Stücke 2001 - henschel SCHAUSPIEL

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Stücke 2001
Neuerscheinungen bei henschel SCHAUSPIEL
1
Redaktionsschluss: 15. Oktober 2000
henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Marienburger Str. 28
10405 Berlin
Telefon +49 (0)30 - 44 31 88 88
Telefax +49 (0)30 - 44 31 88 77
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2
Braun
Volker Braun
Limes. Mark Aurel
4 D, 11 H, Stat, Grunddek. mit Verw.
Mark Aurel
Komm, wenn es in deiner Macht ist, dir selber zu
Hilfe, wenn du dich lieb hast. Verweigere dich
deinem Wüten. Wie du wünschst gelebt zu haben,
kannst du jetzt schon leben!
Galen
Lieg ruhig, Marcus, entspann dich. Atme aus.
(Operiert.)
Mark Aurel
Begib dich endlich auf das Gebiet, das du selbst bist.
Den Widerspruch. Schneide hinein. Das ist der Ausweg. Ins Innerste.
So stirbt der Herrscher Mark Aurel am Ende des Stücks, unter dem
Messer seines Leibarztes Galen, verlassen von seinen Senatoren, verraten von seinen Freunden, zur Unzeit für tot erklärt von seiner Frau.
Rom im zweiten Jahrhundert. Das Reich ist bedroht von innen und
außen. Während es seine Grenzen gegen die Fremden, die Barbaren
verteidigen muß, geht es selbst im Dreck, an der Pest, an seiner eigenen
Perversion zugrunde.
Rom wird regiert von gebildeten Philosophen, von Intellektuellen, die
zusehen, wie das Land verkommt, wie das Imperium zerfällt. Sie betrachten die Welt vernünftig und sind unfähig, vernünftig zu handeln.
Sie reden und analysieren kühl. Sie kennen kein engagiertes, leidenschaftliches Leben mehr. Sie sind die neue Generation.
Volker Braun hat eine Geschichte gefunden, deren Aktualität verblüfft.
„Es macht einen Unterschied, ob man den Fatalismus in den Verhältnissen
nur sieht oder ob man sich gegen sie zur Wehr setzt. Der Fatalismus ist ja nicht
das Gesetz unseres Handelns. Aber alles Handeln setzt voraus, daß man die
Fatalität der Abläufe kennt.“ (Volker Braun, Büchnerpreisträger 2000, in einem Gespräch
mit Gregor Dotzauer und Claudia Keller, DER TAGESSPIEGEL, Berlin, 2./3. 10. 2000)
Uraufführung geplant am Staatstheater Kassel
3
Donath/Grünig
Dirk Donath/Peter Grünig
Der große Theatercoup
Die Olsenbande (II)
Unter Verwendung der Olsenbandenfilme von Erik Balling und Henning Bahs
2 D, 9 H, Stat, Grunddek. mit Verw.
Skide godt! – Mächtig gewaltig!
Das Gefängnistor öffnet sich – Egon Olsen wird hinausgeworfen. Melone
und Zigarre hinterher. Verdammte Amnestie. Koste es die Ganovenehre,
der begnadete Kopf der lausigen Amateurverbrecher muß wieder rein in
den Kahn. Nur dort kann er erfahren, wie der Königin das Geschmeide
vom Hals weggestohlen werden soll und welche dunklen Geister hier
ihre weltumspannend miesen Geschäfte planen. Und er vermasselt einen
sauber ausgetüftelten Bruch beim Goldschmied an der Ecke. Für die
Krone, für Dänemark und vor allem natürlich für das Wohl der Bande,
an dem die werdende Großmutter Yvonne, der picklige Börge und
die schwangere kleine Fie hängen. Die Spur führt ins Theater. Hinter
die Kulissen, voll rein in die Schmiere. Der gefräßige Kjeld muß den
„Hamlet“ geben, der zapplige Benny zur Nationalhymne die Bohrmaschine schwingen. Egon Olsen improvisiert noch überm Abgrund. Mit
Schißlaweng, einem Tropfen Vaterlandsliebe und leiser Sehnsucht nach
dem Ruhestand.
Liebhaber der „Olsenbande“ werden einige der schönsten Filmgags
wiedererkennen. Das Schauspieler- und Autorenduo Dirk Donath/Peter
Grünig hat mit Spaß und Geschick einen Theater-im-Theater-Coup geschrieben, der – nach dem Erfolg von Peter Dehlers erster OlsenbandenAdaption – im Rostocker Uraufführungstheater einen Sommer lang für
ein volles Haus sorgte.
Uraufführung 28. Juli 2000, Volkstheater Rostock, Regie Peter Grünig
4
El Kurdi
Hartmut El Kurdi
Angstmän
Ein panisches Kammerspiel für alle ab 8 Jahren
3 Darsteller, 1 Dek.
Falls es dich beruhigt: Ich werde dich nicht sofort verdampfen.
Jennifer muß diese Nacht alleine sein. Das ist großartig, und zunächst
wird die Liste mit den verbotenen Dingen rausgekramt – alle Sicherungen rausfliegen lassen, heimlich Pizza bestellen, Fernsehprogramme
durchzappen, und dann wirds auch schon öde. Jennifer bewaffnet sich,
sieht überall nach und da! Im Schrank hockt einer – Angstmän. Ein
zerknautschter Superheld. Der größte Schißhase des Universums. Ein
fanatischer Angstbeutel. Hat sich verflogen auf der Flucht vor Pöbelmän,
dem gemeinsten Superheldenschwein aller Galaxien. Angstmän macht
eindringlich Panik. Der ist schlimmer als die Sorgenfalten der Eltern.
Der löscht eine Kerze mit dem Wassereimer. Doch wie er die Wohnung
auch verbarrikadiert – das Unheil naht mit Selbstverständlichkeit.
Pöbelmän. In Lederkluft und richtig widerwärtig. Da sich Angstmän aus
dem Klofenster stürzt und vorläufig nicht anwesend ist, kann Pöbelmän
Jennifer in aller Ruhe quälen. Er singt sogar und ist so peinlich wie
gefährlich. Aber Angstmän kehrt zurück. Humpelnd und zu allem entschlossen. Aus Jennifer Mann wird Jennifermän, die der galaktischen
Mettwurst an den speckigen Kragen geht.
