Stücke 2001 Neuerscheinungen bei henschel SCHAUSPIEL 1 Redaktionsschluss: 15. Oktober 2000 henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Marienburger Str. 28 10405 Berlin Telefon +49 (0)30 - 44 31 88 88 Telefax +49 (0)30 - 44 31 88 77 [email protected] 2 Braun Volker Braun Limes. Mark Aurel 4 D, 11 H, Stat, Grunddek. mit Verw. Mark Aurel Komm, wenn es in deiner Macht ist, dir selber zu Hilfe, wenn du dich lieb hast. Verweigere dich deinem Wüten. Wie du wünschst gelebt zu haben, kannst du jetzt schon leben! Galen Lieg ruhig, Marcus, entspann dich. Atme aus. (Operiert.) Mark Aurel Begib dich endlich auf das Gebiet, das du selbst bist. Den Widerspruch. Schneide hinein. Das ist der Ausweg. Ins Innerste. So stirbt der Herrscher Mark Aurel am Ende des Stücks, unter dem Messer seines Leibarztes Galen, verlassen von seinen Senatoren, verraten von seinen Freunden, zur Unzeit für tot erklärt von seiner Frau. Rom im zweiten Jahrhundert. Das Reich ist bedroht von innen und außen. Während es seine Grenzen gegen die Fremden, die Barbaren verteidigen muß, geht es selbst im Dreck, an der Pest, an seiner eigenen Perversion zugrunde. Rom wird regiert von gebildeten Philosophen, von Intellektuellen, die zusehen, wie das Land verkommt, wie das Imperium zerfällt. Sie betrachten die Welt vernünftig und sind unfähig, vernünftig zu handeln. Sie reden und analysieren kühl. Sie kennen kein engagiertes, leidenschaftliches Leben mehr. Sie sind die neue Generation. Volker Braun hat eine Geschichte gefunden, deren Aktualität verblüfft. „Es macht einen Unterschied, ob man den Fatalismus in den Verhältnissen nur sieht oder ob man sich gegen sie zur Wehr setzt. Der Fatalismus ist ja nicht das Gesetz unseres Handelns. Aber alles Handeln setzt voraus, daß man die Fatalität der Abläufe kennt.“ (Volker Braun, Büchnerpreisträger 2000, in einem Gespräch mit Gregor Dotzauer und Claudia Keller, DER TAGESSPIEGEL, Berlin, 2./3. 10. 2000) Uraufführung geplant am Staatstheater Kassel 3 Donath/Grünig Dirk Donath/Peter Grünig Der große Theatercoup Die Olsenbande (II) Unter Verwendung der Olsenbandenfilme von Erik Balling und Henning Bahs 2 D, 9 H, Stat, Grunddek. mit Verw. Skide godt! – Mächtig gewaltig! Das Gefängnistor öffnet sich – Egon Olsen wird hinausgeworfen. Melone und Zigarre hinterher. Verdammte Amnestie. Koste es die Ganovenehre, der begnadete Kopf der lausigen Amateurverbrecher muß wieder rein in den Kahn. Nur dort kann er erfahren, wie der Königin das Geschmeide vom Hals weggestohlen werden soll und welche dunklen Geister hier ihre weltumspannend miesen Geschäfte planen. Und er vermasselt einen sauber ausgetüftelten Bruch beim Goldschmied an der Ecke. Für die Krone, für Dänemark und vor allem natürlich für das Wohl der Bande, an dem die werdende Großmutter Yvonne, der picklige Börge und die schwangere kleine Fie hängen. Die Spur führt ins Theater. Hinter die Kulissen, voll rein in die Schmiere. Der gefräßige Kjeld muß den „Hamlet“ geben, der zapplige Benny zur Nationalhymne die Bohrmaschine schwingen. Egon Olsen improvisiert noch überm Abgrund. Mit Schißlaweng, einem Tropfen Vaterlandsliebe und leiser Sehnsucht nach dem Ruhestand. Liebhaber der „Olsenbande“ werden einige der schönsten Filmgags wiedererkennen. Das Schauspieler- und Autorenduo Dirk Donath/Peter Grünig hat mit Spaß und Geschick einen Theater-im-Theater-Coup geschrieben, der – nach dem Erfolg von Peter Dehlers erster OlsenbandenAdaption – im Rostocker Uraufführungstheater einen Sommer lang für ein volles Haus sorgte. Uraufführung 28. Juli 2000, Volkstheater Rostock, Regie Peter Grünig 4 El Kurdi Hartmut El Kurdi Angstmän Ein panisches Kammerspiel für alle ab 8 Jahren 3 Darsteller, 1 Dek. Falls es dich beruhigt: Ich werde dich nicht sofort verdampfen. Jennifer muß diese Nacht alleine sein. Das ist großartig, und zunächst wird die Liste mit den verbotenen Dingen rausgekramt – alle Sicherungen rausfliegen lassen, heimlich Pizza bestellen, Fernsehprogramme durchzappen, und dann wirds auch schon öde. Jennifer bewaffnet sich, sieht überall nach und da! Im Schrank hockt einer – Angstmän. Ein zerknautschter Superheld. Der größte Schißhase des Universums. Ein fanatischer Angstbeutel. Hat sich verflogen auf der Flucht vor Pöbelmän, dem gemeinsten Superheldenschwein aller Galaxien. Angstmän macht eindringlich Panik. Der ist schlimmer als die Sorgenfalten der Eltern. Der löscht eine Kerze mit dem Wassereimer. Doch wie er die Wohnung auch verbarrikadiert – das Unheil naht mit Selbstverständlichkeit. Pöbelmän. In Lederkluft und richtig widerwärtig. Da sich Angstmän aus dem Klofenster stürzt und vorläufig nicht anwesend ist, kann Pöbelmän Jennifer in aller Ruhe quälen. Er singt sogar und ist so peinlich wie gefährlich. Aber Angstmän kehrt zurück. Humpelnd und zu allem entschlossen. Aus Jennifer Mann wird Jennifermän, die der galaktischen Mettwurst an den speckigen Kragen geht. Hartmut El Kurdi (Jahrgang 1964) hat mit diesem spritzigen, bewußt auf Umgangssprache setzenden Kammerspiel nicht nur einen Mutmacher