von Dr. Claus Despineux zum
aber auch gar nicht erkannt und behandelt
Umgang mit Hyperakusis
wird. Abgesehen vom subjektiven Leiden
lässt sich Hyperakusis auch objektiv
Unabhängig von der Ursache der
messen. Ein Hörtest bestimmt die Un-
Hyperakusis liegt ein entscheidender
behaglichkeitsschwelle. „Liegt diese bei
Schritt in der Überwindung dieses Lei-
50 bis 60 Dezibel, dann hat das Leiden
dens im Umgang mit den gefürchteten
einen krankhaften Charakter. Dieser liegt
Geräuschen. Flucht und Vermeidung
vor allem dann vor, wenn man ein Vermei-
ist der falsche Weg. Wer ständig jedem
dungsverhalten entwickelt hat und man
Lärm aus dem Weg geht, verschlim-
den normalen Geräuschen des Alltags aus
mert das Problem. Durch die Vermei-
dem Wege geht“, erklärt der Facharzt.
dung sinkt die Toleranzgrenze immer
weiter und immer geringere Geräusche
Körperliche und psychische Ursachen
werden in der Folge als unangenehm
Hyperakusis kann sowohl körperliche als
empfunden. Dadurch entsteht ein Teu-
auch psychische Ursachen haben. Dabei
felskreis: Man flüchtet vor Geräuschen,
finden sich organische Krankheitsbilder
wird immer empfindlicher und lauscht
wie Hörschäden, eine Schädigung des
ängstlich nach (objektiv) immer leiseren
großen Gesichtsnervens, Vorzeichen von
Geräuschen. Der Ausweg ist, sich den
Migräne, bestimmte Epilepsieformen und
gefürchteten Situationen zu stellen.
sollte sich weder Lärmspitzen noch
Nebenwirkungen von Medikamenten. „Bei
Anstatt permanent in die Stille zu
absoluter Stille aussetzen. Beides ist
vielen Hyperakusis-Patienten liegt eine
flüchten, sollte man Schritt für Schritt
kontraproduktiv. Durch bewusste Hin-
Schädigung der Haarzellen im Innenohr
versuchen, sich wieder in die Alltagssi-
wendung zu Geräuschen des Alltags
vor, überwiegend verursacht durch einen
tuationen mit all seinen Geräuschen zu
kann man Schritt für Schritt erlernen,
Hörsturz oder ein Lärmtrauma“, sagt Des-
begeben. Hände weg von Ohrstöpseln
diese Geräusche wieder besser zu
pineux. Aber auch Angsterkrankungen,
und anderen Maßnahmen, die helfen
ertragen. Ziel ist es, mit der Zeit die-
Depressionen, Burnout oder Schizophre-
sollen, Geräuschen zu entgehen! Man
se Geräusche wieder als normal zu
nie stehen als Ursachen der Hyperakusis
bewirkt dadurch das Gegenteil und wird
empfinden, ohne Ängstlichkeit und
zur Diskussion. „Das Hör- und Gefühls-
immer geräuschempfindlicher. Man
negatives Empfinden.
system im Gehirn sind gekoppelt und es
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Dr. Claus Despineux ist niedergelassener Facharzt für Hals-, Nasen- und
Ohrenkrankheiten in Gallneukirchen.
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Man schließt jede Tür, zieht sich so weit
oder Gehörsturz erkannt, sollte man sich
wie möglich zurück, geht Menschen und
äußerst rasch beim HNO-Arzt behandeln
anderen Geräuschquellen aus dem Weg.
lassen. „Am besten binnen 24 Stunden.