Hartmut El Kurdi (Jahrgang 1964) hat mit diesem spritzigen, bewußt auf
Umgangssprache setzenden Kammerspiel nicht nur einen Mutmacher
für Kinder geschrieben. Denn Jennifer verarbeitet einen ganzen Stapel
pädagogischer Krücken in ihrem gewitzten Spiel mit dem Alleinsein.
Uraufführung 13. Mai 2000, theaterspielplatz Staatstheater Braunschweig,
Regie Jörg Gade
Hörspielfassung DeutschlandRadio Berlin, Ursendung Januar 2001
5
Gaon
Boaz Gaon
Bug 2000
(Originaltitel: Bug 2000)
Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch und Thoralf Seiffert
1 D, 3 H, kleine Rollen, Grunddek. mit Verw.
Wir alle. Sind das die Schwestern? Oder wir alle – meinst du das
Viertel? Oder Israel? Vielleicht auch die in der Diaspora? Wir alle?
Wer ist das – wir alle?
Die Jahre bis zum Lebensende hätte der Vater noch aushalten können,
aber er muß mit seiner Geliebten nach Amerika verschwinden und seine
Familie in Tel Aviv sitzenlassen. Mit einer Mutter, die vor Kummer ins
Schweigen fällt und schließlich beatmet werden muß. Der Sohn besucht
den Vater Jahr für Jahr in seinem New Yorker Hotelzimmer. Sie reden
aneinander vorbei. Sie stochern mit Floskeln und peinlichen Behelfsfragen gegenseitig in ihren Lebensvorstellungen. Und sie wissen beide
genau, daß die Moral-Richtlinien des Sohnes so brüchig sind wie die
sexuellen Wünsche des Vaters. Nach acht Jahren ist der Vater etabliert.
Er amerikanert, ist fit, und seine Frau hat den Verlust auch verschmerzt.
Da kehrt er heim. Der verlorene Vater kommt zurück an den Familientisch, wo die Mutter Berge von Püree verteilt.
Der junge Autor Boaz Gaon bringt mit dieser Groteske ein Grundgefühl
auf die Bühne. Der Zerfall der Familie steht für einen nicht mehr zu
kaschierenden Verlust von Werten in der schnellebigen israelischen
Gesellschaft, die geprägt ist von einer Mixtur aus europäischer Geschichte,
amerikanischer Zivilisation, russischer Lebensart und orientalischem
Klima. Die hohen moralischen Ambitionen der Gründergeneration
haben sich erledigt und bilden doch noch immer ein Korsett.
Frei zur Deutschen Erstaufführung
6
Gericke
Katharina Gericke
Geister Bahn
3 D, 5 H, Grunddek. mit Verw.
Dein Tumor – ein Vogeltier mit ganz kahln Schwingen – das stirbt
doch mit, das trauert sich doch tot auf kaltn weißn Tischn. Mir
habn die Tumore immer mehr leid getan als die Patientn –
Sie sind eine Boygroup – angehimmelt und hochgeschossen auf Platz
zwei der Charts. Sie sind sexuell nach allen Seiten offen und haben jeder
einen anderen Krebs. Sie heißen 4Berlinz und sind nur noch drei. Zwei
kranke Fan-Mädchen fahren ihnen nach bis in die letzte Absteige irgendwo bei Suhl. Dort verschiebt sich das Ambiente. Das Morphium beginnt
zu wirken. Sie werden weißgekittelte Krebsengel. Es ist das Jahr 1992. Im
gekachelten Backstage wacht Oberschwester Miep van Poelz, die gleichzeitig auch Managerin ihrer Platten und Fototermine ist. Ein Tanztrainer
schleift sie nach bewährten Methoden aus dem Hochleistungs-Osten übers
Krankenhausparkett. Er ist der Choreograph des Bühnenerfolgs mit leiser
Stasistimme. Morgen wird er am Hirn operiert. Wahrscheinlich vom
Notarzt, der seit dem Zusammenbruch des Ostens nur noch Unfälle von
der Straße kratzen darf. Genosse, ich bin dein Chirurg. Man kennt sich
von früher. Aus den demontierten Zeiten, als der Sanitäter noch Chefarzt
eines Versuchslaboratoriums tief im Sozialismus war.
Katharina Gericke schrieb ein apokalyptisches Stück, in dem Aufstieg
und Zerfall von Menschen und Systemen schaurig miteinander verwoben
sind. Voll Liebe und Verlangen.
Ausgezeichnet mit dem Autorenförderpreis der Landesgruppe des Deutschen
Bühnenvereins.
Uraufführung 25. November 2000, Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven, Regie Britta Geister
7
Grischkowez
Jewgeni Grischkowez
Wie ich einen Hund gegessen habe
(Originaltitel: Kak ja el sobaku)
Monolog
Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
1H
Wie schön ist es gewesen, auf der Heizung im Hauseingang
Schneebälle aufzutauen, wovon die Handschuhe naß wurden
und dabei vor den Typen vom Nachbarhof Angst zu haben.
Ein junger Russe erzählt von drei Armee-Jahren, die ihn zu einem
Anderen machten.
Es sind Erinnerungen an die siebentägige Bahnfahrt durch immergleiche
Birkenlandschaften nach Wladiwostok, an die Kutterfahrt zu einer berüchtigten Marine-Basis, an das morgendliche Massenpinkeln in den
Ozean, an die öde (und eher konfliktlose) Dienstzeit in einem U-Boot –
mit der alles überdeckenden Sehnsucht nach Zuhause und den aufsteigenden Kindheitsbildern vom Leben in der Familie, vom Fürchten
vor der Dunkelheit, der ersten Lehrerin. Erinnerungen auch an die
ohne Selbstmitleid hingenommenen Erniedrigungen der Dienstzeit
und die daraus erwachsene Fähigkeit, sich den Absurditäten des Daseins
zu stellen.
Es ist ein stockender, immer noch fassungsloser Bericht über eine existentielle Erfahrung. Denn es gab für den entlassenen Matrosen kein
Zuhause mehr, weil er in das „Zuhause“ nicht mehr hineinpaßte, wie in
keine Hose mehr, die er vor der Flottenzeit getragen hatte. Das Zuhause
war versperrt, und auch das Ich ausgelöscht, das dort gelebt hatte. Er
war dabei gewesen, als der tote Hund gegessen wurde, den ein junger
Koreaner auf dem Boot als Delikatesse für seine Kameraden zubereitete.