für Kinder geschrieben. Denn Jennifer verarbeitet einen ganzen Stapel pädagogischer Krücken in ihrem gewitzten Spiel mit dem Alleinsein. Uraufführung 13. Mai 2000, theaterspielplatz Staatstheater Braunschweig, Regie Jörg Gade Hörspielfassung DeutschlandRadio Berlin, Ursendung Januar 2001 5 Gaon Boaz Gaon Bug 2000 (Originaltitel: Bug 2000) Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch und Thoralf Seiffert 1 D, 3 H, kleine Rollen, Grunddek. mit Verw. Wir alle. Sind das die Schwestern? Oder wir alle – meinst du das Viertel? Oder Israel? Vielleicht auch die in der Diaspora? Wir alle? Wer ist das – wir alle? Die Jahre bis zum Lebensende hätte der Vater noch aushalten können, aber er muß mit seiner Geliebten nach Amerika verschwinden und seine Familie in Tel Aviv sitzenlassen. Mit einer Mutter, die vor Kummer ins Schweigen fällt und schließlich beatmet werden muß. Der Sohn besucht den Vater Jahr für Jahr in seinem New Yorker Hotelzimmer. Sie reden aneinander vorbei. Sie stochern mit Floskeln und peinlichen Behelfsfragen gegenseitig in ihren Lebensvorstellungen. Und sie wissen beide genau, daß die Moral-Richtlinien des Sohnes so brüchig sind wie die sexuellen Wünsche des Vaters. Nach acht Jahren ist der Vater etabliert. Er amerikanert, ist fit, und seine Frau hat den Verlust auch verschmerzt. Da kehrt er heim. Der verlorene Vater kommt zurück an den Familientisch, wo die Mutter Berge von Püree verteilt. Der junge Autor Boaz Gaon bringt mit dieser Groteske ein Grundgefühl auf die Bühne. Der Zerfall der Familie steht für einen nicht mehr zu kaschierenden Verlust von Werten in der schnellebigen israelischen Gesellschaft, die geprägt ist von einer Mixtur aus europäischer Geschichte, amerikanischer Zivilisation, russischer Lebensart und orientalischem Klima. Die hohen moralischen Ambitionen der Gründergeneration haben sich erledigt und bilden doch noch immer ein Korsett. Frei zur Deutschen Erstaufführung 6 Gericke Katharina Gericke Geister Bahn 3 D, 5 H, Grunddek. mit Verw. Dein Tumor – ein Vogeltier mit ganz kahln Schwingen – das stirbt doch mit, das trauert sich doch tot auf kaltn weißn Tischn. Mir habn die Tumore immer mehr leid getan als die Patientn – Sie sind eine Boygroup – angehimmelt und hochgeschossen auf Platz zwei der Charts. Sie sind sexuell nach allen Seiten offen und haben jeder einen anderen Krebs. Sie heißen 4Berlinz und sind nur noch drei. Zwei kranke Fan-Mädchen fahren ihnen nach bis in die letzte Absteige irgendwo bei Suhl. Dort verschiebt sich das Ambiente. Das Morphium beginnt zu wirken. Sie werden weißgekittelte Krebsengel. Es ist das Jahr 1992. Im gekachelten Backstage wacht Oberschwester Miep van Poelz, die gleichzeitig auch Managerin ihrer Platten und Fototermine ist. Ein Tanztrainer schleift sie nach bewährten Methoden aus dem Hochleistungs-Osten übers Krankenhausparkett. Er ist der Choreograph des Bühnenerfolgs mit leiser Stasistimme. Morgen wird er am Hirn operiert. Wahrscheinlich vom Notarzt, der seit dem Zusammenbruch des Ostens nur noch Unfälle von der Straße kratzen darf. Genosse, ich bin dein Chirurg. Man kennt sich von früher. Aus den demontierten Zeiten, als der Sanitäter noch Chefarzt eines Versuchslaboratoriums tief im Sozialismus war. Katharina Gericke schrieb ein apokalyptisches Stück, in dem Aufstieg und Zerfall von Menschen und Systemen schaurig miteinander verwoben sind. Voll Liebe und Verlangen. Ausgezeichnet mit dem Autorenförderpreis der Landesgruppe des Deutschen Bühnenvereins. Uraufführung 25. November 2000, Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven, Regie Britta Geister 7 Grischkowez Jewgeni Grischkowez Wie ich einen Hund gegessen habe (Originaltitel: Kak ja el sobaku) Monolog Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke 1H Wie schön ist es gewesen, auf der Heizung im Hauseingang Schneebälle aufzutauen, wovon die Handschuhe naß wurden und dabei vor den Typen vom Nachbarhof Angst zu haben. Ein junger Russe erzählt von drei Armee-Jahren, die ihn zu einem Anderen machten. Es sind Erinnerungen an die siebentägige Bahnfahrt durch immergleiche Birkenlandschaften nach Wladiwostok, an die Kutterfahrt zu einer berüchtigten Marine-Basis, an das morgendliche Massenpinkeln in den Ozean, an die öde (und eher konfliktlose) Dienstzeit in einem U-Boot – mit der alles überdeckenden Sehnsucht nach Zuhause und den aufsteigenden Kindheitsbildern vom Leben in der Familie, vom Fürchten vor der Dunkelheit, der ersten Lehrerin. Erinnerungen auch an die ohne Selbstmitleid hingenommenen Erniedrigungen der Dienstzeit und die daraus erwachsene Fähigkeit, sich den Absurditäten des Daseins zu stellen. Es ist ein stockender, immer noch fassungsloser Bericht über eine existentielle Erfahrung. Denn es gab für den entlassenen Matrosen kein Zuhause mehr, weil er in das „Zuhause“ nicht mehr hineinpaßte, wie in keine Hose mehr, die er vor der Flottenzeit getragen hatte. Das Zuhause war versperrt, und auch das Ich ausgelöscht, das dort gelebt hatte. Er war dabei gewesen, als der tote Hund gegessen wurde, den ein junger Koreaner auf dem Boot als Delikatesse für seine Kameraden zubereitete. Er war sich fremd geworden. Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt 8 Grischkowez Jewgeni Grischkowez GleichZeitig (Originaltitel: Odnowremenno) Monolog Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke 1H … weil man in einem Atemzug über sehr viel erzählen muß. Und aussprechen muß man es nicht schnell, sondern gleichzeitig. Auf sehr eigentümliche und scheinbar konfuse Weise erzählt da einer von seinen sinnlichen Wahrnehmungen, die sich wie Banalitäten ausnehmen und doch in vielfältigen Überschneidungen und zeitgleicher Verschiedenheit als Bausteine des Lebens zu begreifen sind. Warum fahren Lokführer auf ihren Dieselloks nicht die ganzen Strecken der Zugverbindungen, sondern immer nur bis zum nächsten Knotenpunkt hin und wieder zurück? Warum legst du dich auf die rechte Seite schlafen, und bald ist das rechte Nasenloch verstopft? Warum mustert sich einer morgens selbstgefällig im Spiegel und findet sich später auf dem Video einer Party so verheerend, mit schrecklicher Frisur und blöder Grimasse? Wieso nervt es, die eigene Stimme zu hören, die andern ganz normal klingt? Fragen über Fragen. Nach einer Reihe witziger Selbstbeobachtungen zur Wirkungs- und Funktionsweise seines Körpers (und den Schwierigkeiten, sie auszudrücken) unternimmt der Erzähler immer tollkühnere Erkundungs- und Artikulationsversuche. Er will den Raum mit seinen Molekülen, mit der Luft und den Radiowellen erfassen und auch noch der Zehntausende habhaft werden, die am Himmel in Flugzeugen fliegen, in Schiffen fahren oder Krieg führen – und das alles gleichzeitig. „Den Faktor Zeit ausräumen“ beschreibt dieser sonderbare Theatermensch Grischkowez (der 1990 in Sibirien eine Theatergruppe gründete und seit 1995 in Kaliningrad lebt) seine Methode, sich mit Dingen und Gefühlen zu beschäftigen, ohne die zynischen Denkmuster vergangener Jahrzehnte zu bemühen. Wer wie er auf so sinnliche Weise erfahren will, was die Welt im Innersten zusammenhält, den kümmert die Angst nicht, sich dabei lächerlich zu machen und zum „neuen Sentimentalisten“ ausgerufen zu werden. Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt 9 Hein Christoph Hein Mutters Tag 1 D, 1 H, 1 Dek. Jetzt ist alles wunderbar in Deutschland, du musst ja nicht einmal in einem Ghetto wohnen. Und die Mischpoke wird sich schon beruhigen. Ein unrasierter alter Mann, an einem Manuskript arbeitend, frühstückend, rauchend und Manuskriptblätter zerreißend. Mit ihm im Zimmer ist eine elegante Vierzigerin, die behutsam herumläuft, als ob sie hier zu Hause wäre, ohne daß der Alte sie wahrnimmt. Jemand ruft an und beschimpft den jüdischen Autor, der aus England nach Deutschland zurückgekehrt war, obwohl seine Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Mit der Post kommt ein widerwärtiger Schmähbrief, noch dazu mit einer Absenderangabe. Der Autor zerreißt den Brief und arbeitet weiter. Die Frau in seinem Zimmer, die ihm mütterliche Vorhaltungen zum Rauchen und anderen Fragwürdigkeiten seines persönlichen Lebensstils macht, die ihm familiäre Versäumnisse ankreidet und sein Manuskript kritisch begutachtet – sie empfiehlt für alle Fälle gepackte Koffer, einen gültigen Reisepaß und keine Erdgeschoßwohnung, wo Steine durchs Fenster fliegen können. Der Autor entschließt sich, in ein höheres Stockwerk umzuziehen. Christoph Heins unaufgeregter Einakter ist eine Liebeserklärung für George Tabori, der in der Uraufführung spielen wird; er ist darüber hinaus eine Liebeserklärung an alle Überlebenden des Terrors und eine Verneigung vor den Opfern. Uraufführung 16. Oktober 2000, Berliner Ensemble, Regie Claus Peymann 10 Langhoff Anna Langhoff Antigonebericht 1 D, 6 Söldner, Chor ANTIGONEBERICHT spielt außerhalb der Epochen, der Raum ist die Bühne, die Handlung die Sprache. Theben liegt in Trümmern. Vor der Stadt sammeln sich ausgebombte Bürger zu einem Chor, der zwischen Tod und Leben, gestern und jetzt kaum noch zu unterscheiden vermag. Geschichte scheint aufgelöst im endlosen Kriegstreiben. Vereinzelte Söldner berichten über die Sinnlosigkeit ihres Berufs, während sie weiter vergewaltigen, plündern, töten. Kreon, dessen erstes Exempel die alten Traditionen, Götter und Gesetze negiert. Einsam lungert Antigone vor den Ruinen, weniger, um ihren Bruder zu bestatten, als aus Furcht vor Kreons Regime und einem Leben in Bedeutungslosigkeit. In der vagen Hoffnung, einen Aufstand zu provozieren, überlebt Antigone fast ihre ganze Familie, bis sie totgeschlagen wird – ihrer Halskette wegen. Frei zur Deutschen Erstaufführung 11 Langhoff Anna Langhoff Eisfelder 5 D, 4 H, Grunddek. Es ist noch so weit bis zu mir. Tausend Meilen, tausend Meilen zurück … Schauplatz ist ein giftgrüner Stadtpark. Ein obdachloses kindliches Königspaar bekommt ein Kind. Das wird Tier heißen, scharfe Zähne tragen, und durch seinen Brustkorb werden Drähte schimmern. Der Vater ist voll Ekel vor dem embryonalen Geschöpf, das ihm seinen Platz im Körper der