Ohrenstöpsel sollen vor den Geräuschen
Sofortige Infusionen sind nötig“, sagt Des-
des täglichen Lebens schützen. Man-
pineux. Liegt eine seelische Erkrankung
che Betroffene verlassen das Haus nur
zu Grunde (Angsterkrankung, Depression
mit doppeltem Gehörschutz. Zuhause
etc.), kann eine Psychotherapie nötig
herrscht oft erzwungene Grabesstille.
sein. Hyperakusis kann sich auch wieder
Kinder werden angehalten, stets leise zu
normalisieren. Mitunter komme es auch
sein, lärmende Hausarbeiten dürfen in
zu Spontanheilungen, dies sei freilich die
Anwesenheit des Leidenden nicht mehr
Ausnahme, so der HNO-Arzt.
durchgeführt werden. Selbst der Fernseher wird schnell zur unüberwindlichen
Liegt dem Problem ein Zuviel an Lärm zu
Lärmquelle und läuft weitgehend ohne
Grunde, können Rauschgeräte helfen.
Ton. Soziale Kontakte werden auf ein
Über derartige Geräte, auch „Noiser“ ge-
unvermeidbares Mindestmaß reduziert.
nannt (engl. „noise“ für Geräusch), verfü-
Freunde werden nicht mehr eingeladen,
gen in Österreich erst wenige Fachärzte.
Lokalbesuche, Veranstaltungen von Kultur
„Wir haben damit eine Erfolgsquote von
und Sport werden gemieden. Das soziale
90 Prozent. Rauschgeräte bieten dem
Leben steht plötzlich still.
Gehirn ein Breitbandrauschen an und
aktivieren die Filter im Gehirn. Patienten
Überempfindliches Gehör kann psychische Folgen haben.
Strategien zur Bewältigung
tragen das kleine Gerät vier bis sechs
Behandlungsbedürftig wird Geräuschüber-
„Manche Betroffene
sagen mir, sie hören
sogar den Strom
surren.“
empfindlichkeit, wenn sie mit unangenehmen
oder gar schreckhaften körperlichen und
seelischen Reaktionen einhergeht. Liegt
eine körperliche Erkrankung zu Grunde,
gilt es diese zu behandeln. Liegt das
Problem im Innenohr, kann der HNO-Arzt
Stunden am Ohr, täglich, zuhause, rund
ein bis zwei Jahre lang. Die Empfindlichkeit bessert sich zumeist deutlich
oder verschwindet zur Gänze“, sagt
Despineux.
Dr. Claus Despineux, HNO-Facharzt
Dr. Thomas Hartl
helfen. Wird als Ursache ein Lärmtrauma
Keine Ruhe im Büro
Eigentlich hat alles harmlos ange-
mit nach Hause, um diese in Ruhe am
fangen. Buchhalterin Gerda O. (43)
Abend zu erledigen. Zeit genug dafür
hatte um ein ruhigeres Arbeitszim-
hatte sie: Abends Ausgehen, so wie
m e r g e b e t e n . S i e w o l l t e d a d u rc h
sie es früher gerne gemacht hatte,
konzentrierter arbeiten können und
hatte sie sich abgewöhnt. Zu stressig.
sich weniger von den Geräuschen im
Private Unternehmungen machte sie
Büro ablenken lassen, vor allem dem
nur noch auf Druck ihres Partners mit.
ständigen Telefongeklingel und den
Am liebsten blieb sie alleine, ganz für
Gesprächen der anderen. Schließlich
sich. Die Stimmung zu Hause wurde
ging ihr die Arbeit schon etwas län-
in letzter Zeit zunehmend schlechter.
ger nicht mehr ganz so leicht von der
F r a u O . re a g i e r t e m i t t l e r w e i l e s c h o n
Hand wie früher. Dennoch hörte sie
auf fast alle - auch schon die leisesten
für ihren Geschmack immer noch zu
Geräusche - aggressiv. Auf Drängen
viele Geräusche. Sie fing daher nun
ihres Partners, der sie nur mehr mit
schon vor ihren Kollegen im Büro mit
leidendem Gesicht zu sehen bekam,
der Arbeit an, um ihre Ruhe zu ha-
vereinbarte sie schließlich einen Termin
ben. Auch nahm sie sich nun Arbeit
beim HNO-Arzt.
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