Er war sich fremd geworden.
Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt
8
Grischkowez
Jewgeni Grischkowez
GleichZeitig
(Originaltitel: Odnowremenno)
Monolog
Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
1H
… weil man in einem Atemzug über sehr viel erzählen muß. Und
aussprechen muß man es nicht schnell, sondern gleichzeitig.
Auf sehr eigentümliche und scheinbar konfuse Weise erzählt da einer von
seinen sinnlichen Wahrnehmungen, die sich wie Banalitäten ausnehmen
und doch in vielfältigen Überschneidungen und zeitgleicher Verschiedenheit als Bausteine des Lebens zu begreifen sind.
Warum fahren Lokführer auf ihren Dieselloks nicht die ganzen Strecken
der Zugverbindungen, sondern immer nur bis zum nächsten Knotenpunkt hin und wieder zurück? Warum legst du dich auf die rechte Seite
schlafen, und bald ist das rechte Nasenloch verstopft? Warum mustert
sich einer morgens selbstgefällig im Spiegel und findet sich später auf
dem Video einer Party so verheerend, mit schrecklicher Frisur und blöder
Grimasse? Wieso nervt es, die eigene Stimme zu hören, die andern ganz
normal klingt?
Fragen über Fragen. Nach einer Reihe witziger Selbstbeobachtungen zur
Wirkungs- und Funktionsweise seines Körpers (und den Schwierigkeiten,
sie auszudrücken) unternimmt der Erzähler immer tollkühnere
Erkundungs- und Artikulationsversuche. Er will den Raum mit seinen
Molekülen, mit der Luft und den Radiowellen erfassen und auch noch
der Zehntausende habhaft werden, die am Himmel in Flugzeugen
fliegen, in Schiffen fahren oder Krieg führen – und das alles gleichzeitig.
„Den Faktor Zeit ausräumen“ beschreibt dieser sonderbare Theatermensch Grischkowez (der 1990 in Sibirien eine Theatergruppe gründete
und seit 1995 in Kaliningrad lebt) seine Methode, sich mit Dingen und
Gefühlen zu beschäftigen, ohne die zynischen Denkmuster vergangener
Jahrzehnte zu bemühen. Wer wie er auf so sinnliche Weise erfahren will,
was die Welt im Innersten zusammenhält, den kümmert die Angst nicht,
sich dabei lächerlich zu machen und zum „neuen Sentimentalisten“
ausgerufen zu werden.
Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt
9
Hein
Christoph Hein
Mutters Tag
1 D, 1 H, 1 Dek.
Jetzt ist alles wunderbar in Deutschland, du musst ja nicht einmal
in einem Ghetto wohnen. Und die Mischpoke wird sich schon
beruhigen.
Ein unrasierter alter Mann, an einem Manuskript arbeitend, frühstückend, rauchend und Manuskriptblätter zerreißend. Mit ihm im
Zimmer ist eine elegante Vierzigerin, die behutsam herumläuft, als ob
sie hier zu Hause wäre, ohne daß der Alte sie wahrnimmt. Jemand ruft
an und beschimpft den jüdischen Autor, der aus England nach Deutschland zurückgekehrt war, obwohl seine Eltern in Auschwitz ermordet
wurden. Mit der Post kommt ein widerwärtiger Schmähbrief, noch dazu
mit einer Absenderangabe. Der Autor zerreißt den Brief und arbeitet
weiter. Die Frau in seinem Zimmer, die ihm mütterliche Vorhaltungen
zum Rauchen und anderen Fragwürdigkeiten seines persönlichen
Lebensstils macht, die ihm familiäre Versäumnisse ankreidet und sein
Manuskript kritisch begutachtet – sie empfiehlt für alle Fälle gepackte
Koffer, einen gültigen Reisepaß und keine Erdgeschoßwohnung, wo
Steine durchs Fenster fliegen können. Der Autor entschließt sich, in
ein höheres Stockwerk umzuziehen.
Christoph Heins unaufgeregter Einakter ist eine Liebeserklärung für
George Tabori, der in der Uraufführung spielen wird; er ist darüber
hinaus eine Liebeserklärung an alle Überlebenden des Terrors und eine
Verneigung vor den Opfern.
Uraufführung 16. Oktober 2000, Berliner Ensemble, Regie Claus Peymann
10
Langhoff
Anna Langhoff
Antigonebericht
1 D, 6 Söldner, Chor
ANTIGONEBERICHT spielt außerhalb der Epochen, der Raum ist
die Bühne, die Handlung die Sprache.
Theben liegt in Trümmern. Vor der Stadt sammeln sich ausgebombte
Bürger zu einem Chor, der zwischen Tod und Leben, gestern und jetzt
kaum noch zu unterscheiden vermag. Geschichte scheint aufgelöst im
endlosen Kriegstreiben. Vereinzelte Söldner berichten über die Sinnlosigkeit ihres Berufs, während sie weiter vergewaltigen, plündern, töten.
Kreon, dessen erstes Exempel die alten Traditionen, Götter und Gesetze
negiert. Einsam lungert Antigone vor den Ruinen, weniger, um ihren
Bruder zu bestatten, als aus Furcht vor Kreons Regime und einem Leben
in Bedeutungslosigkeit. In der vagen Hoffnung, einen Aufstand zu provozieren, überlebt Antigone fast ihre ganze Familie, bis sie totgeschlagen
wird – ihrer Halskette wegen.