Freundin streitig macht. Er trägt ein Trauma des Verstoßenseins mit sich und wird es als Erbe an Tier weitergeben. Es soll eine Kampfmaschine werden. Süß und unverwüstlich. Geboren wird Tier zwischen Gebüsch und Stacheldrahtverhau, umgeben von einer Bande gefühlsverbogener Gestalten, die sich in Hüllen vergangener Märchen hängen. Auf der anderen Seite des Parks laden tönende Jungunternehmer zu einem Wohltätigkeitsbankett unter freiem Himmel. Aber wehe dem, der ihnen zu nahe kommt. Niemand darf jemandem in diesem Stück zu nahe kommen, denn Nähe bedeutet Gefährdung der längst zerbrochenen Individualität. Wer getötet wird, ist verdammt, als Schutzengel für Ungeliebte weiterzumachen. Wege nach Hause sind nicht zu finden. Die Terrains, in denen sich Anna Langhoffs Figuren bewegen, sind aufs Minimum geschrumpft. Schartige Eisfelder. Egal, ob sie aus der verkommenden Oberklasse oder der keimenden Unterschicht stammen. Die Schere zwischen den Schichten klafft so weit auseinander, daß sie mit ihren stumpfen Seiten schon wieder aneinanderschlägt. Im Alptraumtakt. Frei zur Uraufführung 12 Martin Christian Martin Fast Fut ein kammerspiel 1 D, 1 H, Dek. mit Verw. elender mörder hast endlich aufgeräumt Sie sind glücklich, aber sie wissen es nicht. Sie lieben sich inmitten einer tristen Plattensiedlung und träumen vom Reihenhaus. Als Andy eine Stelle angeboten bekommt, ganz weit weg und ohne Möglichkeit, Mandy am Wochenende zu umarmen, sagt er ja. Er wird wiederkehren als reicher Mann. Was macht da schon die kurze Einsamkeit. Als er nach getaner Arbeit zwei Jahre drauf nach Hause kommt, ist die Platte saniert, und sein Namensschild ist fort. Er wird Hausmeister und hat nichts zu tun, da alles neu ist. Im gleichen Haus lebt eine Frau, die sich Sandy nennt und als Nachtschwester andere glücklich macht. Eines Nachts wird sie im Hausflur vergewaltigt. Der Hausmeister ist kurz darauf helfend zur Stelle. Andy kümmert sich um die Verletzte. Und als Sandy zu gesunden droht, bietet er ihr viel Geld, damit sie noch eine Woche nur für ihn da ist. Aber sie kann gerade dieses Geld nicht annehmen, und Andy stößt den dienstbar angebotenen Körper von Sandy zurück. Es gibt keinen neuen Anfang. Sie kommen aus dem verzwickten Spiel nicht raus. Der Hausmeister tötet Mandy und Sandy und sich selbst. Ähnlich den Figuren aus Martins Volksstücken der VOGTLÄNDISCHEN TRILOGIE scheint auch dieses Paar in einer bedrückend schmalen, mundartlich gefärbten Sprache gefangen zu sein. Andy heißt Andy und nicht Woyzeck, aber er ist der erschreckend geradlinige Kerl, der seiner Liebe nicht gestatten kann, einen Weg außerhalb seines Lebensplans zu probieren. Über die Uraufführung wird verhandelt 13 Martin Christian Martin Schmitt Solo eine suada 1 H, 1 Dek. sie rindvieh sie globales Schmitt hat seinen Führerschein verloren. Wegen Raserei in aller Hahnenfrühe durch ein schlafendes Dorf. Das ist absurd, das ist brutal. Jetzt hockt er allein zu Hause, und alles geht mit diesem eingezogenen Papier den Bach runter. Frau, Arbeit, Auto, Lebensgefühle. Schmitt telefoniert, hat irgendwen an der Leitung, der nicht auflegt. Vielleicht sogar einen Verantwortlichen, einen, der diesen unmenschlichen Entzug rückgängig machen kann und sich seiner erbarmt. Wie ein Würgemal zieht sich diese Bremsspur um seine sorgsam eingerichtete Existenz. Schmitt bettelt, fleht, erklärt. Er war immer vorbildlich und will es wieder sein. Aber wenn man ihn provoziert, wird er seine Kehrseiten aktivieren. Er neigt auch zur Anarchie. Er fährt durchaus rabenschwarz bis hoch in den Norden, um sich dort zu töten. Der Mann mit der sinnlos bürokratisch entzogenen Legitimation stirbt auf einsamer Piste. Das wäre ein Exempel. Schmitt erpreßt. Schmitt wird gewalttätig in seinen vier Wänden. Er hat sein Leben offenbart. Hat es nackt ausgebreitet. Ein normaler, freundlicher Mitbürger, der in den Regeln seiner Zeit leben wollte. Aber die anderen haben es nicht anders gewollt, und jetzt läuft der Countdown. Nach einem authentischen Fall schrieb Christian Martin diesen erschütternd komischen Theaterschrei für einen Schauspieler beliebigen Alters. Über die Uraufführung wird verhandelt 14 v. Mayenburg Marius von Mayenburg Parasiten 2 D, 3 H, 1 Dek. Wenn du dich umbringst, piß ich auf dein Grab. Der alte Multscher ist am Steuer seines Wagens eingeschlafen und hat Ringo überfahren. Seitdem sitzt Ringo im Rollstuhl, verläßt seine Wohnung nicht mehr und ist auf die Fürsorge seiner Freundin Betsi angewiesen. Es gefällt ihm nicht, daß Betsi vorübergehend auch ihre Schwester Friderike aufnimmt, die ohnmächtig am Rande einer Autobahn aufgefunden wurde. Friderike ist schwanger und droht mit Selbstmord. Petrik, ihr Mann, hat sich zuvor wenig um sie gekümmert, jetzt kommt er jedoch mit zweifelhaften Versöhnungsangeboten in Betsis Hochhauswohnung. Dort hat sich auch Multscher eingefunden, der es nicht verkraftet, mit seiner Schuld zu leben. An einem heißen Sommertag verstricken sich alle fünf in einen verbissenen Kampf um- und gegeneinander. Ansprüche