Alpen-Sinfonie - Camerata Bern

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ZUM HEUTIGEN PROGRAMM – ALPEN-SINFONIE
Jenseits von Strauss…
Alpen-Sinfonie – da könnte man doch etwas läuten hören! Gab es nicht einmal eine Sinfonische
Dichtung von Richard Strauss, der mit 123 Instrumenten, einschliesslich Kuhglocken, Donnerblech und Windmaschine, das Erklimmen der bayrischen Alpen vertonte? Wie wir heute hören
werden, gibt es noch viele weitere Werke, die mit neuen Spieltechniken, Klangkombinationen und
Formationen intensive Eindrücke der Bergwelt erwecken. Die Alpen stellen eine Herausforderung
für jeden Künstler dar, denn – wie der Philosoph Georg Simmel bemerkte – zu ihrem Wesen gehöre „etwas Unruhiges, Zufälliges, jeder eigentlichen Formeinheit Entbehrendes“. Das sprengt
den Rahmen einer schwarz-weiss malenden, bürgerlichen Scheinwelt, und so sieht der jeweilige
Zeitgeist im Gehen und Wandern Symbole einer lebendigen, unverbrauchten Kultur. Das gilt zumal für die Musik: Die Stille der Bergwelt macht unser Gehör empfänglich für Schattierungen und
Kontraste und öffnet den Weg ins Innere. Kommen Sie mit auf eine musikalische Alpenwanderung!
Seelenmaler auf verschlungenen Pfaden
Ludwig van Beethoven schrieb einst an den Pianisten Xaver Schnyder, er wünsche sich selbst
„einmal begriffen zu sehn in dem Anstaunen der schweizerischen großen Natur“. Im Zustand
schwindender Gesundheit erschien ihm die Vorstellung von Schweizer Berglandschaften wohl als
Sehnsuchtsort und Symbol für ein ursprünglicheres Dasein, abseits des gesellschaftlichen LeGustave Roux nach G. E. Rittmeyer,
bens in Wien. In der Partitur zur Sonate für Klavier A-Dur op. 101 – vermutlich 1816 uraufgeführt
Saumpfade in der Bergschlucht
(1876)
– heisst es gleich zu Beginn: „Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung“. Den Hörer erwartet zunächst eine immer wieder stockende, dichte thematisch-melodische Entwicklung; die folgenden, phantasieartig miteinander verbundenen Sätze sollen dann „Lebhaft Marsch mässig“ und „Langsam und Sehnsuchtsvoll“ gespielt werden. Nach einer kurzen Reminiszenz des Kopfsatzes geht es dann „Geschwinde“ in ein furioses Finale, „doch nicht zu sehr
und mit Entschlossenheit“, wie dort zwiespältig festgehalten wird. Im Vergleich zu anderen
Klaviersonaten Beethovens wirkt dieses Werk trotz der Vielseitigkeit der vier charakterstückartigen Sätze immer aussergewöhnlich feinfühlig, fast zart. Es bietet sich damit besonders an für eine Streicherfassung, wie derjenigen von Martin Merker, die wir heute hören
werden. Er habe hierbei „insbesondere wegen des lyrischen Beginns und der polyphonen
Teile“ den Klangraum erweitern und Transparenz schaffen wollen, um Beethovens Intentionen klanglich näher auszuloten. Ein zeitgenössischer Kritiker sah in der Sonate op. 101
nicht nur „Beweise“ von „Beethovens unerschöpfliche[r] Vielseitigkeit“ sowie „tiefe Kunsterfahrung“, sondern wähnte sich „mit dem großen Seelenmaler auf fremden, nie betretenen
Wegen [...], wo uns bald ein frischer Bach zuflüstert, bald ein schroffer Fels anstarrt; hier eine unbekannte, süß duftende Blume uns anzieht, dort ein dorniger Pfad uns abschrecken
möchte.“
Bildhafte Szenerie
Arthur Honegger hatte seinen ständigen Wohnsitz zwar in Frankreich, als Schweizer
Staatsbürger waren ihm die Alpen aber wohl nicht fremd, es gibt zahlreiche Fotos, die ihn
dort abbilden. Unabhängig vom Ort sind Sie selbst Honegger vermutlich schon einmal indirekt begegnet: Er ist auf dem Schweizer 20-Franken-Geldschein sowie einer Briefmarkenedition von 1992 abgebildet. Der erste Satz der Suite Concerto da Camera – geschrieben
Idealisierte Darstellung von Beethoven bei
im Jahr 1948 für Flöte, Englischhorn und Streichorchester – beginnt dann auch wie ein Ausder Komposition der Pastorale
flug in die Berge: in freudiger Erwartung auf Natur und Abenteuer. Mit einer „expressiven
(Lithographie aus dem Zürcher Almanach
Harmonik“ und „breit strömenden Polyphonie“ – so schreibt die Zürcher Zeitung zur Uraufder Musikgesellschaft 1834)
führung im Mai 1949 – beginnt das Allegretto amabile. Tatsächlich erzeugt die weit gespreizte, aber wohlklingende Harmonik eine offene, fast pittoreske Atmosphäre, bleibt dabei aber mit einfachen, volkstümlichen Motiven sehr eingängig.