Frei zur Deutschen Erstaufführung
11
Langhoff
Anna Langhoff
Eisfelder
5 D, 4 H, Grunddek.
Es ist noch so weit bis zu mir. Tausend Meilen, tausend Meilen
zurück …
Schauplatz ist ein giftgrüner Stadtpark. Ein obdachloses kindliches
Königspaar bekommt ein Kind. Das wird Tier heißen, scharfe Zähne
tragen, und durch seinen Brustkorb werden Drähte schimmern. Der Vater
ist voll Ekel vor dem embryonalen Geschöpf, das ihm seinen Platz im
Körper der Freundin streitig macht. Er trägt ein Trauma des Verstoßenseins mit sich und wird es als Erbe an Tier weitergeben. Es soll eine
Kampfmaschine werden. Süß und unverwüstlich. Geboren wird Tier
zwischen Gebüsch und Stacheldrahtverhau, umgeben von einer Bande
gefühlsverbogener Gestalten, die sich in Hüllen vergangener Märchen
hängen. Auf der anderen Seite des Parks laden tönende Jungunternehmer zu einem Wohltätigkeitsbankett unter freiem Himmel. Aber
wehe dem, der ihnen zu nahe kommt. Niemand darf jemandem in
diesem Stück zu nahe kommen, denn Nähe bedeutet Gefährdung der
längst zerbrochenen Individualität. Wer getötet wird, ist verdammt, als
Schutzengel für Ungeliebte weiterzumachen. Wege nach Hause sind
nicht zu finden.
Die Terrains, in denen sich Anna Langhoffs Figuren bewegen, sind
aufs Minimum geschrumpft. Schartige Eisfelder. Egal, ob sie aus der
verkommenden Oberklasse oder der keimenden Unterschicht stammen.
Die Schere zwischen den Schichten klafft so weit auseinander, daß sie
mit ihren stumpfen Seiten schon wieder aneinanderschlägt. Im Alptraumtakt.
Frei zur Uraufführung
12
Martin
Christian Martin
Fast Fut
ein kammerspiel
1 D, 1 H, Dek. mit Verw.
elender mörder
hast endlich aufgeräumt
Sie sind glücklich, aber sie wissen es nicht. Sie lieben sich inmitten einer
tristen Plattensiedlung und träumen vom Reihenhaus. Als Andy eine
Stelle angeboten bekommt, ganz weit weg und ohne Möglichkeit, Mandy
am Wochenende zu umarmen, sagt er ja. Er wird wiederkehren als reicher
Mann. Was macht da schon die kurze Einsamkeit. Als er nach getaner
Arbeit zwei Jahre drauf nach Hause kommt, ist die Platte saniert, und
sein Namensschild ist fort. Er wird Hausmeister und hat nichts zu tun,
da alles neu ist. Im gleichen Haus lebt eine Frau, die sich Sandy nennt
und als Nachtschwester andere glücklich macht. Eines Nachts wird sie im
Hausflur vergewaltigt. Der Hausmeister ist kurz darauf helfend zur Stelle.
Andy kümmert sich um die Verletzte. Und als Sandy zu gesunden droht,
bietet er ihr viel Geld, damit sie noch eine Woche nur für ihn da ist. Aber
sie kann gerade dieses Geld nicht annehmen, und Andy stößt den dienstbar angebotenen Körper von Sandy zurück. Es gibt keinen neuen Anfang.
Sie kommen aus dem verzwickten Spiel nicht raus. Der Hausmeister tötet
Mandy und Sandy und sich selbst.
Ähnlich den Figuren aus Martins Volksstücken der VOGTLÄNDISCHEN
TRILOGIE scheint auch dieses Paar in einer bedrückend schmalen, mundartlich gefärbten Sprache gefangen zu sein. Andy heißt Andy und nicht
Woyzeck, aber er ist der erschreckend geradlinige Kerl, der seiner Liebe
nicht gestatten kann, einen Weg außerhalb seines Lebensplans zu probieren.
Über die Uraufführung wird verhandelt
13
Martin
Christian Martin
Schmitt Solo
eine suada
1 H, 1 Dek.
sie rindvieh sie globales
Schmitt hat seinen Führerschein verloren. Wegen Raserei in aller
Hahnenfrühe durch ein schlafendes Dorf. Das ist absurd, das ist brutal.
Jetzt hockt er allein zu Hause, und alles geht mit diesem eingezogenen
Papier den Bach runter. Frau, Arbeit, Auto, Lebensgefühle. Schmitt
telefoniert, hat irgendwen an der Leitung, der nicht auflegt. Vielleicht
sogar einen Verantwortlichen, einen, der diesen unmenschlichen Entzug
rückgängig machen kann und sich seiner erbarmt. Wie ein Würgemal
zieht sich diese Bremsspur um seine sorgsam eingerichtete Existenz.
Schmitt bettelt, fleht, erklärt. Er war immer vorbildlich und will es wieder
sein. Aber wenn man ihn provoziert, wird er seine Kehrseiten aktivieren.
Er neigt auch zur Anarchie. Er fährt durchaus rabenschwarz bis hoch
in den Norden, um sich dort zu töten. Der Mann mit der sinnlos bürokratisch entzogenen Legitimation stirbt auf einsamer Piste. Das wäre
ein Exempel. Schmitt erpreßt. Schmitt wird gewalttätig in seinen vier
Wänden. Er hat sein Leben offenbart. Hat es nackt ausgebreitet. Ein
normaler, freundlicher Mitbürger, der in den Regeln seiner Zeit leben
wollte. Aber die anderen haben es nicht anders gewollt, und jetzt läuft
der Countdown.
Nach einem authentischen Fall schrieb Christian Martin diesen erschütternd komischen Theaterschrei für einen Schauspieler beliebigen Alters.
Über die Uraufführung wird verhandelt
14
v. Mayenburg
Marius von Mayenburg
Parasiten
2 D, 3 H, 1 Dek.
Wenn du dich umbringst, piß ich auf dein Grab.
Der alte Multscher ist am Steuer seines Wagens eingeschlafen und
hat Ringo überfahren. Seitdem sitzt Ringo im Rollstuhl, verläßt seine
Wohnung nicht mehr und ist auf die Fürsorge seiner Freundin Betsi
angewiesen. Es gefällt ihm nicht, daß Betsi vorübergehend auch ihre
Schwester Friderike aufnimmt, die ohnmächtig am Rande einer Autobahn aufgefunden wurde. Friderike ist schwanger und droht mit Selbstmord. Petrik, ihr Mann, hat sich zuvor wenig um sie gekümmert, jetzt
kommt er jedoch mit zweifelhaften Versöhnungsangeboten in Betsis
Hochhauswohnung. Dort hat sich auch Multscher eingefunden, der es
nicht verkraftet, mit seiner Schuld zu leben.