auf Rettung werden erhoben, Fürsorge verkrampft sich zu Umklammerung. Friderike schluckt Tabletten und überlebt. Der gelähmte Ringo versucht zu entkommen. Sie alle machen sich kaputt und brauchen sich zum Weiterleben. Marius von Mayenburg provoziert mit der detailgenauen Zeichnung eines solchen fremdbestimmten Immer-Weiter-Dahinlebens seiner Figuren. In der Hitze der Auseinandersetzungen reden sie eher lyrisch, besondere Erregungen führen zum brutalen Benennen tabuisierter Sachverhalte – und auch zu Einsichten, die den Ring parasitärer Verklammerung sprengen können. Uraufführung 18. Mai 2000, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie Thomas Ostermeier 15 Sauter/Studlar Andreas Sauter/Bernhard Studlar A. ist eine andere 2 D, 3 H, Grunddek. mit Verw. Ich habe heute kapiert, daß ich dich nie mehr so lieben werde wie jetzt. Scheißdreck. A. hat sich verbrannt. Auf offenem Feld, direkt neben ihrem Wagen. Die Indizien scheinen keinen Irrtum zuzulassen. Man fand auch ein paar angefangene Briefe. Gestotterte, unvollendete Liebesbriefe an Gerd, ihren Mann. Gerd hat noch ihren Duft an den Fingern. A. war jung, voll Lust, mit normal verrückten Träumen. Nichts Ungewöhnliches, nichts Auffälliges. Vier Tage später sind die Formalitäten erledigt. A. ist in der Urne, die an einem verregneten Tag auf der Wiese ausgestreut wird. Die Situation ist so unfaßbar, daß sie weder Schock noch Betäubung zuläßt. Vier Menschen leben sich in einen Alltag nach dem Tod, erinnern sich an A. Pheres, ihr Vater, der als Bonsai-Spezialist einen Bonsai auf die Wiese setzt, obwohl der im Freien keine Chance hat. Bongo, der lebenslustige Barmann, der mit Gerd in Italien so wunderschön bis zum Umfallen Chianti trank. Nina, die Medizinstudentin, die A. in der Pathologie sah und inzwischen ihre Sachen trägt. Gerd, der Architekt, dem das Leben mit A. bisher so leicht war. Mit einem fast unbemerkt gleitenden Wechsel zwischen erzählten Passagen und unterbrochenen Dialogen wird A. immer präsenter. Vergessene, alltägliche Details werden groß. Lebensgeschichten einfach und unwiederbringlich. Behutsam fließen die Gedanken der Figuren ineinander, bis A. in den Dialog tritt. Lebendiger, je mehr ihr quälendes Verschwinden als Tatsache akzeptiert wird. Und ihr gehört konsequent der letzte Monolog in dieser bizarr gebauten Liebesgeschichte. Das Autorenteam Andreas Sauter (Jahrgang 1974) und Bernhard Studlar (Jahrgang 1972) bekam für dieses Stück den diesjährigen KleistFörderpreis für junge Dramatik. Uraufführung geplant März 2001, Städtische Theater Chemnitz, Regie Bettina Jahnke 16 Schlender Katharina Schlender Plumpsack 5 Darsteller, Grunddek. mit Verw. ich mag nicht immer gut essen was du schlecht kochst mutter. Es ist ein einsames, unheimliches Geschehen zwischen vier Kindern und einer Mutter, der es die Sprache verschlagen hat. Sie kann nur noch kichern, kochen und ohrfeigen. Was für eine Mutter. Kichert einer Zeit hinterher, als der Vater noch nicht tot war und die Kinder klein wie Puppen. Das ist der Schock, den sie nicht abwerfen kann und gegen den sich alle zur Wehr setzen müssen. Mit Vorsicht, Renitenz und uraltem Verständnis. Ein Plumpsack verfolgt die Kinder bis in ihre Träume. Eine Schreckgestalt, die sie erlösen könnte. Mit Bruchsätzen und verkanteten Worten versuchen sie, sich zu orientieren und zu organisieren. Lebenswichtig werden spärliche Rituale des Alltags und gemeinsames Rauchen in den Betten. Casimir, der Älteste, will ein Adler werden, um dem Vater im Himmel die unbeschreibliche Not zu zeigen. Aber er bekommt die Tür nicht auf, hinter der der Vater jetzt in seinem Grab liegt. Geduckt kehrt er an den Tisch zurück, an dem es diesmal Taube gibt. Arrx, der Jüngste, verkrallt sich schließlich in hilfloser Wut in die Mutterfigur und wird von den Geschwistern dafür geächtet. Die Kinder Dwini, Bujo und Casimir werden jeder alleine für sich den Himmel nach einer Lebensmöglichkeit absuchen. Autistisch ins Leben entlassen. Arrx bleibt bei der gestörten Mutter und ist verstrickt bis in alle Ewigkeit. Dieses geheimnisvolle Stück fasziniert schon formal durch seine Beschränkung und sprachliche Minimierung. Horror aus dem Kinderzimmer, das auch ein Raum jenseits der Kindheit sein könnte. PLUMPSACK wurde mit dem Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreis 2000 ausgezeichnet und beim Heidelberger Stückemarkt in szenischer Lesung vorgestellt. … ein irritierendes Stück, ein nicht gar leicht zu greifendes, vom Theater nicht und nicht vom Publikum … ein aufregendes Stück. (aus der Laudatio) Frei zur Uraufführung 17 Schlender Katharina Schlender Harmonika hin – Liebe her 2 D, 3 H, 1 Dek. soll ich euch vielleicht was vorspielen wollen? Katharina Schlender (Jahrgang 1978) beschreibt mit spielend leichten Kurzsätzen, was zwischen Kindern passieren kann, wenn Erwartungen nicht übereinstimmen und Mißtrauen wach wird. Rena wartet auf Stefan. Sie ist sich seiner noch ganz sicher. Da kommt Hans und löst Beunruhigung aus. Rena zerfetzt seinen Teddy. Hans will ihn