Passend dazu erzeugen die pizzicato gespielten Synkopen der Streichinstrumente im weiteren Verlauf des Satzes eine Leichtigkeit, welche die Szenerie
einer unbeschwerten Wanderung abzubilden scheint. Ganz entsprechend dem
Bild, welches der Mäzen und Dirigent Paul Sacher – der auch die Uraufführung leitete – von Honegger hatte: Der langjährigen Freund sei „zunächst mal
eine offene, liebenswürdige Natur gewesen, witzig und geistreich.“ Honeggers
Reflexion über sein eigenes Schaffen und seine kritische Grundhaltung zum
Weltgeschehen, mit scharfem Urteilsvermögen zur Menschheit, machen ihn
dann aber zu weit mehr als einem „Typ, der die Freuden des Lebens genoss",
wie Sacher beobachtete. Fragend, oder mit kurzer, düsterer Klangfarbe mischen sich somit Kontraste dann auch ins Concerto. Honegger wandelte sich
im Laufe der Zeit vom legeren Lebensmann zum kritischen, teils sarkastischPaul Sacher, Arthur Honegger und Dinu Lipatti in den
ironischen Pessimisten. Er vertrat zeitweise die Meinung, dass die Kunst
Schweizer Alpen
„ganz verschwinden“ und „die Musik uns als erste verlassen
wird.“ Bevor es soweit kommt, wenden wir uns doch hier zunächst dem zweiten Satz des Concerto, dem Andante, zu: Die
Szenerie wandelt sich, eine Atmosphäre verträumter Melancholie greift sich Raum – die heitere Bergwanderung weicht zunehmend einer Selbstreflexion. Die beiden Soloinstrumente
fungieren dabei als Ausreisser – mal im streitbaren Disput oder
aber singend vereinigt. Im Vivace schliesslich spitzen sich die
Neckereien der beiden zu, fast wie in einem Scherzo – frisch,
frech und mit kontrapunktischen Elementen beschliessen Flöte
und Englischhorn ihren seltenen und ungewöhnlichen Auftritt.
Honeggers Werk mit seiner Mischung aus atmosphärischer
Leichtigkeit, illustrativen Szenen und kontemplativer, nahezu
entrückter Melancholie wirkt lange nach.
Auch im 19. Jahrhundert von überwältigender Wirkung: Chiaroscuro bei
Joseph Mallord William Turner, Schneesturm: Hannibal und sein Herr
überqueren die Alpen (1812)
Stimmungen zwischen hell und dunkel
Chiaroscuro, so heisst David Philip Heftis zweite Komposition
für die Camerata Bern. Hell und Dunkel – italienisch „chiaro“
und „scuro“ – kontrastieren darin und verstärken so die Räumlichkeit des musikalischen Ausdrucks. Das Chiaroscuro bezeichnet ursprünglich ein Verfahren der Barockmalerei, das auch für die Musik diskutiert wurde. Hefti gewinnt seine Inspirationen denn auch meist
aus Lyrik und Malerei und überträgt sie in Musik. Eine Ausnahme bildet sein 2. Streichquartett mit Variationen über das GuggisbergLied. Die zeitlos scheinende Melodie wird darin neu erlebbar wenn sie in Heftis moderner Klangsprache reflektiert wird. Der Hörer lernt
dabei, seinen Gefühlen einen anderen Raum zu geben. Auch in Chiaroscuro, das heute abend seine Premiere erleben wird, und seiner
Dynamik zwischen Tutti- und Solopassagen oder dem Wechsel von dunkel untermalenden mit klar hervortretenden Klängen dürfen wir
ein ungewohntes, differenziertes Hörerlebnis erwarten.