An einem heißen Sommertag verstricken sich alle fünf in einen verbissenen Kampf um- und gegeneinander. Ansprüche auf Rettung werden
erhoben, Fürsorge verkrampft sich zu Umklammerung. Friderike schluckt
Tabletten und überlebt. Der gelähmte Ringo versucht zu entkommen. Sie
alle machen sich kaputt und brauchen sich zum Weiterleben.
Marius von Mayenburg provoziert mit der detailgenauen Zeichnung eines
solchen fremdbestimmten Immer-Weiter-Dahinlebens seiner Figuren.
In der Hitze der Auseinandersetzungen reden sie eher lyrisch, besondere
Erregungen führen zum brutalen Benennen tabuisierter Sachverhalte –
und auch zu Einsichten, die den Ring parasitärer Verklammerung
sprengen können.
Uraufführung 18. Mai 2000, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie Thomas
Ostermeier
15
Sauter/Studlar
Andreas Sauter/Bernhard Studlar
A. ist eine andere
2 D, 3 H, Grunddek. mit Verw.
Ich habe heute kapiert, daß ich dich nie mehr so lieben werde wie
jetzt. Scheißdreck.
A. hat sich verbrannt. Auf offenem Feld, direkt neben ihrem Wagen. Die
Indizien scheinen keinen Irrtum zuzulassen. Man fand auch ein paar
angefangene Briefe. Gestotterte, unvollendete Liebesbriefe an Gerd, ihren
Mann. Gerd hat noch ihren Duft an den Fingern. A. war jung, voll Lust,
mit normal verrückten Träumen. Nichts Ungewöhnliches, nichts Auffälliges. Vier Tage später sind die Formalitäten erledigt. A. ist in der Urne,
die an einem verregneten Tag auf der Wiese ausgestreut wird. Die Situation ist so unfaßbar, daß sie weder Schock noch Betäubung zuläßt. Vier
Menschen leben sich in einen Alltag nach dem Tod, erinnern sich an A.
Pheres, ihr Vater, der als Bonsai-Spezialist einen Bonsai auf die Wiese
setzt, obwohl der im Freien keine Chance hat. Bongo, der lebenslustige
Barmann, der mit Gerd in Italien so wunderschön bis zum Umfallen
Chianti trank. Nina, die Medizinstudentin, die A. in der Pathologie sah
und inzwischen ihre Sachen trägt. Gerd, der Architekt, dem das Leben
mit A. bisher so leicht war. Mit einem fast unbemerkt gleitenden Wechsel
zwischen erzählten Passagen und unterbrochenen Dialogen wird A.
immer präsenter. Vergessene, alltägliche Details werden groß. Lebensgeschichten einfach und unwiederbringlich. Behutsam fließen die Gedanken der Figuren ineinander, bis A. in den Dialog tritt. Lebendiger,
je mehr ihr quälendes Verschwinden als Tatsache akzeptiert wird. Und
ihr gehört konsequent der letzte Monolog in dieser bizarr gebauten
Liebesgeschichte.
Das Autorenteam Andreas Sauter (Jahrgang 1974) und Bernhard
Studlar (Jahrgang 1972) bekam für dieses Stück den diesjährigen KleistFörderpreis für junge Dramatik.
Uraufführung geplant März 2001, Städtische Theater Chemnitz,
Regie Bettina Jahnke
16
Schlender
Katharina Schlender
Plumpsack
5 Darsteller, Grunddek. mit Verw.
ich mag nicht immer gut essen was du schlecht kochst
mutter.
Es ist ein einsames, unheimliches Geschehen zwischen vier Kindern und
einer Mutter, der es die Sprache verschlagen hat. Sie kann nur noch
kichern, kochen und ohrfeigen. Was für eine Mutter. Kichert einer Zeit
hinterher, als der Vater noch nicht tot war und die Kinder klein wie
Puppen. Das ist der Schock, den sie nicht abwerfen kann und gegen den
sich alle zur Wehr setzen müssen. Mit Vorsicht, Renitenz und uraltem
Verständnis. Ein Plumpsack verfolgt die Kinder bis in ihre Träume. Eine
Schreckgestalt, die sie erlösen könnte. Mit Bruchsätzen und verkanteten
Worten versuchen sie, sich zu orientieren und zu organisieren. Lebenswichtig werden spärliche Rituale des Alltags und gemeinsames Rauchen
in den Betten. Casimir, der Älteste, will ein Adler werden, um dem Vater
im Himmel die unbeschreibliche Not zu zeigen. Aber er bekommt die Tür
nicht auf, hinter der der Vater jetzt in seinem Grab liegt. Geduckt kehrt
er an den Tisch zurück, an dem es diesmal Taube gibt. Arrx, der Jüngste,
verkrallt sich schließlich in hilfloser Wut in die Mutterfigur und wird von
den Geschwistern dafür geächtet. Die Kinder Dwini, Bujo und Casimir
werden jeder alleine für sich den Himmel nach einer Lebensmöglichkeit
absuchen. Autistisch ins Leben entlassen. Arrx bleibt bei der gestörten
Mutter und ist verstrickt bis in alle Ewigkeit.
Dieses geheimnisvolle Stück fasziniert schon formal durch seine Beschränkung und sprachliche Minimierung. Horror aus dem Kinderzimmer, das auch ein Raum jenseits der Kindheit sein könnte.
PLUMPSACK wurde mit dem Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreis 2000 ausgezeichnet und beim Heidelberger Stückemarkt in szenischer Lesung vorgestellt.
… ein irritierendes Stück, ein nicht gar leicht zu greifendes, vom Theater nicht
und nicht vom Publikum … ein aufregendes Stück. (aus der Laudatio)
Frei zur Uraufführung
17
Schlender
Katharina Schlender
Harmonika hin – Liebe her
2 D, 3 H, 1 Dek.
soll ich euch vielleicht
was vorspielen wollen?
Katharina Schlender (Jahrgang 1978) beschreibt mit spielend leichten
Kurzsätzen, was zwischen Kindern passieren kann, wenn Erwartungen
nicht übereinstimmen und Mißtrauen wach wird.
Rena wartet auf Stefan. Sie ist sich seiner noch ganz sicher. Da kommt
Hans und löst Beunruhigung aus. Rena zerfetzt seinen Teddy. Hans will
ihn beschützen, und plötzlich ist eine bedrohliche Situation entstanden.