beschützen, und plötzlich ist eine bedrohliche Situation entstanden. Rena schlägt zu und Hans fällt um. Eine Szene entwickelt sich aus der vorangegangenen. Die Autorin fragt nicht nach gut oder böse, falsch oder ehrlich. Sie läßt jedem Spieler sein Recht und führt vor, wie aus Spaß Ernst wird und wie Zweifel sich in Liebe frißt. Ein kluges knappes Spiel für Kinder ab fünf Jahren aufwärts. Uraufführung geplant Januar 2001, Hans Otto Theater Potsdam, Regie Philippe Besson Meierhüte 4 Darsteller, Grunddek. bei meier fühl ich mich angesprochen. Die vier Wesen teilen sich ein Schicksal. Sie heißen alle Meier. Vor der Heirat, nach der Heirat, mal mit „ei“, mal mit „ai“ – immer Meier. Sie sind von zuvorkommend freundlicher Wortkargheit, und sie müssen sehr vorsichtig sein. Ihre Köpfe sitzen locker. Frieda Meiers Kopf liegt bereits auf genau dem Weg herum, den die anderen Meiers kreuzen wollen. Es kommt zu Stillstand, Kopfaustausch und zu bestürzend einfachen Lebensbetrachtungen. Bis der Rumpf von Frieda erscheint und alle Meiers wieder vollständig beieinander stehen. Süßen Kuchen essend. Mit dem Mund, der im Kopf steckt. „mm. schön süß schön nicht schön?“ Ein Clownsspiel für kleine und große Meiermenschen. Frei zur Uraufführung 18 Scimone Spiro Scimone Bar (Originaltitel: Bar) Aus dem Italienischen von Anna Falduto 2 H, 1 Dek. Fällt dir wirklich nichts Komisches auf? Unversehens ist Gianni, der Ganove, tot. Er hat die Huren im sizilianischen Städtchen unter Aufsicht, er hat den arbeitslosen Familienvätern noch die letzten Erbstücke für ein bißchen Kohle abgehandelt und ihnen neue Jobs versprochen, für die sie erstmal monatelang umsonst arbeiten sollen. Die Polizei fahndet vergeblich nach dem Mörder. Auch Nino und Petru, die beiden Männer in der Bar, halten sich bedeckt. Sie haben ihre Gründe dafür. Nino, der Barmann, seit über zwanzig Jahren am Platze, zu Hause fest im Griff einer dominanten Mutter, hatte tatenlos zugesehen, wie das Scheusal Gianni das Straßenmädchen Sara verprügelte – die gleiche Sara, zu der er vorsichtig in freundschaftliche Beziehungen getreten war. Petru, arbeitslos und hochverschuldet, hatte dem Ganoven auch noch den Schmuck seiner Frau ausliefern müssen. Bei einem von Giannis Kartenspielabenden, diesmal in der Bar veranstaltet, wollten sie den Gauner übertölpeln und selbst aus ihrer Abhängigkeit herauskommen. Aber ihre verabredeten Tricks verfangen nicht, sie verloren das Spiel und konnten nur von einer Revanche träumen … Das in Italien überaus erfolgreiche Zweipersonenstück des 36jährigen sizilianischen Schauspielers und Autors Spiro Scimone wurde 1997 erstmals beim Festival von Taormina gezeigt und überzeugte auch in der ersten deutschen Inszenierung durch seinen abgründigen DialogWitz und die Faszination des Unausgesprochenen im Dämmerlicht von Mafia-Strukturen. Deutsche Erstaufführung 9. April 2000, Stadttheater Konstanz, Regie Carlos Trafic 19 Srbljanoviæ Biljana Srbljanoviæ Der Sturz (Originaltitel: Pad) Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann 2 D, 4 H, Dek. mit Verw. Ich werde dieses Loch zuschütten lassen und niemand wird mehr wissen, was hier gewesen ist. In einem Bühnenraum, wie ein verlassenes Sommerhaus oder wie ein Bunker, vollzieht sich eine makabre Familiengeschichte in der Tradition des Grand Guignol. Suncana, eine kräftige Fünfzigerin, gebiert unter Schreien und Wehklagen das Modell eines Hauses und wird von den umstehenden Intellektuellen Stratimirovic und Glogov zur „Übermutter“ der nun etablierten Nation erklärt. Man schlägt ihr den unbedarften Zivko als „Führer“ vor, den Suncanas 17jähriger Sohn Jovan auch als neuen Vater anerkennt. Die Hochzeit von Suncana und Zivko wird nach traditionellen Riten begangen, der Hochzeiter versagt im Hochzeitsbett, stilisiert sich jedoch zum „Großen Mann“ seiner Zeit. Die „Chamäleons der Nation“, die beiden Intellektuellen, betreiben die Befestigung der angemaßten Macht und versuchen, den jungen Jovan, der freilich unter dauerndem Brechreiz leidet, zu einer willfährigen Kampfmaschine zu erziehen. Mutter Suncana ist fruchtbarer denn je: sie gebiert eine Glotze zur Meinungsmanipulation, später eine Kaserne (als die Zeit zum Krieg gekommen ist) und dann noch eine Kirche (als der Krieg verloren ist). Jovan stirbt im Kriegsgetümmel, versehentlich erschossen von der eigenen Mutter. Stratimirovic und Glogov, vorher als Feldherren tätig und nun Priester, drängen eilig hinaus, die Erde bebt. Suncana zäunt ihr letztes Stückchen Nation mit Stacheldraht ein. Aber der tote Sohn erscheint und sorgt für den Untergang der Familie. Mit einem kreischenden „Tango für das neue Europa“ endet die Szene. Das dritte Bühnenstück der serbischen Autorin, noch vor dem Bombenkrieg der Nato entstanden und im Sommer 2000 in Budva/Montenegro uraufgeführt. „Der Zuschnitt erinnert an die grelle Direktheit des Filmemachers Kusturica oder den Sarkasmus von Heiner Müllers SCHLACHT. Dieses Stück Einmischungstheater ist mal Fresco, mal Karikatur, zudem genährt von Mythen des alten Jugoslawien, jenem Patchwork aus Regionen, die seit zehn Jahren miteinander im Krieg liegen.