Die „schönen Abdrücke“
Die durch ihre Taufrische beeindruckende 5. Sinfonie Schuberts ist auch seine kürzeste. Spätere Sinfonien blieben zum Teil unvollendet
oder entwickelten sich zu grossen Längen. Schubert geriet bei seinen musikalischen Wanderungen manchmal auf Irrwege, um dann
wieder umzukehren und einen neuen Weg zu suchen. Im Entstehungsjahr der 5. Sinfonie, 1816, schrieb Schubert in sein Tagebuch:
„So bleiben uns diese schönen Abdrücke in der Seele, welche keine Zeit, keine Umstände verwischen, u.[nd] wohltätig auf unser Daseyn wirken. Sie zeigen uns in den Finsternissen dieses Lebens eine lichte, helle, schöne Ferne, worauf wir mit Zuversicht hoffen“.
Dass die Musik Schuberts vor dem Hintergrund der Landschaft in und um Wien
herum noch eine weitere Dimension erhält, beschreibt Robert Schumann zwei
Jahrzehnte später, als er in Wien das Manuskript von Schuberts grosser Sinfonie
in C-Dur entdeckte:
„Die Bilder der Donau, des Stephansturms und des fernen Alpengebirges zusammengedrängt und mit einem leisen katholischen Weihrauchduft überzogen, und man hat eines von Wien; und steht nun
vollends die Landschaft vor uns, so werden wohl auch Saiten rege, die
sonst nimmer in uns angeklungen haben würden“.
1816 bildete eine Zäsur im Werk Schuberts. Während er in der zuvor komponierten 4. Sinfonie, der „Tragischen“, den frühen Tod seiner Mutter verarbeitet haben
Otto Nowak, Idealisierte Darstellung von Schubert in
mochte und mit dem Koloss Beethoven rang (in den er seine Angst vor dem
den Bergen (um 1910)
despotischen Vater projizierte), bedeutete seine 5. einen Schritt aus dessen
Schatten heraus, indem er dieser Sinfonie eine geschlossene Form zu geben
vermochte, die den Lyriker Schubert erkennen lässt. Das dünn besetzte Werk beginnt nicht wie sonst bei Schubert mit einer langsamen
Einleitung, sondern mit einer kurzen Bläserkadenz sowie einem Violinenlauf, einem wie aus der Luft gegriffenen Einfall. Dann wird ein
Thema mit scheinbar hüpfendem Charakter variiert. Im 2. Satz erklingt ein typisch Schubert‘sches Romanzenthema. Es ist als würde es
uns nach einer kurzen Generalpause einen Halbton höher in eine andere Sphäre eintreten lassen. Das Menuett ist entgegen der Gewohnheit in Moll gehalten und der Einfluss von Mozarts grosser Sinfonie in g-Moll KV 550 ist deutlich zu hören. Überraschend wirkt darin eine Stelle, wo wir gleichsam an eine Wegteilung kommen, bei der es ungewiss ist, wie es weitergehen soll: den Weg, welchen die
Bässe nehmen, oder doch den der leichteren Streicher? Durch eine Reihe chromatischer Umwege gelangen wir schliesslich wieder zurück nach B-Dur. Auch der letzte Satz ist bewusst einfach und in leicht fasslichem Sinn gestaltet. Spürbar ist der Einfluss der Opern
Christoph Willibald Glucks und deren transparente vorklassische Diktion.
Die Alpen – wie sie tatsächlich das Schaffen der vier Komponisten inspirierten, womöglich beflügelten, bleibt offen. Sicher ist, dass sie
sich durch den gemeinsamen Sehnsuchtsort der alpinen Bergwelt einander nahestehen, obwohl sie räumlich und zeitlich voneinander
getrennt blieben. Das heutige Konzert regt dazu an, musikalische Wege zu suchen und vielleicht versteckte Saumpfade zu begehen –
und dabei vielleicht neuen Interpretationen, Facetten und Deutungen ihrer Werke zu begegnen.
Text: Robert Michler und Lukas Birnstiel
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