Rena schlägt zu und Hans fällt um. Eine Szene entwickelt sich aus der
vorangegangenen. Die Autorin fragt nicht nach gut oder böse, falsch oder
ehrlich. Sie läßt jedem Spieler sein Recht und führt vor, wie aus Spaß
Ernst wird und wie Zweifel sich in Liebe frißt.
Ein kluges knappes Spiel für Kinder ab fünf Jahren aufwärts.
Uraufführung geplant Januar 2001, Hans Otto Theater Potsdam,
Regie Philippe Besson
Meierhüte
4 Darsteller, Grunddek.
bei meier fühl ich mich angesprochen.
Die vier Wesen teilen sich ein Schicksal. Sie heißen alle Meier. Vor der
Heirat, nach der Heirat, mal mit „ei“, mal mit „ai“ – immer Meier. Sie
sind von zuvorkommend freundlicher Wortkargheit, und sie müssen sehr
vorsichtig sein. Ihre Köpfe sitzen locker. Frieda Meiers Kopf liegt bereits
auf genau dem Weg herum, den die anderen Meiers kreuzen wollen.
Es kommt zu Stillstand, Kopfaustausch und zu bestürzend einfachen
Lebensbetrachtungen. Bis der Rumpf von Frieda erscheint und alle
Meiers wieder vollständig beieinander stehen. Süßen Kuchen essend.
Mit dem Mund, der im Kopf steckt. „mm. schön süß schön nicht schön?“
Ein Clownsspiel für kleine und große Meiermenschen.
Frei zur Uraufführung
18
Scimone
Spiro Scimone
Bar
(Originaltitel: Bar)
Aus dem Italienischen von Anna Falduto
2 H, 1 Dek.
Fällt dir wirklich nichts Komisches auf?
Unversehens ist Gianni, der Ganove, tot. Er hat die Huren im sizilianischen Städtchen unter Aufsicht, er hat den arbeitslosen Familienvätern
noch die letzten Erbstücke für ein bißchen Kohle abgehandelt und ihnen
neue Jobs versprochen, für die sie erstmal monatelang umsonst arbeiten
sollen. Die Polizei fahndet vergeblich nach dem Mörder. Auch Nino und
Petru, die beiden Männer in der Bar, halten sich bedeckt. Sie haben ihre
Gründe dafür.
Nino, der Barmann, seit über zwanzig Jahren am Platze, zu Hause fest
im Griff einer dominanten Mutter, hatte tatenlos zugesehen, wie das
Scheusal Gianni das Straßenmädchen Sara verprügelte – die gleiche
Sara, zu der er vorsichtig in freundschaftliche Beziehungen getreten war.
Petru, arbeitslos und hochverschuldet, hatte dem Ganoven auch noch
den Schmuck seiner Frau ausliefern müssen. Bei einem von Giannis
Kartenspielabenden, diesmal in der Bar veranstaltet, wollten sie den
Gauner übertölpeln und selbst aus ihrer Abhängigkeit herauskommen.
Aber ihre verabredeten Tricks verfangen nicht, sie verloren das Spiel
und konnten nur von einer Revanche träumen …
Das in Italien überaus erfolgreiche Zweipersonenstück des 36jährigen
sizilianischen Schauspielers und Autors Spiro Scimone wurde 1997
erstmals beim Festival von Taormina gezeigt und überzeugte auch in
der ersten deutschen Inszenierung durch seinen abgründigen DialogWitz und die Faszination des Unausgesprochenen im Dämmerlicht von
Mafia-Strukturen.
Deutsche Erstaufführung 9. April 2000, Stadttheater Konstanz, Regie Carlos Trafic
19
Srbljanoviæ
Biljana Srbljanoviæ
Der Sturz
(Originaltitel: Pad)
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
2 D, 4 H, Dek. mit Verw.
Ich werde dieses Loch zuschütten lassen und niemand wird mehr
wissen, was hier gewesen ist.
In einem Bühnenraum, wie ein verlassenes Sommerhaus oder wie ein
Bunker, vollzieht sich eine makabre Familiengeschichte in der Tradition
des Grand Guignol.
Suncana, eine kräftige Fünfzigerin, gebiert unter Schreien und Wehklagen das Modell eines Hauses und wird von den umstehenden Intellektuellen Stratimirovic und Glogov zur „Übermutter“ der nun etablierten
Nation erklärt. Man schlägt ihr den unbedarften Zivko als „Führer“ vor,
den Suncanas 17jähriger Sohn Jovan auch als neuen Vater anerkennt.
Die Hochzeit von Suncana und Zivko wird nach traditionellen Riten
begangen, der Hochzeiter versagt im Hochzeitsbett, stilisiert sich jedoch
zum „Großen Mann“ seiner Zeit. Die „Chamäleons der Nation“, die
beiden Intellektuellen, betreiben die Befestigung der angemaßten
Macht und versuchen, den jungen Jovan, der freilich unter dauerndem
Brechreiz leidet, zu einer willfährigen Kampfmaschine zu erziehen.
Mutter Suncana ist fruchtbarer denn je: sie gebiert eine Glotze zur
Meinungsmanipulation, später eine Kaserne (als die Zeit zum Krieg
gekommen ist) und dann noch eine Kirche (als der Krieg verloren ist).
Jovan stirbt im Kriegsgetümmel, versehentlich erschossen von der
eigenen Mutter. Stratimirovic und Glogov, vorher als Feldherren tätig
und nun Priester, drängen eilig hinaus, die Erde bebt. Suncana zäunt
ihr letztes Stückchen Nation mit Stacheldraht ein. Aber der tote Sohn
erscheint und sorgt für den Untergang der Familie. Mit einem kreischenden „Tango für das neue Europa“ endet die Szene.
Das dritte Bühnenstück der serbischen Autorin, noch vor dem Bombenkrieg der Nato entstanden und im Sommer 2000 in Budva/Montenegro
uraufgeführt.
„Der Zuschnitt erinnert an die grelle Direktheit des Filmemachers Kusturica
oder den Sarkasmus von Heiner Müllers SCHLACHT. Dieses Stück Einmischungstheater ist mal Fresco, mal Karikatur, zudem genährt von Mythen
des alten Jugoslawien, jenem Patchwork aus Regionen, die seit zehn Jahren
miteinander im Krieg liegen.“ (LIBERATION, Paris, 29. August 2000)
Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt
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Studlar
Bernhard Studlar
Transdanubia-Dreaming
Ein Stück Wien
4 D, 7 H, Grunddek. mit Verw.
Solang sich unsereins nicht selber umbringt, kann uns nix
passieren.