“ (LIBERATION, Paris, 29. August 2000) Über die Deutsche Erstaufführung wird verhandelt 20 Studlar Bernhard Studlar Transdanubia-Dreaming Ein Stück Wien 4 D, 7 H, Grunddek. mit Verw. Solang sich unsereins nicht selber umbringt, kann uns nix passieren. Sie sprechen unverblümtes Wienerisch. Auch Ünal, der türkische Taxifahrer, und Sheriff, der Mann vom Kebabstand. Und sie sprechen das so gut, daß man schließlich selber wienert. Jeden Nachmittag sitzt Manfred beim Josef Prinozil im Gartenlokal, trinkt seine vier Viertel und knetet seine hartleibige Depression. Es sind schöne friedliche Tage im Wienerwald, mit Blick auf die bleigraue Donau. Zwei Witwen schlemmen ihre Sodbrandstrudel, und der Wirt erzählt von Fruchtbarkeitshormonen, die die Ausländer gratis vom Sozialamt kriegen. Das hebt den Manfred zwar nicht an, er ist sowieso allan in dera Wöd, aber auf Jennifer wirft er schon mal einen schweren Blick. Ihr eifersüchtig um sich schlagender Heinzi wird den Treppensturz der kommenden Nacht nicht überleben. Aber was passiert nicht alles im Suff. Sonderbare Träume erscheinen den Lokalgängern. Gesänge voll von Liebesgeplänkel und knallhartem Brechstangengebrauch. Der junge Autor Bernhard Studlar kennt seine Landsleute, und er kennt deren abgründige Dramatik, die wie in seinem Stück behäbig und unauffällig böse daherkommt. Hansi zum Beispiel, der seit dem Staatsvertrag nur Inländische in sein Taxi nimmt und von Judenschwärmen träumt, die als weiße Invasionen in die Gassen fallen, um sich an den Nachbarn zu rächen. Aber er weiß sich zu widersetzen und zündet nachts den Kebabstand an. Manfred kommt knapp mit dem ungeliebten Leben davon. Und morgens gibts für alle warmes Bier und scharf geröstetes Brot. Schade eigentlich, daß Sheriff jetzt nach Istanbul zurückgeht. Ünal soll ihn grüßen, wenn er ihm folgt. Der gewöhnliche Fremdenhaß hockt in dieser exzellenten Komödie behaglich neben kokettem Selbsthaß und eingefleischter Beklommenheit. Über die Uraufführung wird verhandelt 21 Voima/Fargion Soeren Voima (Text)/Matteo Fargion (Musik) Das Kontingent 8 Spieler, 1 Dek. Instrumentale Besetzung: Violine, Klarinette, Posaune, Klavier Ohne Hoffnung / Auf eine bessere Welt, / Einzig mit dem Willen, / Leben zu retten, / Töteten wir. In einer nicht ganz so fernen Zukunft wird durch die Weltorganisation der Völker das „Kontingent“ zusammengestellt, eine hochspezialisierte Eingreiftruppe „denkender Soldaten“, die in riskanten Situationen Menschenrechte durchsetzen sollen, ohne die Menschlichkeit zu zerstören. Schon beim Training für den späteren Einsatz geht es um eine weitgehende Entindividualisierung der Beteiligten, die zur Voraussetzung für späteren Erfolg erklärt wird. Ein junger Amerikaner erweist sich bereits beim Training, aber erst recht bei den Einsätzen in Krisengebieten als unfähig, seine Emotionen, sein individuelles Rechtsempfinden einem allgemeinen Rechtsdenken unterzuordnen (das der „Nichteinmischung“ und ähnlichen Prinzipien konfliktvermindernder Zusammenarbeit von Völkern verpflichtet ist). Als er auf eigene Faust einzugreifen droht, wird er zur Gefahr für die Existenz des Kontingents und muß erschossen werden. „Nichts in diesem theatralen Exerzitium, das den Vorführcharakter nie aufgibt und konsequent chorische Kommentare einflicht, ist eindeutig. Fordert das Kontingent, das Gefühl vom Verstand zu trennen, das Individuum hinter der Masse verschwinden zu lassen, so wirbt es durchaus in subjektiv-emotionalen Kategorien für das Recht, das eine ‘Landschaft im Herzen’ sei. Soll der Einzelne im vereinten Ganzen des Kontingents auch aufgehen, weiß der Journalist … doch um die Notwendigkeit, dem anonymen Elend die Maske der Individualität wieder aufzusetzen. Denn die an der Individualisierung geschulte Wahrnehmung ist ungebrochen, die Emotion ist auch weiterhin berechenbar. Das Individuum kann gar nicht anders, als dem Kollektiv in die Quere kommen. Und umgekehrt. Soeren Voima reizt die Widersprüche von Recht und Unrecht am hochaktuellen Thema aus. Schuster/Kühnel inszenieren sie in karger Theatralität als ein Lehrstück vom Denken in Alternativen. Beides ist eine Zumutung.“ (Barbara Engelhardt, Theater der Zeit, Heft 3/2000) Uraufführung 3. Februar 2000, Schaubühne Berlin, in Koproduktion mit „Das TAT“, Frankfurt am Main, Regie Tom Kühnel, Robert Schuster 22 Wendt Albert Wendt Padulidu und Lorelei Ein Märchenspiel Besetzung und Dek. variabel Eine Geschichte, Padulidu, ist so wenig, wie dieser Ball: nur etwas Luft in bunter Wörterhaut, doch wenn wir damit spielen, werden wir nicht erfrieren. Padulidu ist ein naiver junger Schweinemann, der nach Heidelberg will, um sich dort, unterm Eierpflaumenbaum, seinen Traum vom saftigen Leben zu erfüllen. Lorelei, das wunderschöne Wildschweinmädchen, kann ihn davon nicht abhalten. Zu gerne würde sie mit Padulidu in die Dämmrigen Wälder gehen, aber die Eierpflaumen sind stärker. Padulidu trifft den geschmeidigen Verkaufskater Kadewe, der ihm die Pflaumen im Sechserpack anbietet. Und kaum hat das blauäugige Schwein seinen biegsamen Rüssel in die Sache gesteckt, wird es gebrandmarkt: verschuldet. Der dienernde Hund Rudi Ment, immer im Dienste von Kadewe und dem unglaublich großen Schwein schlechthin, hat ihm ein glühendes Eisen auf die Schwarte gedrückt. Bald ist Padulidu so verformt, daß er im großen Ferkelverbeißen antreten kann. Er hat das Zeug, ein richtig fieses Schwein zu werden. Den Entscheidungskampf allerdings gewinnt Lorelei. Und viel später kann sie ihren Frischlingen erzählen, warum Padulidu so ein prächtiger, dicker Schweinevater werden konnte, obwohl er nie bis nach Heidelberg kam. In diesem (Puppen)Spiel für Kinder und Erwachsene gibt es noch kuriose Randfiguren, die alle aus Rudis Familie Ment stammen. Sie heißen Mo Ment, Orna Ment oder Parla, Pig, und Ele, Manage, Invest und Establish. Früh übt sich, was einmal das Schweineschwänzchen ganz nach oben strecken will. Uraufführung 8. Oktober 2000, Schaubude Berlin in Koproduktion mit dem Weiten Theater, Regie Anne Frank Das gleichnamige Hörspiel wurde im Jahr 2000 vom MDR/WDR produziert, Regie Götz Fritsch 23 Neuübersetzungen Neuübersetzungen Thomas Middleton und William Rowley The Changeling Der Wechselbalg 3 D, 11 H, Dek. mit Verw. Übersetzung B. K. Tragelehn BEATRICE Vor meinen Augen alles was ich wünsche. Einem Verlangen, das zum Himmel schickt Heilig Gebet, zu holen was ihm fehlt Kommt die Erfüllung süßer nicht entgegen Als meinen Wünschen du. ALSEMERO Wir sind so gleich In unserm Fühlen, dass wenn ich nicht borge Die selben Worte, nie fänd ich die Entsprechung. BEATRICE Glücklich wären Begegnung und Umarmung Wären sie frei von Neid. Der arme Kuss Hat einen Feind, hassvollen Feind, der wünscht Er wär vergiftet. C h a n g e l i n g 3 D, 11 H, Dek. mit Verw. Übersetzung Marc Pommerening DE FLORES 24 Ich muß sie sehn. Schwach werd ich wieder binnen einer Stunde. So wie ein Stier in der Arena schöpf ich nur Kurz Atem, bis die nächste Hetzjagd anhebt. Kein Schimmer, was draus wird, doch bleib ich ruhig Denn täglich kommt es vor, daß ein Gesicht Obschon entstellt, schier angebetet wird. Auch schiefe Kiefer stehen hoch im Kurs. Oft war Gezänk das Vorspiel schönster Lust. So wie ein Kind sich in den Schlummer weinen muß Erkeifen Weiber sich den Weg zum Koitus. Neuübersetzungen Einer der absonderlichsten und reizvollsten elisabethanischen Bühnentexte, 1653 erstmals gedruckt, und in Alicant, in einer Festung am Meer, angesiedelt. Dort ist der schurkische Diener De Flores der eigentliche Hauptakteur: Er ist in Beatrice, die Tochter seines Dienstherren, vernarrt und macht sie sich gefügig, auch um den Preis seines eigenen Lebens. Statt des Edelmanns Alonzo (der Beatrice vom Vater als Bräutigam zugedacht ist, aber von De Flores ermordet wird) und statt des Edelmanns Alsemero (dem Beatrice ihre Gunst schenkt und mit dem sie auch verheiratet wird) ist es der Diener, der die hochgestellte Jungfrau defloriert. Die Verbrechen werden aufgedeckt, De Flores entzieht sich der Bestrafung und richtet sich selbst. Das „Changeling“ des Originaltitels betrifft den von den Autoren erahnten Umbruch der Zeiten mit ihren Veränderungszwängen. Hinter Verbrechen und Wahnsinn blitzen schon die neuen bürgerlichen Verhältnisse. Wir legen zwei (parallel entstandene) neue deutsche Fassungen des Skandalstückes vor. B. K. Tragelehn hat in seiner vollständigen Übertragung sehr sorgsam alle stilistischen Besonderheiten des Originalwerkes berücksichtigt. Marc Pommerening erarbeitete eine Spielfassung, die dem Originalablauf folgt, aber beträchtliche Kürzungen enthält und für abstruse Vorgänge ironisch-heutige Dialogpointen einbringt. Der Wechselbalg – Frei zur Erstaufführung der Übersetzung Changeling – Erstaufführung 7. Mai 1994, Schokoladen Berlin unter dem Titel „Liebe liegt blutend“, Regie Till Harms 25 Neuübersetzungen William Shakespeare Übersetzung Werner Buhss Der Sturm (Originaltitel: The Tempest) 4 D, 14 H, kleine Rollen Prospero Ach was, jetzt spuckt Der Samen wohl schon auf die Blüte. Weg das Schwert, Verräter. Keinen Zahn im Maul und La Paloma pfeifen. Du bist so sehr von deiner Schuld besessen. Hol dich Wieder ein. Mit diesem Stab mach ich dich wehrlos, Und die Waffe fällt dir aus der Hand. Eine im Jahr 1999 entstandene Übertragung von Werner Buhss. Frei zur Erstaufführung der Übersetzung Anton Tschechow Übersetzung Werner Buhss Onkel Wanja (Originaltitel: Djadja Vanja) Szenen aus dem Landleben in vier Akten 4 D, 5 H, 4 Dek. Woinizki Du warst für uns ein höheres Wesen, deine Aufsätze kannten wir auswendig. Jetzt aber sind mir die Augen aufgegangen. Ich habe alles begriffen. Du schreibst über die Kunst, ohne einen Deut davon zu verstehen. Alle deine Arbeiten, die ich so liebte, sind nicht den Dreck unterm Fingernagel wert. Du hast uns betrogen. Eine im Frühjahr 2000 entstandene Übersetzung von Werner Buhss. Erstaufführung der Übersetzung geplant Dezember 2000, Deutsches Nationaltheater Weimar, Regie Herbert Olschok 26