Sie sprechen unverblümtes Wienerisch. Auch Ünal, der türkische Taxifahrer, und Sheriff, der Mann vom Kebabstand. Und sie sprechen das
so gut, daß man schließlich selber wienert.
Jeden Nachmittag sitzt Manfred beim Josef Prinozil im Gartenlokal,
trinkt seine vier Viertel und knetet seine hartleibige Depression. Es sind
schöne friedliche Tage im Wienerwald, mit Blick auf die bleigraue
Donau. Zwei Witwen schlemmen ihre Sodbrandstrudel, und der Wirt
erzählt von Fruchtbarkeitshormonen, die die Ausländer gratis vom Sozialamt kriegen. Das hebt den Manfred zwar nicht an, er ist sowieso allan
in dera Wöd, aber auf Jennifer wirft er schon mal einen schweren Blick.
Ihr eifersüchtig um sich schlagender Heinzi wird den Treppensturz der
kommenden Nacht nicht überleben. Aber was passiert nicht alles im
Suff. Sonderbare Träume erscheinen den Lokalgängern. Gesänge voll
von Liebesgeplänkel und knallhartem Brechstangengebrauch.
Der junge Autor Bernhard Studlar kennt seine Landsleute, und er kennt
deren abgründige Dramatik, die wie in seinem Stück behäbig und unauffällig böse daherkommt. Hansi zum Beispiel, der seit dem Staatsvertrag
nur Inländische in sein Taxi nimmt und von Judenschwärmen träumt,
die als weiße Invasionen in die Gassen fallen, um sich an den Nachbarn zu rächen. Aber er weiß sich zu widersetzen und zündet nachts
den Kebabstand an. Manfred kommt knapp mit dem ungeliebten Leben
davon. Und morgens gibts für alle warmes Bier und scharf geröstetes
Brot. Schade eigentlich, daß Sheriff jetzt nach Istanbul zurückgeht.
Ünal soll ihn grüßen, wenn er ihm folgt.
Der gewöhnliche Fremdenhaß hockt in dieser exzellenten Komödie
behaglich neben kokettem Selbsthaß und eingefleischter Beklommenheit.
Über die Uraufführung wird verhandelt
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Voima/Fargion
Soeren Voima (Text)/Matteo Fargion (Musik)
Das Kontingent
8 Spieler, 1 Dek.
Instrumentale Besetzung: Violine, Klarinette, Posaune, Klavier
Ohne Hoffnung / Auf eine bessere Welt, / Einzig mit dem Willen, /
Leben zu retten, / Töteten wir.
In einer nicht ganz so fernen Zukunft wird durch die Weltorganisation
der Völker das „Kontingent“ zusammengestellt, eine hochspezialisierte
Eingreiftruppe „denkender Soldaten“, die in riskanten Situationen
Menschenrechte durchsetzen sollen, ohne die Menschlichkeit zu zerstören.
Schon beim Training für den späteren Einsatz geht es um eine weitgehende Entindividualisierung der Beteiligten, die zur Voraussetzung
für späteren Erfolg erklärt wird. Ein junger Amerikaner erweist sich
bereits beim Training, aber erst recht bei den Einsätzen in Krisengebieten als unfähig, seine Emotionen, sein individuelles Rechtsempfinden
einem allgemeinen Rechtsdenken unterzuordnen (das der „Nichteinmischung“ und ähnlichen Prinzipien konfliktvermindernder Zusammenarbeit von Völkern verpflichtet ist). Als er auf eigene Faust einzugreifen
droht, wird er zur Gefahr für die Existenz des Kontingents und muß
erschossen werden.
„Nichts in diesem theatralen Exerzitium, das den Vorführcharakter nie
aufgibt und konsequent chorische Kommentare einflicht, ist eindeutig.
Fordert das Kontingent, das Gefühl vom Verstand zu trennen, das Individuum hinter der Masse verschwinden zu lassen, so wirbt es durchaus in
subjektiv-emotionalen Kategorien für das Recht, das eine ‘Landschaft im
Herzen’ sei. Soll der Einzelne im vereinten Ganzen des Kontingents auch
aufgehen, weiß der Journalist … doch um die Notwendigkeit, dem anonymen
Elend die Maske der Individualität wieder aufzusetzen. Denn die an der
Individualisierung geschulte Wahrnehmung ist ungebrochen, die Emotion
ist auch weiterhin berechenbar. Das Individuum kann gar nicht anders, als
dem Kollektiv in die Quere kommen. Und umgekehrt. Soeren Voima reizt
die Widersprüche von Recht und Unrecht am hochaktuellen Thema aus.
Schuster/Kühnel inszenieren sie in karger Theatralität als ein Lehrstück
vom Denken in Alternativen. Beides ist eine Zumutung.“
(Barbara Engelhardt, Theater der Zeit, Heft 3/2000)
Uraufführung 3. Februar 2000, Schaubühne Berlin, in Koproduktion mit
„Das TAT“, Frankfurt am Main, Regie Tom Kühnel, Robert Schuster
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Wendt
Albert Wendt
Padulidu und Lorelei
Ein Märchenspiel
Besetzung und Dek. variabel
Eine Geschichte, Padulidu, ist so wenig, wie dieser Ball: nur etwas
Luft in bunter Wörterhaut, doch wenn wir damit spielen, werden
wir nicht erfrieren.
Padulidu ist ein naiver junger Schweinemann, der nach Heidelberg will,
um sich dort, unterm Eierpflaumenbaum, seinen Traum vom saftigen
Leben zu erfüllen. Lorelei, das wunderschöne Wildschweinmädchen,
kann ihn davon nicht abhalten. Zu gerne würde sie mit Padulidu in die
Dämmrigen Wälder gehen, aber die Eierpflaumen sind stärker. Padulidu
trifft den geschmeidigen Verkaufskater Kadewe, der ihm die Pflaumen
im Sechserpack anbietet. Und kaum hat das blauäugige Schwein seinen
biegsamen Rüssel in die Sache gesteckt, wird es gebrandmarkt: verschuldet. Der dienernde Hund Rudi Ment, immer im Dienste von Kadewe
und dem unglaublich großen Schwein schlechthin, hat ihm ein glühendes
Eisen auf die Schwarte gedrückt. Bald ist Padulidu so verformt, daß er
im großen Ferkelverbeißen antreten kann. Er hat das Zeug, ein richtig
fieses Schwein zu werden.
Den Entscheidungskampf allerdings gewinnt Lorelei. Und viel später
kann sie ihren Frischlingen erzählen, warum Padulidu so ein prächtiger,
dicker Schweinevater werden konnte, obwohl er nie bis nach Heidelberg
kam.
In diesem (Puppen)Spiel für Kinder und Erwachsene gibt es noch kuriose
Randfiguren, die alle aus Rudis Familie Ment stammen. Sie heißen Mo
Ment, Orna Ment oder Parla, Pig, und Ele, Manage, Invest und Establish.
Früh übt sich, was einmal das Schweineschwänzchen ganz nach oben
strecken will.
Uraufführung 8. Oktober 2000, Schaubude Berlin in Koproduktion mit dem
Weiten Theater, Regie Anne Frank
Das gleichnamige Hörspiel wurde im Jahr 2000 vom MDR/WDR produziert,
Regie Götz Fritsch
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Neuübersetzungen
Neuübersetzungen
Thomas Middleton und William Rowley
The Changeling
Der Wechselbalg 3 D, 11 H, Dek. mit Verw.
Übersetzung B. K. Tragelehn
BEATRICE
Vor meinen Augen alles was ich wünsche.
Einem Verlangen, das zum Himmel schickt
Heilig Gebet, zu holen was ihm fehlt
Kommt die Erfüllung süßer nicht entgegen
Als meinen Wünschen du.
ALSEMERO
Wir sind so gleich
In unserm Fühlen, dass wenn ich nicht borge
Die selben Worte, nie fänd ich die Entsprechung.
BEATRICE
Glücklich wären Begegnung und Umarmung
Wären sie frei von Neid. Der arme Kuss
Hat einen Feind, hassvollen Feind, der wünscht
Er wär vergiftet.
C h a n g e l i n g 3 D, 11 H, Dek. mit Verw.
Übersetzung Marc Pommerening
DE FLORES
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Ich muß sie sehn.
Schwach werd ich wieder binnen einer Stunde.
So wie ein Stier in der Arena schöpf ich nur
Kurz Atem, bis die nächste Hetzjagd anhebt.
Kein Schimmer, was draus wird, doch bleib ich ruhig
Denn täglich kommt es vor, daß ein Gesicht
Obschon entstellt, schier angebetet wird.
Auch schiefe Kiefer stehen hoch im Kurs.
Oft war Gezänk das Vorspiel schönster Lust.
So wie ein Kind sich in den Schlummer weinen muß
Erkeifen Weiber sich den Weg zum Koitus.
Neuübersetzungen
Einer der absonderlichsten und reizvollsten elisabethanischen Bühnentexte, 1653 erstmals gedruckt, und in Alicant, in einer Festung am Meer,
angesiedelt. Dort ist der schurkische Diener De Flores der eigentliche
Hauptakteur: Er ist in Beatrice, die Tochter seines Dienstherren, vernarrt
und macht sie sich gefügig, auch um den Preis seines eigenen Lebens.
Statt des Edelmanns Alonzo (der Beatrice vom Vater als Bräutigam zugedacht ist, aber von De Flores ermordet wird) und statt des Edelmanns
Alsemero (dem Beatrice ihre Gunst schenkt und mit dem sie auch verheiratet wird) ist es der Diener, der die hochgestellte Jungfrau defloriert.
Die Verbrechen werden aufgedeckt, De Flores entzieht sich der Bestrafung und richtet sich selbst. Das „Changeling“ des Originaltitels betrifft
den von den Autoren erahnten Umbruch der Zeiten mit ihren Veränderungszwängen. Hinter Verbrechen und Wahnsinn blitzen schon die
neuen bürgerlichen Verhältnisse.
Wir legen zwei (parallel entstandene) neue deutsche Fassungen des
Skandalstückes vor.
B. K. Tragelehn hat in seiner vollständigen Übertragung sehr sorgsam
alle stilistischen Besonderheiten des Originalwerkes berücksichtigt.
Marc Pommerening erarbeitete eine Spielfassung, die dem Originalablauf folgt, aber beträchtliche Kürzungen enthält und für abstruse
Vorgänge ironisch-heutige Dialogpointen einbringt.
Der Wechselbalg – Frei zur Erstaufführung der Übersetzung
Changeling – Erstaufführung 7. Mai 1994, Schokoladen Berlin unter dem Titel
„Liebe liegt blutend“, Regie Till Harms
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Neuübersetzungen
William Shakespeare
Übersetzung Werner Buhss
Der Sturm
(Originaltitel: The Tempest)
4 D, 14 H, kleine Rollen
Prospero
Ach was, jetzt spuckt
Der Samen wohl schon auf die Blüte. Weg das Schwert,
Verräter. Keinen Zahn im Maul und La Paloma pfeifen.
Du bist so sehr von deiner Schuld besessen. Hol dich
Wieder ein. Mit diesem Stab mach ich dich wehrlos,
Und die Waffe fällt dir aus der Hand.
Eine im Jahr 1999 entstandene Übertragung von Werner Buhss.
Frei zur Erstaufführung der Übersetzung
Anton Tschechow
Übersetzung Werner Buhss
Onkel Wanja
(Originaltitel: Djadja Vanja)
Szenen aus dem Landleben in vier Akten
4 D, 5 H, 4 Dek.
Woinizki
Du warst für uns ein höheres Wesen, deine Aufsätze
kannten wir auswendig. Jetzt aber sind mir die Augen
aufgegangen. Ich habe alles begriffen. Du schreibst
über die Kunst, ohne einen Deut davon zu verstehen.
Alle deine Arbeiten, die ich so liebte, sind nicht den
Dreck unterm Fingernagel wert. Du hast uns betrogen.
Eine im Frühjahr 2000 entstandene Übersetzung von Werner Buhss.
Erstaufführung der Übersetzung geplant Dezember 2000, Deutsches Nationaltheater
Weimar, Regie Herbert Olschok
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